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Stein auf Stein – sicher soll es sein

Das neue BundesKriminalAmt-Gesetz

Allein in den letzten sieben Jahren hat der Bundestag über 50 Gesetze ver­ab­schiedet, die tiefer in unser aller Leben ein­greifen, als es den meisten bewusst ist: Von der Registrierung der Konten- und Reise­bewegungen, über die Speicherung bio­metrischer Daten, bis zur Überwachung der Kommunikation durch die Vorratsdatenspeicherung, das staatliche Wissen über uns alle wird zunehmend umfassend. Der neueste Clou ist der „Entwurf eines Gesetzes zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt“ (BKA-Gesetz) vom 17.6.2008, momentan in erster Lesung. Dieser Entwurf sieht diverse Änderungen des bisherigen BKA-Gesetzes vor, also des Gesetzes, das die Befugnisse des Bundeskriminalamtes bestimmt (1).

Terror? Sicher!

In der Geschichte der BRD gab es die verschiedensten Begründungen für die Verschärfung von Sicherheitsgesetzen: vom KPD-Verbot 1956 gegen Kom­mu­nist_in­nen über die Notstandsgesetze Ende der 60er Jahre gegen die Student_innen­bewegung, die zahllosen Maßnahmen im Kampf gegen die RAF, bis hin zur – dem zunehmenden gesellschaftlichen Rassismus entsprechenden – Figur der „Ausländerkriminalität“ in den 90er Jahren. Nun ist es der in seiner tatsächlichen Be­droh­lichkeit geradezu schwindelerregend über­höhte „internationale Terrorismus“, der als Erklärungsmuster herhalten muss. Diese politischen Begründungen scheinen be­liebig austauschbar, sind es aber letztlich nicht. Grund dafür ist, dass der Begriff des „Terrorismus“ noch diffuser und vager ist, als die bisher vorgebrachten Argumente für den Ausbau staatlicher Macht. Was ist Terrorismus? Die Antwort gibt die Exekutive: Entzündete Militärfahr­zeuge sind nicht mehr ein Sachschaden, sondern eine terroristische Attacke; die Fähigkeit eines Soziologen, soziologische Texte zu formulieren, stellte ihn unter Terror­verdacht. Ziviler Ungehorsam und sozialer Protest werden so je nach politischer Interessenslage als terroristische oder terrorähnliche Bedrohung inszeniert, diskreditiert und zunehmend kriminalisiert.

Unheimlich heimlich

Die Bedeutung der einzelnen Änderungen des BKA-Gesetzes wird letztlich erst dann richtig deutlich, wenn man sie vor dem Hintergrund der gesamten Sicher­heitsarchitektur betrachtet. Die erste Tendenz ist rein faktischer Art: Durch zunehmende technische Möglichkeiten kann der Staat weitgehend unbemerkt auch intime Daten erlangen. Wie das Bundesverfassungsgericht im Februar 2008 festgestellt hat, darf der Staat grundsätzlich auch mit Spionagesoftware in privaten Festplatten forschen („Online-Durchsuchung“). Nach dem BKA-Gesetz soll Artikel 13 des Grundgesetzes, in dem die Unverletzlichkeit der Wohnung verbrieft ist, bald noch weiter eingeschränkt werden, so dass in Wohnungen auch mit versteckten Kameras geforscht werden darf („Großer Spähangriff“). Zwar waren auch früher schon Hausdurchsuchungen bittere Erfahrung nicht nur mancher G8-Kritiker_innen, aber die nun vorgesehenen Maßnahmen beinhalten eine neue Heimlichkeit – anders als die „klassische“ Durchsuchung bekommt man sie schlicht nicht mit.

Leere Lehren aus der Geschichte

Die zweite Tendenz wurde noch nie so deutlich wie durch das BKA-Gesetz: Die unterschiedlichen Sicherheitsinstitutionen in der Bundesrepublik werden konzentriert und zwar gleich doppelt. Einerseits werden Kompetenzen von den Ländern auf den Bund übertragen und machtbegrenzende föderalistische Strukturen somit aufgegeben. So darf das BKA laut Entwurf von sich aus Ermittlungen beginnen, wenn Verdächtige in verschiedenen Bundesländern wohnhaft sind. Damit werden die Landespolizeien umgangen. Bisher musste das BKA von der Bundes­anwaltschaft oder einer Landespolizei beauftragt werden.

Andererseits wird eine funktionale Kooperation forciert, indem die verschiedenen Sicherheitsorgane nicht mehr nur Daten austauschen, sondern zunehmend auch ihre Aufgabentrennung verwischt wird. Es ist eine der Lehren aus dem deutschen Faschismus, dass Polizei und Geheimdienst getrennt zu arbeiten haben. Zwischen 1936 und 1939 wurden unter Himmler die Gestapo und die Kriminalpolizei zur Sicherheitspolizei zusammengeschlossen. 1939 folgte der Zusammenschluss der Sicherheitspolizei mit dem Sicherheitsdienst der SS zum Reichssicherheitshauptamt, das das Hauptamt der SS war. Die Gestapo arbeitete als Inlands- und Auslandsgeheimdienst, der nicht nur überwachte, sondern auch polizeilich verfolgte, folterte, Verhaftungen und Exekutionen vornahm. Um eine solche Machtballung mit all ihren Risiken zu verhindern, legten die Militärgouver­neure der Westalliierten 1949 im so genannten Polizeibrief das Trennungsgebot fest, das heute in Art. 87 Grundgesetz und § 8 Bundesverfassungsschutzgesetz verbrieft ist. Die Idee dahinter ist folgende:

Die Institution, die vieles kann, soll nicht alles wissen, und die Institution, die alles wissen kann, soll nicht alles können dürfen. Deswegen dürfen nur Polizeibe­hörden Straftaten verfolgen. Sie benötigen für ihre Ermittlungen einen konkreten Verdacht einer konkreten Straftat gegen eine konkrete Person. Geheimdienste hingegen besitzen keine polizeilichen Handlungs- und Vollzugsbefugnisse. Stattdessen konzentrieren sie sich auf das Sammeln und Auswerten von Informationen. Dafür sind sie bei ihren Ermittlungen aber nicht an einen konkreten Tatverdacht gebunden, schließlich ist der Sinn ihrer Tätigkeit das Schnüffeln und Anhäufen von Daten in alle Richtungen. Mit schöner Regelmäßigkeit vermerkt der Gesetzgeber in seinen Ausführungen, dass dieses Trennungsgebot gewahrt worden sei. Und mit ebensolcher Regelmäßigkeit kann davon keine Rede sein: Die Trennung von Polizei und Geheimdienst steht schon seit Jahren zur Disposition. Spätestens mit der Verabschiedung des „Gesetzes zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder“ im Jahr 2006 wurde das Trennungsgebot faktisch aufgehoben. In der alltäglichen Praxis arbeiten Polizei, Geheimdienst, Militär und diverse Behörden bereits seit einigen Jahren in verschiedenen Zentren, wie dem „Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum“ (GTAZ) oder dem „Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrum illegale Migration“ (GASiM) Hand in Hand. Das BKA ist eine Polizei. Mit dem neuen BKA-Gesetz werden der Polizeibehörde jedoch neben polizeilichen auch geheimdienstliche Befugnisse zugestanden. Sie soll demnächst auch im Bereich der Vorfeldermittlung aktiv werden, also ohne jeden konkreten Verdacht ermitteln dürfen. Das bedeutet, dass die Polizei nun nicht nur mit dem Geheimdienst faktisch kooperiert, sondern selbst und ganz offiziell mit nachrichtendienstlichen Ermächtigungen ausgestattet wird. Von der Überzeugung bei Verabschiedung des Grundgesetzes, dass staatliches Eingreifen nie wieder geheim sein soll, ist im Jahr 2008 nicht mehr viel übrig geblieben. Das Resultat: Noch nie seit Bestehen des Grundgesetzes waren staatliche Machtbefugnisse so weit reichend, so zentralisiert – und dabei so unkontrollierbar.

Politische Trüffelschweine

Die dritte Tendenz ist eine Aushöhlung der rechtlichen Grenzen, die dieser Macht­fülle entgegenstehen könnten. Am deutlichsten wurde dies bislang am schärf­sten Schwert des Staates, dem Strafrecht. Die mit dem Strafrecht verbundenen Eingriffe sind so einschneidend, dass ur­sprüng­lich grundsätzlich eine begangene Straftat Voraussetzung dafür war, dass der Staat sich dieser Waffe bedienen durfte. Die­se Schwelle unterläuft bereits der stetige Ausbau des Präventionsstrafrechts seit den 70er Jahren: Mittels der §§ 129, 129a und b Strafgesetzbuch (StGB), die die „Bil­dung einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung“ unter Strafe stellen, wer­den extrem weit reichende Eingriffe des Staates unter extrem unklaren Voraussetzungen möglich – das Schutzgut und die Voraussetzungen der Normen sind schlicht so vage, dass bei der Konkre­ti­sie­rung im Einzelfall der Willkür Tür und Tor geöffnet ist. (2) Eine konkrete Tat muss der verdächtigten Person jedenfalls nicht vorgeworfen werden.

Dennoch kommt es fast nie zur Anklage: In den neunziger Jahren standen Ermitt­lun­gen gegen 1.362 Personen lediglich 38 Verurteilungen gegenüber. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich: Die §§ 129, 129a, b – und vielleicht bald wie geplant c und d – sind die politischen Trüffel­schwei­ne des StGB. Diese Paragraphen sind darauf ausgelegt, weit reichende Er­mitt­lungsbefugnisse zu ermöglichen, die nach den Polizeigesetzen so nicht möglich wären, und werden in der Praxis genau so verwandt. Diese Tendenz wird durch das BKA-Gesetz noch vertieft und perfektioniert. Für eine Anwendung der §§ 129 ff be­darf es zumindest (sic!) noch irgendwel­cher bereits begangener Straftaten einer ver­meintlich bestehenden Organisation. Das BKA-Gesetz hingegen erlaubt ähnlich ausufernde Ermittlungen selbst ohne das Erfordernis jeglicher konkreten Straftat. Die Logik die­ses Gesetzes beruht vielmehr darauf, dass es für einen Eingriff bereits ausreichen soll, wenn nach Ansicht des BKA die Gefahr bestehe, dass irgendeine imaginäre Gruppe in Zukunft Straftaten des inter­na­tionalen Terrorismus begehen könnte und die von dem Eingriff betroffene Person vielleicht irgendwie mit einer Person Kontakt hat, die in Zukunft vielleicht planen könnte, derartige Straftaten zu begehen – ein Konjunktiv jagt den nächsten.

So wird jetzt in Gesetz gegossen, was seit Jahren von der Polizei bereits praktiziert wird, zuletzt bei den § 129a-Verfahren im Zu­ge des G8-Gipfels zur Anwendung kam und von einem Ermittler bei den auf § 129a StGB gestützten Hausdurchsuchungen in bemerkenswerter Of­fenheit kommentiert wurde: “Wir haben in den Busch geschossen, nun sehen wir weiter, was und wer sich dort bewegt.” (3) […]

Keine Angst

Wir erleben im Resultat den Ausbau einer „Sicherheitspolitik“, deren „Sicherheit“ nicht die unsere ist. Denn „Sicherheit“ im Sinne der europäischen Staatengemeinde meint eben nicht nur die Sicherheit vor der Bedrohung etwa eines Anschlags wie in Madrid 2004 oder London 2005. „Sicherheit“ in ihrem Sinne bedeutet eine Festung Europa, die das Menschenrecht auf Asyl mit Füßen tritt und täglich Menschenleben fordert, „Sicherheit“ in ihrem Sinne bedeutet in anderen Ländern Krieg zu führen, um geopolitische Interessen durchzusetzen und das globale Nord-Süd-Gefälle aufrecht zu erhalten und ihre „Sicherheit” bedeutet, die so genannte Wohlstandsschere ungehemmt weiter öffnen zu können, die Verarmung großer Teile der Bevölkerung voranzutreiben und Spaltung und Konkurrenzdenken zu schüren. Kurz: die „Sicherheit der Herrschenden“, ihr dickes Stück vom Kuchen nicht mit jenen teilen zu müssen, für die in den herrschenden Verhältnissen eben nicht so viel vorgesehen ist – und sich zu schützen vor Bewegungen, die hieran etwas ändern wollen.

