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Ein Interview zur Gemeinsamen Ökonomie

Ich denke, Menschen sind eher dafür gemacht in Gemeinschaft zu leben, als alleine.“

Immer mehr Menschen träumen von einem Leben in Gemeinschaft mit gegenseitiger solidarischer Unterstützung. Einige davon leben diesen Traum, bspw. in Haus- oder Kommuneprojekten. Allerdings hat selbst dort die gegenseitige Hilfe oftmals ihre Grenzen im finanziellen Bereich – nur wenige betreiben auch gemeinsame Einkommens- und Vermögensökonomie. Ein Leipziger Beispiel dafür ist die Luftschlosserei, eine Kommune die zwar noch keinen gemeinsamen Hof besitzt, dennoch seit März 2014 gemeinsam wirtschaftet und ihre gesamten Einnahmen solidarisch miteinander teilt. Aktuell besteht sie aus sieben Kommunard_innen, die zum Teil in einer WG zusammenleben. Welche Erfahrungen sie bisher mit gemeinsamer Ökonomie gemacht haben und wie sie mit dem Spannungsfeld von individuellen Bedürfnissen und Gruppenverantwortung umgehen, ist Gegenstand des folgenden Interviews mit zwei der Kommunard_innen.

FA!: Ihr teilt euer Einkommen, wie funktioniert das in der Praxis?

A: Also einige von uns verdienen Geld, das landet erst mal auf den Konten von den Leuten und wir haben eine gemeinsame Kasse im Haushalt, wo man sich Geld rausnehmen kann. Wir führen darüber Buch: Wieviel hab ich mir rausgenommen und was hab ich verdient diesen Monat und was ist so von Konten abgegangen? Wir versuchen uns einmal im Monat gemeinsam einen Überblick zu verschaffen und fangen jetzt auch an, uns monatlich zusammenzusetzen, um über unsere finanzielle Situation zu sprechen und zu gucken, wo wir Prioritäten setzen müssen. Es gibt bei uns Leute, die weniger arbeiten aber dafür ihre Arbeitszeit der Gruppe zur Verfügung stellen, weil wir gerade dadurch, dass wir einen Hof kaufen wollen, ganz viel Organisationsarbeit haben. Eine Person haben wir dafür sogar freigestellt, d.h. sie muss nicht mehr lohnarbeiten gehen. Das bin ich. Und parallel unterstützen wir mit unserer Arbeitskraft auch noch das KGB-Getränkekollektiv (1).

Wir haben uns quasi noch mal ein soziales Sicherungsnetz geschaffen, was nicht auf die soziale Sicherung Hartz4 angewiesen ist. Das muss dir aber auch erst mal bewusst sein. Diese Existenzangst ist ja nicht einfach weg, du musst dir immer wieder selbst sagen: Es gibt diese Gruppe und wir stehen füreinander finanziell ein im Alltag und du fällst nicht ins Bodenlose, wenn jetzt mal ein Auftrag wegbricht als Freiberufler. Oder bei einem der befristete Job zu Ende geht.

FA!: Plant ihr die Gesamtarbeitszeiten für Gruppe und Lohnarbeit oder funktioniert das eher spontan und organisch?

A: Wir rechnen die Arbeitsstunden nicht gegeneinander auf, sondern gucken, wie sich jeder wohlfühlt mit den Vereinbarungen, die getroffen wurden. In letzter Zeit hatten wir einige längere Treffen, die sich aber spontan aus der aktuellen Situation heraus ergeben haben, als sich die berufliche Situation geändert hat. Da haben wir auch die Entscheidung getroffen zu sagen: Du machst jetzt mehr Arbeit für die Gruppe und versuchst jetzt nicht noch, dir einen neuen Job zu suchen. In Zukunft wollen wir das verstetigen, uns 1x im Monat zusammenzusetzen. Wir haben ja auch Leute in der Gruppe, die in Ausbildung sind, die weder groß Geld einbringen, noch Kapazitäten haben, viel nebenbei zu machen. Und es gibt eine Person, die jetzt vor einer beruflichen Umbruchphase steht und überlegt, eine Ausbildung anzufangen. Das ist sehr stark mit den Zielen der Gruppe verknüpft, so dass wir sagen: Du kannst noch eine Lehre als Elektriker machen, das können wir später mal auf dem Hof sehr gut gebrauchen.

Auf jeden Fall stehen wir noch am Anfang und sind eine sehr kleine Gruppe, was finanziell aktuell herausfordernd ist. Wir versuchen gerade krampfhaft 10% dessen, was wir einnehmen, zu sparen, um den Hofkauf zu ermöglichen. Das ist schwierig im Vergleich zu anderen Kommunen, die es schon länger gibt und die auch Gelder für sechs Monate vorrätig haben. Die wirft so schnell nichts aus der Bahn.

FA!: Kann sich jeder aus eurer Kasse so viel rausnehmen, wie er oder sie will, oder gibt es da finanzielle Grenzen, wo die Gruppe gefragt werden muss?

A: Erstmal kannst du dir nach Selbsteinschätzung Geld rausnehmen und gibst einen allgemeinen Zweck an, wofür es ausgegeben wird, z.B. Lebensmittel oder Mobilität oder Kultur. So, dass wir uns einen Überblick verschaffen können, für was wir Geld ausgeben. Da sehen wir aktuell, dass über die Hälfte für diese klassischen Sachen wie Miete, Strom, GEZ, Krankenkassenbeiträge rausgeht. Und vom anderen Teil geht mindestens die Hälfte für Lebensmittel drauf und der Rest für kleinere Sachen. Und wenn du jetzt eine Einzelausgabe machen willst, also für eine einzelne Sache, die über 150 € kostet, dann haben wir die Regel, dass du das 7 Tage vorher ankündigst, so dass die anderen dich in der Zeit darauf ansprechen können. Da geht es nicht darum, das zu verbieten, sondern in Dialog zu treten. Also wenn du dir jetzt z.B. überlegst, ein Fahrrad zu kaufen, kann man dann überlegen: Hat noch wer ein Fahrrad, was er gerade nicht braucht, oder kennt jemand jemanden, der das preisgünstiger hat. Oder kann man gleich eine größere Gruppenlösung finden, wie z.B. eine Monatskarte. Haben wir relativ selten, diese Einzelausgaben über 150 €. Aber wenn es dann vorkommt, sprechen wir es gemeinsam ab.

Unser Konzept, was wir uns damals erarbeitet haben, haben wir auch nicht einfach übernommen, sondern selbst geschaffen, haben uns die Regeln von anderen angeguckt und überdacht.

 

FA!: Und habt ihr ein Veto-Recht, also wenn jemand beharrt und sagt: Nee ich möchte aber dieses eine Mountainbike für 500 € und da lass ich mich jetzt nicht abbringen?

A: Jein. Also natürlich kann die Gruppe eine Entscheidung treffen und sagen: das können wir jetzt so nicht machen. Das ist aber bei uns kein Veto, sondern wir haben ein Konsens-System ohne Veto. Wir versuchen eher festzustellen, welcher Vorschlag den größtmöglichen Zustimmungsgrad in der Gruppe hat. Und das kann auch ein Vorschlag sein, der bedeutet, diese Ausgabe nicht zu machen. Ist ein bisschen differenzierter, als ein einzelnes Veto.

 

FA!: Ich nehme mal an, das Reden über Geld nimmt viel Raum bei euch aufgrund des Konzepts ein, oder? Wie empfindet ihr das?

A: Ja und Nein. Ich kann jetzt auch nicht sagen, ob es mehr ist, als normalerweise. Also diese Debatten um die Idee der gemeinsamen Ökonomie, die führen wir natürlich regelmäßig. Was vielleicht so zentrale Erkenntnisse für mich sind, ist, dass es oft weniger die Auseinandersetzung ist: Bringst du genug Geld ein oder nicht, sondern eher diese: Sehe ich insgesamt, wenn ich alles zusammenrechne, deinen Beitrag gleichwertig mit meinem Beitrag? Das kann auch anderes sein, Arbeit im Haushalt oder so. Und was hast du überhaupt für einen Anspruch, wie viel Arbeit du am Tag erledigst? Wo wir auch sehr viele Debatten geführt haben, ist die Situation, dauerhaft eher Nehmer oder Geber zu sein. Es ist beides nicht leicht. Wir machen ja auch regelmäßig bei unserem Treffen Sozialplenum und da war das schon oft Thema. Wenn du dauerhaft in dieser Nehmerrolle bist, fühlen sich die Leute oft schlecht und trauen sich nicht mehr, etwas rauszunehmen, obwohl das ja eigentlich keine Rolle spielen soll. Und andersherum, derjenige der mehr reingibt, muss auch lernen, dass dieses eine dauerhafte Geberrolle ist, die jetzt nicht irgendwas Gönnerhaftes hat oder eine besondere Position bringt, sondern einfach normal ist irgendwann. Ich hab dann nicht mehr zu sagen oder mir steht dann kein größeres Stück Pizza zu oder so was. Davon wegzukommen, ist schon nicht einfach.

Als ich eingestiegen bin in die Gruppe, war ich z.B. in einer guten Geberposition – bis mein guter Auftrag zu Ende war. Mir fällt das auch nicht leicht vom Selbstbild her, nicht in so einer gönnerhaften Geberposition zu sein. Und manchen fällt das ganz schwer jetzt in einer Ausbildung zu sein und auf lange Sicht auf die Gruppe angewiesen zu sein. Damit musst du dich dann auseinandersetzen. Aber durch unsere Gespräche ist viel geklärt und jeder weiß, wo der andere steht. Wenn keine Hirngespinste mehr da sind, es könnte jetzt jemand Neid haben oder komisch finden, z.B. dass ich jetzt nicht mehr extern, sondern für die Gruppe arbeite, dann stellt sich auch ein ganz großes Gefühl von Freiheit ein. Denn ich mache was Sinnvolles, ohne mir um Essen und Wohnen Gedanken machen zu müssen. Aber man muss es sich halt immer wieder sagen, es ist nichts, was sich von alleine so anfühlt. Und es hat sich erst eingestellt, als es mit der Gruppe besprochen war.

B: Das eigentliche Ziel der gemeinsamen Ökonomie ist ja, dass das Thema Geld möglichst weniger Stellenwert im Leben bekommt. Das ist der Grund, warum ich das mache. So dass diese Determination der eigenen Persönlichkeit durch Geld aufhört, diese Ungleichheit, die von Geburt mitgegeben wird. Zur Zeit sind wir noch an einem Schritt, wo wir uns eher ein bisschen mehr mit dem Thema auseinandersetzen müssen, als es mir lieb ist. Hoffentlich nur vorübergehend. Und es soll ja nicht dauerhaft aufgerechnet werden, wie viel Geld oder Zeit man in das Projekt steckt oder wie viel man im Haushalt hilft. Auch andere Sachen sollen eine Rolle spielen, z.B. wie viel man die Gemeinschaft bereichert, wie viel Lebensfreude man reingibt. Da gibt es auch viele gar nicht so berechenbare Sachen. Das wäre auch so ein Ideal.

A: Das ist auch interessant, auch ein Spannungsfeld: Für den einen ist die monatliche Abrechnung ein Mehr an Bürokratie zu dem, was wir vorher gelebt haben. Und für andere ist die Beschäftigung mit dem eigenen Konsumverhalten ganz neu und ein Erkenntnisgewinn, der Spaß machen kann.

 

FA!: Was hat denn dieses eine Jahr Erfahrung mit gemeinsamer Ökonomie mit euch gemacht, in eurem persönlichen Umgang mit Geld? Hat sich da im Lebensstil und im Bewusstsein was verändert?

A: Es gibt zum einen ganz schöne Erfahrungen, z.B. war es am Anfang für uns immer wieder ganz spannend zu entdecken, dass es egal ist, wer was bezahlt wenn du in der Gruppe unterwegs bist. Dann gibt es so einige Themen, mit denen wir sonst anders umgehen würden z.B. sorgfältiger Umgang mit Sachen. Also wenn ich jetzt bei dir zu Besuch bin und deine Stereoanlage runterschmeiße, dann wirst du sagen: Bezahl mir das. Wenn jetzt aber jemand von uns die Lieblingsstereoanlage runterschmeißt, dann zahlen wir das alle. Und das macht schon eine andere Verantwortlichkeit, wenn es diesen individuellen Sanktionsmechanismus nicht gibt.

An einem Nachmittag haben wir mal eine Frage bearbeitet: Wie kann ich es ertragen, dass andere Leute Geld für Scheiß ausgeben? Und da geht es um ganz kleine Sachen. Also wenn du abends zum Späti gehst und dir für 1,80€ eine Limo holst. Wenn ein Teil der Gruppe sich jeden Abend 3-4 Limos holt, dann ist das ein ganz schöner Posten. Und dann zu gucken: Ist diese Limo wirklich wichtig? Für andere ist das totaler Scheiß. Da war eben festzustellen: du kannst da kein Maßband anlegen, was gut und was schlecht ist. Aber du bist schon selber stärker am Überlegen,: Ist das jetzt sinnvoll, brauch ich das? Bis hin, dass manche Anschaffungen auch nachhaltiger sind.

Eine andere Sache ist, dass wir zwischendurch auch einen harten Ausstieg hatten, mit jemandem, wo wir dachten, auch eine gute Freundschaft zu haben. Diese Person war nicht bereit, Transparenz über ihre Zahlen herzustellen und hat auch falsche Angaben gemacht. Das war schon ziemlich hart und auch nicht reibungsfrei.

B: Dass die Anfangszeit sehr schön war, mit dem sich gegenseitig einladen, da kann ich beipflichten. Und diese Haltung, anderen bei Engpässen weiterzuhelfen, hat sich weitergetragen und verstärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Schwierig ist aber, dass man eben nicht mehr für sich selber was sparen kann. Neben Kommune gibt es vielleicht noch ein paar andere Ziele, die man so im Leben hat, vielleicht Auslandsaufenthalte machen oder beruflich weiterkommen oder was anderes. Und das ist gerade jetzt in dieser Zeit, wo der Hof gekauft werden soll, schwierig mit den Gemeinschaftsinteressen zu vereinbaren.

 

FA!: Heißt das du steckst dann deine persönlichen Ziele für die gemeinsamen Ziele zurück? Oder wie gehst du damit um?

B: Ich glaube es kommt drauf an, an welchem Punkt man im Leben steht. Und wie wichtig es einem gerade ist, diesen Hof zu kaufen. Ich persönlich möchte gerade die persönliche Seite nicht zu kurz kommen lassen, weil da so viele Fragezeichen sind, die für mich geklärt werden müssen, unabhängig von der Tatsache, dass ich in einer Kommune leben will. Da stehen noch ein paar andere Sachen im Leben an. Denn irgendwie habe ich mich selbst in den letzten Jahren voller WG-Leben völlig vergessen und gar nicht gecheckt, wie sehr ich andere Stränge, wie z.B. meine berufliche Selbstfindung komplett schleifen gelassen habe.

FA!: Und wie gehst du oder ihr als Gruppe damit um, in dem Spannungsfeld zwischen individuellen Zielen, Plänen und Wünschen und der Verantwortung der Gemeinschaft gegenüber?

B: Zur Zeit ist es eben so, dass ich eine Pause mache von der gemeinsamen Ökonomie, weil ein paar persönliche Sachen jetzt Priorität bei mir haben. Danach entscheide ich, ob ich wieder einsteige. Aber das ist jetzt eine individuelle Lösung, da gibt es sicher auch noch eine ganze Palette an anderen Sachen, die man machen kann.

A: Ich denke, dass in der Gründungsgeneration in der Kommune, wo der Hof noch nicht da ist, von uns sehr viel abverlangt wird, Zeit oder Geld in die Gruppe zu stecken, und da wenig Ressourcen für andere Sachen sind. Solche individuellen Geschichten, wie ein Jahr ins Ausland gehen und Geld dafür zurücklegen, ist dann schon schwierig. Natürlich müssen wir da auch gucken, ist das für uns stimmig, was wir auch machen.

Speziell bei B war das finanziell ziemlich herausfordernd. Wir haben dann gemeinsam beschlossen, dass es einfacher ist, wenn B erst einmal aus der gemeinsamen Ökonomie aussteigt. Unsere Lösung ist aber aus meiner Sicht sehr am Solidargedanken orientiert, weil wir gesagt haben: Du steigst jetzt sofort aus dieser gemeinsamen Ökonomie aus, aber wir bezahlen dir noch für drei Monate das Zimmer in der Wohnung und die Verpflegung, wenn du hier mit isst. So dass du diese Auszeit hast, aber wir besser rechnen können als Gruppe.

