„Alles zu ihrer Sicherheit“

Rezension: „Kontrollverluste – Interventionen gegen Überwachung“

Die Leipziger Kamera (1), eine Initiative die sich seit 2003 intensiv gegen Überwachung engagiert, hat pünktlich zur diesjährigen Buchmesse eine Aufsatzsammlung zu Alltag, Theorie und Praxis des Kampfes gegen Überwachung vorgestellt. Dafür hat die Gruppe eine ganze Reihe, zum Teil sehr unterschiedlicher Beiträge, aus verschiedenen Spektren zusammengetragen und präsentiert einen recht umfassenden Einblick in das weite Feld der Überwachung und ihrer Kritik.

Während das erste Kapitel „Was geht?“ einen eher theoretisch-analytischen Überblick über den gesellschaftlichen Kontext, die Entwicklung und die politische Bedeutung von Überwachung gibt, beschäftigen sich die folgenden Kapitel mit den Möglichkeiten und Grenzen der juristischen Mittel. So etwa mit der zunehmenden Repression unter dem Label §129a, der Situation von besonders durch Repression Betroffenen (wie z.B. Migrant/-innen, Arbeitnehmer/-innen und Jugendlichen) und schlussendlich mit möglichen Interventionen und den Erfahrungen, die verschiedene Gruppen mit ihren unterschiedlichen Aktionsformen gesammelt haben.

Die inhaltliche Klammer dieser 33 Beiträge – oder wie Wolf-Dieter Narr es in seinem Vorwort nennt: „33 kritische Bespic­kun­gen des verrotteten, in Private-Public-Partnership gegrillten Sicherheitsbratens“ – bildet die Frage nach Ursachen, Notwendigkeiten und Nutzen von Überwachung für einen flexiblen, post­fordistischen (2) Kapitalismus. Im ersten Kapitel wird speziell unter dem Gesichtspunkt der Erzeugung von Gouverne­mentalität (3) in einer scheinbar individualisierten, „freien“ Gesellschaft nach einer Antwort gesucht.

Im Kapitel „Was geht nicht?“ finden sich Auseinandersetzungen mit der „neuen bürgerrechtlichen Bewegung“ à la „AK Vorratsdatenspeicherung“, wobei der Frage nach Möglichkeiten, aber vor allem Grenzen juristischer Mittel gegen die neuen Sicherheitsgesetze nachgegangen wird. Hier bekommt der Band – wobei das Thema differenziert dargestellt wird und auch juristische Mittel nicht negiert werden – doch einen Geschmack fundamentaler Staatskritik, der, besonders in Zeiten auch linken Jubels für das Verfassungsgericht als schützende, gute und absolute Instanz, erholsam ist.

Im Kapitel „Sind wir alle 129a?“ kommen Aktivist/-innen zu Wort, die vom Verfahren um die so genannte Militante Gruppe (siehe auch FA! #27) betroffen sind. Sie berichten, wie die umfassende Überwachung ihr persönliches Leben beeinflusst und analysieren die Strategie des Bündnisses, das sich für die Einstellung des 129a-Verfahrens einsetzt. Auch Menschen, die sich schon intensiv mit diesem Thema beschäftigt haben, finden mit dem Bei­trag zu dem Verfahren gegen das „Critical Art Ensemble“ (4) noch ein paar neue Informationen über staatliche Repression gegen Systemkritiker/innen in Zeiten des Terrorwahns in den USA.

Weiter geht’s im Kapitel „Was noch?“ mit Berichten über spezifische Repression gegen Migrant/-innen und Flüchtlinge, gegen Arbeitnehmer/-innen sowie dem bisher recht wenig beachteten Bereich der Be­fugnisse und (fehlenden) Kontrolle der immer weiter in die Sicherheitsarchitektur in­tegrierten privaten und freiwilligen Sicherheitsdienste und deren Bedeutung für die Formung des öffentlichen Raums sowie über Zwangsbeschäftigte in Hartz-4-Programmen. Auch hier wird der Blick, durch einen Beitrag zu den so genannten „ASBOS“ (5) in Großbritannien, über den nationalstaatlichen Tellerrand gelenkt und man lernt, wie schnell bei unseren europäischen Nachbarn skurrile Ordnungswidrigkeiten zu Straftaten werden können.

Die letzten beiden Kapitel „Was sagen?“ und „Was tun?“ sind praxisorientiert und thematisieren die „Rhetorik und Realität von Überwachung“, die möglichen Konsequenzen daraus sowie die Praxis verschiedener überwachungskritischer Gruppen. Dabei reicht das Spektrum von Tipps zur Computer- und Kommunikationssicherheit bis hin zu Gruppen, die versuchen, im überwachten öffentlichen Raum zu intervenieren, wie die „Surveillance Camera Players“ (6) oder „LIGNA“ (7). Auch „gipfelsoli“ (8) liefert einen, nicht zuletzt in Hinblick auf den kommenden G8-Gipfel in Italien, praxisrelevanten Artikel zur europäischen Sicherheitsarchitektur.

Alles in allem ein lohnenswertes Buch, dem es gelingt das umfangreiche Feld der Überwachung und ihrer Kritik von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten, ohne dabei in das häufig inhaltsleere Gezeter über den „totalitären Überwachungs- und Sicher­heits­staat“ zu verfallen. Vielmehr schafft es der Band praxisnah zu bleiben ohne aber eine tiefere Analyse der sozialen Folgen, Bedingungen und Ursachen von Überwachung zu vernachlässigen.

Rote Hilfe OG Leipzig

Kontrollverluste – Interventionen gegen Überwachung, Leipzig Kamera (Hrsg.), Unrast Verlag, Münster, 2009 – ISBN 978-3-89771-491-5, S. 256 mit Abbildungen, 18 €

(1) leipzigerkamera.twoday.net

„Die „Leipziger Kamera. Initiative gegen Überwachung“ ist seit 2003 in der Stadt des bundesdeutschen Pilotprojektes zur Videoüberwachung öffentlicher Plätze aktiv. Zu ihren Projekten zählen überwachungskritische Stadtrundgänge, das Festival „DEL+CTRL“, die Veranstaltungsreihe „Salon Surveillance“ und Aktionen wie die Verleihung des „Erich Mielke Gedächtnispreises“ und das „Making-Trouble“-Wochenende zusammen mit den Space Hijackers aus London.“

(2) Postfordismus: seit den 1970ern dominierende Wirtschaftsform gekennzeichnet durch Flexibilisierung der Produktion, Entbürokratisierung der Verwaltung, Wegfall/Privatisierung staatlicher Sicherungssysteme, Individualisierung aller Bereiche der Lebensorganisation.

(3) Gouvernementalität meint hier einfach die Produktion normen-konformen Verhaltens durch Internalisierung (Anm. der Redaktion)

(4) critical-art.net, caedefensefund.org

(5) ASBO heißt „Anti-Social-Behavior-Order“. Das sind konkrete Verbote, die von Polizei und kommunalen Verwaltungen beantragt und von Gerichten ausgesprochen werden. Sie richten sich gegen „unangemessen“ empfundenes Verhalten, was allerdings keine Straftaten sein müssen. Verstöße gegen ASBOS sind jedoch Straftaten. „Oft werden Fotos der Beschuldigten (mit Namen und Adresse) sowie den Auflagen in Schaukästen, auf Plakaten an Bussen oder im Internet veröffentlicht.“

(6) notbored.org/the-scp.html

(7) www.ok-centrum.at/ausstellungen/open_house/ligna.html

(8) gipfelsoli.org, euro-police.noblogs.org

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