(Rote Hilfe e.V. – Ortsgruppe Hamburg)
hamburg@rote-hilfe.de

 

(1) Der Entwurf ist unter dip21. bundestag.de/dip21/btd/16/095/1609588.pdf abrufbar, das bisherige BKA-Gesetz unter www.gesetze-iminternet.de/bkag_1997

(2) Eine aufschlussreiche Beschreibung der Lebensrealität eines nach § 129a Observierten findet sich unter:

www.zeit.de/online/2007/44/Militante-Gruppe-Ueberwachung?from=24hNL

(3) Vgl. www.welt.de/politik/deutschland/article868812/Wie_militant_sind_die_Gipfel-Gegner.html

Reisebericht: Turkey – Imagined Community II

Von der Istanbuler Bronx in die Anatolische Einsamkeit

Ich bin umgezogen. Mich hat es aus dem touristenüberwucherten, hippen Avantgarde-Viertel Galata (FA! #32 „Turkey – Imagined Community”) in das Istanbuler Armenviertel Tarlabasi im Stadtteil Beyoglu, auch Taksim genannt, verschlagen, der seit jeher von Ungläubigen bewohnt wurde. Tarlabasi ist die Bronx von Istanbul und sein Ruf eilt ihm voraus. Wenn ich erzähle, dass ich dort lebe, reichen die Reaktionen von betretenem Schweigen bis hin zu ungläubigem Entsetzen. Kurden, Rum (Griechen), Roma, Drogen, Transsexuelle, billige Absteigen ist, was die Mehrheit Istanbuls allgemein mit Tarlabasi verbindet. Was ich damit verbinde?

Faltige, gegerbte Gesichter mit Kippenstummel zwischen zahnlosen Lippen, den billigsten und lautesten Wochenbazar Istanbuls jeden Sonntag direkt vor der Tür mit Türmen von frischem, lachenden Obst und Gemüse und geklauten Klamotten. Das Lachen der ungeschminkten Transen vor mir an der Kasse im Supermarkt, in dem ich nie genug Geld dabei hab und trotzdem alles bekomme. Der Panzer und die permanente Polizeipräsenz in der Nähe des DTP-Büros („Partei der demokratischen Gesellschaft“: Partei für die nationale Anerkennung der Kurden und eine friedliche Lösung der Kurdenfrage). Dutzende kleine Barbiergeschäfte, in denen eitle Männer und die, die es noch werden wollen rasiert und gestylt werden. Der kurdische Bakkal-Verkäufer, der Plastikhandschuhe für die Hygiene trägt und immer eine mit mir raucht, wobei er sich manchmal ein Loch in seine Handschuhe brennt. Der braune Stuhl vor unserem Haus, auf dem jeden Tag unser Apfelverkäufer sitzt und minikleine gelbe und rote Äpfelchen loszuwerden sucht, die manchmal von vorbeiziehenden halb­starken Horden, aus den Kisten geklaut werden, während der Alte nachsichtig lächelt. Im ca. 2,5 m² großen Elektronikladen, der von oben bis unten und von vorne bis hinten mit Dingen voll gepackt ist, hat weder ein Kunde, geschweige denn der Besitzer Platz, auch nur einen Fuß in den Laden zu setzen. Und die verschmitzt lächelnde alte Frau mit den weißen Haaren, die in der Unterführung neben der Mülltonne die paar Habseligkeiten verkauft, die sie (gefunden) hat, neben ihr ein Mann, der nicht mal Habseligkeiten hat, sondern nur eine Waage, auf der mensch sich wiegen kann.

Und dann gibt es da noch den kurdischen, alten Schneider, der in jungen Jahren in Paris gearbeitet hat. Hinter Fensterscheiben, die aussehen, als hätten sie ihren letzten Putz vor 20 Jahren erhalten, sitzt er vor seinem Schneidertisch auf dem sich Spulen, Garne und Klamotten türmen. Als wir das erste Mal von Jungs aus dem Viertel durch einen Moschee-Innenhof zu ihm gelotst wurden, um unsere verschlissenen Klamotten reparieren zu lassen, hat er anstatt der Kleidung zunächst unser Gesicht vermessen. Er mache Physiognomie-Studien, sagte er und presste kurz und fest beide Daumen gegen eine Stelle oberhalb unserer Augenbrauen. Er bat uns etwas zu schreiben, um aus unserer Handschrift auf unsere Persönlichkeit zu schließen. Ich schrieb und sein erster Kommentar: „Hässlich, sehr hässlich”. Ich lächelte ihn verlegen an. Ich war noch nie be­sonders stolz auf meine Buchstaben-Trümmerhaufen-Handschrift, die ein bisschen der Steno-Schrift meines vom Dokumentationsgeist besessenen Großvaters ähnelt und die ich manchmal selbst nicht entziffern kann. „Ich sollte die Dinge langsamer angehen”, so der gut gemeinte Ratschlag des Schneider-Psychologen, „nicht so sehr durchs Leben hetzen”. Ich muss grinsen und an Leipzig und Projektneurosen denken.

Wahlkampf

Jede befahrbare Strasse der 20 Millionen Metropole ist behangen mit bunten Plastik-Fähnchen auf denen Glühbirnen und Pfeile gedruckt sind. Sie hängen über Brücken, zwischen Straßenlaternen, Moscheen und anderen Gebäuden und schmücken die Autobahnen. Die Szenerie hat etwas Karnevaleskes. Nur feiert niemand. Es ist Wahlkampf…und Plastikmüll-Potlatch. Gekämpft wird gegen die Umwelt und ansonsten gegen alles andere, was unrecht ist. Klientelismus par excellence. Erdogans AKP („Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung”: islamisch-konservativ ausgerichtet, derzeit stärkste Fraktion im türkischen Parlament) beliefert ihre frierenden Wähler in spe schon mal mit ausreichend Kohle, um ihnen die um 80% gestiegenen Heizgas-Preise zu ersparen. Manche bekommen neues Einrichtungsmobiliar, andere Kühlschränke. Der Fall einer Familie wurde bekannt, die sich über den neuen Kühlschrank theoretisch gefreut hätte, wenn sie denn ans Stromnetz angeschlossen wäre.

Das faszinierendste an diesem Wahlkampf sind die politisierten Massen, die in Bewegung gesetzt werden. Zehntausende strömen zu den einzelnen Kundgebungen und schwenken, als ginge es um ihr Leben, die Fahnen zu Phrasen wie: „Wir werden die Armut in Ostanatolien abschaffen“.

Dort tobt indes seit Monaten die „Schlacht um die Festung Diyarbakir“, der Hauptstadt des türkischen Kurdistans. Im Fernsehen werden unaufhörlich Bilder von Demonstrationen und Gefechten zwischen PKK („Kurdische Arbeiterpartei“: kämpft mit Waffengewalt für politische Autonomie kurdisch besiedelter Gebiete in der Türkei) und Sicherheitskräften mit Toten und Verletzten gesendet, die an Bürgerkriegszustände erinnern. Die der PKK nahe stehende Kurdenpartei DTP, die seit wenigen Jahren Sitze im Parlament hat, hat eigene Wege gefunden dem anhaltenden Konflikt zu begegnen. Die Reformversprechen der AKP, etwa ein freierer Gebrauch der kurdischen Sprache, konterte die DTP geschickt mit einer Ansprache auf Kurdisch im türkischen Parlament. Da das jedoch weiterhin verboten ist, entpuppte sich die von der AKP versprochene neue Freiheit rasch als hohles Versprechen. Die PKK ihrerseits hat in den vergangenen zwölf Monaten wiederholt versucht, mit Gewalttaten Präsenz zu demonstrieren.

Anatolien

Ein Schlagloch reißt mich aus meinem seligen Schlaf. Ich blinzele aus dem Busfenster, der Sonne mitten ins Gesicht. Draußen ist es staubtrocken. Die kubischen Häuser, Palmen, der Boden und Olivenhaine, alles erscheint in demselben Farbton, als hätte jemand mit einer Riesendose Puderzucker über die Landschaft gestreut. Ich schwitze. Nach zweieinhalb Monaten nasser Plörre in Istanbul und einigen gescheiterten Versuchen der Beton-Megapolis für ein paar Tage zu entfliehen, eine Genugtuung. Auf der Straße laufen Muslime mit violetten, lose um den Kopf gebundenen Tüchern und Salvar-Hosen, die bis zum Knie eng wie eine Leggins sind und dann breit wie ein Rock werden. In all den winzigen Dörfern, an denen wir vorbei tuckern, scheinen die Menschen zu arbeiten. Frauen bücken sich über das Feld, während ihnen eine abgemagerte Kuh zuschaut, Ziegel werden getragen, Weizensäcke geschleppt, Teppiche geschüttelt, immer wieder Schäfer und kleine Menschengruppen, die irgendwo im Nirgendwo die Straße entlang spazieren. Seelenruhig. Vorbei an kilometerlangen Steinfeldern, am Horizont schroffe Bergketten und sonst nur Himmel. Dann brechen plötzlich Hochhaus-Bauten aus der Erde. Mitten im Nichts. Brachiale Siedlungsmethoden. Die Erde blutet.

Deutsche Bürokratie auf türkischen Klos

Klopause. Der Bus wird mit einem an einen Besen befestigten Schlauch von oben bis unten geschrubbt, als ginge es um ein re­ligiöses Waschritual. Am Kloschalter sitzt ein etwa 50-jähriger Mann, der mir, nachdem er sich nach meiner Herkunft erkundigt hat, einen Brief aus seiner Kabine entgegenstreckt. „In amtlicher Sache“ steht in deutsch darauf. Ein Scheidungsbescheid mit Zahlungsaufforderung. Was die wollen, will er wissen. Bestimmt werde er sich nicht bei denen melden. Seine Frau…in Ham­burg…dann wieder ein Klokunde auf der anderen Fensterseite, der uns neugierig beobachtet, während er auf sein Rückgeld wartet…er neunmal dort gewesen…keine dauerhafte Auf­ent­halts­genehmigung…ich verstehe nur Brocken, sowohl auf deutsch als auch auf türkisch. Er will, dass ich ihm den Brief vom Anwalt übersetze. Der deutsche Staat schafft es sogar, seine verklausulierten Phantasien in ein Klohäuschen im tiefsten Ana­to­lien zu transportieren und mich dazu zu bringen, den Krampf auch noch zu übersetzen. Dabei wäre es nicht mal das Klopapier wert.

Staudamm im Paradies

Wir leihen uns ein Auto und fahren nach Hasankeyf. Eineinhalb Stunden von der Hauptstadt des türkischen Kurdistan am Tigris liegt das Paradies. Hier soll der Garten Eden gewesen sein. Grüne, saftige Wiesen vor schroffen Bergketten. Felshänge erheben sich aus dem Strom des breiten Flusses, alle paar Meter Löcher im Fels, dahinter Höhlenlabyrinthe. Die PKK-Rebellen sollen hier unter anderem ihre Rückzugsgebiete haben. Nur noch wenige kennen die unterirdische Geographie. Wir halten vor einer alten Mauer. Kinder rennen uns entgegen. Die Mädchen haben riesige Sträuße von irgendeinem Kraut in ihren Armen. Ich habe den Namen vergessen, aber die halbgeschälten Stiele, die sie uns kiloweise anbieten, sind extrem lecker. Wir tollen mit ihnen über die Wiesen, dann zeigen sie uns die Reste osmanischer Grabmäler, Hammams (türkisches Bad) und Burgen aus Zeiten des Reichtums.