Es ist schon so, dass wir durch die gemeinsame Ökonomie eine Einstehensgemeinschaft sind. Und ich kann jetzt nicht einfach sagen: Ich nehm mich zurück und arbeite mal ein Jahr nicht. Denn andere Leute haben dann die Konsequenzen zu tragen. Verantwortung bedeutet halt schon, dass du immer dran denkst, dass der andere mit dranhängt. Für mich fühlt sich das relativ selbstverständlich an, deswegen will ich in einer Kommune sein, weil mir das guttut und ich das gern mache. Und für Andere ist das was, wo sie sagen: Das würde ich nur in einer Beziehung mit Kind geben, oder wo ich mich jetzt noch nicht so weit fühle.

B: Ich bin da wahrscheinlich eher in der anderen Position, und würde sagen, dass es leichter ist, das in einer überschaubareren Beziehung zu machen, also in einer Partnerschaft mit Kind oder so. Wenn man selber noch auf der Suche ist, was man eigentlich im Leben will und dann aber Leute hat, die auf einen angewiesen sind, obwohl man selbst noch gar nicht seinen Platz endgültig gefunden hat, ist es natürlich schwierig. Insofern verlangt es von allen ab, dass sie irgendwie wissen, wo sie hinwollen.

Und grundsätzlich ist es schwierig, wenn jemand mit besonderen Bedürfnissen in der Gemeinschaft ist und vielleicht angeschlagen ist und man viel geben muss. Denn gleichzeitig hat man ja selbst auch ganz viele Ideen, was man selber machen will. Zumindest geht es mir so. Und das kann einem schon ziemlich schnell über den Kopf wachsen. Deswegen fühlt es sich für mich jetzt ganz befreiend an, diese Ruhepause zu haben. Und danach zu gucken, was passiert.

Aber grundsätzlich finde ich es total richtig, füreinander da zu sein. Aber man muss auch irgendwo eine Grenze setzen, man kann nicht alle Menschen retten oder für alle immer da sein. Klar, die Gruppe ist mir insofern wichtig, weil es eine ähnliche politische Grundeinstellung gibt, eine ähnliche Sozialisierung und gemeinsame Anknüpfungspunkte durch Politerfahrungen oder andere Lebenserfahrungen, und irgendwie ein bisschen die Verknüpfung von anarchistischen Idealen und dem Streben nach einem besseren Leben, sowohl materiell als auch ideell, was die Verwirklichung von Idealen angeht, als auch kulturell oder vielleicht auch spirituell im weitesten Sinne. So was zu verknüpfen eben, dieses Anarchistische mit dem Wunsch nach etwas Aufstrebendem. Und ein bisschen die Ordnung ohne Herrschaft zu realisieren, das kann die Gruppe auch ganz gut. Das ist so einer der großen Pluspunkte, Sachen die dafür sprechen hier meine Kraft zu investieren.

 

FA!: Ganz ehrlich, ich stell es mir schwieriger vor als kleine Gruppe in gemeinsamer Ökonomie zu leben, als in einer großen Gruppe wie z.B. der Kommune Niederkaufungen, wo 60 Erwachsene leben, weil im kleinen Kreis vielleicht auch dieser soziale Druck stärker ist und die Verantwortung im Kopf präsenter, so dass vielleicht individuelle Wünsche zeitweise auf der Strecke bleiben, aber dann als Konfliktthema zurückkehren. Oder andere zwischenmenschliche Konflikte über die gemeinsame Ökonomie ausgetragen werden, indem man z.B. dem anderen den Klamottenkauf für 80€ missgönnt. Seht ihr denn die Anzahl der Leute als Faktor für das Funktionieren des Konzeptes?

A: Über die Anzahl der Leute haben wir uns schon viele Gedanken gemacht und sind der Meinung, dass so 12 Leute eine Mindestanzahl ist. Da hast du eine Stabilität, wo auch mal 1-2 Leute wegbrechen können und es immer noch funktioniert. Die haben wir noch nicht erreicht. Aktuell ist es so, dass wir, wenn eine Person wegbricht, gucken müssen, wie es funktioniert. Bisher klappt es und ich habe den Eindruck, dass es uns auch mehr zusammengeschweißt hat. Unsere Optimalzahl liegt so zwischen 12 und 24 Leuten plus Kinder.

Ich habe es aber noch nicht erlebt, dass Konflikte über die gemeinsame Ökonomie ausgetragen werden. Alle Leute haben klar, dass sie anderen keine Basalbedürfnisse verweigern, nur weil sie gerade mit einem nicht können. Wir haben vielleicht aus der gemeinsamen Ökonomie heraus Konflikte miteinander gehabt, aber nicht, dass wir andere Konflikte über die gemeinsame Ökonomie ausgetragen haben. Das würde auch gar nicht funktionieren, wie will man dem anderen verwehren, dass er sich Geld herausnimmt?

Wir kriegen uns halt sehr intensiv mit, aber ich habe nicht erlebt, dass das besonders spannungsreich ist.Wenn mir was nicht passt, sprech ich das auch an, statt Bilder im Kopf zu haben oder es einfach laufen zu lassen. Das hat aber nichts mit Bewertungen zu tun, sondern auch mit positiver Anerkennung dem gegenüber, was der andere macht.

Ich denke auch, wenn du eine Kommune machen willst, dann ist es eine Voraussetzung, eine Mitte zwischen gelebter solidarischer Gemeinschaft und individueller Selbstverwirklichung zu finden. Du kannst weder dich komplett für eine Gruppe aufopfern und dich dabei vergessen. Das tut dir nicht gut, das hältst du nicht lang durch. Noch kannst du in so einer Gruppe sein und nur an dich denken und dich selbst verwirklichen, dann wird dir die Gruppe ziemlich schnell auf den Sack gehen.

Aber es ist nicht eine endliche Menge, wo du was wegnimmst, also Gruppe oder Individualität. Sondern du kannst schon, wenn du das selber gut in Einklang bringen kannst, bei beiden Sachen mehr haben. Du kannst ganz viel mehr Gruppe und Gemeinschaft haben und ganz viel mehr individuelle Selbstverwirklichung in der Kommune. Aber du musst selbst die Kompetenz mitbringen, dir das zu schaffen. Und dann ist das ganze übersummativ, also die Summe mehr als die Teile.

 

FA!: Was müssen denn eurer Meinung nach Leute an Grundverständnis und Idealen mitbringen, um in so einem Projekt wie eurem glücklich zu werden?

A: Das ist ganz schwierig zu beantworten. Es gibt so einen Spruch zum Thema: Wenn du in eine Gemeinschaft gehst, solltest du eher jemand sein, der geben kann, als darauf angewiesen sein zu nehmen. Du solltest Verantwortung übernehmen können für andere. Und du brauchst eine gewisse Affinität mit Gruppen umzugehen. Also dich selber zu vertreten, dich selber auch klar zu haben, zu wissen was du möchtest, es artikulieren zu können. Ich sag mal diese ganzen sozialen Fähigkeiten. Wir haben auch öfter Diskussionen darüber, wir wollen ja so offen wie möglich sein, trotzdem sind das Sachen, die du brauchst, wie sich immer wieder zeigt.

B: Ja und so eine Art Freude am Lernen durch die Interaktion mit den konkreten Menschen in der Gruppe. Was ein ganz anderes Lernen ist, als aus Büchern.

A: Ja, das ist auch persönliches Wachstum, eines unserer gemeinsamen Ziele. Und das passiert auf jeden Fall. Du wirst herausgefordert durch so eine Gruppe und du entwickelst dich auch weiter.

Und was sich immer wieder zeigt, bei allen von uns: Egal wieviel du reingibst, dass du dir mehr rausnimmst, als du reingegeben hast, das fällt allen unheimlich schwer. Geld für irgendwas ausgeben ist wesentlich herausfordernder in einer gemeinsamen Ökonomie, als wenn du da alleine für verantwortlich bist.

Was wir auf jeden Fall irgendwann auch haben wollen, so 5 Jahre nachdem wir einen Hof gekauft haben, ist für Rentenansprüche zu sorgen. Sodass, wenn du mal rausgehst, die Lebenszeit nicht „verloren“ ist, weil ja in der Kommune auch für dich gesorgt worden wäre. Aber gerade jetzt in der ersten Zeit ist es schon ein Projekt, wo du auch Lust haben musst, Zeit und Geld reinzustecken, was aufzubauen. Und das ist schon so die Frage, ob das gut ist oder nicht, wenn es wirklich die produktivsten Jahre deines Lebens sind. Das sollte man sich gut überlegen. Das ist auch was, was uns immer wieder beschäftigt, gerade wenn wir Kennnenlernentreffen machen.

FA!: Was ist so euer Fazit nach einem Jahr gelebter gemeinsamer Ökonomie?

B: Ich bin da eher der Falsche der quakt, eigentlich sollte ich zuhören. Also mein Fazit ist, eher noch mal ein Stück zurück rudern und überlegen, mit wem und wie vielen Leuten so was gehen kann. Und v.a., wie kann es auch gehen, ohne dass es organisatorisch sehr viel Zeit und Gedankenkapazität wegnimmt, die man auch für was anderes gebrauchen kann. Weil, Muße ist auch ein Wert, der auch zu kurz kommt, wenn man als Kommune sehr viel Wert auf das Ökonomische legt. Auf der anderen Seite sind mir aber viele spirituelle Kommunen auch zu diffus. Muße wäre aber auch für mich was Wichtiges, wo ich bisher noch keinen Weg gefunden habe, wie es sich vereinbaren lässt. Aber grundsätzlich im Leben ist es natürlich ganz wichtig zu teilen. Da will ich auch hin.

A: Wir haben gemeinsame Ökonomie ja gestartet auf dem Weg zur Kommune. Und ich musste irgendwann realisieren: Eigentlich sind wir ja schon eine Kommune. Wir entscheiden basisdemokratisch und teilen unser Geld. Wir sind ja jetzt auch Mitglied im kommuja-Netzwerk, dem Netzwerk der politischen Kommunen in Deutschland. Aber für mich ist es gefühlt immer noch ein „auf dem Weg sein“. Deshalb ist es auch schwierig ein Fazit zu ziehen. Was ich merke: es erfüllen sich immer mehr Aspekte und ich begreife immer mehr. Aber was mir natürlich noch fehlt, ist dieses Bleibende zu schaffen, der Hofkauf wäre so ein Schritt. Das gemeinsame Arbeiten und die gemeinsame Ökonomie bringt eine Pflanze hervor, die wächst. Das ist was, was mir Spaß macht. Ziel ist es, irgendwann Kollektivbetriebe aufbauen und einen Hof haben, den wir ausbauen, so dass das Gemeinsame etwas hervorbringt, was größer ist als die Gruppe. Wenn wir irgendwann mal aufhören Miete zu bezahlen, sondern einen Kredit abbezahlen und mit der gemeinsamen Anstrengung jeden Monat was schaffen, das würde sich noch besser anfühlen. Insofern fühlt es sich für mich immer noch wie eine Übergangsphase an, zu dem, was wir eigentlich wollen. Obwohl wir schon eine Kommune sind.

FA!: Danke für das Interview!

[momo]

 

Wer mehr von der Luftschlosserei wissen mag oder mitmachen will: http://luftschlosserei.org/. Einfach mal Kontakt aufnehmen.

(1) KGB-Getränkekollektiv: http://kgb-leipzig.blogspot.de

Die Redaktion zieht…

… einen Schlussstrich

Schluss mit dem Gejammer, Schluss mit dem Selbstmitleid. Schluss mit der Grübelei um verpasste Chancen, verbunden mit der Angst sie kämen nicht wieder. Schluss mit der Trauer um unerfüllte Träume. Schluss mit dem Zweifel am eigenen Lebensweg.

Ich ziehe einen Schlussstrich hinter all die selbstgezüchteten grauen Hirnzermarterer. Sie kommen einfach nicht mehr über die Rote Linie. Denn Ich bin mein eigener Gott, kann selbst bestimmen, was mich prägen soll.

Ich zieh die Zügel selbst, setz meine rosa Brille auf und reite auf meinem lila Pferd namens Aufbruch erneut der Sonne entgegen. Will leben, lieben, lachen, lustig sein. Geh meinen eigenen Weg. Verfolge meine Ziele und werde dadurch unweigerlich neue Türen finden, die sich mir öffnen. Ich hab mein Leben in der Hand, bin Schmiedin meines eigenen Glücks. Zeit dieses Handwerk richtig zu beherrschen. Ich fange mit dem roten Schlussstrich an und lass meine trübe Tasse dahinter stehen.

Jedem Ende wohnt ein Anfang inne. Und jedem Anfang ein neuer Zauber. An meinem Anfang steht der Wille. Solang der bei mir ist, ist alles möglich.

[momo]

 

… die Schublade auf

während sie am endlosen Schrank entlangstürzt, drin sind Stimmen, die nicht raus können, zwischen den Funken in der Schublade, die Flammen sein wollen.

[schlecki]

 

… von c2 nach c4

Von Rubinstein abgeguckt. Also Akiba, dem größeren Genie, nicht Artur.

Viel zu selten allerdings, dass ich überhaupt mal noch Figuren ziehe. Das Schachproblem im Feierabend! ist schon seit Jahren leider der einzige Anlass, mich an‘s Brett zu setzen. Dabei lobpreise ich bei jeder Gelegenheit die meditativen Möglichkeiten des Schachspiels und gerade die Entspannung, die sich beim Lösen eines Problems einstellen kann. Doch damit nicht genug, ist Schach immer auch Lebenshilfe. So wie man zieht, so steht man. Klingt wie eine beliebige Binsenweisheit, ist jedoch als eine von vielen Schachmetaphern auch eine kleine Stütze im Trubel der Gesellschaft. Denn ob man nun umzieht, es einen zu jemandem hinzieht, man sich auszieht, jemanden abzieht, was krasses durchzieht oder jemanden erzieht. Zug um Zug ändert sich die eigene Position und auch die anderer.

[shy]

 

Ich ziehe…

… mir mal wieder warme Socken an, ziehe dabei an einem Faden, der sich zieht und zieht bis die Socke dahingezogen ist. Ich ziehe mit dem Faden los. Ziehe dabei ein mürrisches Gesicht, denn ohne Socken zieht es an den Füßen. Meine Oma zieht den Faden wieder auf, nach links, nach rechts, nach links, nach rechts, sie zieht und zieht, damit ich mir wieder warme Socken anziehen kann.

[mv]

 

hier niemanden durch den Kakao

Dazu ist die Metapher einfach zu altbacken. Außerdem ist es interessanter und relevanter, Dinge und Zustände als Personen durch den Kakao zu ziehen. Aber so große Kakaogefäße finden sich auch eher selten. Und besser werden die Dinge durch zuckrige Schmierschichten sowieso nicht. Also Dinge und Zustände lieber kritisieren und den Kakao der betreffenden Person ins Gesicht schütten. Oder eben einfach trinken – besonders empfehlenswert in Hinsicht auf den sich nähernden Winter.

[wasja]

Mein Gott, mein Staat, mein Niemandsland

Frei nach dem Motto „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, bild‘ ich einen Staatsraumkreis“, gibt es weltweit immer wieder Menschengruppen, die ihren eigenen Staat ausrufen. Wahlweise finden sie dafür ein noch staatenfreies Fleckchen Erde oder erkennen bestehende Staaten nicht als rechtmäßig an. Durchaus ernst gemeint und mit verschiedenen Motiven ausgestattet.

Ein Beispiel dafür ist der im April ausgerufene Staat mit dem vielversprechenden Namen Freie Republik Liberland und seinem Motto „Leben und Leben lassen“. Das bisherige Niemandsland erstreckt sich zwischen Kroatien und Serbien auf einer sieben km² langen Sumpflandschaft mit Wald und Wiesen.

Eine subversive anarchistische Aktion, um die auf Nationalstaaten basierte politische Elite zu provozieren, das Staatenwesen vor und ad absurdum zu führen? Ein Freiraum für Unterdrückte, die in solidarischer Gemeinschaft ohne Herrschaft leben wollen? Leider nein.

Dieser im April 2015 ausgerufene Staat beansprucht zwar weitestgehende Freiheit für sich, definiert diese jedoch vorzugsweise wirtschaftlich. Ganz anarchokapitalistisch geht es dem Gründer und Präsidenten Vít Jedlicka um eine Steueroase. Privateigentum ist das höchste schützenswerte Gut. Will man Staatsbürger von Liberland werden, muss man diesen Grundsatz teilen und darf zudem „keine kommunistische, extremistische oder Nazivergangenheit“ haben. Ansonsten wird mensch laut Homepage nicht für „vergangene kriminelle Handlungen“ zur Rechenschaft gezogen, ist jedoch angehalten „andere Menschen und deren Meinungen unabhängig von ihrer Herkunft & Orientierung zu respektieren“.

Auch wenn es die Liberländler vielleicht gern anders hätten: International erregt ihr neues Staatsgebiet bisher wenig Aufsehen, sondern wird ignoriert oder als vermeintliche Satire-Aktion heruntergespielt. Sicher nicht ohne Kalkül, schließlich sollen doch die Bürger ihre zu versteuernden Gelder im eigenen Land lassen. Und erst recht nicht auf die Idee kommen, weitere Ministaaten auszurufen, in der jenseits der Staaten-basierten (Un-)Ordnung – aber dennoch unter deren Label – eigene Gesetzte herrschen.

