Selbstorganisation im Camp Reddelich
Der G8-Gipfel ist vorbei. Jede_r der Dagewesenen trägt seinen Rucksack neuer Erfahrungen, Eindrücke und Erlebnisse zurück in die Gegend in der er/sie aktiv ist, war oder hoffentlich nun sein wird. Politische Gruppen und Bündnisse, die sich zum Teil seit über einem Jahr thematisch und mobilisierend beschäftigen, ziehen (hoffentlich) ihre Schlüsse, veröffentlichen sie und überlegen nun, wie perspektivisch und praktisch mit dem Erlebten umzugehen ist, was mensch mitnimmt und woran nun weitergearbeitet wird. Seien es die neuen Bündnismöglichkeiten die sich nun auftun, der eventuelle Zulauf vieler Menschen, die eine politische Spielwiese suchen, oder die Erfahrungen mit Repressionen, mit denen inhaltlich in der Polit-Gruppe umgegangen werden muss. Anknüpfungspunkte gibt es mehr als genug, viele Menschen hat es sicher bestärkt in ihrem politischen Engagement und dem Gefühl, nicht allein gegen den Kapitalismus zu kämpfen. Ja, den Eindruck Viele zu sein, die etwas bewegen können und ähnliche Ziele verfolgen, haben bestimmt viele heimgenommen.
Mit diesem und den politischen Debatten als Einzelperson, Gruppe oder Bündnis umzugehen ist eine Sache, als Zeitung danach darüber zu berichten eine andere. Fernab der spektakulären Medienberichterstattung und der damit verbundenen verkürzten Debatten um die sog. globalisierungskritische Linke, soll es deshalb hier, aus dem vor-Ort-Blickwinkel, um einen anderen Erfahrungsbereich gehen: Selbstorganisation in Camp Reddelich. Denn die allermeisten der anwesenden Aktivist_innen sind überzeugte Antikapitalist_innen und die Camps waren – neben der Unterbringung – auch Spielwiese und Mikrokosmos, die geteilten Ideale auszuleben – im selbstverantwortlichen Miteinander.
Partizipation
Selbstorganisation muss gut vorbereitet sein; wer sich einbringen will, muss wissen wovon geredet wird. Inhaltliche Vorbereitung lief vielerorts individuell, innerhalb der Gruppe, des Bündnisses oder bei der Planung und Gestaltung der Barrios. Barrios, das waren im Camp erkennbare Gebiete – das Dorf im Dorf – die relativ unabhängig in Aufbau und Struktur agierten, sich inhaltlich je nach selbstgesetztem Schwerpunkt (wie z.B. Ya Basta!) engagierten und als Orientierung für große Gruppen galten. Dreh- und Angelpunkt der praktizierten Basisdemokratie waren neben den Barrios jedoch die Bezugsgruppen, die wahlweise aus dem Freundeskreis, der Politgruppe oder anderen Zusammenhängen bestanden und vielfach auch vor Ort neu gefunden wurden (wofür es sogar Bezugsgruppenfindungstreffen gab). Sinnstiftend, da sie dem/der Einzelnen das Gefühl von Sicherheit, Orientierung und Partizipation geben können – weil mensch unter Vertrauten mehr aufeinander achtet, Grenzen abspricht, gemeinsam bestimmte Aktionen plant und währenddessen auch schneller handlungsfähig ist.
Das Bezugsgruppen-Konzept ist zwar nicht neu, allerdings hat es im Rahmen der Proteste eine neue Dimension erhalten: denn zum einen waren die möglichen Aktionen vielfältiger und zahlreicher und zum anderen waren sie als kleinste informelle Zelle wichtiger Bestandteil für Infofluss und Partizipation. Denn im Camp gab es dann sog. Deliplena (Delegiertenplena), bei denen sich Vertreter der Bezugsgruppen und Barrios regelmäßig im Zirkuszelt einfanden, um die aktuelle Situation, orgatechnische Probleme und gemeinsames Agieren zu besprechen bzw. zu planen. Frei nach dem Räteprinzip gibt es eine Rückkopplung zwischen Deliplena und Bezugsgruppen, so dass bei jeder Entscheidung alle beteiligt werden können. Mein Eindruck war hier, dass jenes funktionierte und die getroffenen Entscheidungen breit diskutierte und getragene waren, ohne die Aktionsfähigkeit durch debattieren zu behindern. Beispielhaft dafür war sowohl der nächtliche Camp-Alarm, wo sich innerhalb kürzester Zeit viele Leute an den Eingängen sammelten und für den Fall der Camp-Räumung Barrikaden bauten, als auch die Blockadeaktionen, wo früh morgens ca. 6000 Leute das Camp Reddelich organisiert und zielstrebig Richtung Zufahrtsstraße am Ostgate verließen.