Die Geschichte von Hasankeyf vor der christlichen Zeitrechnung liegt im Dunkeln. Danach befand es sich unter wechselnder Herrschaft durch die Oströmer und ihr byzantinisches Reich und die Sassaniden, die das zweite persische Großreich gründeten. 0m Lauf der islamischen Expansion eroberten die Araber diesen Ort. Seitdem lebten die Christen unter islamischer Hand. Später wurde Hasan­keyf von den Mongolen überrannt, die die Stadt verschonten. Anfang des 15. Jahrhunderts beanspruchten die Osmanen das Gebiet für sich. Im 16. Jahrhundert soll die Stadt an die 10.000 Einwohner gehabt haben, davon 60% Christen. Mit der Zeit hat Hasankeyf immer mehr an Größe und Bedeutung verloren. Außer bei den Kurden, wo es den Status einer Kultstätte bzw. eines nationalen Erbes behielt. Während des Genozids an den Armeniern 1915-17 war Hasankeyf Vernichtungsort, da sich Deportationsrouten dort kreuzten. Hassankeyf heute ist ein Dorf, das vom Tourismus lebt, die sich die alten Höhlenlabyrinthe anschauen. Keiner kann mehr genau sagen, wie diese Höhlen entstanden sind. In manchen wohnen noch immer Familien.

Wir sprechen mit einem etwa 50-jährigen Mann, der ein kleines Café am Tigrisufer des Dorfes betreibt und uns hungrigen Mäulern Tomaten und Brot bringt. Er ist in einer der Höhlen geboren und erzählt uns von dem seit Jahren von der türkischen Regierung geplanten Staudamm-Projekt, das das Dorf samt seinen Schätzen, Höhlen und angrenzenden Gebieten in eine pittoreske Unterwasserlandschaft für Tiefseetaucher verwandeln soll. Im März 2007 entschied sich die deutsche Bundesregierung gemeinsam mit der Schweiz und Österreich zur Übernahme einer Exportkreditgarantie. Die Türkei habe sich zu Maßnahmen verpflichtet, die weit über die bisher bei Staudammprojekten geübte Praxis hinausgehen, hieß es. Zu den Zugeständnissen zählen ein detaillierter Umsiedlungsplan sowie die Zusicherung von Arbeitsplätzen für die betroffene Bevölkerung, die Umsetzung bedrohter Kulturdenkmäler aus Hasan­keyf in einen Kulturpark sowie die Garantie eines Mindestdurchflusses gegenüber den Unterliegern Syrien und Irak, von deren Umsetzung bislang nicht viel zu erkennen ist.

Der Cafébesitzer erzählt von Uta Roth, der Grünenvorsitzenden, die Hassankeyf eine Woche vor uns besucht und bestaunt hat. Sie kam im Auftrag der deutschen Regierung, die das Projekt bis dato maßgeblich mitfinanzieren wollte. Aufgrund anhaltender internationaler Proteste und der ungenügenden Einhaltung der geforderten Auflagen durch die Türkei, hat die deutsche der türkischen Regierung mitgeteilt, das sie nicht mehr an der Finanzierung interessiert sei, worauf die türkische Regierung geantwortet hat, dass ihr das herzlich egal sei und sie das Projekt auch ohne die Hilfe Deutschlands in Angriff nehmen werde. Aber auch die Schweizer haben ihre Gelder bis auf weiteres eingestellt. Bis auf weiteres. Viele der Bewohner sind überzeugt, dass das Projekt trotzdem gebaut wird.

Was er machen werde, fragte ich den Cafébesitzer und eigentlich erwartete ich keine Antwort. Er hatte trotzdem eine: „Sagt euren Leuten in Europa, dass sie uns erwarten können, wenn der Staudamm gebaut wird“.

(Klara Fall)

„Nach der Besetzung ist vor der Besetzung“

Kampf um ein Libertäres Zentrum in Magdeburg

So schloss der letzte Bericht (#33) des Feierabend! zum „Topf Squat“ in Erfurt, welches am 16.05.09 nach acht Jahren Besetzung martialisch geräumt und anschließend plattgemacht wurde. Gemeint war eine (hoffentlich baldige) Neubesetzung, die der Stadt ihr unverzicht­bares autonomes Zentrum zurück gibt. Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt:

Nicht nur der Blick der deutschen Squat­terszene richtete sich noch am selben Tag in die sachsen-anhaltinische Landeshaupt­stadt. Von der erst ein paar Wochen zuvor gegründeten Freiraumkampagne Für ein Libertäres Zentrum in Magdeburg wurde prompt am Tag der Erfurter Räumung ein Haus besetzt – die ehemalige „Gruson-Villa“ der SKET-Poliklinik, etwa zwei Kilometer von der Magdeburger Altstadt entfernt, im Stadtteil Buckau. Für Besetzer_in­nen-Verhältnisse sehr idyllisch in einem brachliegenden ehemaligen Industriegebiet gelegen, bot das geräumige Gebäude vielversprechende Möglichkeiten eines zukünftigen Libertären Zentrums. Ja, bot. Denn nach sechs Wochen war die Besetzung erst einmal vorbei.

Aber die Initiative für ein Magdeburger Libertäres Zentrum ist damit noch lange nicht gestorben. Sie wird dieses Haus überleben wie sie auch schon die „Ulrike“ überlebt hat, die zwischen 2000 und 2002 mehr war als nur ein autonomes Zentrum und libertärer Freiraum. Für die zahlen- und engage­mentstarke linksrevolutionäre Szene Mag­de­burgs rund um den Autonomen Zusam­menschlusz war das Ulrike-Meinhof-Haus eine wichtige Station, eine unverzichtbare Basis für die gesamte alternative Szene, wel­che leider im Zuge der Ermittlungen im Rahmen eines 129a-Verfahrens (1) ebenso wie der Zusammen­schlusz zerschlagen wurde. Die Vorstellung des Autonomen/Liber­tä­ren Zentrums aber lebte weiter. Doch was soll diese – ganz unabhängig von den konkreten Räumlichkeiten – eigentlich sein? Die Leute der neuen Freiraumkampagne drücken es so aus: „Das Libertäre Zentrum soll ein Wohn- und Projekthaus sein, in dem wir freiheitlich und selbstbestimmt le­ben können und in dem es genügend Platz für verschiedene kulturelle und politische Projekte gibt.“ So allgemein, so gut. Doch die Aktivist_innen haben nicht nur solche Allgemeinplätze im Programm, sondern durchaus konkrete Vorstellungen. Sie „brauchen Platz für unkommerzielle Kunst und Musik, Selbsthilfe-Werkstätten, einen Umsonstladen, Café und Vokü, politische Bildung unabhängig von Parteien, unterschiedliche Formen des Zu­sam­menlebens und vieles mehr.“ Und diesen Platz fanden sie in der seit Jahren leerstehenden Poliklinik in der Freien Straße und besetzten sie kurzerhand.

Die Polizei war von Beginn der Besetzung an vor Ort, duldete diese jedoch aufgrund un­geklärter Besitzverhältnisse. Es stellte sich recht schnell heraus, daß die Villa der Mitteldeutschen Sanierungs- und Entsor­gungs­gesellschaft mbH (MDSE) gehört und die wiederum zu 100% dem Land Sachsen-Anhalt. Die MDSE signalisierte Ver­hand­lungsbereitschaft, stellte aber sogleich auch Strafantrag wegen Hausfriedensbruch (aufgund dessen eine Räumung möglich ist). Ein Straßenfest am zweiten Tag lockte noch mehr Unterstützer_innen auf das Gelände, schuf in der kritischen ersten Zeit eine personelle Basis. Die Polizei hielt sich zurück und auch in den folgenden Tagen sollte alles recht positiv ver­laufen. Die Besetzer_innen richte­ten sich ein, nahmen Stromaggregate in Be­trieb und begannen mit ersten Instand­set­zungsmaßnahmen, um die Bewohnbarkeit des Hauses herzustellen bzw. zu gewährleisten.

Nach zwei Wochen wurde der Besetze­r_in­­nengruppe von der MDSE in Ver­hand­­lungen ein Ersatzobjekt angeboten. Als Bedingung für weitere Verhandlungen jedoch wurde ein Verlassen der Gruson-Vil­la innerhalb von sechs Stunden gefordert. Dies war freilich nicht durchführ- oder gar hinnehmbar und auch das gleich oberflächlich besichtigte Ersatzobjekt woll­­­te nicht als Katze im Sack gekauft werden. (2) Nach der Ablehnung einer ge­forderten zweitägi­gen Bedenkzeit zeigte sich die MDSE kom­promisslos und kündigte die Räumung durch die Polizei an. Nichts dergleichen ge­schah jedoch, die grö­ßere Feier zum vierwöchigen Bestehen ging glatt über die Büh­ne und andere Kon­­zert-, Film- und Dis­kussionsveranstal­tungen, wie die zum „Konflikt zwischen An­ti­faschist_innen in Mag­deburg“ (dem die Freiraumkampagne stets neutral ge­gen­­über stand), konnten reibungslos verlaufen. Observation durch den Staatsschutz und kleinere Übergriffe und Belei­di­gungen waren dennoch an der Tagesordnung. Die Lage spitzte sich am 30. Juni plötzlich drastisch zu, die Polizei blockierte das Gelände, sprach Platzverweise aus und griff sogar einzelne Leute körperlich an.

Doch es kam nicht zum befürchteten Show­down nach Erfurter Vorbild. Die verbliebenen Besetzer_innen traten in der Nacht zum 2. Juli, von der Polizei unbemerkt, den Rückzug an. Die Kampagne begründete diese Aufgabe damit, daß „durch den physischen und psychischen Druck […] der Betrieb des Libertären Zen­trums im besetzten Haus […] unmöglich gemacht [wurde].“ Daß die Idee eines Libertären Zentrums allerdings nicht an ein bestimmtes Gebäude gebunden ist werden die Kampagnenleute nicht müde zu be­tonen, sie vertraten dies auch lautstark und bunt am 18. Juli in einer Freiraumdemo durch die Magdeburger Innenstadt. Wie aktuell der Slogan „Nach der Besetzung ist vor der Besetzung“ tatsächlich bei den Elbestädtern ist, beweist die erfreuliche Meldung, die uns kurz vor’m FA!-Druck erreichte: „SKET Poliklinik wie­derbesetzt“. Weiter so!

(bop)

 

(1) siehe auch FA! #27 S.22: „Wie bilde ich eine terroristische Vereinigung?“

(2) Kritik an den und Diskussion um die gescheiterten Verhandlungen: nkotb. blogsport.de/2009/06/08/voll-gegen-die-wand/

übelst schlecht versteckt

the upsetter im Interview

Ein Abend in der Stadt. Im Auftrag der Neugier finden sich Frau Sch. und Frau Sch. im herbstlich-kalten Schleußig wieder. Die Mis­sion: Aufklärung des Leipziger Blätterwaldes. Der Interview­ter­min mit Matti vom „Society-Magazine“ the upsetter hat kurzfristig noch ge­klappt. Es ist mollig gemütlich im Hin­ter­zimmer des Schlechten Ver­stecks, der „Hauptzentrale“ des upsetters wie sich herausstellt. Die Ver­hörlampe wabert in der Ecke. Die Stunden verfliegen, während das generalstabsmäßig geplante Interview immer mehr ins freie Gespräch driftet. Mit je­dem Zug neigt sich das Bier. Abschweifend wer­den die Frager zu Befragten. Langsam aber zielstrebig füllt sich der Aschenbecher von drei Seiten. Sie sprechen über das Schreiben an der Front des künstlerischen Journalismus, über das Leben im All­ge­mei­nen und die Zukunft kleiner Druckerzeugnisse im Speziellen.

Die Nacht ist nicht allein zum schlafen da und das gesprochene will in das geschriebene Wort übersetzt werden. Doch auf zwei Seiten Feierabend! muss ein Inhalt passen, der auch 10 Seiten einnehmen könnte. Was muss rein, was kann raus? Sollen wir die zeitliche Abfolge beibehalten? Wo liegen thematische Schwerpunkte? Wie übersetzt man Worte, die ihre Bedeutung nicht aus dem Inhalt, sondern aus dem Hauch ihrer Äußerung beziehen? Wir wissen es auch nicht so genau. Aber eins ist sicher: Zeitung wird gemacht! Es geht voran!