Ignoranz ist jedoch noch eine der harmloseren Reaktionen auf derlei Neustaaten. Denn wenn es Gruppen gibt, die ihren neuen Staat auf bereits vergebene Staatsräume legen, wird meist härter durchgegriffen. Am bekanntesten ist hierzulande wohl die sog. Reichsbürgerbewegung, die zumeist aus rechten Ideologen oder Verschwörungstheoretiker_innen besteht, welche die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Grundgesetz rechtlich für völker- und verfassungswidrig halten. Dies wird als Argumentationsgrundlage ausgebaut, um Menschen zur Unterstützung eigener Machtansprüche zu gewinnen, wahlweise in Form von sog. Reichsregierungen, Fürstentümern oder Königreichen.

Ein Beispiel dafür ist der „Imperator Fiduziar“ Peter Fitzek mit dem Königreich Deutschland, das er bereits 2012 auf einem acht Hektar großen Gelände in der Lutherstadt Wittenberg ausrief. In Anlehnung an die Reichsbürgerbewegung erkennt auch er die staatliche Souveränität Deutschlands nicht an, weil die Verfassung fehlt. Allerdings will er nicht die Alte zurück samt der Grenzen von 1937, sondern lieber eine „lupenreine Monarchie“. Seit der neue König mit dem Aufbau einer eigenen Krankenkasse, Versicherung und Währung begann, zudem noch eigene Autokennzeichen anfertigen ließ und von königlicher Steuererhebung träumt, wird er jedoch nicht mehr von der Staatsgewalt ignoriert. Sondern staatsrechtlich verurteilt.

Kurzum, so einfach ist es also doch nicht mit den neuen Staaten. Stellen sie die Alten in Frage oder werden sie wirtschaftlich und politisch gefährlich, ist Schluss mit Lustig. Vielleicht hat sich Liberland auch deshalb dieses Motto gegeben, weil es hofft, dass man es „leben lässt“?

Wie sehr kann mensch wollen, dass solche Konstrukte am Leben bleiben? Gar nicht. Denn so sympathisch vielleicht die Aushöhlung der auf Nationalstaaten basierten Weltordnung ist, das macht den Gründungsgrundgedanken einfach nicht besser. Weder im Hardcorekapitalismus noch mit selbsternannten Monarchen lässt es sich solidarisch und gerecht in Gemeinschaft leben und leben lassen. Erst recht nicht mit den Nazis der Reichsbürgerbewegung. Abgesehen davon ist die Macht der bestehenden Staatenwelt gegenüber allerlei separatistischen Bewegungen ausgesprochen hoch.

Doch wenn nur Pippi Langstrumpf in der Lage ist, sich ihre Welt so zu gestalten, wie sie ihr gefällt, was bleibt dann uns? Neben ganz kleinen, selbstgebauten Nischen zumindest ein lauter Ruf in die Welt: Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland!

[momo]

Indiens unwidersprochene Widersprüche

Impressionen einer Reise

Wenn eine eine Reise tut, dann kann sie was erzählen… Doch was lässt sich aus gut drei Monaten Delhi-Erfahrung, gekoppelt mit ein paar Reiseeindrücken aus dem nördlichen Indien, berichten? Ich war zu lange da, um lediglich Eindrücke zu beschreiben – ganz abgesehen davon, dass diese Gefahr laufen zu langweilen und Oberflächenklischees zu bedienen. Allerdings war ich auch zu kurz da, um mit viel Hintergrundwissen analytisch über die indische Gesellschaft zu resümieren. Vor allem aber habe ich heute mehr Fragen als Antworten im Kopf. Die zum Alltag gewordenen Eindrücke und Wahrnehmungen mischen sich wild mit unausgegorenen Analysen und meiner ganz subjektiven Brille. Aber deshalb schweigen? Nein – denn mein Blick über den Tellerrand, kann auch für euch an der Welt interessierte Menschen interessant sein, kann zum Nachdenken über Kapitalismus und Kaste, Tradition und Moderne, transkulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede, subjektive Wahrnehmung und objektive Realität anregen. Das ist es auch, was diesen Text vielleicht lesenswert macht – egal ob ihr Indien und Delhi schon mal selbst erlebt habt oder nur vom Hörensagen kennt.

Die Arm-Reich-Bandbreite

Was mich vor allem an der indischen Gesellschaft bewegt und mir ins Auge sticht, ist die Spanne zwischen armen und reichen Menschen. Denn sie scheint mit europäischen Verhältnissen verglichen sowohl offensichtlicher, als auch größer zu sein. Auf den Hauptstraßen in Delhi hat man die seltene Gelegenheit, alles auf einmal beobachten zu können. Denn da drängelt sich der dicke, große und sauber glänzende Schlitten (natürlich mit getönten Scheiben) zwischen verbeulten kleineren Autos, abgeranzten uralten Linienbussen, unzähligen Auto-Rikschas, Motorrädern und manch mutigem Fahrradfahrer hupend seinen Weg frei. Das Ende der Kette bilden dort wohl die Straßenhändler und verstümmelte Bettler oder Kinder, die an den Ampeln umher laufen, um Kleingeld zu schnorren.

Ansonsten wird die Arm-Reich-Bandbreite nur sichtbar, wenn man unterschiedliche Stadtviertel besucht – denn die Menschen leben hier eher segregiert, v.a. anhand der Tätigkeitsart und dem entsprechendem Einkommen. Die Wohngegenden unterscheiden sich v.a. durch den Grad der Sauberkeit, Architektur und Größe der Häuser, Breite der Straße, Höhe der Mauern, Anzahl der Autos im Hof, Menge an postierten Wachpersonal sowie der Anzahl an Menschen, die auf einen Schlag sichtbar sind. Vis a vis betrachtet, bilden v.a. der Kleidungsstil, die Schmuckdichte und die Dominanz im Auftreten im öffentlichen Raum gute Indikatoren für die Dicke des Portemonnaies und den Status der Menschen. Und im Haus drin ist es neben der Inneneinrichtung v.a. die Anzahl der Hausangestellten, die darüber Aufschluss geben.

So weit so gut. Klingt gar nicht so besonders und anders als bei uns, sagt ihr vielleicht. Mag sein, sofern wir die riesige Menge an Menschen, die in extremer Armut leben müssen, hier ausklammern. Und dementsprechende Gegenmaßnahmen wie hohe Mauern und Wachpersonal bei den extrem Gutverdienenden.

Wieso, weshalb, warum?

Dennoch habe ich das Gefühl, dass diese Gegensätze hier offener ausgelebt werden und sichtbarer sind. Auch und vielleicht weil sie unwidersprochener nebeneinander stehen können? Denn außerhalb der Universitätskreise höre ich nichts von sozialen Kämpfen. Sehe keine Demos auf den Straßen. Zudem habe ich erfahren, dass sich nur Wenige bspw. in Gewerkschaften organisieren. Woran liegt also die scheinbar geringe Bereitschaft gegen diese soziale Ungleichheit aktiv zu werden?

Liegt das nur am Fehlen eines großen klassischen „Industrieproletariats“ zugunsten eines riesigen informellen Sektors voller Einzelkämpfer? Oder gibt es keinen Glauben an mögliche Veränderungen durch aktives und gemeinsames Handeln einer Zivilgesellschaft? Inwiefern ist eine solche bisher überhaupt gewachsen (jenseits parteipolitischer Seilschaften)? Oder ist die gesellschaftliche Fragmentierung und das Reproduzieren von extremer Ungleichheit eine Nachwirkung des immer noch eine Rolle spielenden Kastensystems? Oder der ebenso sehr ausgeprägten Clan-Identitäten aufgrund von Regions- und Familienzugehörigkeiten? Oder liegt es am inzwischen verinnerlichten kapitalistischen Versprechen, dass jeder den materiellen Aufstieg schaffen kann, wenn er nur hart genug dafür arbeitet?

Arbeit ist das ganze Leben

Ohne Zweifel, die Leute hier arbeiten ziemlich viel und vor allem lang – in jeder Gesellschaftsschicht. Alle Geschäfte und Straßenstände in meinem Viertel haben täglich von 8 oder 9 Uhr morgens (so genau weiß ich Langschläferin das leider gar nicht….) bis 22 Uhr geöffnet – und das sieben Tage die Woche. Es stehen auch immer die selben Leute hinterm Ladentisch. Eine Autorikscha kannst du rund um die Uhr ziemlich leicht finden, denn oftmals ist sie zeitgleich auch Schlafplatz ihrer Fahrer. Und selbst die ärmsten Omas versuchen bspw. durch Süßigkeitenverkauf vor der Haustür ganztägig zum Familieneinkommen durch Kleinstbeträge beizutragen (siehe Bild). Aus einem spannenden Buch von Rana Dasgupta (1) habe ich gelernt, dass auch in der aufstrebenden Mittelklasse der Arbeitsplatz zum Familienersatz und neuen Zuhause geworden ist. Was lange Arbeitszeiten und eine sehr hohe Identifikation mit dem Beruf und dem dazugehörigen Status impliziert. Nicht zuletzt seien auch noch die vielen Hausangestellten erwähnt, die ab mittlerem Einkommen eigentlich in allen Haushalten zu finden sind und das Putzen, Kochen, Waschen, Abräumen usw. übernehmen. Je nach Status und Einkommen in unterschiedlicher Anzahl. Oftmals leben diese auch dauerhaft bei ihren Arbeitgebern und sind dementsprechend auch rund um die Uhr verfügbar.

Kurzum, die Arbeit und Erwerbstätigkeit definiert hier das Leben der Menschen in besonderem Maße – und die Menschen definieren sich selbst über diese. Auch eine Auswirkung des Kastensystems, in dem die Menschen nach ihrer Tätigkeit unterteilt wurden? Oder liegt es eher an den wirtschaftlichen Veränderungen, die mit der Marktöffnung Anfang der 90er begannen und derzeit das Land in einen extremen Wirtschaftsboom versetzen? Oder doch einfach an den existenziellen materiellen Notwendigkeiten der Bevölkerung, die bei uns dank (marodem) Sozialnetz zumindest nicht so extrem sind? Aber was treibt die Leute aus höheren Schichten an, ihr ganzes Lebensglück über ihre Erwerbsarbeit und dementsprechende Luxusgüter und Status zu definieren?

 

Arrangierte Ehen

Eine Erklärung könnte die starke Bindung an und traditionelle Identifikation über Clan-/Kasten-Familienzugehörigkeit sein, die sich meist über das Tätigkeitsfeld definiert. Generell spielt die familiäre Bindung in Indien eine große Rolle, meist leben verschiedene Generationen unter einem Dach und Söhne treten oft in die beruflichen Fußstapfen ihrer Väter.

Eine weitere Erklärung könnte ich in der (zeitgleichen) Flucht vor der eigenen Familie finden. Aber stopp, da muss ich aufpassen, nicht mit meiner eurozentristischen Brille den Leuten was unterzujubeln, was sie vielleicht gar nicht fühlen. Und dennoch ist folgendes wichtig, um die indische Familie besser zu verstehen: Die allermeisten Ehen werden noch immer durch die Familie initiiert und arrangiert. Und die allermeisten werden auch verheiratet während ihrer 20er. Oftmals lernen sich die zukünftigen Paare bei zu diesem Zweck veranstalteten Familienzusammenkünften zum ersten Mal kennen. Unterschiede gibt es jedoch in der Art, wie viel Mitspracherecht die zu verheiratenden Menschen selbst haben. Und wie viele potentielle Partner_innen sie sich angeschaut haben. Und wie lange sie vorher miteinander Zeit verbringen dürfen, bis es entschieden wird. Was aber nicht heißt, in dieser Zeit miteinander leben zu dürfen.

Insgesamt fühlen sich die Eltern dafür verantwortlich, ihr Kind unter die Haube zu bringen, machen Vorschläge (ggf. unterstützt durch unzählige Kuppelbörsen), arrangieren Treffen und achten v.a. darauf, dass möglichst Status-/Clan-/Kasten-/Einkommensgleich geheiratet wird. Neben dem Materiellen spielen auch Äußerlichkeiten – wie die Helle der Hautfarbe – nicht selten eine sehr wichtige Rolle. Ich bekam die Gelegenheit für zwei Tage bei einer indischen Hochzeit eingeladen zu sein und allen Ritualen beizuwohnen (meine helle Hautfarbe machte mich dort quasi zum erwünschten Ehrengast (2)). Generell zählen Hochzeiten zu den größten Feierlichkeiten in einem indischen Menschenleben und werden dementsprechend groß und lang zelebriert und treiben (insbesondere die Familie der zu verheiratenden Frau) nicht selten an die Grenzen des Ruins. Die bei dieser Hochzeit zu verheiratende Frau aus einer auf dem Land lebenden Jat-community hatte ihren Zukünftigen zweimal zusammen mit den Eltern getroffen – weiterer Kontakt war unerwünscht. Spannend und befremdlich zugleich waren auch die etlichen (streng ein­gehaltenen) Ri­tuale und Zeremonien – die al­le irgendwie mit dem Ge­ben und Neh­men von Geld ver­bunden waren. Das öffentliche Küssen hingegen ist in Indien verboten – selbst auf der eigenen Hochzeit. Während also die Frau bis auf wenige Auftritte den Haupttag der Hochzeit abgeschirmt im Zimmer verbrachte, feierten mehr als 1000 Gäste auf einem riesigen Gelände – bis der Bräutigam auf einer Kutsche gegen 22 Uhr mit seiner Familie in die Feststätte geritten kam. Danach schrumpfte die Gemeinschaft auf ca. 100 Familienangehörige, die gegen Null Uhr der hinduistischen Trauungszeremonie beiwohnen durften. Der Bräutigam saß davor und danach v.a. mit den männlichen Familienmitgliedern beider Familien zusammen, um Geld und Juwelen in diversen Ritualen entgegenzunehmen – inklusive Mitgift. Am Ende gegen 4 Uhr nachts fuhr das Brautpaar dann mit dem Auto in die Heimat des Ehemannes. Ein tränenreiches Abschiednehmen, denn damit verschwindet auch die Tochter aus dem Elternhaus zur Familie des Mannes. Zwar ist sie dort nicht zwangsweise zur Hausfrau und Mutter verdammt – zunehmend mehr Frauen bleiben auch nach ihrer Hochzeit erwerbstätig (oder sind schlichtweg aufgrund ihrer Armut gezwungen zu arbeiten), aber bleiben dennoch hierarchisch dem Mann und auch dessen Eltern untergeordnet.

Interessanterweise erfährt diese Tradition wenig hörbaren Widerstand von jungen Menschen – obwohl sie alle von der Liebesheirat träu­men, was auch in vielen Bolly­wood-Filmen kolpor­tiert wird. Einige Leute (eher jun­ge Bildungselite) berichten auch von einem gesellschaftlichen Wandel hin zu reinen Love-marriages. Andere erzählen, dass die Liebe dann mit der Zeit gewachsen ist, und dass sie dementsprechend eine Mischung aus love-marriage und arranged-marriage haben (3). Warum lassen sich eigentlich so viele darauf ein? Ist es der Wunsch nach Familie und Sicherheit? Die geringeren Möglichkeiten, jenseits familiärer Beobachtung vorher mit dem anderen Geschlecht Zeit zu verbringen und herum zu experimentieren? Oder die starke familiäre Bindung, verbunden mit finanziellen Abhängigkeiten, der man sich nicht zu widersetzen traut? Oder wird einfach auf das Schicksal und die Weisheit der familiären Entscheidung vertraut? Heißt das aber dann nicht auch, dass die jungen Leute ebenso implizit dem Identitätsdenken gemixt mit religiösen Schicksalsvorstellungen folgen? Oder rebellieren sie nicht (lautstark), weil sie es einfach nicht anders kennen? Und weil ein Ausbruch mit gesellschaftlicher Missachtung und Diskreditierung bestraft werden würde? Auch Scheidungen sind leider gesellschaftlich verpönt. Zwar sind diese prinzipiell legal, dennoch haftet danach – vor allem an der Frau und der dazugehörigen Familie – ein großer Makel. Demzufolge ist der familiäre Druck oftmals sehr groß, und viele nehmen lieber ihre Ehe als unglückliches Schicksal an, als sich zu trennen. Flucht aus dem tristen Liebesschicksal könnte dann entweder eine geheime Liebschaft sein (ich habe mehrfach vernommen, dass das sehr stark verbreitet ist, aber eben streng geheim) – oder eben die Erfüllung durch Arbeit und kollegiales Miteinander.

Aber vielleicht ist solch eine Kausalkette zwischen Arbeit und Familie auch nur ein Konstrukt meiner westlich geprägten Weltsicht? In jedem Falle ist sie weder monokausal noch pauschal zu ziehen – denn für die allermeisten Menschen in Indien ist der permanente Verkauf der Arbeitskraft schlichtweg notwendig, um sich und die Familie ernähren zu können.