Letzteres jedoch war auch von langer Hand geplant und im Vorfeld von einem breiten Bündnis organisiert, das unter dem Namen „Block G8“ unzählige Aktivist_innen im Vorfeld und durch mehrere täglich stattfindende Blockadetrainings auf die Aktion vorbereitete. Angefangen vom Durchbrechen der Bullenkette anhand der „Fünf-Finger-Taktik“, bis hin zu rechtlichen Fragen und dem Gewaltfrei-Konsens von Block G8 wurde alles ausführlich diskutiert und praktisch erprobt, so dass die meisten gut vorbereitet in den Mittwoch starteten. Dass das Konzept aufging ist allgemein bekannt, dass es während der dreitägigen Blockadeaktion dann zum Konflikt zwischen den Bündnisorganisator_innen und den Bezugsgruppen kam, den unterschiedlichen Zielsetzungen geschuldet. Dieser entbrannte um die Frage der Aufrechterhaltung der Blockade über Nacht, wobei die Einschätzung von Block G8 war, den Gewaltfreiheits-Konsens nicht erhalten zu können und deshalb die Aktion lieber zu beenden. Basisdemokratie und Selbstorganisation zeigte sich jedoch genau an diesem Punkt auch, denn die meisten der abendlich anwesenden Bezugsgruppen waren gekommen um zu bleiben. Das taten sie dann auch und setzten die Aktion unabhängig von Block G8 – jedoch gewaltfrei und mit Erfolg – bis Freitag fort. Die Diskussionskultur erschien dann auch entspannter und basisdemokratischer. Insgesamt entstand der Eindruck, dass es trotz der Menge an Leuten mit den verschiedensten Bedürfnissen und Vorstellungen, gemeinsam geschafft wurde, dem gerecht zu werden und das Blockade-Ziel erfolgreich aufrecht zu erhalten. Gleichberechtigung, Rücksichtnahme und die allseitige Bereitschaft zu Verantwortung für sich selbst und andere waren dabei die Schlüsselwörter, ohne die die im Nachhinein allgemein positive Einschätzung zur Aktion sicher nicht zustande gekommen wäre.
Infrastruktur
Neben den unzähligen inhaltlichen Debatten, bei denen versucht wurde durch Konsens oder Spielfeldabgrenzung dem breiten Spektrum (mit den unterschiedlichen Zielsetzungen in Bezug auf Protestkultur) gerecht zu werden, wirkte das Camp Reddelich auf jeden Fall auch orgatechnisch gut vorbereitet. Die CampAG, bestehend aus ca. 35-40 aktiven Menschen, die als Einzelpersonen oder in verschiedensten Gruppen engagiert sind (1), hatten es geschafft, die wichtigste Infrastruktur im Vorfeld ausreichend bereit zu stellen. Ab Mitte Mai waren schon Leute zwecks Aufbau vor Ort; angefangen bei der Strom-, Wasser- und Gesundheitsversorgung, der vielfältigen Voküorga bis hin zu der liebevoll eingerichteten Bar und den selbstgebauten Duschen – Anfang Juni war alles vorhanden. Zudem gab es ein Infozelt (Concierge), wo die neuesten Infos an großen Wänden ständig aktualisiert wurden, das Legal Team (EA) vor Ort, dass sich um die Menschen in den Gefangenensammelstellen kümmerte und rechtliche Fragen klärte, ein indymedia-Zelt und einen alternativen Radiowagen. Auch gab es den First-Aid-Bereich und die Trauma-Support-Gruppe, die sich bereits vor über einem Jahr zusammenfand, um sich im Rahmen des G8-Gipfels der Opfer von Gewalt und Repression anzunehmen. Darüber hinaus organisierten sie auch Infoveranstaltungen, bei denen die psychologischen Auswirkungen von Gewalt erläutert wurden, wie sie sich bei Traumatisierten ausdrücken und Tipps gaben, wie mensch in der Bezugsgruppe mit den Erfahrungen Einzelner umgehen sollte.