Wie bist du auf den Namen the upsetter gekommen?

In Granada – immer noch meine Lieb­lings­stadt – da gibt es einen Club, der heißt the upsetter. Das ist ein Flamenco-Club, wo sonst nicht viel los ist, außer dass Spanier Bier und Wein trinken. Aber manchmal gibt es halt Flamenco-Konzerte und ich war auf einem dabei, wo El Nino, der Godfather of Flamenco gesungen hat. Ein ganz alter Mann, so 70 Jahre, der saß da mit einem Stock auf seinem Stuhl und hat übelst Flamenco gesungen total leidenschaftlich. Irgendwie war das ein Erlebnis, das mich berührt hat und dann hab ich gedacht, meine Zeitung soll der upsetter heißen. Weil, wenn man jemanden upsettet, dann regt man ihn auf oder berührt ihn. Dann hab ich aber herausgefunden, dass ich das niemals schützen kann, weil es den upsetter schon gibt – als Zeitung sogar. Das ist ein Reggae Magazine. Kennt ihr Lee „Scratch“ Perry? Der hat dieses Wort „the upsetter“ eigentlich geprägt. Es gibt sogar einen Song und auch einen Film die so heißen. Furchtbar!

Im aktuellen upsetter stellen unterschiedliche Autoren diverse Kneipen in Linde­nau vor und erzählen dabei recht gruselige Geschichten. Meinst du, dass diese Bilder allgemein dem von Lindenau entsprechen oder dass du damit einigen Menschen aus dem Herzen sprichst?

Ich denke schon. Viele Leute tragen mir sogar noch mehr Geschichten zu. Naja, es ist schon sehr klischeehaft aber ich hab einfach nur wiedergegeben, was mir die Leute erzählt haben. Ich habe in der letzten Ausgabe auch versucht, einen neutralen Beobachtungspunkt einzunehmen, obwohl ich natürlich die Ironie nicht verheimlichen kann. Aber was da drin steht über diese Kneipen in Lin­denau, das wurde mir genau so erzählt. Ich hab mich kurz als jemand geoutet, der interessiert ist am kulturellen Lindenauer Leben und die ganzen Klischees und Vorurteile und Geschichten wurden mir so unglaublich bestätigt. Ich habe nichts dazu erfunden und ich glaube schon, dass ich vielen Leuten aus dem Herzen spreche.

Aber praktisch gehen die Autoren schon direkt in die Kneipen?

Ja natürlich. Aber langsam wird es auch langweilig Kneipenrecherchen zu machen. Man geht halt nur hin, um irgendwelche Anekdoten aufzusaugen und wartet nur darauf, dass irgendein Scheiß passiert. In manchen Kneipen passiert dann aber genau das Gegenteil, wie zum Beispiel in „Die 20“ auf der Industriestraße. Ich hab auch gedacht nur Säufer anzutreffen aber letztlich waren es sehr nette und angenehme Leute. Die haben mich rumgeführt durch die Kneipe und die ganze Geschichte erzählt. Und auch im „Lady Luck“ bin ich mit der Kneiperin sehr gut ins Gespräch gekommen. Seitdem grüßt sie sich mich immer.

Die Nr. 9 wird mit einem Zitat von Hunter S. Thompson eingeführt: „Wenn die Verhältnisse irre werden, werden Irre zu Profis“…

Ja, er war schon eine große Inspirationsquelle für mich. Man kann diesen Gonzo-Journalismus nicht nachahmen und eigentlich war er auch ein ziemliches Arschloch. Ich habe mal seine Biografie gelesen, den immer verehrt. Weil er einfach so wild war und sich nichts von niemanden sagen lassen hat. Dann hab ich darüber gelesen, dass er seine Frau geschlagen hat und da war es vorbei. Er hat mich aber sehr zu diesem Stil hingeführt. Meine eigentliche Inspiration war aber die „Vice“. Das ist so `nen kostenloses Hoch­glanz­magazin, finanziert sich nur über Werbung und ist in Klamottenläden zu finden. Und die schreiben so richtig derbe Scheiße. Die sind politisch dermaßen inkorrekt, dass es zum Himmel stinkt. Das ist aber irgend­wie lustig. Es hat mich so gefläscht, dass ich gedacht habe, das muss ich auch machen. In den ersten Ausgaben wollte ich so vulgär wie möglich schreiben, um die Leute so richtig zu schockieren und aufzuregen, auch wenn sie mich mit Scheiße be­schmeißen, dann ist das genau, was ich will.

Was wir in the upsetter gelesen haben, hat uns eher erheitert und unseren Sinn für Ironie und Sarkasmus völlig getroffen, gar nicht so vulgär.

Ja, ich bin von dem Credo irgendwie abgekommen, weil meine größte Kritikerin mich vor die Frage gestellt hat, was es mir bringt, jemandem sinnlos ins Maul zu hauen. Und es bringt dir überhaupt nichts. Es gab irgendwann so eine Zeit, als der upsetter populär war. Die Leute haben mich bedrängt, „Wann kommt denn der Neue raus?“ Die haben sich nur darüber amüsiert, wenn ich andere Leute beleidigt habe. Sie wollten möglichst schlimme Geschichten über schlimme Leute, die scheiße sind. Ja und davon bin ich halt abgekommen, denn das hat dann nichts mehr mit Kunst zu tun.

Welchen Anspruch hast du?

Der Raum der Kunst wird weiter. Es war irgendwie zu wenig, nur den Ansprüchen gerecht zu werden, die die Leute, denen es gefällt, so haben. Ich möchte mehr Texte drin haben, die literarisch sind. Auch Freunde von mir haben aufgrund des upsetters eine Zeitung angefangen. „Frau Kristel“ heißt die. Die haben wirklich nur Texte geschrieben, die künstlerischen Anspruch haben, die deine Seele berühren und Gedichte usw. Das war ein totaler Erfolg und hatte übelst Resonanz. Da hab ich mir gedacht: Ich schreibe gerne und ich schreibe für mein Herz. Ich will nicht sagen das und das, wo, wann, wer, was – das wäre halt Journalismus und nicht Kunst – sondern, dass man sich an den Worten erfreuen kann, dass es einen berührt … dass man sagt: Das ist wunderschön geschrieben, das gefällt mir. Ich will dass der Journalismus künstlerisch ist.

Im upsetter ist die Ich-Perspektive sehr stark. Das wäre eine literarische Komponente an den Texten. Der Gegenstand, die Recherche ist dann vielleicht das journalistische? Könnte man das so sagen?

Ja, z.B. der Günter Wallraff. Das ist auch so einer. Ist das jetzt Journalismus? Oder ist das jetzt Kunst? Was ist das? Ist das Prosa? Es ist halt in der Wirklichkeit verankert, also es ist passiert aber trotzdem ist es künstlerisch abgebildet. So was in der Art will ich machen.

Aber vielleicht stehe ich gar nicht so einsam da? Was es jetzt gibt, das sind so blogs, twitter, facebook und myface und was weiß ich. Was ich mich aller­dings frage, vielleicht muss man ja jetzt wieder konservativ werden, damit das überhaupt noch cool ist, weil ja jeder Wichser seine Meinung irgendwo hinschmiert.

Apropos Internet. Haben so kleine Papiermagazine wie Feierabend!, the upsetter oder Frau Kristel denn noch eine Chance auf eine aktive Leserschaft?

Doch, doch, auf jeden Fall! Es ist immer so, wenn Dinge populär werden, werden sie langweilig. Also wenn irgendwas vom Mainstream ausgebeutet wird, dann gibt es immer diese reaktionäre Bewegung, die sich dann auf was anderes besinnt und was anderes will. Z.B. dein Kommilitone, wo hinten auf´m Pullover Abi 2008 steht, der erzählt dir dann was von facebook und diesem ganzen Mist. Und wenn das dann alle machen und alle machen bei twitter mit und alle haben eine myspace-Seite und alle haben so eine digitale Selbstbeweihräucherung, dann willst du was anderes haben, was dich da raus holt. Es ist auch noch nicht soweit, dass jeder seinen Minilaptop in der Straßenbahn auf´m Schoß hat.

Und vielleicht ist es auch genau dieses Format. Man kann es in der Hand halten, kann es riechen, man kann es anfassen und das ist was völlig anderes. Ich könnte natürlich, wenn ich so drauf wäre, wenn ich mal gerade Zeit habe von meine world-of-warcraft abzulassen und dann schreibe ich in meinen Blog, was ich so erlebt habe und wo ich war und das ich da mit dem gesoffen habe. Aber so ne Zeitung zu machen ist was völlig anderes, weil es halt materiell-physisch da steht. So ´ne kleinen Dinger sind total wichtig. Die Leute freuen sich darüber. Es ist wie so ein Kleinod.

Wie geht ihr mit Texten um? Gibt es Stationen, die ein Text durchlaufen muss, bis er im Heft landet?

Ich geb ja die Zeitung raus und entscheide, ob ich den Text gut finde oder er ästhetisch und inhaltlich zum Himmel stinkt. Ich bin ja im Gegensatz zu euch relativ unpolitisch. Deswegen muss ich da nicht irgendwelche Zensurmaßnahmen ergreifen. Ich muss eigentlich nur drauf gucken, schreibt er es so, dass der Leser das kapiert. Vielleicht ändere ich ein Wort und rufe an, ob das okay ist, aber dann geht der Text so raus. Bei den Texten über die Kneipen gibt es schon eine übelste Arbeitsphase, wo die dann 30 Mal unter die Lupe genommen werden. Dann wird daran rumgefeilt aber das ist es dann eigentlich auch.

Wie finanzierst du the upsetter eigentlich und wie hoch ist die Auflage?

Ich verkaufe ihn mittlerweile für 1,50, was ich sehr schade finde, denn eigentlich müsste er kostenlos sein.

Mittlerweile produziere ich mindestens 80 Stück und bei Nachfrage halt mehr. Es funktioniert auf Vertrauensbasis. Ich drucke das aus, stell das da hin, schreib 1,50 dran und wer es gibt, der gibt´s und wer nicht, der halt nicht. Aber mittlerweile ist es so, dass ich bei Null rauskomme. Ich finanziere das auf jeden Fall selber und durch die Werbung für das Schlechte Versteck und den Waldfrieden. Und Werbung mach ich nur für Leute, wo ich persönlich dahinter stehe. Ich werde z.B. niemals eine Sparkassenwerbung machen, nur weil ich dafür Geld kriege. Ich mache Werbung aber nur so un­ka­pi­ta­lis­tische Sachen. Also wenn jetzt Coca-Cola käme und sagt, ich gebe dir tausend Euro und tausend Euro und ein Tomatenfisch, würde ich sagen, fick dich.

In der aktuellen Ausgabe gibt es einen Text, wo der Situationist Guy Debord zitiert wird. Gibt es innerhalb der Redaktion direkte Bezüge oder ist das eher zufällig?

Das ist total beabsichtigt und total wichtig, speziell für diese Ausgabe, weil es um Lindenau geht und den Platz den man sucht zum Leben.

Die Zollschuppenstraße etwa ist ein sehr hoffnungsvolles Hausprojekt. Die Autorin dieses Textes hat das Projekt Zollschuppenstraße maßgeblich mit aufgebaut, und Guy sagt: „Das Leben geht auf die Architektur über“, also: Das schöne Leben hat auch schöne Schauplätze. Die Zollschuppenstraße war ein Projekt für Jugendliche, die in diesem heruntergekommenem Haus ihre Träume verwirklichen konnten. Sie haben sich das gebaut, was sie halt haben wollten. Das finde ich total wichtig, weil es auch für mich immer wichtiger wird, wo ich wohne. Ich möchte nicht mein ganzes leben in Lindenau wohnen, wo an jeder Ecke Drogen verkauft werden. Es ist leider so.

Wieviel Zigaretten oder Promille brauchst du, um ‘nen upsetter zu produzieren?