Kapitalismus trifft Kaste

Zusammenfassend ist also das, was mir hier in Delhi ins Auge sticht, einerseits die stark ausgeprägte Bindung zur eigenen Familie und die Identifizierung mit einer bestimmten community oder Gesellschaftsschicht/Kaste. Und andererseits die Auswüchse eines kapitalistischen Systems ohne soziales Auffangnetz.

Ersteres führt allerdings auch zu Abgrenzung und Misstrauen gegenüber Inder_innen, die nicht zur Familie oder gleichen Berufsgruppe/ Gemeinschaft/ Kaste gehören. Egal ob arm oder reich. Wie oft ich gehört habe, dass ich keinem vertrauen soll, weil 70-90% der Inder böse/ schlecht/ hinterhältig seien…Stimmt aber nicht – so viel kann ich mit Sicherheit sagen! Derlei Misstrauen aber könnte ein tatsächlicher Grund sein, dass größere soziale Bewegungen schwer organisierbar sind.

Das stark ausgeprägte kapitalistische Wirtschaftssystem hingegen beeinflusst nicht nur den (Arbeits-)Alltag, sondern auch die formulierten Bedürfnisse – die abgesehen von der Liebesheirat ziemlich materialistisch sind, insbesondere bei der jungen Generation. Da ist es irgendwie extrem wichtig, welche Marke die Kleidung hat, dass das Handy ein Smartphone ist und dass man sich irgendwann mal einen Mercedes Benz leisten kann. Genährt wird die Sehnsucht nach dem materiellen Glücksgefühl wohl durch die allgegenwärtige Werbung (vorzugsweise mit weißen Models), riesige Shopping-Malls und einen Präsidenten, der zu den Apologeten des indischen Aufschwungs durch Wirtschaftswachstum gehört.

Vielleicht ist das, was ich hier wahrnehme aber gar nicht so ungewöhnlich und vielleicht ist es auch gar nicht so viel anders als bei der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Vielleicht fällt es mir nur deshalb so auf, weil ich selbst zu Hause meine Zeit meist in einer kleinen Blase voller toleranter Idealist_innen verbringe… Anyway, es fällt mir hier auf. Und Rana Dasgupta bestärkt das, wenn er die aktuelle Delhi-Gesellschaft als materialistisch und egoistisch (außerhalb der Familie) beschreibt.

Aber stopp, das so stehenzulassen und mit meinen Eindrücken zu bestätigen, widerstrebt mir total. Und es stimmt so auch nicht. Denn die Diversität der Menschen ist überall auf der Welt so groß wie hierzulande, und ich habe auch ziemlich idealistische (bettelarme) Künstler_innen kennengelernt, für die Geld zwar ein tägliches Thema ist (aus der Notwendigkeit heraus), die aber dennoch ihr Lebensglück in der Zwischenmenschlichkeit suchen und große Idealist_innen sind. So bleibt am Ende also die Einsicht, dass die Gesellschaft in Indien sich von unserer strukturell zwar an einigen Punkten stark unterscheidet, und sie auch prägt, die Menschen als solche hingegen doch überall gleich und zugleich ganz unterschiedlich sind. Und wenn man ihnen mit offenem Herzen begegnet, dann sind sie ebenso offen herzlich.

Zugleich steht das, was die indische Gesellschaft meines Erachtens nach strukturell so prägt – die gruppenspezifische (traditionelle) Identität und der (moderne) Kapitalismus – an vielen Stellen auch konträr zueinander und trägt sicher maßgeblich zu Konflikten in Familien und Lebensplanung bei. Beispielsweise, wenn junge Frauen sich aus der traditionellen Abhängigkeit und Hierarchie zur Ehemannfamilie durch eigene Berufstätigkeit befreien wollen. Oder wenn die Verfolgung des kapitalistischen Traumes, dass jede_r reich werden könne, mit der Haltung kollidiert einen beruflichen Weg einzuschlagen, den schon die Ahnen beschritten haben. All diese Konflikte und noch viel mehr davon gibt es auch. Zugleich ist die Gesellschaft auch in stetiger Bewegung und Veränderung.

Leider stoße ich hier wieder an die Grenzen meines Tellerrandblickes. Nicht nur, weil ich zu kurz da war, um wirklich tiefgründig all die vielen Zusammenhänge zu verstehen und noch immer zu wenig Hintergrundwissen habe. Sondern auch, weil ich immer von meinem Teller aus auf das Außen blicke, ich eine ganz andere Sozialisation erfahren habe und dementsprechend das, was ich wahrnehme, immer eine Konstruktion der Wirklichkeit aus meiner Sicht bleibt. Eine objektivere Wirklichkeit darzustellen, ist (wenn nicht von vornherein als methodologisch unmöglich abgelehnt) hier nicht leistbar. Dennoch war dieser Artikel nicht umsonst (auch wenn eine grundlegende Unzufriedenheit mindestens bei mir bleibt). Denn durch ihn konnte ich all die verschiedenen Eindrücke mal sortieren, reflektieren, mit meiner Sozialisation in Beziehung setzen. Auch wenn sich dabei mehr Fragen als Antworten auftun, bringen sie mich weiter. Und dem Verständnis anderer Welten näher. Ich hoffe euch geht es auch ein wenig so. Egal ob Indien, Ghana oder Nicaragua: Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben – nicht nur mit dem faszinierenden Außen, sondern auch mit sich selbst.

momo

(1) Rana Dasgupta (2014): „Capital“. Darin porträtiert er anhand zahlreicher Interviews die Menschen in Delhi quer durch alle Schichten im 21.Jahrhundert.

(2) Eine Form der „positiven Diskriminierung“, die mir hier begegnet ist und sicherlich auf das von den Briten implementierte Kastensystem zurückzuführen ist. Denn die Zuordnung dieser bemaß sich auch an der Helle der Hautfarbe.

(3) Ich denke auch, dass die weitestgehende Alternativlosigkeit zum besiegelten Eheleben einen großen Einfluss auf die positive (liebenswertes suchende) innere Einstellung gegenüber dem Partner hat und die Bereitschaft dafür die eigenen Grenzen weit zu dehnen. Demgegenüber bringt uns hierzulande die stärker gelebte Individualität und Autonomie viel mehr dazu solche Bünde in Frage zu stellen, wenn das Gefühl der Liebe schwindet.

Die Redaktion … fährt

fixed

Wie es sich für ordenliche anarchistische Hipster in Hypezig gehört, fahre ich ein Fixie. So ein Fahrrad mit starrem Gang, Ihr wisst schon. Kein Leerlauf, kein Rücktritt. Da kann ich an der Kreuzung stehend auf dem Rad balancieren und den ganzen zurückgebliebenen Normalos zeigen, wie cool ich bin. Oder mir von zugezogenen Teens Respekt zollen lassen, wenn ich an ihren Bremsmanövern und Beschleunigungsversuchen vorbeiziehe und auf die Frage „Ist das auch ein Fixie, Digger?“ mit ebensolchem Bremsmanöver antworten kann, so dass ich auch da ein ehrenvolles „Cool, Digger!“ als Anerkennung erhalte. Hach ja… Fixie fahren ist eben weitaus mehr als ein runder Tritt und das Einswerden der Beine mit den Pedalen, des Körpers mit dem Rad. Es ist Lifestyle, purer Lifestyle. Auch mit dem Flat Bar werde ich mich noch anfreunden, die passenden Karten für meine Rückgradspeichen suche ich noch. Soll ja schön individuell sein, so ein Fixie. Mich repräsentieren und meinem höchsteigenen Subjekt Geltung verschaffen in der Welt der Uniformitäten. Ich fahre Fixie, also bin ich ich.

(shy)

…nicht Fahrrad

Von meinen lieben Mitanarchist_innen beim Feierabend! bin ich mittlerweile ein paar Mal gefragt worden, warum ich zur Überbrückung der Distanzen zwischen Redaktions- und Wohnraum denn nicht ein Fahrrad nehme, die Strecke zu Fuß zurück zu legen, dauere doch zu lange und sei bestimmt recht anstrengend. Und mit beidem haben sie recht! Doch irgendwie gefällt mir das Laufen. Es ist meditativ. Oder um es mit Milan Kundera zu sagen, man spürt sich selbst, Alter und Gewicht.

(carlos)

… ab auf Literatur!

Ich weiß nicht, seit wann es so ist. Früher konnte ich mich nie wirklich dazu aufraffen, ein paar Seiten Belletristik am Stück zu lesen. Je älter ich werde, desto mehr scheint sich dies zu ändern. Es liegt nicht mal am Inhalt der Bücher, denk ich. Was mich mehr interessiert, ist der Stil, in dem das Werk geschrieben wurde. Metaphern, Allegorien, Bildnisse, wortgewaltige Reden, inspirierende Formulierungen, flinke und scharfe Witze und seltene Begriffe, die man sonst nie oder nur kaum im Leben so hört. Insgeheim suche ich wohl immer nach Inspiration. Die Sprache erscheint mir wie ein riesiges Kochbuch, aus dem wir meist nur die simpelsten Nudel- und Reisgerichte nutzen. Ein gutes Buch ist da wie ein Besuch in das feine Nobelrestaurant. Und danach denkt mensch sich: Kann ich das nicht auch vielleicht? Manche mögen mit meinen Gedanken nichts anzufangen wissen. Was spielt es für eine Rolle, wie man sich im Alltag ausdrückt? Wäre es nicht lächerlich, wenn sich Menschen so hochgestochen und langatmig ausdrücken würden, wie sie dies teilweise in der Literatur machen?

Vielleicht, aber ich glaube doch, dass sprachliche Kreativität ungemein wichtig ist. Ich denke, dass in seiner Sprache jeder ein kleiner Künstler sein kann! Vielleicht hat man zu unruhige Hände für das Malen und Zeichnen, zu wenig Geld und Zeit um Musik zu lernen oder zu wenig Geschick und räumliches Verständnis, um sich Faltarbeit wie Origami zu widmen. In seiner eigenen Gedankenwelt kann mensch hingegen immer rumstöbern und neue Assoziationen ausgraben, wie in einer frischen Goldgrube, um seinen Gedanken und Gefühlen die richtige Form zu geben. Die demokratische Kunst überhaupt, könnte mensch meinen. Die Dichtung gehört ja auch zu den ersten Künsten, die in der Antike bereits einige ihrer Höhen erklommen hat. Aber ach Gott, Gefühle! Die empfindet mensch ja heute als eher nervig und störend (die eine Bevölkerungshälfte wohl mehr als die andere). Vielleicht dichtet mensch heute deshalb ja nicht mehr so gern. In meiner Schulzeit hat glaub ich nie irgendjemand freiwillig gern gedichtet und es dann auch noch vorgetragen. Durch Wortwahl und Ausdrucksweise entblößt mensch sich ja vielleicht mehr als durch das Abfallen seiner Kleider. Gefühle, die Schamteile des Menschen?

(alphard)

… frei Bahn und aus der Haut

Man geht durch die Straßen, setzt sich in die Bahn und plötzlich ist die Batterie des MP3-Players alle. Auf einmal ist man mittendrin im alltäglichen Wahnsinn, und nicht nur die beißenden Gerüche fallen einem stärker auf und lassen leichte Übelkeitsgefühle entstehen, sondern ebenso kommt hinzu, dass man sich der laufenden Gespräche der Mitfahrenden nicht weiter des Hörens entziehen kann. Von rassistischen Äußerungen bis kruden, nach Mobbing mutenden Sprüchen von Halbwüchsigen ist die ganze Palette vorhanden. Ganz zu schweigen von Eltern, die die Versuche ihrer Kinder, Aufmerksamkeit zu bekommen, ignorieren oder gar niedermachen. Vor ein paar Tagen las ich einen Spruch, an den ich mich nicht mehr zur Gänze erinnern kann, aber er ging in etwa so: „Deutschland definiert: Alle sitzen in der Bahn und gucken grimmig. Ein Kind lacht. Die Eltern schimpfen, bis es genau das Gleiche macht.“ Erstaunlich passend, wenn man sich die Leute in der Bahn betrachtet. Ein paar Haltestellen weiter steigen dann Kontrolleure hinzu und man macht, dass man schleunigst aus der Bahn kommt. Skeptisch hinterher guckend zücken sie bereits ihr Scan-Gerät.

Aus der Bahn raus überlegt man, auf die nächste zu warten oder einfach den Weg zu Fuß fortzuführen. Die Entscheidung geht zum Laufen.

Als es nach wenigen Minuten zu regnen beginnt, stellt man sich dann schon die Frage, ob das jetzt ernst gemeint ist. Aber wie auch immer, es ändert ja nichts. Eh man sich versieht, fährt dann ein Auto in gefühlter Höchstgeschwindigkeit durch eine durch ein Schlagloch entstandene Pfütze. Klasse. Aber weiter. Noch im Tran bemerkt man nicht, dass ebenfalls mit hoher Geschwindigkeit hinter einem ein Fahrrad anrollt und so knapp vorbei fährt, dass man fast noch hin fällt und bei dieser Gelegenheit tritt man dann gleich noch selber in eine Pfütze und man beginnt zu überlegen was zur Hölle man denn falsch gemacht hat. Entnervt kommt man dann seinem Ziel näher und bemerkt, dass man wohl den Schlüssel vergessen hat, und ein pöbelnder Mensch, der augenscheinlich mit einem Alkoholproblem zu kämpfen hat, plärrt einen sinnentleert voll. Erfolgreich entkommen geht man nun Nummern im Handy durch, um aus der entstandenen Misere zu entkommen. Es regnet noch immer, mittlerweile aber als leichter Nieselregen, doch nun kommt noch ein toller Wind hinzu. Ans Handy scheint keiner zu gehen. Gut, dann eben zurück. Diesmal aber wieder mit der Bahn. Ja – Glück gehabt, da kommt sie bereits. „Endlich mal was Gutes“, denkt man sich, um sich etwas zu beruhigen, und lässt sich erleichtert auf den Sitz fallen. Den Kopf ans Fenster gelehnt und mit zynischem Lächeln über den bisherigen Tag, als vom hinteren Ende der Bahn ein Mensch auftauchte. Ein Mensch, den man bereits am gleichen Tag gesehen hat. Doch nicht auf den Menschen achtet man, nein. Denn er hält ein Gerät in der Hand, und feist grinsend kommen die Worte: „Fahrausweis bitte“ über seine Lippen.

(R!)

.weeeeiiiit weg.

Auch wenn ich aus Teilen der Redaktion dafür kritisiert werde, dass es inhaltlich falsch ist, vom Fahren zu sprechen, wenn ich doch nach Indien fliege, schreib ich hier jetzt trotzdem weiter.

Denn ich fahr mit einem modernen Luftschiff namens Flugzeug.

Viel spannender als die korinthenkackerische Begrifflichkeit ist aber derzeit mein Gefühl zur bevorstehenden gut drei Monate dauernden Reise. Gute Frage. Im Moment wird mögliche Vorfreude durch den Stressfaktor verhindert. Zu viele Punkte auf der ToDo-Liste, die vorher abgehakt werden müssen, damit es endlich losgehen kann. Aber irgendwie ist dieses Gestresstsein auch nicht wirklich ein neues Gefühl, wenn ich so an meinen Alltag denke…

Wenn ich dann doch mal Zeit habe, über Indien zu sinnieren, dann fällt mir auf, dass ich eigentlich gar nicht groß weiß, was mich erwartet. Aber ich freu mich trotzdem darauf. Oder gerade deshalb? Warum – weil ich Fernweh habe. Weil ich raus will. Weil ich neugierig bin. Weil mich fremde Welten interessieren und faszinieren. Angst hab ich eigentlich nur vor mir selbst: dass ich schlecht damit klar komme, mitunter viel krasse Armut zu erleben und gleichzeitig vielfach meinen Stempel als reiche Weiße zu bekommen. Damit umzugehen und sich selbst treu zu bleiben wird eine Herausforderung. Aber daran kann ich wachsen. Ja, ich freu mich darauf nach Indien zu fahren.

(momo)

Piraterie & Somalia

Wie die Internationale Gemeinschaft Konflikte fördert

 

Der deutsche Bundestag beschloss Ende Mai 2014 die Verlängerung des Mandates der seit 2008 laufenden militärischen EU-Operation „Atalanta“ um ein weiteres Jahr. Zur Legitimation wur­den seitens der Bundesregierung u.a. die Ziele des EU-Engagements her­vorgehoben: neben der Sicherung der Handelswege am Horn von Afrika vor allem die langfristige Stabilisierung, Befriedung und wirtschaftliche Ent­wick­lung von Somalia (1).