Wie fähig zur Selbstorganisation die verschiedensten organisierten und nichtorganisierten Aktivist_innen tatsächlich sind, zeigte sich dann in dieser Woche, wo mensch sich nach Möglichkeit und Schwerpunkt einbrachte: da gab es den Bereich für Betroffene sexueller Diskriminierung (awareness group und antisexist group), die Walz-Handwerker_innengruppe ‚Axt und Kelle‘ und die bunten Barrios, die ihr Know-How einbrachten und sich bei Workshops, dem Kulturprogramm oder Transportdiensten engagierten. Die Zahl der spontanen fleißigen Hände, die dann auch noch Campschutz, Abwasch und andere alltäglich anfallende Tätigkeiten und Schichten übernahmen, schien nicht zählbar, aber zahlreich. Bis hin zu wichtigen Details, wie einer Werkzeug- und Materialsammelstelle, kollektiven Handy-Lade- und Fahrrad-Verleih-Stationen war tatsächlich für alles gesorgt.
Größen und Grenzen
Dass die Selbstorganisation in Reddelich selbst dann noch funktionierte, als die Zahl der Campenden sich am Dienstag auf nahezu 8000 verdoppelte, lag zum einen natürlich an der guten Vorbereitung Vieler und dem Willen, gemeinsam was auf die Beine zu stellen. Zum anderen jedoch stehen und fallen die Konzepte mit den Menschen, die sie dann vor Ort mit Leben erfüllen, wobei unsere Stärke eindeutig im Miteinander lag. Dass die Mehrzahl der Anwesenden fähig sind, ihr Idealbild vom gesellschaftlichen Zusammenleben im Rahmen der Campwoche auch umzusetzen war mein Eindruck, obgleich es auch Augenwischerei wäre, alle Konfliktpunkte die es gab wegzuloben. Verglichen mit dem Gesamtablauf waren diese jedoch marginal, wie zum Beispiel die vom ansässigen Fleischer verkauften Grillwaren, die für den einen oder die andere sicher Frustrationsanlass waren, aber eben auch zum gelebten Miteinander gehören. Vor allem beim Punkt Finanzierung stoßen unsere Konzepte aber wohl auf Grenzen. Denn insgesamt fehlen noch ca. 50.000 Euro um die angefallenen Kosten für Aktionen, Camps und Alternativgipfel zu decken. Damit diese erlebnisreiche Woche allerdings nicht für einige Wenige zum verhängnisvollen Schuldenberg wird, wäre es super, wenn ihr mit dem Zusammenkratzen einiger Groschen weiterhin solidarisch seid und spendet unter dem Stichwort:
G8-Defizit an den
Förderverein Frieden e.V.
Konto-Nr: 1900 726 793
Sparkasse Köln/Bonn
BLZ: 370 501 98
Zudem könnt ihr Solidarität und Vergnügen auch verbinden, indem ihr auf die Soliparty des ‚Leipziger Bündnis gegen G8‘ am 11.08. in die G16 schaut.
Natürlich gäbe es noch so viel zu berichten, sowohl zur Aktionswoche, den unzähligen inhaltlichen Debatten und Gesprächen, als auch zur Überschattung der scheinbar heilen Camp-Welt u.a. durch ständig kreisende Hubschrauber, Personalausweise-kontrollierende Bullen auf dem Weg dorthin und der Gefahr geräumt zu werden. Leider nicht mehr an dieser Stelle, denn hier bleibt nur zu verweisen, dass auch unabhängig der G8-Proteste dieses Experimentierfeld des Zusammenlebens anderer Art im Kleinen erfahren werden kann: In den verschiedenen, alljährlich stattfindenden Camps wie z.B. dem A-Camp (vom 23.7.-30.7. in Burg Lutter und vom 20.-29.7. in Österreich). Solidarität im Kleinen, die Bewusstsein und Handeln prägt und über punktuelle Großevents und den kleinen Mikrokosmos hinausträgt, kann sicherlich auch unsere Alltagswelt positiv beeinflussen und die Worthülse des ‚solidarischen Miteinanders‘ mit mehr Leben füllen. Die ständig propagierte mögliche andere Welt fängt im Kleinen, Alltäglichen an und wird so hoffentlich zur großen Bewegung. Das Gefühl, nicht nur vereinzelt diesen Traum zu verfolgen, sondern viele zu sein, trage ich aus dem Camp in meinem Rucksack jedenfalls mit hinaus.
(momo)
(1) Bündnispartner bei der CampAG: dissent!, Parteijugenden, Gewerkschaftsjugenden, attac, Interventionistische Linke (IL), regionale G8 Bündnisse, Friedensbewegung, Umweltbewegung und christliche Basisgruppen