(lacht) Geile Frage. Ähm? Warte mal. Das ist jetzt wichtig, weil es wird ja gedruckt. Also wenn ich einen Text schreibe, so einen Kneipentext, dann rauch ich mindes­tens ne Schachtel Zigaretten und trinke mindestens 3 Bier. Nein, nicht wirklich. Es ist nicht so, dass ich Rauschmittel brauche, um zu schreiben. Aber ich könnte mir nicht vorstellen, im Nichtraucherbereich auf meiner Schreibmaschine rumzuhacken

Du schreibst auf Schreibmaschine? Was für ‘ne Marke?

Erika. Meine liebste Erika, die liebe ich über alles…Wisst ihr eigentlich, dass ich mit der 10. Ausgabe aufhören wollte? Ich wollte noch eine machen und dann eigentlich was anderes machen. Ich wollte schon immer einen Roman schreiben.

Du wolltest also von Anfang an nur 10 Ausgaben rausbringen?

Nein, nein, jetzt erst. Es ist halt jedes Mal so ein Stress. Das alles selber zu layouten. Und dann hast du gesagt, das kommt dann und dann raus und dann kommt es doch nicht raus. Dann vertraust du auf jemanden der einen Text abliefern wollte und der liefert den nicht ab. Und dann fehlen die Seiten. Das war so furchtbar. Dann hab ich gedacht, ich mach noch die eine und dann reicht´s.

Wie sieht also die Zukunft aus?

Also, wenn ich euch das jetzt sage, muss das auch klappen. Am 5. Dezember hat das Schlechtes Versteck 5 Jahre Jubiläum. Wir wollten eigentlich zumachen und saufen gehen. Aber nun wird es eine riesige Party geben mit gleichzeitigem Release des 10. upsetters.

Es gibt auch Auslandsrecherchen, z.B. Hamburger oder Berliner Kneipen, aber konkrete Pläne gibt´s noch nicht. Der künstlerische Aspekt wird auf alle Fälle mehr Raum einnehmen. Ich will ironisch und zynisch bleiben aber auch Leute erreichen, die was wollen von der Literatur. Aber ich will the upsetter nicht aufgeben. Da hängt doch mein Herz dran!

Danke für das Interview.

Kein Ding und so.

p.s. Wir grüßen David und Phil, die dieses Interview erst ermöglicht haben und danken unvergesslich Matti für seine Offenheit.

p.p.s. Auch drei Jahre alter polnischer Wodka schmeckt leichter als gedacht.

Fünf Jahre um – und nun?

Das Gründerzeithaus in der Lützner Straße 30 ist gleich in mehrfacher Hin­sicht interessant: Einerseits, weil es das erste Projekt war, dem sich der Verein HausHalten widmete. Es ist andererseits aber auch das erste Wächterhaus, das der Verein wieder aufgeben muss, mit der Konse­quenz, dass die bisherigen Nutzer­Innen ih­re Räumlichkeiten verlassen müssen. Desweiteren konnten die „Wächter“ zu keinem Zeitpunkt die komplette Fläche nutzen, sondern teilten sie mit Anderen, die nie dem Projekt angehört haben.

Aber mal von Anfang an: Der Haus­Halten e.V., im Oktober 2004 erst gegründet, suchte in Lindenau ein verfallenes Gebäude, das durch Inanspruchnahme von Fördermitteln und durch Eigenleistungen aufgewertet und nach dem Modell des Vereins (siehe FA! #29) nutzbar zu machen wäre. Schnell war ein Eigentümer gefunden, der sich über die kostenfreie Aufwertung seiner Immobilie freute. Allerdings stand das Haus an der stark befahrenen Bundesstraße nicht komplett leer: ein Pärchen bewohnte und bewohnt noch die erste Etage. Diesen ist es zu verdanken, dass zum Beispiel noch alle Öfen im Haus vorhanden sind und das Haus nicht als wilde Müllkippe zweckentfremdet wurde. Es mag dies einer der Gründe sein, warum der Eigentümer, ein Westdeutscher, welcher Mitte der 90er Jahre die­ses Haus erworben hatte, keine Ein­wän­de gegen eine Wohnnutzung erhob. Schließlich flossen einige tausend Euro Sicherungsgelder des Amtes für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung in die Immobilie, der Hausschwamm wurde vernichtet, die bröckelnde Fassade gesichert sowie das Dach abgedichtet.

Im Januar 2005 begannen die künftigen NutzerInnen mit der Instandsetzung und schon drei Monate später, als es Strom und ein Außenklo, aber noch kein fließend Wasser auf allen Etagen gab, zogen sie ein. Sie wurden von der Tatsache überzeugt, dass sie hier Freiräume geboten bekamen, um Neues auszuprobieren und das zu einem fairen Preis, denn die gegenwärtig neun „Wächter“ bezahlen außer den Nebenkosten gemeinsam 180 Euro Förder­bei­trag pro Monat an den Verein, also 20 Euro pro Kopf. Die NutzerInnen verteilen sich auf zwei WGs mit je drei Bewoh­nerInnen und drei Personen, die im Erdgeschoss eine Holzwerkstatt betreiben. Die WGs werden seit zwei Jahren ausschließlich von StudentInnen der Hochschule für Grafik und Buchkunst betrieben, nachdem es zuvor häufiger Stress unter den NutzerInnen gab. „Anfangs wohnte im zweiten Stock ein sehr engagiertes Pärchen, das offen war für alles und jeden, was aber zu sehr häufigen Mieterwechseln geführt hat, weil viele von denen nicht be­reit waren, Verantwortung für den Zustand des Hauses zu übernehmen“ erzählt eine Bewohnerin. Ein weiterer Streitpunkt war auch das Konzept für die Nutzung des Ladens im Erdgeschoß. Der trug anfangs keinen Namen, wurde später Kulturplatt­form Purpur getauft und heißt seit zwei Jahren Projekt- und Hörgalerie AundV.

Be­trie­ben wird der Laden von allen neun NutzerInnen gemeinsam. Auf den monatlichen Plena werden die Entscheidungen generell im Konsens gefällt, was wohl u.a. auf die Nichtexistenz eines stichhaltigen Konzeptes zurückzuführen ist. Außer reinen Party/Disco-Veranstaltungen ist prinzipiell vieles mög­lich und auch schon ver­wirklicht worden. Eine Einschränkung ist jedoch da­durch gegeben, dass die gesamte Front des Ladens fast nur aus großflächigen Schaufenstern besteht und da­durch der Lärmpegel niedrig gehalten wer­den muss. In der Regel gibt es eine Veran­staltung pro Monat, der Raum kann also auch von anderen Gruppen oder Einzelpersonen genutzt werden, wie zum Beispiel vom Projekt HOT SPOTS::DER STADTENTWICKLUNG des Institutes für Stadtentwicklung und Bauwirtschaft der Universität Leipzig, das dort regelmäßig jeden Monat im Semester eine Veranstaltung abhält. Wer Interesse hat, den Raum für eine Ausstellung, Performance, Installation, Theater, Filmvorführung oder ähnliches zu nutzen, kann sich jederzeit gerne unter kontakt@aundv.org melden.

Wie bereits angesprochen, wird das jedoch nur noch in diesem Jahr möglich sein, denn der Eigentümer ist äußerst unkoope­rativ und war zu keinem Zeitpunkt bereit, mit den NutzerInnen des Wächterhauses direkten Kontakt zu halten. Anders als bei dem Haus in der Kuhturmstraße 4, aus dem sich der HausHalten e.V. bereits 2007 zurückziehen konnte, weil die Nut­zerInnen ihre Mietverträge direkt mit der Ei­gen­tümerin abgeschlossen hatten, ist in dem nur 100 Meter entfernten Gebäude in der Lützner Straße, wel­ches das AundV beherbergt, ein Ende der Nutzung absehbar. Wenn im Januar 2010 der Vertrag ausläuft, möchte der Eigentümer das komplette Objekt verkaufen. Ob dies gelingt, ist allerdings zweifelhaft: zwar gibt es heute viel mehr Projekträume und StudentInnen in Lindenau als noch vor vier Jahren, dennoch ist die Mietaufwertung nicht beson­ders vorangeschritten, weil es in Leipzig ge­nerell an Kapital fehlt, oder genauer an gut­situierten EinwohnerInnen, die in der Lage wären, höhere Mieten zu zahlen bzw. in Gewerbe zu investieren. Somit liegt eine „echte“ Aufwertung des Kiezes noch in weiter Ferne. In diesem Sinne betrachten die Leute vom Wächterhaus in der Lützner 30 ihr Projekt eher als tempo­räre „Aufhübschung“ des Viertels zur Si­che­rung der Bausubstanz vor weiterem Verfall und sehen sich nicht als Prota­go­nistInnen einer sozialen und nachhaltigen Stadtentwicklung.

(bonz)

Raus aus dem Elfenbeinturm?

StudentInnenproteste in Leipzig

Die Sonne scheint gelassen auf die Steintreppe vor den jetzt schon heiligen, obwohl noch im Aufbau befindlichen Hallen der Alma Mater. Von der Fassade des bereits eröffneten Neuen Seminargebäudes hängen bunte Transparente herab, die von einer Universitätsbesetzung künden. Vor der Tür stehen ein paar Studierende um einen Infostand herum.

Aber immer der Reihe nach: Alles begann am 14. April 2009, mit den Aktionstagen im Foyer des Geisteswissenschaftlichen Zentrums (GWZ) der Uni Leipzig, welches von protestierenden StudentInnen zwei Tage und eine Nacht in Beschlag genommen wurde. Den Hintergrund bildeten die mittlerweile unübersehbaren negativen Auswirkungen des Bachelor/Master-Systems. Trotz organisatorischer Unterstützung von StudentInnenrat und Fachschaftsräten ging diese Aktion vor allem von der studentischen Basis aus. Dabei war es nicht das Ziel, sofort mit ausformulierten Forderungskatalogen an die Öffentlichkeit zu gehen. Zunächst einmal ging es darum, einen Raum für Kommunikation und Diskussion zu schaffen – auch um die Fehler, die zum Scheitern früherer Studentenproteste führten, diesmal möglichst zu vermeiden.

Etwa 300 Studierende fanden sich an den ersten beiden Tagen des Protests ein, um ihrem Unmut über die zunehmenden Belastungen durch Vorträge, Redebeiträge am offenen Mikro und bei Diskussionsrunden in Workshops Luft zu machen. Kritisiert wurden u.a. die durch Bachelor/Master rapide vorangetriebene Verschulung der Universitätslehre, Modula­risierung und verschärfte Prüfungsverfahren, die aus der verkürzten Studiendauer folgende Überforderung der Studierenden, die zunehmende Trennung von Lehre und Forschung, die Einführung eines festen Kanons von Inhalten und die damit verbundene Einschränkung der Wahlfreiheit bei den Inhalten. Aber nicht nur die Folgen des Bachelor/Master-Systems standen zur Debatte, sondern auch der Bolognaprozess als Ganzes sowie allgemeine Fragen bil­dungs­politischer Art wie Studienge­büh­ren oder der Wandel vom Bildungs- zum Aus­bil­dungs­inter­esse. Natürlich drehte sich die zweitägige Diskussion letztlich auch ums Ganze, nämlich um die Frage, ob Bildung heute überhaupt einen emanzipatorischen Kern aufweist und wenn ja, wie dieser zu verteidigen sei.

Große Fragen, die in zwei Tagen natürlich nicht geklärt werden konnten. Und so entschied mensch sich am letzten Tag der Besetzung, den Protest im erst kürzlich geöffneten Neuen Seminargebäude (NSG) weiterzuführen. Nicht ohne Erfolg: Seit mehreren Wochen sind die Räumlichkeiten im ersten Stock des Gebäudes bereits besetzt, für jeden zugängliche Workshops, Vorträge und Filmvorführungen finden dort statt. Dreimal wöchentlich gibt es offene Plenarsitzungen, in denen der Protest koordiniert und geplant wird. Einiges an Aktionen gab es bereits, darunter eine Kundgebung gegen Studiengebühren, die am 29.4.09 vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig abgehalten wurde. Anlass war der Entscheid über die Klage des AStAs Pader­born, dass Studiengebühren nicht dem von Deutschland unterschriebenen UN-Sozialpakt entsprechen, wonach das Recht auf Bildung einen jeden eingeräumt werden müsse. Die Arbeit an einer weitreichenden studentischen Kritik, die sich nicht nur mit der Universität, sondern auch mit derem gesellschaftlichen Umfeld befasst, soll jedenfalls weitergehen. Das nächste Etappenziel ist die Beteiligung am geplanten deutschlandweiten Bildungsstreik am 15. Juni 2009.