Die Internationale Gemeinschaft meint es also eigentlich nur gut. Für die Somalis, und den (auch wirt­schaftlichen) Weltfrieden wird daher kräftig in die Marine investiert. Ver­schwiegen aber werden dabei nicht nur andere mit dem Einsatz einhergehende Interessen, sondern auch die eigene Rolle, die überhaupt erst zur Ent­wicklung von Piraterie in Somalia führte. Noch dazu stellen sich die Ent­scheidungsträger_innen taub, wenn sie hören müssen, dass ihr Engagement vielmehr konfliktverschärfend als stabi­li­sierend auf Somalia wirkt.

 

Ursachen und Entwicklung der Piraterie

 

Die Piraterie am Küstenstreifen Soma­lias begann bereits vor Ende des Kalten Krieges, entwickelte sich aber vor al­lem ab 1991, nachdem das Barre-Re­gime gestürzt war. Während in den 90ern eher vereinzelt Schiffe gekapert wur­den, um Lösegelder zu erpressen, pro­fessionalisierte sich das Geschäft der Piraten ab den 2000er Jahren und hat­te neben 2008 – dem Beginn des mili­tärischen Engagements seitens der Internationalen Gemeinschaft – 2011 sei­nen Höhepunkt mit 214 versuchten Kaperungen (47 davon erfolgreich).

Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren vor allem jene internationalen Wirt­­schaftsakteure, die sich jetzt auch für ihre Bekämpfung stark machen: die maritime Fischereiwirtschaft. Die Pi­raterie entwickelte sich nämlich erst, nach­dem große Teile der ohnehin re­la­­tiv armen Küstenbevölkerung ih­ren Lebensunterhalt nicht mehr durch Fischerei sichern konnten und kaum al­ter­native Einkommensquellen besaßen. Der Regime-Sturz be­güns­tigte ein Ordnungs- und Macht­vakuum, welches auch zahlreiche Fisch­fangflotten aus der ganzen Welt nutzten, um die reichen Fisch­bestände der somalischen Gewässer zu befischen, ohne für Fischereilizenzen oder Kom­pensationen zu zahlen (zeitweise bis zu 700 illegale Flotten gleichzeitig). Doch nicht nur das: Zum Teil wurde mit illegalen Fangmethoden gearbeitet, so dass bestimmte Gewässerabschnitte buchstäblich leerge­fischt und der Be­stand nachhaltig de­zi­miert wur­de. Da­rüber hin­aus war­fen die inter­national agie­ren­den Traw­­ler ihren für sie minderwertigen Mit­­fang so billig auf den somalischen Markt, dass auch die ver­blei­benden Fischer die­ser Kon­kurrenz kaum stand­halten konn­ten.

In Folge dessen und in Ermangelung einer kontrollierten (staat­lichen) Li­zenzvergabe begannen einige Fischer wiederum ge­fälschte Lizen­zen auszu­stellen und ei­nige Warlords und andere lokale Führer kas­sierten Be­­stechungsgelder von Traw­lern und stell­­ten im Gegenzug Schutz­truppen, wel­­che die alleinige Nutzung der be­zahl­­ten Gebiete sicherten. Es kam zu ers­ten gewaltvollen Aus­ein­an­der­set­zun­gen auf dem Meer zwischen ille­galen Traw­lern, Schutzgruppen und (ehe­mal­igen) somalischen Fischern so­wie einer bei­der­seitigen Bewaffnung. Zu­neh­mend mehr Fischer gingen nun dazu über, Lösegelder als Kompensation für ver­lo­ren­en Fischfang von den Traw­lern zu erpressen.

Ab dem neuen Jahrtausend profess­io­­nalisierte sich das Pirateriegeschäft zu­nehmend: durch größere Piraten­gruppen (1), vermehrte Nutzung tech­nischer Geräte wie GPS, eine räumliche Ent­fernung vom Küstenstreifen und Operationen mit einem sog. „Mut­ter­schiff“ als Piratenstützpunkt auf hoher See. Auch wurden zunehmend Han­dels­flotten, die auch für die Dauer der Lösegeldforderung in für die Piraten sichere Häfen transportiert wurden, zum Ziel der Ka­perungen.

Seit 2008 und mit dem Beginn der Militäreinsätze der Internationalen Ge­mein­schaft expandierte und eskalierte auch die Piraterie zunehmend: die Dau­er der Verhandlungen stieg von zwei auf bis zu sechs Monate, die Höhe der Lösegeldforderungen stiegen an und es fand eine räumliche Expansion weit in den Indischen Ozean bis hin zu den Seychellen statt. Seit 2012 ist ein Rückgang der versuchten Enterungen zu verzeichnen. Dies liegt sicher sowohl an der militärischen Piratenjagd seitens der Internationalen Gemeinschaft, als auch an der vermehrten Bewaffnung der Crews auf den Handelsflotten selbst. Dennoch ist dieser Rückgang weder ein Zeichen für Stabilisierung noch für die Verbesserung der Situation, sondern lediglich ein Ausdruck erfolgreicher Verdrängung und Verlagerung – welche sich schnell als Boomerang erweisen könnte.

 

Profiteure der Piraterie

 

Die ökonomischen Auswirkungen der somalischen Piraterie für den Welt­handel sind – im Gegensatz zum Eindruck, den man durch die mediale Berichterstattung ge­winnt – vergleichsweise gering. So betrug der Umsatzverlust für den welt­weiten Seehandel 0,1% im Jahr 2010. Für die deutsche Schifffahrt verringerte sich der Branchenumsatz um 2% (ca. 422 Millionen Euro) (2). Allerdings lan­det nur ein Bruchteil davon in den Hän­den der somalischen Piraten, die pro gekaperten Schiff zwischen 1-3 Mio. US-Dollar erbeuten (im Jahr 2008 ka­men so bspw. 30 Millionen US-Dollar zu­sammen). Der Großteil der Gelder fließt vielmehr an Versicherungen und die private Sicherheitsindustrie im Nor­den, die v.a. als Wachschutz und bei Lö­se­geldverhandlungen aktiv wird. An­­walts­kanzleien, Waffenhändler und Teile der somalischen Diaspora zählen ebenso zu den Profiteuren der Piraterie im globalen Norden.

Demgegenüber haben die Piraten-Gelder auch erheblichen Einfluss auf die somalische Wirtschaft. Einer­seits pro­fitieren davon ca. tausend Fa­milien mit ca. 10.000 Angehörigen fi­nanziell. Außer­dem wird der Ge­winn an ein brei­tes Netzwerk und Unterstützerumfeld ver­teilt, da die Pi­raten auf Infrastruktur bzw. sichere Häfen, umfassende Logistik und In­formationen angewiesen sind. An­­dererseits trägt die Piraterie jedoch auch zur Inflation, zur Verteuerung der Lebenserhaltungskosten und zum Ar­beitskraftmangel in der Fische­rei­wirtschaft bei.

In der Bevölkerung selbst ist Piraterie meist als legitime Einkommensquelle akzeptiert und wird zum Teil unterstützt. Allerdings mögen viele die Piratengruppen in ihrer Gegend nicht, da sie mit Waffen- und Men­schenhandel in Verbindung steh­en, Drogen und Alkohol in die Region bringen, zur Inflation und zum Werteverfall beitragen, den regionalen Schiffsverkehr behindern, und auch Schiffe ärmerer Länder und Schiffe des World Food Programme (WFP) der UN kapern. Übrigens gibt es zwischen Islamisten bzw. der Al-Shabaab und den Piraten keine belegte Zusammenarbeit, obgleich immer wieder Vermutungen kursieren, dass es Berührungspunkte gibt, oder in Zukunft geben könnte. Die Akzeptanz vieler Somalis gegenüber der Piraterie ist nicht nur damit begründet, dass ein Teil der Lösegelder auch in die somalische Wirtschaft und Familien fließen. Von vielen Somalis wird die Piraterie auch deshalb als legitim er­achtet, weil sich die Piraten selbst als Schützer des Meeres vor Überfischung und illegaler Fischerei darstellen. Die noch immer illegal agierenden Trawler verschiedenster Nationen werden als „Fisch­piraten“ bezeichnet, welche durch Kaperungen abgeschreckt wer­den sollen. Das erpresste Lösegeld wird als nachträgliche Pachtlizenz oder als Kompensationszahlung für ver­­gangene Fischausbeutung inter­pre­­tiert. Tatsächlich decken sich die jährlichen Einnahmen der Pira­ten ungefähr mit dem Verlust in der eigenen Fischereiwirtschaft. Löse­geld­forderungen bei Handelsflotten werden als legitimer Zoll für die Nutzung der somalischen Handelswege betrachtet. Im Gegenzug garantieren die Piraten eine sicherere Durchquerung der Meeres­passage und keine wei­teren An­griffe durch somalische Pi­ra­tengruppen – auch bei erneuter Durch­­querung in Zukunft.

 

Das Bedrohungsszenario und seine Konsequenzen

 

Diese ökonomischen Ursachen und Ursprünge der Piraterie werden gerne außen vor gelassen in der hie­sigen Debatte, die bspw. die Operation Atalanta rechtfertigen sollen. Statt dessen wird ein Bedrohungsszenario aufgebaut, um der Bevölkerung und vor allem den entscheidenden Parlamentarier_innen die Notwendigkeit des Einsatzes zu verdeutlichen. So wurde Piraterie auch vom UN-Sicherheitsrat als Bedrohung des internationalen Friedens und als kriegerische Handlung bezeichnet. Sie sei einerseits eine Bedrohung für den freien Handelsverkehr und erzeuge großen volkswirtschaftlichen Schaden. Andererseits werden auch Ver­bindungen zum Terrorismus hergestellt, um die Pira­terie als internationale Bedrohung er­schei­nen zu lassen. Schlussendlich wer­den, v.a. in der deutschen Debatte, be­sonders die Entführungen der Le­bens­mitteltransporte des World Food Programme der UN hervorgehoben, wel­che das Wohlergehen der somalischen Bevölkerung bedrohen.

Als Ursache von Pira­terie gilt in diesen Diskursen meist Staats­zerfall und eine da­raus resultierende Ge­walt- und Kriegs­­öko­nomie. Auf re­gio­­nale Unter­schiede hin­­­­­­­gegen wird kaum ein­ge­gangen, ob­wohl bspw. So­maliland (3) auf­grund ei­gener lokaler Ord­­nungs­strukturen frei von Piraterie ist und Pi­ra­tenstützpunkte und Rück­­zugshäfen v.a. auf Punt­land und Zentral-Somalia konzentriert sind. Denn die Internationale Gemein­schaft unterstützt lieber den Aufbau zen­tral­staatlicher Strukturen mit Ge­waltmonopol nach westlichem Vor­bild.

Durch die Bedrohungs-Argumentation lassen sich weltweit die mi­li­tärischen Mis­si­onen rechtfertigen – ob­gleich sie finanziell nicht im Verhältnis zum wirtschaftlichen Scha­den ste­hen. Insgesamt sind über 20 Staaten militärisch bei Somalia aktiv, größ­tenteils off-shore (2008/2009 wurden 40 Kriegsschiffe gezählt). Neben ein­zelnen Marine-Flotten – bspw. aus China, Indien, Russland, Korea, Japan, Malaysia und dem Iran – gibt es drei multilaterale Militäreinsätze bei Somalia: die Operation Atalanta der EU, Ocean Shield der NATO und die Combined Task Force der USA. Die Piratenjagd auch im staatlichen Hoheitsgewässer Somalias wurde 2008 durch die UN-Resolution 1816 legi­timiert. Weitere Resolutionen folgten und legitimierten sukzessive mehr Kriegsschiffe, die Jagd vom Festland aus, Gefangennahmen und Geleitschutz.

Zudem wird auch fleißig in den Aufbau von zentralstaatlichen Strukturen in­vestiert und die somalische Über­gangsregierung unterstützt, die inner­halb der Bevölkerung wenig Rückhalt genießt und demzufolge nicht durch­setzungsfähig ist. Bspw. werden deren Sicherheitskräfte vom Westen mit aus­gebildet und unterstützt (seit 2010 im Rahmen der EU-Mission EUTM Somalia). Investitionen in zivile Struk­turen, Entwicklungshilfe oder öko­nomische Anreize für die somalische Bevölkerung finden hingegen kaum statt. So sammelte man bspw. auf einer Geberkonferenz 2009 in Brüssel 213 Mio. Euro für Somalia, von denen lediglich 2% in nicht-militärische Aktivitäten investiert wurden (4).

Die Schifffahrtsindustrie selbst fährt mit Unterstützung ihres jeweiligen Her­kunftslandes unterschiedliche Stra­tegien des Selbstschutzes. Sie reichen von defensiven Ansätzen, wie Wachen, Zäune, Schallkanonen usw., über bewaffnete Mannschaften bis hin zur Anwendung offensiver militärischer Gewalt, die gezielte Tötung, Beschuss und Geiselbefreiung einschließt.

 

Das Karussell der vielen Interessen

 

Da das kostenintensive militärische Engagement der Internationalen Ge­mein­schaft bei Somalia in keinem Ver­hältnis zum wirtschaftlichen Scha­den steht und die Bedrohung zwar für die Arbeitnehmer_innen auf den Flotten real ist, jedoch als globales Bedrohungsszenario kons­truiert erscheint, drängt sich die Fra­ge auf, warum dann so viel in diese Militäreinsätze investiert wird. Ein Blick auf die vielfältige und komplexe Interessenlage der maritimen Wirt­schaft, staatlicher Agenturen und mili­tärischer Akteure, gibt darüber Aufschluss.

Zum einen werden natürlich öko­nomische Interessen verfolgt, wie die freie Nutzung der eigenen Han­delswege, der Schutz eigener Fisch­fangflotten und die Verringerung der Kosten, die durch gekaperte Schiffe, zeitliche Verzögerungen oder maritime Umwege entstehen. Bemerkenswert ist zudem, dass viele an der Piratenjagd beteiligte Länder noch immer eigene, auch illegale Trawler in der Region fischen lassen.

Zum zweiten scheint die Beteiligung vieler Länder von geo­stra­­tegischen bzw. geo­po­litischen Interessen mo­ti­viert zu sein. Der Politikwissenschaftlerin Birgit Mahnkopf zufolge ist der Indische Ozean die „Hauptbühne des globalen Wettbewerbs im 21. Jh.“, und die Kontrolle darüber bedeutet Einfluss und Herrschaft (5). Eine der wichtigsten Handelswaren ist dabei das Rohöl. Geopolitisch scheint es vor allem eine Rivalität zwischen der EU und den aufstrebenden asiatischen Nationen wie China und Indien zu geben. Sie werden mitunter als Bedrohung für westliche Interessen gesehen, weil sie militärisch aufrüsten, einen großen Ressourcenbedarf haben und demzufolge Konkurrenten sind. Darüber hinaus stellen sie den „freien Märkten“ das Modell des „staatszentrierten Kapitalismus“ gegen­über und investieren – vor allem China – viel in afrikanische Länder, bspw. in Entwicklungshilfe, Infrastruktur, Roh­stoffe, Handel und Technik. Durch militärische Präsenz kön­nen alle Beteiligten ihre Einflusszone aus­weiten. Des Weiteren ist der Einfluss auf die somalische Politik von geo­strategischem Nutzen – sei es beim Wett­lauf um Res­sour­cenvorkommen in Afrika oder beim Kampf gegen globalen Terrorismus oder bei der erwünschten Kontrolle im Indischen Ozean.

Zugleich ist der Einsatz am Horn von Afrika auch eine De­monstr­ation mi­li­tä­rischer Macht und welt­­politischer Hand­lungs­fäh­igkeit. Beispiels­weise kann sich die EU mit der Operation Atalanta als auß­enpolitisch ein­fluss­reicher und handlungsfähiger Akteur profilieren, und auch die NATO hat hier ein neues maritimes Aufgabenfeld. Ebenso können die Länder hier ihre militärischen Kapazitäten testen: Die Marine kann ihre Nützlichkeit demons­trieren, Aufrüstung forcieren und mi­li­tärische Fähigkeiten erproben, ohne sich dabei großen Gefahren auszusetzen. Beispielsweise hat Japan im Zuge des Einsatzes seine erste Militärbasis in Dschibuti etabliert und China seine Marinekapazitäten ausgebaut. Das gemeinsame militärische Engagement ist darüber hinaus eine Chance, internationale Beziehungen und Kooperationen neu zu gestalten, bspw. zwischen China und den USA, die durch ihre gemeinsame Mission eine neue Verhandlungsbasis haben, und eröffnet auch perspektivisch die Möglichkeit, Seerechtsregelungen neu zu gestalten.