Womit wir wieder am Ausgangspunkt wären. Etwas abseits des bunten Treibens vor dem neuen Seminargebäude sitzen Theo (mit einer Flasche Bier in der Hand) und Karl (mit einer Tasse Kaffee) auf den Treppenstufen in der Sonne. Sie ziehen schweigend an ihren Zigaretten, bis Theo, offenbar vom Weltgeist ergriffen, zu sprechen beginnt:

Theo: Ich sage dir, o Karl, da fehlt einfach das Bewusstsein. Diese jungen Leute mögen ihre Gründe haben, die Bachelor-Studiengänge und deren Folgen sind auch wirklich schwer zu ertragen: Ständi­ger Leistungsdruck, rigide Einschnitte in die Wahlfreiheit bei den Studieninhalten und dabei ein fortwährender Verlust an Qua­li­tät – und das nur, um die armen Stu­­dierenden so schnell wie möglich auf dem Arbeitsmarkt verbraten zu können, als bestenfalls Halbgebildete. Aber glaubst du wirklich, dass dieser Aktionismus er­folg­reich sein könnte? Denn der Student ist wahrlich nicht das Subjekt der Emanzi­pa­­tion – er mag sich abmühen wie er will, der dem falschen Ganzen innewohnenden Dialektik kann er sich nicht entziehen.

Karl: O Theo, du vergisst mal wieder die Stu­dentinnen. Und deine Resignation riecht mir allzu sehr nach Pose. Mag sein, bei der Besetzung des GWZ schien der Protest noch sehr studentisch-harmlos. Ich, der alte subproletarische Straßenkämpfer, hatte da ja auch meine Vorurteile. Doch die Studierenden haben langen Atem bewiesen und blieben sich treu, ihren Interessen Gewalt zu verleihen. Im Anfang liegt die Tat. Nur aus dem Protest und im Protest fängt der Mensch an zu lernen. Die Studierenden begannen schließlich auch erst im Protestieren, über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen und nicht nur ihre Probleme zu sehen, o Theo, sondern die größeren Zusammenhänge zu begreifen. Sie reden von der Universität und der Gesellschaft zugleich, von Sinn und Unsinn des Bildungsideals. Kurzum: Sie lassen sich die Selbstkritik nicht nehmen.

Theo: Doch wer, o Karl, ist dieser Protest? Die üblichen Verdächtigen sind´s! Ach, höchstens 300 Leute. Siehe, wir haben insgesamt fast 30.000 Studierende in Leip­zig, da merkst du, wie weit der Drang zum Aufstand reicht! Vielleicht hätt´s eine richtige Besetzung werden können, hätten sich die Leute nicht nur lammfromm auf das Foyer beschränkt. Und selbst dort fällt den Leuten nichts anderes ein, als Workshops abzuhalten. Kaum kommt der Karren der Empörung ins Rollen, schon flüchtet mensch sich wieder in das Seminar zurück. Und was spuckt der Geist dort aus? Tausende und Abermillionen sozial­theo­rethische Ansätze! Aber den Gesamtzusammenhang, o Karl, übersteigen diese wahrlich nicht.

Karl: Aber vergiss nicht, o Theo, mit der Besetzung des Neuen Seminargebäudes haben die Studierenden den Rubikon überschritten, der den Protest vom Widerstand trennt. Nicht nur um zu diskutieren, taten sie dies, sondern es war gleich­sam ein politischer Akt. Denn siehe: Schließlich war´s ihnen um die Universität als Raum zu tun, wo Wissen nicht nur unter den Argusaugen des allmächtigen Marktes geschaffen wird. Und wenn dieser vielleicht kleine, aber vorhandene Freiraum dem schnöden Mammon geopfert werden soll, dann ist es ein Zeichen der Hoffnung, wenn mensch sich diesen Raum zurückerobert, ohne den die geistige Freiheit ein für alle mal verdorren muss. Da beweist sich allemal eine höhere Weisheit, als die alten Rezepte wieder aufzuwärmen, bei denen ohnehin klar ist, dass sie in eine Sackgasse führen. Traurig war´s anzu­schaun vor ein paar Jahren, wie nackte Menschen in die Flüsse sprangen und krakeelten: „Die Bildung geht den Bach hinunter!“, oder, wie Harlekins gekleidet, laut pfeifend durch die Straßen tollten, um ihre Sorge um den Standort Deutschland kundzutun. Ich mag gar nicht daran denken! Was jetzt gedeiht, das sprüht in neuen Farben – ein Raum der Möglichkeiten wurd´ geschaffen, wo radikales Denken sich entfalten kann, auf gleicher Höhe wird sich verbunden und versucht, wahrlich zu erkennen, was mensch will und in welcher Welt mensch sich bewegt. Das ist nicht nur Studentenprotest, das ist ein erster Schritt zur Emanzipation!

Theo: O Karl, du redest von Räumen. Doch was für Räume sind´s? Dieselben, die der Staat seit jeher in der Uni vorsah. Denn auch zu guten alten Humboldt­­zei­ten und danach war die Uni nur die Pro­duk­­tionsstätte, um dem arbeitsteiligen Ge­sell­schaftskomplex die Experten zu züch­ten, die er brauchte. Nebenbei sollte sie stets nur noch den guten Staatsbürger züch­ten. Die Vorstellung der Universität als Residuum von Freiheit und kritischem Den­ken ist doch reine Ideologie! In diesem Dilemma gefangen, bleibt der Student doch ewig der eigenen Ohnmacht ver­fallen.

Karl: StudentInnen, o Theo…

Theo: Von mir aus… Selbst wenn´s ihnen nach Freiheit im Universitätskorpus dürstet, verlangen sie dies, um gute Staatsbürger zu werden. Denn siehe: Der…

Karl: Theo…

Theo: …Student! der die gute, d.h. kritische Universität fordert, kommt nur dem Begehren nach, das die bürgerliche Gesellschaft ihm vorschreibt: nämlich nicht nur seine Arbeitskraft zu Markte zu tragen, sondern auch noch als guter Wähler, auf den engen Rahmen des Möglichen sich beschränkend, seine Staatspflichten zu erfüllen. Die Kritik, die eine Universität beibringen soll, ist so immer die Rechtfertigung des Staates. Der Student ist nichts weiter als der perfekte Staatsbürger, der seine Stimme nur an der für sie vorgesehenen Stelle erhebt und ansonsten redlich arbeitet. Wie schon beim alten Fritz: Räsoniert soviel ihr wollt, aber gehorcht! Die Kritik an der Ökono­mi­sierung der Universität mag sich in Heldenpose werfen, doch kritisiert sie nur den Fakt, dass für die fette staatsbürgerliche Elite in der Universität nicht mehr ausreichend gesorgt wird.

Karl: Mir scheint, du willst dich nicht bewegen: die Starre steckt im Geiste dir und in den Knochen. Freilich hängt im Ganzen alles zusammen. So ist die Universität auch Staat und Kapital und nichts diesen Dingen vollkommen Fremdes. Doch wisse: Unter der Maske der Kritik redest du der Vormundschaft das Wort, du traust den Studierenden nicht zu, selber zu denken. Sie sollen schon alles richtig begriffen haben, bevor sie handeln. Doch das Begreifen stellt sich eben nicht nur ein im elitären Zirkel – wenn´s so wäre, bräuchtest du nicht zu kritisieren, du würdest das Kritisierte zum Naturgesetz erklären, Staat und Kapital für ewig setzen. Erst in der kritischen Tat kommen die Menschen zu Bewusstsein. Du kritisierst den Elfenbeinturm und sitzt selber auf dessen Dach. Doch erst im Protest gegen die ihnen aufgezwung´nen Ketten erheben sich die Studierenden aus ihrer Unmündigkeit. Indem sie ihren Interessen Ausdruck verleihen, beginnen sie ihre Interessen als die Interessen anderer zu verstehen. So ist Solidarität der Weg geebnet. Du sagst, in den Klagen der Studierenden spiegle sich nur der Willen der bürgerlichen Gesellschaft? Doch sind´s nicht gerade die uneingelösten Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft von Freiheit, Gleichheit und Individualität, die zum Aufbegehren treiben? Und liegt die Reflexion auf diese Glücksversprechen nicht im Handeln, diese einzufordern? Nur weil ein Universitätsprotest dem falschen Ganzen entspringt, ist er doch nicht gleich nur jenem verfangen. Wie willst du denn die schweigende Masse – die Angepassten, wie du sie nennst – kitzeln, wenn du im Theoriezirkel dich versteckst und mit deinen Genossen die eigene Ohnmacht mit klugen Worten stets aufs Neue predigst? Wie kannst du, o Theo, Anspruch auf Wahrheit erheben, wenn solche Wahrheit mit der praktischen Perspektive sich so gar nicht messen kann? Im reinen Selbstbewusstsein, im Reich des reinen Geistes, haust dein Anspruch auf Wahrheit, der von konkreten alltäglichen Auseinandersetzungen sich feige fernzuhalten sucht. Deine Flucht in die Theorie ist Flucht vor der Verantwortung! Und dies, um in deinen Worten zu sprechen: heißt ewig Staatsbürger bleiben. Was du mit deinem Klagegesang gebierst, ist höchstens eine neue Staatselite. Der StudentInnenprotest dagegen handelt und reflektiert zugleich. Er ist zur Solidarität in der Lage, weil er Verantwortung übernimmt. Erst die Besetzung hat einen fruchtbaren Austausch der Ideen möglich gemacht. Mag sein, dass dieses Unternehmen scheitert. Doch scheitern kann der Mensch im reinen Denken ebenso wie in schmutz´ger Praxis. Aber nur wo´s Denken praktisch wird, gibt´s Aussicht auf Befreiung. Aufklärung ist für dich nur Sache der Elite. Doch wenn sie nur dort gedeiht, so bleibt sie erst recht staatstragend.

Theo: O Karl, glaubst du denn immer noch, dies Pseudohandeln sei die Treppe hinab vom staatstragenden Elfenbeinturm? Dann vergleiche doch die Theorie, die sie in ihren Workshops aushecken, mit der Praxis, die dir vorschwebt, oder anders ausgedrückt: mit der Ohnmacht der Studenten. Die alten Hirngespinste sind´s, die sie in ihren Workshops stets aufs neue aufbrühen, nur wird die Suppe mit jedem Tage dünner. O Karl, ich sage dir, dieser Protest trifft nicht ins Herz der Bestie! Die Leitung dieser Universität weiß schon, warum sie Verständnis für die Besetzung bekundet. Dieser Protest wird in den selben Stricken sich verfangen, wie alle Proteste davor! Was tun die Leute denn dort drinnen? Eben das, was du mir vorwirfst: Sie plenieren, diskutieren, deklamieren große Thesen, so wie eh und je in Seminaren. So bleibt dein Handlungssubjekt ein ohnmächtiges, kein solidarisches. Denn Bewusstsein für die Gemeinsamkeit der Interessen ist selbst bei der breiten Masse der Studierenden nicht gegeben, und selbst wo sie an Aufruhr denken, sind sie schon vereinnahmt von alltäglicher Routine, der Sorge um ihre Abschlüsse.

Karl: Erst beschwerst du dich des platten Aktionismus wegen, und jetzt verlangst du ihn! Denn siehe: Der Protest zeigt Kontinuität. Schon bricht der neunzehnte Tag an. Behutsam wird vorgegangen und nichts überstürzt, und doch nicht nur gewartet. Dies ist kein Zeichen von Ohnmacht, sondern eines von Ernsthaftigkeit und Tiefe. Die Studierenden schaffen etwas, was du nicht kennst: Experimentier­raum. Sie wagen, Verantwortung zu übernehmen und auch sich selbst zu reflektieren, sich der Auseinandersetzung zu stellen, althergebrachte Positionen abzulegen und bessere zu entwickeln. Und selbst wenn sie die Universität nicht abschaffen, so haben sie doch den ersten Schritt zur Mündigkeit vollbracht. Nämlich Solidarität und Verantwortung. Du magst von mir aus vor Geschichte resignieren, doch sie schreitet trotzdem unaufhörlich voran.

Theo: Ich glaube, Geschichte macht mich krank.

Karl: Eben. Lieber Geschichte machen.

theo & karl

Pause beim Studiprotest

Nach 58 Tagen wurde die Besetzung des Neuen Seminargebäudes der Universität Leipzig (siehe FA!# 33) am 12. Juni beendet. Die Gründe sind vielfältig: Die mangelnde Resonanz aus weiten Teilen der Studierendenschaft führte zu dem Gefühl, in eine Sackgasse geraten zu sein, von außen nur noch als geschlossene Gruppe wahrgenommen zu werden, die für Neueinsteiger_innen wenig offen ist. Hinzu kamen interne Widersprüche, unterschiedliche Ansichten zu Aktionsformen und Zielen des Protestes, die die tatsächliche Heterogenität des Bündnisses zwischen Linksradikalen und Linksliberalen, Aktionist_innen und Theoreti­ker_innen widerspiegeln. Zudem setzte sich zunehmend die Ansicht durch, die Aufrechterhaltung der Besetzung würde zu viele Kapazitäten binden, die mensch künftig lieber anderweitig nutzen will.

Ein Neustart soll also raus aus der Sackgasse führen. Dabei sollen sich auch die Organisationsstrukturen ändern, vom Bündnis (mit dem damit einhergehenden Zwang zum Konsens, der die Protestierenden in vieler Hinsicht lähmte) zu einem Netzwerk weitgehend autonomer, aber sich untereinander koordinierender Arbeitsgruppen. Eine davon ist der AK Freiraum, der sich, anknüpfend an die bei der Besetzung des NSG gemachten Erfahrungen, die Schaffung legaler selbstverwalteter Räume an der Uni zum Ziel gesetzt hat. Diese sollen für alternative Bildungsveranstaltungen, Workshops usw. offen stehen. Ein genaueres Konzept wird derzeit erarbeitet.

Interessierte können bei den alle zwei Wochen im Clara-Zetkin-Park stattfindenden Treffen der Leipziger Bildungsstreik-Gruppe vorbeischauen (1), die auch von den ehemaligen Mitwirkenden des Protesttage-Bündnisses als Treffpunkt für Beratungen und Koordination genutzt werden. Aktionen finden der Semesterferien wegen erst einmal nicht statt. Für Ende September ist aber ein Protestcamp auf dem Unigelände in der Jahnallee geplant. Dieses soll den Auftakt bilden für eine weitergehende Mobilisierung und Aktionen zu Beginn des nächsten Semesters. Der Protest wird also hoffentlich weitergehen – Gründe dafür liefert das deutsche wie das gesamteuropäische Bildungssystem nach wie vor genug.

(justus)

(1) Genaue Termine und Ortsangabe findet ihr unter dokumen­tation-bildungsdis­kurs.pbworks.com/Zeitplan-Workshops

Leserbrief zum Thema Schwabenhass

Oh nein!

Jetzt macht sich die antideutsch-kommunistische Angewohnheit konkrete Ak­tions­möglichkeiten durch abstrakte Forderungen zu ersetzen auch schon in libertären Zeitungen breit: Kapitalismus abschaffen statt Yuppies raus!

Natürlich ist Antisuevismus nicht in Ordnung, schließlich sitzen einige Schwaben auch als treibende Kraft in radikalen Plena und sind ganz vorne, wenn es auf der Straße rund geht (und auch ich bin Schwabe und lebe immer noch im Land der reichen Spießer)! Aber mithilfe des Kapitalismus jedes Verhalten entschuldigen und jede Möglichkeit, die innere Expansion des Kapitalismus aufzuhalten (eben die Aufwertung der Stadtviertel), für nicht-emanzipatorisch zu erklären, finde ich typisch (theorie-)kommunistisch oder fast schon katholisch: Hier ist eh alles schlecht und kann gar nicht verbessert werden, schön wird´s erst nach dem jüngsten Gericht (Revolution) im Himmel (Kommunismus).

Was bewirkt denn die Parole „Kapitalismus abschaffen!“? Nichts. Selbst wenn zwei Drittel der Bevölkerung sie vertreten, kann noch nichts Konkretes daraus abgeleitet werden, weil sie nichts Konkretes aussagt (zumindest für Hardliner-Antideutsche oder ähnliche Hardliner-Kommunisten): weder Sozialstaat noch selbstverwaltete Betriebe haben für sie etwas damit zu tun.

Da verstehe ich gut, wenn Autonome nicht däumchendrehend nach dem Kommunismus rufen, sondern einen Anfang machen, indem sie die Aufwertung ihrer Viertel bekämpfen, wozu Yuppies vertreiben nunmal ein Mittel sein kann. Ob das dann antikapitalistisch sein kann, sich dessen Expansion in den Weg zu stellen, ist eine längere Diskussion. Meiner Meinung nach schon, wenn nicht da stehengeblieben wird, sondern die entstehende Selbstorganisation der Viertelbewohner (die hier mit den Autonomen ein gemeinsames Interesse haben) nicht verebbt oder stehen bleibt.

Für mich unterscheidet sich an der Frage, ob wir einem utopischen Anarchismus anhängen, den wir erreichen indem wir alle (auch Yuppies) überzeugt haben, dass der Kapitalismus doof ist, oder einem klassenkämpferischen Anarchismus, wo wir gemeinsam mit betroffenen (ärmeren) Bürgern praktische Kämpfe führen!

Kommunistisch-anarchistische Grüße aus dem Schwobaländle.

Servus zurück!

Und danke erstmal, dass du dir die Mühe gemacht hast, uns zu schreiben. Das sind ja eine ganze Menge Fragen, die du da aufwirfst… „Konkrete Handlungsmög­lichkeiten“ sind ja schön und gut, aber gibt es nicht noch andere Optionen außer „Yuppies vertreiben“ und „däumchendrehend nach dem Kommunismus rufen“? Muss man das Falsche tun, weil nichts tun auch falsch wäre? Müssen Autonome immer das tun, was Autonome der Bild zufolge halt so tun (sich vermummen und krass-militante Aktionen starten)? Definiert sich die Radikalität einer Aktion danach, ob mensch dabei eine Hasskappe braucht oder nicht?

Und können nicht auch Antideutsche manchmal recht haben? Manche „antideutsch-kommunistische Angewohnheiten“ sind ja nicht verkehrt, z.B. Marx lesen… Muss man sich nicht wenigs­tens halbwegs darüber im Klaren sein, worin das Problem besteht, um wirksam dagegen vorgehen zu können? Was ist falsch an dem Hinweis, dass die einzelnen Kapita­list_innen in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang stehen und erst durch diesen zu Kapita­list_innen werden? Das zeichnet einen gesellschaftlichen Zusammenhang nun mal aus, dass er zwar von Menschen produziert wird, aber eben nicht von einzelnen, sondern von vielen Menschen, die mit­einander interagieren. Hat Kapitalismus nicht auch was mit Besitzverhält­nissen zu tun, und sind nicht eher die das eigentliche Problem?

Und muss mensch ir­gendwem eine persönliche Schuld zuschieben, um die herrschenden Ver­hält­nisse Scheiße zu fin­den und etwas dagegen zu tun? Ist es moralisch verwerflich, Geld zu haben und ger­ne in Berlin-Kreuzberg wohnen zu wollen? Und sind die „Yuppies“ wirk­lich die Haupt­schul­­digen an der Gen­tri­fi­zie­rung, oder gibt es da noch andere Akteure? Verhindert es nicht viel­leicht gerade eine wirkungsvolle, radikale Politik, wenn mensch sich bloß den Gegner raussucht, der am meisten ins Auge sticht und am einfachsten zu treffen ist? Und werden dadurch, dass bestimmte Kapita­list_innen als „böse“ gebrandmarkt werden, nicht im Gegenzug alle anderen als „bessere“ Kapitalist_innen hingestellt und damit entschuldigt? Fragen über Fragen, die ich hier leider auch nicht beantworten kann… Es dürfte immerhin sinnvoll sein, mal drüber nachzudenken.

Klassenkämpferisch-anarchistische Grüße zurück!

justus

 

P.S.: Wenn der Schwaben-Artikel (wie du richtig bemerkt hast) im Stil an antideutsche Flugblätter angelehnt war, dann liegt das daran, dass der Text eben auch eine Parodie auf solche Flugblätter war.

Sicherheit im Doppelpack

Zwischen NATO-Gipfel und Innenministerkonferenz

Herrschaftskritiker_innen und Gipfel­stürmer_innen können schon mal ihre Sachen packen: 2009 stehen gleich zwei Großereignisse ins Haus, die genug Anlass zum Protest geben. So soll der jährliche NATO-Gipfel dieses Mal in Frankreich und Deutschland über die Bühne gehen. Die Konferenz selbst wird am 3. und 4. April 2009 in Strasbourg stattfinden, die „Geschäftsessen“ der Vertei­digungs­minister hingegen in Baden-Baden, 50 Kilometer von Strasbourg entfernt. Und im Herbst 2009 werden sich die europäischen Innenminister in Stockholm treffen, um dort den Rahmen für die Sicherheitspolitik der EU in den nächsten Jahren festzulegen. Dabei haben beide Veranstaltungen mehr mit­ei­nander zu tun, als mensch auf den ersten Blick vermuten würde.

Militärische Weltpolizei…

Der NATO-Gipfel soll nicht nur das 60jährige Bestehen des Bündnisses feiern. Es stehen auch weitreichende Veränderungen auf dem Programm. Die geplante Abschaffung des bisher geltenden Vetorechts soll künftige militärische Missionen vereinfachen, diese könnten in Zukunft auch ohne UN-Mandat möglich sein.

Auch die strategischen Richtlinien für die nächsten Jahre sollen dort festgelegt werden. Wie die aussehen könnten, macht ein von fünf ehemaligen Generälen verfasstes Strategiepapier (1) deutlich, das im April 2007 unter dem Titel „Towards A Grand Strategy For An Uncertain World“ („Hin zu einer umfassenden Strategie für eine unsichere Welt“) veröffentlicht wurde. Dort heißt es: „Die wichtigste Herausforderung der kommenden Jahre wird sein, auf das vorbereitet zu sein, was sich nicht vorhersagen lässt (…) Den westlichen Alliierten steht eine lange, andauernde und präventiv zu führende Verteidigung ihrer Gesellschaften und ihrer Lebensart bevor. Deshalb müssen sie Risiken auf Distanz halten, während sie ihre Heimatländer beschützen.“

Als mögliche Bedrohungen, vor denen die westlichen Gesellschaften präventiv mit militärischen Mitteln geschützt werden sollen, sehen die NATO-Strategen dabei den internationalen Terrorismus und das weltweite organisierte Verbrechen, mögliche Unruhen als Folge von Nahrungs­mittelkrisen, aus dem Klimawandel resultierende soziale Konflikte ebenso wie massenhafte illegale Einwanderung.