Dagegen haben die somalischen Piraten und die sie unterstützende Bevölkerung keine militärisch oder geostrategisch inspirierten Interessen. Primär verfolgen sie ökonomische Interessen, was auch die Wahrung der Fischbestände einschließt. In politischer Hinsicht fordern sie, dass illegale Fischerei auch international geahndet wird und eine finanzielle Kompensationen stattfindet. Übrigens auch dafür, dass europäische Staaten seit den 80ern ihren Giftmüll vor der somalischen Küste verklappten, was ca. 300 Somaliern das Leben kostete und Krankheiten und Fischsterben her­vor­brachte. Die EU wei­gert sich bisher, Scha­densersatz zu leis­ten und den Müll fachgerecht zu ent­sorgen, ob­gleich das See­­rechtsabkommen nicht nur Piraterie, son­dern auch ille­gale Fischerei und Müllverklappung ver­bietet. Auch die Anerkennung von loka­len Ordnungsstrukturen und Au­to­nomie bspw. in Somaliland oder Puntland liegt im Interesse der lokalen Autoritäten – bei den Piraten lässt sich mutmaßen, dass Piraterie auch ein Mittel ist, um die Clan-Souveränität über bestimmte Gewässerabschnitte ge­genüber der Internationalen Ge­mein­schaft zu demonstrieren.

 

Antipirateriemission als Konfliktverschärfer

 

Soweit so schlecht. Doch die Bilanz wird noch düsterer, wenn man sich die konfliktverschärfenden Folgen des militärischen Engagements anschaut: Zwar gibt es einen Rückgang der erfolgreichen Piratenangriffe seit 2011 und der generellen Attacken seit 2012, allerdings ist dies kein Beleg für eine Stabilisierung der Region – vor allem nicht, wenn sich Gewalt nur verlagert. So führt der Wissenschaftler David Kersting aus, dass eine Verlagerung des maritimen Aktionsraumes statt­fand, bis hin zu den Seychellen, sowie ein Ausweichen auf kleinere Küs­tenstandorte als Rückzugsraum. Eben­so wird eine Verlagerung der Kri­minalität der Piraten hin zu anderen Geschäftsfeldern wie Kidnapping und Diebstahl festgestellt. Gleichzeitig führ­te das militärische Engagement auch zu Eskalationen in mehrfacher Hin­sicht: Die geforderten Lösegelder sind heute wesentlich höher, die Ver­hand­lungsdauer ist um mehrere Mo­nate gestiegen, ebenso hat die Ge­walt­bereitschaft der Piraten im Zuge zu­nehmender beiderseitiger Be­waff­nung deutlich zugenommen. Bei­spielsweise gab es über 3.000 ent­führte Seefahrer zwischen 2008 – 2011, seit 2008 mindestens 61 tote See­fah­rer und allein 2011 mindestens 111 tote Piraten. Insgesamt scheint also das bewaffnete Engagement der In­ternationalen Gemeinschaft die Ver­la­­gerung, aber auch Eskalationen im Ab­­lauf der Kaperungen zu fördern. Kon­­fliktverschärfend kommt neben der gestiegenen Gewaltbereitschaft hin­zu, dass viele der an der Piratenjagd be­­teiligten Staaten zeitgleich illegale Fisch­fangflotten vor Ort belassen oder – wie Kenia und der Jemen – noch offene Grenz­konflikte mit Somalia haben. Das beför­dert nicht nur das generelle Miss­trauen in der Bevölkerung jedweder aus­ländischer Intervention gegenüber, son­dern auch ihre Solidarität und Unterstützung gegenüber den Piraten.

Eine nachhaltige Stabilisierung und Be­friedung Somalias durch das internationale Engagement kann hin­gegen nicht festgestellt werden. Sie ist an­gesichts der genannten Interessen auch nicht zu erwarten, da diese den Be­darfen und Interessen der somalischen Bevölkerung zuwiderlaufen: Denn zum ersten versucht die Internationale Ge­meinschaft – geostrategisch motiviert – den Zentralstaat aufzubauen, statt lo­­kale Ordnungsstrukturen, die Clan-basiert in verschiedenen Teilen So­ma­lias bestehen, zu respektieren, ein­­zubeziehen und zu stärken. Zum zwei­ten finden kaum Investitionen in die zivile Bevölkerung und alternative Er­werbseinkommen bzw. zum Aufbau öko­nomischer Strukturen statt. Das aber entspräche den eigentlichen Be­darfen der Bevölkerung und könn­te darüber hinaus auch der Pira­te­rie den Legitimationsboden ent­zie­hen. Zum dritten zeigt die In­ter­nationale Gemeinschaft keine Be­­reitschaft, Verantwortung für die prak­­tizierte illegale Fischerei und Gift­müll­verklappung zu übernehmen, sprich Kom­pensationszahlungen zu täti­gen und eigene illegale Trawler zu ahnden. Hier stehen die ökonomischen In­te­ressen der Internationalen Ge­mein­schaft im Widerspruch zu öko­no­mischen und politischen Interes­sen der So­malier, sprich die Clan-Souveränität gegenüber den eigenen Fisch­gründen und Meeresterritorium zu respektieren. Zum vierten wird Piraterie noch mit Terrorismus verknüpft, was wie­de­rum zur Zerstörung von lokalen Strukturen beiträgt, die auch Piraterie be­kämpfen, und die Etablierung ei­ner etwaigen Ordnung langfristig ver­­hindert. Zum fünften stehen die geostrategischen Interessen im In­dischen Ozean der Beendigung des Mi­li­täreinsatzes generell entgegen, da das aufgebaute Bedrohungsszenario ja allen nützlich ist, um geopolitische Spiel­regeln zu definieren und mili­tä­rische Kooperationen zu erproben. Allen, außer den Somaliern selbst. Es drängt sich der Eindruck auf, dass ihr Terri­torium von der Internationalen Gemeinschaft als Spiel­wiese genutzt wird – legitimiert mit dem Argument, es ginge um die nachhaltige Ver­besserung und Sta­bi­li­sierung der Ver­hält­nisse in Somalia. Zurück bleibt ein zer­trampeltes Feld – mitnichten aber ein Boden auf dem Gras stabil und nachhaltig drüberwachsen könnte.

 

momo

 

(1) http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014/04/2014-04-30-mandat-atalanta.html

(2) Neben den sog. Subsistenzpiraten, die aus ehemaligen Fischern und Familienangehörigen bestehen, gibt es fünf große Piratengruppen, die mit Ausnahme der Somali Marines anhand von Clan-Strukturen organisiert sind und – in friedlicher Koexistenz zueinander – in verschiedenen Gebieten operieren. Die Somali Marines sind mit 1.500 organisierten Menschen die größte Piratengruppe in Somalia.

(3) Somaliland ist eine Region im Norden Somalias mit eigenen autonomen Ordnungsstrukturen. Sie wird als de-facto-Regime bezeichnet, da sie als unabhängiger Staat vom Großteil der anderen Staaten nicht anerkannt wird.

(4) David Kersting 2013: Piraterie vor der Küste Somalias: Eine kritische Perspektive auf das Horn von Afrika als geopolitische Arena; In: Elliesie, Hatem (Hg.): Multidisziplinary Views on the Horn of Afrika; Studien zum Horn von Afrika Band II, Köln, S. 1-34

(5) Birgit Mahnkopf 2010: Piratenhatz am Horn von Afrika. Zur politischen Ökonomie eines Piratenkonflikts und seiner geopolitischen Bedeutung; IPG 1/2010; S.58-81

 

weitere Literatur:

* Marchal, Roland 2011: Somali Piracy: The Local Contexts of an International Obsession. Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development Volume 2, Number 1: 31-50.

* Mari, Francisco; Heinrich, Wolfgang 2009: Von Fischen, Fischern und Piraten; In: Wissenschaft und Frieden 2009-2: Ressourcen, Ausbeutung, Krieg, Elend

* Matthies, Volker (2010): „Piraten vor Somalias Küsten: Kanonenbootdiplomatie oder Friedenspolitik?“.  In Luedtke, Ralph-M. & Peter Strutynski (Hg.): Kapitalismus, Krise und Krieg: Den Kreislauf durchbrechen. Kassel, S. 68-85.

Die Redaktion … spielt

… mit Kellen, Wölfen und Messern

Seit letztem Monat spiele ich wieder Tischtennis. Draußen, im Park oder gleich auf dem Spielplatz um die Ecke. Ich habe mir dafür eine kleine Tasche zugelegt, mit zwei Kellen und drei Bällen. Einer davon ist orange. Wenn ich jetzt bei Freunden an der Tür klingele und frage, ob sie mit auf den Spielplatz kommen, fühle ich mich wie fünf.

Außerdem spiele ich Okami – ein japanisches Videospiel, in dem ein weißer Wolf die Welt von finsteren Dämonen befreit. „Okami“ auf japanisch bedeutet Wolf, große Gottheit und weißes Papier. Mit mehreren Pinseln bewaffnet zerschneide ich Steine, male Wasser in ausgetrocknete Flüsse, lasse zerstörte Brücken neu entstehen und zeichne Sonnen in schwarze Wolken. Gottesgleich also. So richtig überzeugt von dem Spiel bin ich noch nicht. Die Idee mit den Pinseln statt Waffen hat aber was.

Letztes Jahr habe ich mit Freunden oft Flat Out gespielt – auch ein Videospiel, bei dem der Fahrer aus dem Auto in einem bestimmten Winkel und mit einer bestimmten Geschwindigkeit katapultiert wird, um auf eine Dartscheibe oder ins Tor oder durch Feuerringe zu fliegen. Am Ende liegt der Fahrer immer tot in der Ecke. Auch irgendwie gottesgleich, nur mit dem Unterschied, nicht die Welt zu retten, sondern einfach nur viele Punkte zu ergattern.

Ende letzten Jahres litt ich dann an einer Spiele-Überdosis. Non-Stop Flat Out, Romee, MauMau, Mensch ärgere dich nicht, Trivial Pursuit, Scrabble. Das Problem: Ich kann nicht verlieren und diskutiere bis aufs Messer, wenn ich Ungerechtigkeit wittere. Nicht mit allen. Eigentlich nur mit denen, die mir am nächsten stehen. Und eigentlich völlig sinnlos. Nicht so gut. In Spielen sehe ich dann nur noch Psychokriege, in denen sich jeder behaupten will.

Die Tischtennis-Saison ist aber noch jung. Bis jetzt habe ich mich noch nicht ins Spiel hineingesteigert. Bis jetzt will ich noch nicht immer gewinnen. Bis jetzt geht es noch um den Spaß. Manchmal muss ich mir noch still vorsagen, dass ich doch gewinnen will, um mich zu konzentrieren. Ich frage mich, wie lange es anhält. Gestern habe ich schon meinen Namen auf eine Kelle geschrieben.

tung

dagegen

Das Leben soll ja ein Spiel sein, ein Spiel des Lebens. Auf dieses Spiel hab’ ich aber keinen Bock mehr! Ein Kredit aufnehmen und das Studium beenden? Ich hab’ keinen Bock! Arbeiten und Karriere machen? Ich hab’ keinen Bock! Heiraten und Kinder kriegen? Ich hab’ keinen Bock! Eins ist mir mittlerweile klar geworden – an diesem Spielbrett bin ich falsch. Wird wohl Zeit, mir mein eigenes zu basteln. Ein Brett, wo ich über Los gehe, und alle um mich herum 20.000 Euro einziehen dürfen. Bis dieses Brett steht, dauert es aber noch ein Weilchen. Erstmal die Grundlagen schaffen: altes Brett nehmen und kaputtschlagen!

carlos

mitunter mit Gedanken

Mit sinnvollen wie sinnfreien, hellen wie dunklen und (gesellschaftlich) wertvollen wie auch völlig indiskutablen. Gedankenspiele sind dabei vor allem eines – die freie Entfaltung im Inneren, die Alternative zu realen Handlungszwängen, die Möglichkeit, überhaupt über gesellschaftliche Normen und Grenzen hinauszudenken. Da die Freiheit des einen bekanntlich da aufhört, wo die der anderen beginnt, ist es (fast) nur im Selbst möglich, wahnwitzige Ideen zu entwickeln oder überhaupt die eigene Persönlichkeit so zu entfalten, dass die gesellschaftliche Determination keinen Zombie hinterlässt. Das freie Spiel mit den Gedanken ermöglicht es mir erst woanders und mit anderen spielerisch tätig zu werden. Bei Gesellschaftsspielen, Wettkampfspielen, Wortspielen, sexuellen Spielen oder im Schauspielerischen, ja auch bei Machtspielen.

Ich spiele, also bin ich.

k.mille

… Karten- und Rollenspiele

Vielleicht ein bisschen old school, aber ich steh drauf: am runden Tisch mit Freunden und allerlei Genussmitteln sitzen und mit viel Phantasie in analoge Spielewelten tauchen. Die ansonsten bekämpfte Konkurrenzgesellschaft leb ich hier auch gern mal aus, inklusive Rumpöbeln. Ohne schlechtes Gewissen.

Besonders gut funktioniert das bei Skat-Abenden. Man muss gar kein alter Mann sein, um dort mit viel tamtam aufzutrumpfen, oder bei schlechteren Karten den Skat-Gott ob der Kartenverteilung zu verfluchen. Besser noch den Gegner beschimpfen, wenn er am gewinnen ist. Aber ich will hier kein falsches Bild hinterlassen, denn oftmals spiele ich auch ganz friedfertig – vor allem dann, wenn ich selbst ganz vorne throne.

Eine andere gute Gelegenheit, um sonst beherrschte Emotionen, konträre Haltungen oder ungeahnte Facetten des selbst mal auszuleben, bieten sich in so genannten Krimi-Rollenspielen. Als Abendfüllendes Programm konzipiert, schlüpfen 8-10 Menschen (am besten Freund_innen) in ganz unterschiedliche Rollen und spielen beispielsweise einen Mönch, Magier oder Möchtegern-Popstar. Die Aufgabe besteht nun darin herauszufinden, wer aus der illustren Runde der_die Mörder_in einer fiktiven getöteten Person ist. Zwar sind die Mordgeschichte, diverse Indizien und personelle Verstrickungen durch das story-board vorgegeben, allerdings bleibt noch genügend Spielraum um der Rolle den eigenen Stempel aufzudrücken. Herrlich, mit welcher Genugtuung ich als arroganter Magier über den Pöbel herziehen kann. Noch dazu erfinde ich auch neue Zauber, so dass irgendwann alle hoffentlich vor Furcht erstarren….

Der Phantasie freien Lauf lassen kann man übrigens auch mit dem Dixit-Kartenspiel. Platz drei meiner aktuellen best-of-Liste. Wunderschöne, verspielte und interpretationsoffen gezeichnete Bilder bilden hier die Basis. Die Aufgabe besteht darin eines davon assoziativ mit Worten zu belegen, ohne zu viel dabei zu verraten. Denn bestimmte Karten der Anderen sollten auch irgendwie dazu passen können.

Ja ich steh auf Spiele. Vor allem dann, wenn sie zwischenmenschliche Geselligkeit fördern, Phantasie anregen und mir ermöglichen in fremde Welten zu tauchen oder mich mal richtig gehen zu lassen. Mit vielen analogen Karten-, Brett- und Rollenspiele geht das vortrefflich. Und zu entdecken gibt es da noch jede Menge. Vielleicht ein bisschen old school – aber ich steh drauf.

momo

… mit

Sehr schön, denn wer spielt nicht gern? Brettspiele, Kartenspiele, Wortspiele, Schauspiele etc..

Soweit so gut. Doch ist das schon alles? Was spiele ich? Denn immerhin heißt die Rubrik ja „Die Redaktion spielt“ und mir schwirren bei diesem Begriff so massenhaft Gedanken durch den Kopf. Daher habe ich vor mit dem Begriff spielen zu spielen und zu schauen, was denn eigentlich alles dahinter steckt.

Anfangs denkt man häufig an Kinder, denn die sind ja ständig am Spielen. Dies ist meist ein positives Spielen. Man hat Spaß, kann etwas dabei lernen und verbringt eine schöne Zeit. Mit steigendem Alter spielt man dann immer weniger. Zumindest diese Art von Spielen. Allerdings ist nicht jede Art von Spielen eine rein positive. Menschen spielen auch im Stillen, ohne der anderen Person davon zu berichten. An dieser Stelle wird das Spielen nicht nur einseitig, sondern zum Teil auch manipulierend. Ich will damit nicht sagen, dass dies in jedem Fall bewusst geschieht und immer eine genaue Absicht dahinter steht, aber es kommt durchaus vor. Manchmal spielt man Menschen aber auch etwas vor, um nicht oder weniger verletzbar zu sein bzw. eine andere Person nicht zu verletzen. Ob das nun gut oder schlecht ist – darüber lässt sich streiten. Darum soll es aber an dieser Stelle auch gar nicht gehen. Sehen wir mal eben davon ab und wenden uns wieder der positiven Art von Spielen zu. Ich mag zum Bleistift auch Wortspiele sehr gern. Und auch beim Sex wird des öfteren gespielt, die unschuldigen Rollenspiele der Kindheit wandeln sich so z.B. in eine ganz andere Richtung oder allein der Begriff Sexspielzeug weist darauf hin, dass Sex durchaus einen spielerischen Charakter haben kann und hey, macht ja auch Spaß – sollte es zumindest ;). Manchmal spielt man auch einfach mit Gedanken. Es ist interessant wie weitläufig, dieser Begriff ist, aber wie oft er nur so eindimensional betrachtet wird. Zugegeben, er ist so weitläufig, dass ich irgendwie nicht so recht einen roten Faden zustande bringe. Ich springe von einem Gedanken zum nächsten. Schreibe – verwerfe. Ein Teil sagt mir, dass ich mir doch ohne weiteres ein „Spiel“ raus suchen könnte, um das Ganze einfacher zu gestalten aber ein Anderer fände das schlichtweg viel zu langweilig. Dann lieber ein holpriger Text, der nicht so einfach von der Hand geht und außerdem ist es ja auch per se nichts schlechtes. Es kann durchaus einen positiven Effekt haben einmal feste Schemata zu überwinden und den Gedanken(spielen) freien Lauf zu lassen.

R!

Ich möchte nicht Teil dieser „Bewegung“ sein

Das linksinterne Leipziger Montagsdemodilemma

Die Welle von Montagsdemos der sog. „Friedensbewegung 2014“ ist Ende März auch nach Leipzig geschwappt (siehe Artikel zuvor). Es geht, wie anderswo auch, um Frieden. Anlass dafür ist die aktuelle eskalationsfördernde Ukraine-Politik. Während sich hier – ähnlich wie noch immer in Berlin – am offenen Mikro anfangs vor allem Leute profilierten, die rechts- und verschwörungstheoretisch offen argumentierten, haben sich die Redebeiträge inzwischen verbessert.

In Leipzig haben einige linke Politaktivist_innen aktiv Einfluss genommen, um besseren Inhalt zu forcieren. Jetzt hängt montags auch ein großes Transparent mit dem Slogan „Nie wieder Krieg & Faschismus“ hinter dem Mikrobereich. Redebeiträge werden mit dem Orgakreis abgesprochen und jede_r, der_die sonst noch was sagen will, darf nur zwei Minuten das offene Mikro nutzen.

Trotzdem ist die grundsätzliche Beteiligung an den Montagsdemos zwischen Linken hier ein – zurecht – umstrittenes Thema. Erregte Gemüter diskutieren kontrovers bspw. auf diversen Gruppenplena miteinander, wie sich dazu verhalten werden sollte. Während die Einen aktiv mitgestalten, mobilisieren und provozieren die Anderen explizit dagegen – zum Teil mit zweifelhaften Nationallappen. Wiederum Andere versuchen die Demos zu ignorieren oder verfolgen die Entwicklung mit Interesse, ohne jedoch dazugerechnet werden zu wollen. Denn sie lehnen eine Identifikation mit dieser „Bewegung“ ab. Dazu gehöre ich auch.

Sag mir, wo du stehst…

Die Diskussionen drehen sich hauptsächlich darum, ob es sinnvoll und notwendig ist, in die Demos hineinzuwirken und durch fundierte Redebeiträge Rechte und Verschwörungstheoretiker_innen auszubremsen. Oder ob diese „Bewegung“ nicht besser ignoriert oder bekämpft werden sollte, weil sie Leute vor und hinter dem Mikro anzieht, die platte und oft falsche Botschaften bezüglich der Macht- und Weltpolitik verbreiten. Sollte man nicht die Empörung vieler Leute über die aktuelle Politik und Medienberichterstattung als Chance nutzen, um zur sinnvollen Politisierung und Gewinnung von neuen Leuten beizutragen? Oder muss eine Beteiligung abgelehnt werden, weil man nicht wollen kann, dass diese Bewegung in ihrem bundesweiten Charakter an Gewicht gewinnt?

Ich denke, dass Antworten auf diese Fragen nur generiert werden können, wenn man sich über die Ziele der Intervention verständigt. Wenn es darum geht, den Einen oder die Andere auf lokaler Ebene für fundierte Kritik an politischen Verhältnissen zu gewinnen, dann ist das vielleicht durchaus möglich. Schließlich sammeln sich derzeit wöchentlich auf dem Augustusplatz mehrere hundert Menschen, die sich nicht als politisch verstanden wissen wollen, sehr wohl aber von den aktuellen politischen Verhältnissen empört sind. Dabei repräsentieren sie einen bunten Haufen an Weltanschauungungen und Haltungen, die sich in alle erdenklichen Schubladen packen lassen. Einige davon sind sicher auch empfänglich für neue inhaltliche und auch kritische Impulse. Andere sicher nicht.

Oder geht es bei der Beteiligung an den Montagsdemos seitens linker Politaktivist_innen darum, den Rechten und anderen Spinnern einen Profilierungsraum zu nehmen? Dann ist das ein hehres Ziel, das ein hohes Engagement erfordert und letztendlich vielleicht auch in einer großen Enttäuschung endet. Weil sich Demagogen auch mit begrenztem Mikro auf dem Augustusplatz profilieren können. Und weil viele der anwesenden Leute recht oberflächlich so ziemlich alle beklatschen, die am Rednerpult bestimmte Reizwörter verwenden.

Besteht hingegen das Ziel darin, eine breite Friedensbewegung zu fördern, dann halte ich das Engagement im Rahmen einer Leipziger Montagsdemo für grundsätzlich falsch. Weil Leipzig bundesweit als Teil der sog. „Friedensbewegung 2014“ wahrgenommen wird, deren Ruf alle Alarmglocken leuchten lässt. Und weil das, was auf lokaler Ebene vielleicht „besser“ gemacht wird, bundesweit kaum Einfluss hat, vielmehr noch dazu beiträgt, das Treiben in anderen Städten harmloser erscheinen zu lassen.

…und welchen Weg du gehst

In Leipzig bemühen sich einige Linke, die mitmachen, auch um Abgrenzung zu Berlin und anderen Städten der „Friedensbewegung 2014“. Leider nur sehr halbherzig. Denn die immer noch aktuelle „Leipziger Erklärung“ ist schwammig formuliert, verhandelt zu viele (auch kritikwürdige) Themen und ist offen für so ziemlich alle und alles (1). Auch kann ich keine Abgrenzung zu Berlin erkennen, wenn ich vernehme, dass bspw. Ken Jebsen am 12.05. reden durfte. Und grundsätzlich klappt Abgrenzung zur „Friedensbewegung 2014“ auch nicht, wenn man unter der gleichen Fahne läuft bzw. die gleiche medial bekannte und verbrannte Methode „Montagsdemo“ nutzt.

Ich halte es für gefährlich den bundesdeutschen Kontext dieser Montagsdemo-Bewegung auszublenden, nur weil sich lokal vielleicht was bewegen lässt. Denn bisher ist völlig unklar wohin diese Bewegung marschiert. Und der eigene Einfluss erscheint dann groß, wenn man aus der Froschperspektive auf den Augustusplatz schaut. Diversen zweifelhaften Demagogen unwidersprochen das Feld zu hinterlassen, klingt aber auch nicht nach einer guten Lösung.

Im Grunde wünsche auch ich mir eine gute, breite und starke Anti-Kriegsbewegung. Aber nicht um jeden Preis. Ich möchte nicht Teil der bundesweiten „Friedensbewegung 2014“ sein, denn diese hat die Schmerzgrenze meiner Toleranz überschritten. Aber ich würde gern meinen Unmut gegen die hiesige Eskalationspolitik auf die Straße bringen. Und ich bin damit nicht allein. Dafür brauche ich eine Bewegung, die klare und konkrete Ziele verfolgt, Grenzen der Kooperation definiert und Aktionsformen nutzt, die nicht von der aktuellen Bewegung belegt sind. Vielleicht verliert man dadurch den ein oder anderen Menschen, der sich nicht als rechts oder links bezeichnen will. Vielleicht wird es dann keine Massenbewegung mehr. Aber schaden würde sie nicht.

momo

(1) Leipziger Erklärung: http://s14.directupload.net/images/user/140407/dazikgef.pdf

Lokales

Die emanzipierte Frau und ihr Prostitutionsdilemma

Bezahlten Sex verbieten?

Die medial geführte Schlacht der Feministinnen Ende letzten Jahres hat viele Gemüter erregt. Meines auch. Beherzt wurde dort um den legalen Status der Prostitution in Deutschland gestritten. Alle Beteiligten haben die Menschenwürde der Sexarbeiterinnen zum Ziel. Während die Einen diese durch die Bestrafung von Freiern erreichen wollen, kämpfen die Anderen für mehr Rechte der Prostituierten in ihrem Gewerbe. Diese Wege stehen sich nicht nur diametral gegenüber, sondern sind auch beide von tiefen Gräben gekennzeichnet, die das Ziel mitunter versperren.

Ein Königsweg scheint außer Sichtweite – das macht jedoch eine Bestandsaufnahme der Argumentationslinien um so spannender. Mit dem Anspruch einer differenzierten Betrachtung und dem Wunschziel, einem eigenen Standpunkt dadurch näher zu kommen, will ich die inhaltlichen Kontroversen samt Schlussfolgerungen hier nun skizzieren.

Anfang November wurde die Debatte um die Legalität von Prostitution durch einen populären Appell der EMMA (1) neu entflammt. Darin wird die seit 2002 in Deutschland legalisierte Prostitution in Frage gestellt und unter anderem die Bestrafung von Freiern gefordert. Über 10.000 Menschen und zahlreiche Prominente unterzeichneten bisher den Appell. Unter ihnen viele Politiker_innen (v.a. aus der CDU), Wissenschaftler_innen und Künstler_innen wie Heiner Geißler, Margot Käßmann, Reinhard Mey, Katja Riemann und Tatort-Kommissarin Maria Furtwängler.

Seither geistert das Thema durch Talkshows und Printmedien. Darin streiten ehemalige Zwangs- und Edelprostituierte zusammen mit ihren jeweiligen feministischen Stellvertreterinnen sowie Bordellbesitzern und Polizisten darüber, ob dieses Gesetz nun Prostituierte in ihren Rechten stärke oder zur Ausweitung von Ausbeutungsverhältnissen zwischen den Geschlechtern beitrage (2).

Die Kontroverse

An einem Pol stehen meist die freiwilligen Prostituierten zusammen mit Gegner_innen des Verbotes und Vereinen wie Doña Carmen e.V. und der deutschen Aids-Hilfe. Sie sehen durch die Legalisierung der Sexarbeit die Selbstbestimmung und Emanzipation dieser Frauen gestärkt, da sie nun nicht mehr kriminalisiert werden, unbezahlte Dienstleistungen einklagen können und auch Anspruch auf Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung haben. Am anderen Pol stehen eher diejenigen Frauen, die Erfahrungen mit Zwangsprostitution und Menschenhandel haben, zusammen mit Alice Schwarzer, den besagten Prominenten und anderen Legalisierungs-Gegner_innen. Sie kritisieren meist die patriarchale Degradierung der Frau als käufliches, frei verfügbares Objekt. Zudem berichten sie von einer starken Zunahme der Zwangsprostitution, sowie von miesen Arbeitsbedingungen und Preisdumping im florierenden Geschäft mit stetig wachsender Konkurrenz. Zwar gibt es auch ein Gesetz gegen Zwangsprostitution, allerdings ist diese meist schwer nachweis- und ermittelbar. Und zwischen diesen Polen stehen vor allem jene Frauen im Dunkeln, um die beherzt gestritten wird. Gestritten darum, zu welcher Seite sie mehrheitlich zu rechnen sind, ob sie von der Legalisierung eher profitieren oder nicht. Verlässliche Zahlen und Statistiken gibt es nicht in dem Geschäft – trotzdem werden immer wieder welche in den Raum geworfen, um den eigenen Standpunkt zu untermauern. Während Alice Schwarzer z.B. 90% der Prostituierten als Zwangsprostituierte sieht, werden von Anderen bspw. in der taz Polizeistatistiken zitiert, die einen Rückgang dieser Straftaten verzeichnen (3). Auch die Frage, wann Zwang anfängt und ob man noch von freiwilliger Prostitution sprechen kann, wenn sich eine Frau aus Armutsgründen und mangelnden Alternativen zum Verkauf ihres Körpers „frei“ entscheidet, steht zur Debatte.

Ebenso strittig sind Folgen und Wirkung der Legalisierung an sich. Hat sie wirklich zu einer Steigerung von Armuts- und Zwangsprostitution geführt, oder erscheint dies nur so, weil die Bordelle und ihre Mitarbeiterinnen nun ein viel offensichtlicherer Teil des öffentlichen Lebens sind? Sollte man Menschenhandel nicht strikt vom Sexgewerbe unterscheiden und separate Strategien verfolgen oder geht das gar nicht, weil beides einander bedingt? Und warum nutzen bisher so wenige Frauen überhaupt die Möglichkeiten der Legalisierung, z.B. im Rahmen der Sozialversicherungen? Macht das bestehende Legalisierungs-Gesetz da noch Sinn, oder müsste es nur konsequenter umgesetzt werden? Schließlich wird generell kontrovers diskutiert, ob die Illegalisierung in Form der Bestrafung der Freier überhaupt ein sinnvoller Weg sei, um die Rechte der Frauen zu stärken. Während die einen dadurch lediglich eine Verlagerung ins Hinterzimmer befürchten, welche noch miesere Arbeitsbedingungen und weniger Menschenwürde impliziert, erhoffen sich die Anderen davon einen generellen Rückgang von Prostitution und damit einen Rückgang des Zwanges den eigenen Körper zu verkaufen.

Die Kontroverse wird vor allem dadurch brisant, dass sich die beiden Positionspole im Ziel einig sind: Sie alle wollen im Grunde eine Stärkung der Menschenwürde, Selbstbestimmung und Rechte der Frauen sowie eine Verminderung der Gewalt gegen selbige. Demzufolge befürworten beide Parteien auch Präventionsarbeit, Ausstiegshilfen und Maßnahmen gegen Zwangsprostitution und Menschenhandel.

Zwei Wege – ein Ziel?

Die Debatte um die Legalität von Prostitution wird voraussichtlich weitergehen. Denn auch die neue Bundesregierung will sich (wieder) damit beschäftigen und gegebenenfalls die bestehende Gesetzgebung überarbeiten. Gerade weil das Ziel unstrittig ist, die bisher vorgeschlagenen Wege dahin jedoch widersprüchlich nebeneinander stehen, fällt es mir schwer für eine der beiden Positionen zu streiten.

Im Grunde kann die Debatte auch als eine zwischen Idealismus und Realismus interpretiert werden – auch wenn die widerstreitenden Parteien dies so nicht bezeichnen würden. Auf der idealistischen Seite steht die Utopie der gleichberechtigten, emanzipierten Frau in einer Gesellschaft ohne sexuelle Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse. Dazu gehört ein moralisches Umdenken jener Männer, die sich Sex kaufen, statt auf Augenhöhe und gleichberechtigt die sexuellen Bedürfnisse mit dem Gegenüber auszuhandeln. Die EMMA und ihre Appell-Unterstützer_innen denken, dass wir dieser Utopie durch Verbot und Kriminalisierung näher kommen. Weil legalisierte Prostitution patriarchale Machtverhältnisse systemisch manifestiert. Und weil der ein oder andere Mann durch ein Verbot vor dem Weg ins Bordell dann sein Handeln hinterfragen würde. Auf der anderen „realistischen“ Seite steht ganz pragmatisch die aktuelle Verbesserung der Arbeitssituation der freiwillig Prostituierten, deren gefühlte Würde durch den legalisierten Status ihrer Tätigkeit steigt, sie die Missstände besser einklagen können und die nun auch Anspruch auf soziale Sicherung haben. Am Ende dieses Weges steht die selbstbestimmte Frau, die über die Art der Verwertung ihres Körpers selbst bestimmt. Während die Idealist_innen den Realist_innen vor allem vorwerfen, die Zwangsprostituierten aus ihrem Kampf um mehr Rechte auszuklammern bzw. das System des Menschenhandels damit zu fördern, wird ihnen umgekehrt vorgeworfen die Prostituierten pauschal als Opfer zu behandeln und ihr Recht auf Selbstbestimmung beim Verbotsdiskurs zu missachten.

Dritter Weg in Sicht?

Was lässt sich daraus für die anarchistische Sichtweise folgern? Verbote sind nicht zielführend, da sie einerseits v.a. die Sexarbeiterinnen benachteiligen und andererseits nicht dazu führen, dass Prostitution aufhört zu existieren. Sie verschwindet nur von der Oberfläche. Kleine, durch die Legalisierung manifestierte Verbesserungen für einen Teil der Prostituierten, möglicherweise auf Kosten von Anderen (der wachsenden Anzahl von Zwangsprostituierten) erscheinen hingegen auch nicht sinnvoll.

Vielleicht aber hilft die Frage weiter, inwiefern bezahlter freiwilliger Sex an sich als ein patriarchales Herrschaftsverhältnis zu betrachten ist. Auch wenn nur Wenige in der Debatte diesen Aspekt betrachten, ist ohne Zweifel klar: das Prostitutionssystem ist ein Herrschaftssystem. Und zwar ein kapitalistisches. Während der eine das Geld hat und bestimmt, ist die andere gezwungen sich dieses durch den Verkauf ihres Körpers zu beschaffen. Im Vergleich zu anderen Tätigkeiten sind jedoch die Ausbeutungsstrukturen im Sexgewerbe offensichtlicher. Oder um es mit der GWR-Journalistin Kerstin Wilhelms auszudrücken: „Prostitution ist damit die Radikalisierung und Ausstellung der ansonsten verschleierten Ausbeutungsverhältnisse im Kapitalismus“ (5). Gäbe es also ohne Kapitalismus auch keine Prostitution? Sicherlich weitaus weniger, weil die Notwendigkeit wegfiele sich das Überleben dadurch zu sichern. Denn selbst wenn einige Frauen diesen Beruf gerne ergriffen haben, so ist es dennoch eine Tätigkeit zum Zwecke des Geldverdienens. Befriedigend muss das Geschäft nur für den Kunden sein. Trotzdem greift die Formel „Kapitalismus abschaffen, dann löst sich auch das Prostitutionsproblem“ zu kurz – auch wenn sie an einen Teil der Wurzel geht. Abgesehen davon, dass sie uns wenig hilft, um die aktuelle Problemsituation zu bewältigen.

Zum Anderen ist noch der patriarchale Aspekt der Debatte zu betrachten. Hier kann – je nach Perspektive – erst einmal herzhaft gestritten werden: Dominiert der Mann die Frau bei der Bezahlung von Sex verbunden mit der Erfüllung seiner Bedürfnisse, oder ist er eigentlich „die arme Sau“, die es sich anders nicht besorgen kann? Und wäre das Problem beseitigt, wenn einfach mehr Frauen zu Bordellkundinnen würden? Welches Frauenbild wird durch die Legalisierung derzeit kolportiert: wird die Frau zum Sexualobjekt degradiert und manifestiert oder muss sie nicht vielmehr dadurch in ihrer Selbstbestimmtheit und Emanzipation endlich ernst genommen werden? Während sich an der Oberfläche widersprüchliche Perspektiven zeigen, verweist die untergründig mitschwingende patriarchale Sex-Kultur jedoch auf einen anderen Wurzelteil des Übels: Eine Frau kann nur dann zum Sexualobjekt degradiert werden, wenn Sex nicht als zweisame Erfüllung definiert wird, sondern auch als einseitige Befriedigung verstanden, gutgeheißen und verlangt wird. Das zumindest ist mit dem Bild vom „triebgesteuerten Mann“ auch kulturell tradiert. So lange also in den Köpfen diese Einbahnstraße existiert, so lange werden sich auch Menschen prostituieren (müssen) – ob als Sexarbeiterin oder als Ehefrau.

Was bleibt nun nach einer Betrachtung der verschiedenen Argumente auf der Suche nach dem richtigen Weg für mehr Menschenwürde der Sexarbeiterinnen? Mal wieder eine Landung bei der großen Utopie: weg vom Kapitalismus einhergehend mit einem Kulturwandel hin zur geteilten sexuellen Befriedigung. Damit wäre das patriarchale Herrschaftssystem Prostitution abgeschafft, ohne dass es eines Verbotsgesetzes bedarf. Zwangsprostituierte gäbe es dann auch nicht mehr und alle hätten Spaß am Sex. Nur leider geht auch das an der Debatte vorbei. Den Rahmen weiter aufzuspannen, erweitert vielleicht den Horizont der Zusammenhänge, hilft den Betroffenen aber auch nicht viel weiter im Hier und Jetzt. Den Weg vom Ziel her zu denken, hieße für mehr Menschenwürde zu argumentieren und den Befreiungskampf der Frauen, die ihren Körper derzeit verkaufen (müssen), zu unterstützen. Wie, wissen sie wohl selbst am besten.

An diesem Punkt angelangt, muss ich selbstkritisch eingestehen, dass ich auf der Suche nach Antworten aus dem real existierenden Problem nicht weiterkomme. Ihr vielleicht? Dann schreibt doch dem Feierabend! Und wir führen die Debatte weiter.

momo

(1) EMMA ist ein Frauenmagazin mit feministischen Anspruch, für das Alice Schwarzer seit 1977 als Chefredakteuren und Verlegerin zuständig ist.
(2) Zwar sind in der Prostitution nicht nur Frauen, sondern auch Männer und Transgender tätig, allerdings ist dieser Teil sehr gering im Vergleich zu den Frauen. Da die Debatte selbst aber v.a. von Feministinnen geführt wird und diese (leider) lediglich aus diesem Blickwinkel argumentieren, wird auch im Folgenden die Prostitution von Frauen im Fokus stehen.
(3) www.taz.de/Debatte-Paedophilie-und-Prostitution/!122003/;
www.taz.de/Sozialwissenschaftlerin-ueber-Prostitution/!127156/;
www.emma.de/unterzeichnen-der-appell-gegen-prostitution-311923;
www.emma.de/artikel/wo-wird-das-gewissen-abgestellt-311632
(4) Graswurzelrevolution 384 (Dez. 2013, S.8) Andere, die auch auf den kapitalistischen Zusammenhang hingewiesen haben: fuckermothers.wordpress.com/2013/12/11/sex-kriege-ein-re-post-eigentlich-hab-ich-keine-lust-auf-die-debatte/#more-3926;
antjeschrupp.com/2013/10/31/funf-thesen-zum-thema-prostitution/;
www.akweb.de/ak_s/ak589/46.htm;

Nebenwidersprüche

Die Redaktion … fühlt

INNEN sein. innen SEIN

Wenn ich an fühlen denke, steckt da für mich meine ganze Welt drin. Ich finde, Gefühle sind etwas ganz wunderbares. Ich ziehe das Fühlen dem Denken vor. Denken strengt mich an, denn das impliziert bei mir, dass ich auch Taten folgen lassen muss. Im Fühlen aber bin ich weich und fließend. Und mit allem was ist oder nicht ist, was dem Fühlen folgt oder nicht folgt, bin ich milde und gnädig zu mir, denn es ist ja mein Gefühl. Mein tiefes Inneres – und da drinnen in mir ist alles erlaubt und alles herzlich willkommen.

Wenn ich an Fühlen denke, denke ich auch daran, mit mir im Kontakt zu sein, mit dem zu sein, was für mich zählt. Und ich denke an Wachsen. Insbesondere in den Momenten, in denen Gefühle wie Schmerz, Enttäuschung, Trauer, Ungeduld oder Wut da sind, versuche ich (mal mehr mal weniger, aber dafür immer besser) diese bewusst wahrzunehmen. Sie wahrzunehmen, indem ich sie einfach nur benenne. Und zwar ohne sie gleich zu bewerten oder, was mein Kopf sehr oft versucht, sie zu kategorisieren und den Ursprung erklärbar machen zu wollen. Und das bedeutet für mich, meine Gefühle weder festhalten zu wollen – also mich in meinem Schmerz baden, noch, sie wegzudrücken und zu ignorieren im Sinne davon, dass es ja wenn ich es mal ganz objektiv und nüchtern betrachte, schon gar nicht so schlimm ist. Bei dieser Art von Innenschau, zumindest zu den Zeitpunkten, wo mir das gelingt, spüre ich, dass daraus Entwicklungsschritte erwachsen. Im Rückblick zumindest fühlt es sich so an, Dinge zu mir genommen zu haben und zwar so wie sie waren – weder verharmlosend noch dramatisierend. Und damit fühlt es sich an, dass ich selbst die Verantwortung für mein Leben übernehme. Ich projiziere und leugne nicht und will auch nicht festhalten, was doch gerade so schön ist. Vielmehr stelle ich mich dem, was genau im Hier und Jetzt, in diesem Moment in mir ist und wachse daran, dringe in tiefe Schichten meines Selbst vor und erlebe dabei ganz bizarrerweise auch, dass ich mehr bin als meine Gefühle.

Und indem ich meinen Gefühlen so unbewertet in die Augen blicke, sie versuche einfach nur wahrzunehmen, schärft sich in mir die Gewissheit, dass ich so wie ich bin, mit all diesen meinen Gefühlen, genau richtig bin und das alles in mir sein darf. Das da drinnen, in meinem Fühlen, eine Welt – und zwar meine ganze Welt – liegt. Und der Welt da draußen, darf ich mich und meine Themen, mein Innenleben zumuten, ich darf meinen Raum haben. Das wiederum lässt mich eigenverantwortlich in meine Kraft kommen und Situationen nehmen wie sie sind. Und indem ich das tue, im besten Falle natürlich mit liebevollem Blick auf mich selbst, komme ich irgendwann ganz bei mir an und sehe immer klarer, wozu mich das Leben ruft. Ich wachse in die Person hinein, die ich bin.

Mein Blick wird frei von dem, was ich nicht habe, und geht zu dem, was ich alles habe. Er lässt mich erkennen, das ganz egal welcher Schmerz da auch war, ich alles mitbekommen habe, was ich brauche. So wachse ich in die Tiefe und stoße auf das wertvollste, das ich habe – meine Liebe.

mona d

…dieses und jenes

Gefühle sind ja ihrem Wesen nach unbeständig, unklar und fließend. Doch im Moment fühle ich mich tatsächlich verunsichert, oder besser: irritiert. Es flimmert in meinem Blick, immer mehr, je länger ich auf die Buchstaben hinstarre. Ich schließe mein eines Auge. Mit dem anderen peile ich über die Nasenspitze weg, zögere kurz, ehe ich dem Monitor links und rechts ein paar hinter die nicht vorhandenen Ohren gebe. Jetzt geht es besser, ich atme auf. Nur ein technischer Defekt, mit meinen Augen ist alles okay. Da kann ich ja weiter über Gefühle schreiben…

Männlich sozialisierte Wesen wie ich haben damit ja so ihre Probleme. Am einfachsten wäre es wohl, ich würde die Frage nach meinem Innenleben so beantworten wie Nelson, der hässliche Junge bei den Simpsons – mit einem mürrischen Achselzucken und den Worten: „In mir sind Gedärme.“ Das stimmt natürlich, technisch gesehen, ist eben nur ein wenig unterkomplex. Ich könnte auch heucheln und behaupten, dass ich gerade unheimlichen Zorn in mir fühle. Ja, Zorn! Einen rechtschaffenen Zorn natürlich, gegen Kapitalisten und Kriegshetzer, sowieso gegen Neonazis und die allgemeine Gesamtscheiße.

Aber wenn ich ehrlich bin, dann bin ich gerade mal überhaupt nicht zornig. Viel eher schon ist es ein leichter Weltschmerz, ein sanftes Gefühl von ennui (um es mal so schön frankophil bzw. frankophon zu formulieren), das mich da von innen her anrührt. Nein, ich bin nicht traurig – das Gefühl ist eigentlich ganz angenehm. Ein Gefühl von Herbst und milder, in Eichenholz gereifter Melancholie, wie sie mich regelmäßig befällt, wenn ich so rumsitze und darüber nachdenke, dass ich nun schon gut dreißig Jahre meiner Lebenszeit ziemlich zweckfrei verplempert habe. Ganz angenehm soweit. Ich sollte wohl noch mehr Schnaps trinken und mich mehr mit meinen Gefühlen beschäftigen, um auch die verbleibende Lebenszeit noch gut über die Runden zu bringen.

justus

Was fühlen…

…und wann?

Ich nehme einfach die jetzige Situation.

Ich schreibe einen Artikel für den Feierabend! und fühle Angst.

Wird der Artikel gefallen? Oder wird er zerrissen?

Er wird sicher zerrissen, antworte ich mir. Ich kann das doch nicht richtig. Mit Sicherheit bin ich nicht gut genug.

Schluss jetzt! Mach halt. Keine Angst, das wird schon, schließlich ist ja auch keiner perfekt und selbst wenn etwas geändert werden muss – passt schon. Aber doch bleiben die Zweifel und die machen es nur noch viel schwerer. Ich mache es mir quasi selber schwer. Jedes Wort wird mehrmals unter die Lupe genommen, bis es passen könnte und immer noch, bei all der „Sicherheit“ die ich langsam bekomme. Im Hinterkopf bleibt sie, diese Unbestimmte Versagensangst. Es bleibt nur dagegen anzukämpfen. Einfach schreiben. Reinhängen, denken.

Langsam wird es besser. Ich sehe was ich geschafft habe und werde ruhiger. Lese und lese dennoch immer wieder alles durch. Vielleicht ist es das, was mir die Sicherheit gibt. Ich kann es vielleicht ja doch und mach mich nur klein. Also nochmal, sage ich mir – reiß dich zusammen!

Aber die Anderen werden bestimmt viel tollere Texte haben, da kann ich ganz klar nicht mithalten.

Das Gerüst beginnt wieder zu brechen, doch nicht ganz. Immer wieder muss ich mich selber beruhigen und es funktioniert. Er ist fast fertig, der Artikel. Es wird leichter. Innere Euphorie beginnt aufzukeimen. Ich habe den Kampf mit mir gewonnen.

…Es folgt der Moment des Absendens und die Kritik der restlichen Redaktion. Der Puls steigt – was wird passieren? Die Gedanken überschlagen sich nun wieder. Aber sei es drum.Ich habe es gemacht, habe meinen Arsch hoch bekommen und geschrieben.

Und da ist es doch wie bei allem. Wir müssen es probieren, denn wenn wir das nicht machen, dann wird die Angst nie überwunden, dann bleiben wir stehen und entwickeln uns nie weiter. Also Mut zum Streit mit sich selber.

R!

Gefühlsexpertin?

Eigentlich halte ich mich ja voll für die Gefühlsexpertin: ich nehme sie bei mir und Anderen oft wahr, kann sie einordnen, reflektieren, analysieren und über Ursachen und Wirkungen philosophieren. Ständig umgeben von meinen Gefühlen, die zwischen Bergen und Tälern des Lebens wandern, machen sie mir das Leben mal leicht, mal schwer. Unbemerkt bleiben sie nur, wenn sie auf gerader Strecke laufen. Das gibt dann zwar meinem rationalen Ich mehr Raum, ist aber eigentlich auch ziemlich langweilig.

So und jetzt zum „eigentlich“ – denn eigentlich mach ich mir da auch ganz schön viel vor, mich selbst als Gefühlsexpertin zu sehen: Denn ich sehe meist nur, was ich sehen will – Negatives blende ich auch gern mal aus, wenns nicht passt oder rede es mir schön. Reflexion wird schnell zur Grübelei und die Analyse von Ursache und Wirkung verhindert vor allem eines: sie einfach mal anzugehen. Mal spontan so zu handeln, wie das Gefühl signalisiert. Nicht darauf zu achten, ob es jetzt in den Kontext passt, oder irgendwen verletzt, oder mich in komisches Licht stellt, oder die Situation ungünstig beeinflusst. Gefühle fühlen ist das eine – danach zu handeln etwas anderes. Gerade diese zweite Kunst ist noch mein Lernfeld. Aber es geht voran 🙂

momo

GEFÜHLE…

Echt jetzt? Muss ich wirklich über GEFÜHLE schreiben. Blöder B…m… Na ja, besser als über GEFÜHLE sprechen zu müssen. Da das hier ein politisches Heft ist, könnte ich ja mal erkunden, was mich da so umtreibt. Wie wäre es mit Empörung über gewisse soziale und politische Verhältnisse? Empört bin ich über die weit verbreitete Sinnfreiheit medialer Berichterstattung. Aktuelles Beispiel: Skiunfälle. Tragisch ja, aber muss das zwei Wochen lang auf Titelseiten prangen, nur weil es dem Schumi passiert ist?

Erschüttert war ich in letzter Zeit auch angesichts der rassistischen Ressentiments, die mal wieder verstärkt in der Mitte der Gesellschaft aufschwappen und sich in der aktuellen Diskussion um Flüchtlinge und Asylsuchende in Leipzig und Umland manifestieren.

Und einfach angepisst hat mich neulich ein Gespräch mit jemanden, der sich hauptberuflich als Sohn bezeichnete und dessen großes Lebensziel es ist, eine Menge Geld zu haben und sich ein schickes Auto zu kaufen, weil das ja schon irgendwie cool wäre. Idiot.

Aber wohin führt die Erkundung solcher GEFÜHLE? Im schlimmsten Fall lediglich zu einer Diskussion über diese GEFÜHLE. Mit etwas Glück aber auch zum Erkennen von Missständen und zum Drang, etwas daran zu ändern: Die sinnfreie Berichterstattung lese ich einfach nicht mehr und mache stattdessen meine eigene Zeitung. Den Alltagsrassismus akzeptiere ich nicht und gehe auf die Strasse oder werde aktiv in Initiativen, die versuchen das Leben der Asylsuchenden in den Unterkünften zu verbessern. Kapitalistische Lackaffen argumentiere ich nieder und verbreite den Gedanken von sozialem und bewusstem Konsum.

Was zu sagen bleibt: Gefühlt ist schon halb gekämpft. Also los rein ins erste Haus… Geschichte wird gemacht, es geht voran, es geht voran.

wanst