An dieser Aufzählung sieht man bereits, wie stark sich die Rolle des Militärs seit dem Ende der Blockkonfrontation zwischen Ost und West gewandelt hat. Ein Angriff einer feindlichen Armee auf die „westlichen Gesellschaften und ihre Lebensart“ gehört jedenfalls nicht zu den angeführten Szenarien. Stattdessen sollen soziale Konflikte militärisch „bearbeitet“ werden. Die NATO (so das Konzeptpapier) müsse sich „zu einem effizienteren Instrument für die Analyse der sozio-ökonomischen Bedingungen entwickeln, die Sicherheitsproblemen zu Grunde liegen“ – natürlich nicht, um an den Ursachen etwas zu ändern, sondern um die Symptome besser bekämpfen zu können. Ziel ist es, potentielle Bedrohungen schon im Vorfeld zu erkennen und „präventiv“ zu bekämpfen. Aufgabe der NATO bei der Intervention in Krisenregionen soll es sein, für Stabilität in den betroffenen Staaten und die Errichtung von „Good Gover­nance“ zu sorgen, den „freien und gerechten Handel“ und den Zugriff auf Rohstoffe zu sichern – kurz gesagt, neue Märkte und Einflusszonen erschließen und dafür sorgen, dass auch dort die Kapitalakkumulation ungestört ablaufen kann.

Im Zuge dieser Entwicklung verschwimmen auch die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit zusehends. Dem Strategiepapier zufolge braucht es, um den beschriebenen Gefahren erfolgreich begegnen zu können, ein Konzept von „Homeland Security“ (Heimatschutz), das beide Bereiche miteinander verknüpft – dies läuft auf die Errichtung einer „globalen Sicher­heitsarchitektur“ hinaus, bei der Militär, Polizei, Politik, Forschung und Zivilgesellschaft zusammenwirken sollen. Mit der Eindämmung bzw. Bekämpfung von Aufständen, Terrorismus und organisierter Kriminalität übernimmt das Militär immer mehr die Rolle einer „Weltpolizei“. Nicht umsonst soll z.B. die Bundesmarine mittlerweile gegen Piraten im Golf von Aden vorgehen. Die Diskussionen um den Einsatz der Bundeswehr ihm Inland bilden die Kehrseite dieser Entwicklung.

…polizeiliche Außenpolitik

In eine ähnliche Richtung denkt auch die sogenannte Future Group. Diese informelle Gruppe wurde 2007 auf Initiative Wolfgang Schäubles und des ehemaligen EU-Kommissars für Justiz und Innere Sicherheit Franco Frattini ins Leben gerufen. Neben diesen gehören ihr u.a. auch die Innenminister von Spanien, Portugal, Frankreich, Slowenien, Schweden, Ungarn, Belgien und der Tschechischen Republik an. Im Juni 2008 legte diese Gruppe den europäischen Regierungen ein Strategiepapier mit Empfehlungen für die Gestaltung der Sicherheits- und Rechtspolitik von 2010 bis 2014 vor. Das Dokument (2) trägt den schönen Titel „Freedom, Security, Privacy – European Home Affairs In An Open World“ („Freiheit, Sicherheit, Privatsphäre – Europäische Innenpolitik in einer offenen Welt“).

Darin fordern die Innenminister u.a. eine stärkere grenzüberschreitende Zusammenarbeit der europäischen Polizeibehörden und Geheimdienste. Vor allem der Datenaustausch soll erleichtert werden, um terroristische Bedrohungen besser abwehren zu können. Bestehende Datenbanken wie das Europol-Netzwerk EIS, das Schengen-Fahndungssystem SIS II und die Visum-Datenbank VIS sollen dafür miteinander verknüpft werden. Bis zur Realisierung dieses Traumes von der Super-Datenbank ist aber noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen. Nicht nur bestehende Inkompati­bilitäten bei der verwendeten Hard- und Software müssen überwunden und gemeinsame Standards bei der Datenerhebung eingeführt werden. Auch Datenschutz-Regelungen stehen den behördlichen Begehrlichkeiten noch im Wege.

Im zweiten Schritt soll es darum gehen, die so angehäuften riesigen Datenmengen (das Dokument spricht gar von einem „Daten-Tsunami“) sinnvoll zu ordnen und per Computer automatisch bestimmten Rastern entsprechend zu durchforsten. Der Wunschtraum der Sicherheitsarchitekten wäre es, diese potentiellen Gefährdungen schon im Vorfeld ausfindig machen und bekämpfen zu können. Eventuell auftauchendem Unbehagen auf Seiten der so überwachten Bürger soll propagandistisch begegnet werden: Es sei erforderlich, „den Bürgern der Europäischen Union zu erklären, wie Informationen verarbeitet und geschützt werden, auf der Basis von Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit“.

Ähnlich wie in dem NATO-Papier wird die „illegale Einwanderung“ als drängendes Problem ausgemacht. Um diese zu bekämpfen, sollen die Befugnisse der mit der Abwehr von Migrant_innen an der EU-Außengrenze befassten Frontex-Agentur erweitert werden. Dabei müssten z.B. die Kompetenzen der an den jeweiligen Einsätzen mit Schiffen und Flugzeugen beteiligten Staaten und die Verantwort­lichkeiten für Flüchtlinge, Asylsuchende und Schiffbrüchige geklärt werden. Gleichzeitig soll Frontex künftig mehr Autonomie, etwa bei der Ausbildung von Grenzschutztruppen und der Abschiebung von Migrant_innen, gegeben werden. Zudem sollen die Grenztruppen künftig auch außerhalb des EU-Territoriums, z.B. vor der afrikanischen Küste, operieren.

Denn auch die Innenminister sehen eine „wachsende wechselseitige Abhängigkeit von Innerer und Äußerer Sicherheit“. Nur logisch, dass sie sich Aufgabenbereichen zuwenden, für die sie bislang nicht zuständig waren. So fordern sie eine stärkere Einflussnahme der EU auf sogenannte „Dritt­staa­­ten“. Als „Kandidatenländer“, an denen ein besonders vitales Interesse von europäischer Seite bestünde, werden u.a. der Irak und dessen Nachbarstaaten, Afghanistan, China und Indien genannt. Innen-, Außen-, Verteidigungs- und Entwick­lungs­hilfe­minis­terien müssten zusammen­ar­beiten, um auch im Ausland etwaigen Bedrohungen begegnen zu können.

Dabei übernimmt nicht nur das Militär zunehmend polizeiliche Aufgaben – im Zuge der wachsenden „Internationalisierung von Konfliktlösungen“ findet auch eine Militarisierung der Polizei statt. So heißt es in dem Papier: „Die zunehmende Vielfalt an Bedrohungen lässt es für die EU und andere notwendig werden, mit sich überschneidenden Polizei- und Militärproblemen in Krisenregionen zurecht zu kommen.“ Entsprechend werden deutsche Polizeibeamte bald nicht mehr nur als Ausbilder in Krisengebieten tätig werden. Auch paramilitärische Einheiten der Bundespolizei sollen künftig als „Schnelle Eingreiftruppe“ bei Auslandseinsätzen dabei sein – im Rahmen der europäischen Gendarmerietruppe EGF. Eine erste Hundertschaft wird bereits im bayrischen Ort Sankt Augustin ausgebildet, weitere Einheiten sollen bis 2010 folgen.

Gegenmaßnahmen

Auch die Polizei wird also den Anforderungen der zunehmenden Militarisierung der europäischen Außenpolitik angepasst. Beim Gerangel um geopolitische Einflusszonen, Rohstoffressourcen und Absatzmärkte will die EU nicht abseits stehen. Mit dem Aufbau europäischer „battle groups“ stehen mittlerweile auch die Mittel bereit, um den eigenen Interessen im weltweiten Konkurrenzkampf wirksam, und notfalls auch gewaltsam Geltung zu verschaffen.

Im Gegenzug wird auch die Innere Sicherheit verstärkt an einem militärischen Konzept des „Zivilschutzes“ ausgerichtet. Konkrete Bedrohungen treten dabei innen- wie außenpolitisch hinter allgemeine „Risi­ko­analysen“ zurück: Um ins Visier der Polizeibehörden zu geraten, reicht mehr und mehr der bloße Verdacht aus, man plane eine Straftat. Und auch das Militär will künftig nicht mehr warten, bis ein potentieller Konflikt tatsächlich eskaliert. Die Bedrohung durch den „internationalen Terrorismus“ liefert hier wie dort die Rechtfertigung dafür. Damit diese Neuausrichtung der europäischen Innen- und Außenpolitik nicht unbemerkt und unwidersprochen über die Bühne geht, formiert sich zur Zeit ein breites Bündnis antimilitaristischer und antikapita­listischer Gruppen (3).

Auch die Gegenseite bereitet sich auf den NATO-Gipfel vor. Ein Streitpunkt ist zum Beispiel die Lage und Größe möglicher Protestcamps. Der baden-württem­bergische Innenminister Heribert Rech erklärte, man werde nur geordnete Camps in überschaubarer Größe zulassen. Während das Anti-Gipfel-Aktionsbündnis bei Strasbourg und Kehl zwei Camps für bis zu 18 500 Menschen einrichten will, möchte der Innenminister nicht mehr als 1.500 Personen dulden – sonst könnte die Polizei überfordert sein.

Zudem sollen schon im Vorfeld des Gipfels großflächige Kontrollen durchgeführt werden, um z.B. zu verhindern, das Waffen auf das Campgelände geschmuggelt werden. Mutmaßliche Gewalttäter will man mit strengen Meldeauflagen und Aufenthaltsverboten fernhalten. Um die jeweiligen Veranstaltungsorte in Strasbourg, Kehl und Baden-Baden werden Sicher­heits­zonen eingerichtet. Es wird davon ausgegangen, dass das Stadtzentrum von Strasbourg während des Gipfels komplett gesperrt und selbst für Anwohner nur mit Passierschein zugänglich sein wird.

Einen Zaun wie in Heiligendamm wird es wohl weder in Strasbourg noch auf deutscher Seite geben. Einem kürzlich veröffentlichten Sicherheitskonzept für Baden-Baden zufolge soll es dort um die absolute Sperrzone herum eine weitere Sicherheitszone mit starker Polizeipräsenz geben, um das „Einsickern“ von „Störern“ zu verhindern. Die Bundeswehr soll sich derweil um die „Sicherheit im Luftraum“ kümmern – ob darunter (wie in Heiligendamm) auch Aufklärungsflüge über die Protestcamps verstanden werden, ist derzeit noch unklar. Ebenfalls ist angedacht, die Grenzübergänge zwischen Deutschland und Frankreich an diesem Wochenende zu sperren. Hoffen wir mal, dass dieses Konzept nicht aufgeht und sich im April genügend viele Gegen­de­mons­trant_innen in Strasbourg, Kehl und Baden-Baden einfinden, um den großen wie den kleinen Sicherheitsstrategen die Suppe gebührend zu versalzen.

(justus)

(1) als PDF ist das Dokument im Internet unter euro-police.noblogs.org/gallery/3874/grand_strategy.pdf zu finden

(2) siehe euro-police.noblogs.org/gallery/3874/eu-futures-jha-report.pdf

(3) Mehr dazu unter gipfelsoli.org und euro-police.noblogs.org

Im Unterholz der Moderne (1)

Religion, Vernunft, Ideologie

Gut 200 Jahre ist es her, dass Imma­nuel Kant seine berühmte Forderung, „Habe Mut, dich deines eigenen Ver­standes zu bedienen“, erhob und Auf­klä­rung als den „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ definierte. Schon der Begriff „Aufklärung“ („enligh­tenment“ im Englischen) verweist auf den hehren Anspruch des Unterfangens: Alles soll vom Licht der Vernunft durchleuchtet, die Gesellschaft nach den Regeln der Rationalität umgestaltet werden. Damit ist aber längst kein Zeitalter universeller Vernunft angebrochen. Zwar haben die christlichen Kirchen in den westlichen Industrienationen ihr Monopol auf die letztgültige Erklärung der Welt verloren – die Religiosität ist mit dem Verlust des christlichen Monopols aber nicht verschwunden.

Im Gegenteil lassen sich sogar Anzeichen für einen religiösen roll-back, ein erneutes Erstarken des Glaubens ausmachen. Nicht nur in islamisch geprägten Teilen der Welt gewinnen fundamentalistische Be­wegungen an Bedeutung. Auch hier­zu­lande bemühen sich die christlichen Kirchen, verlorenen Boden zurück zu gewinnen. Wie das ausschaut, konnte man vor kurzem in Leipzig beobachten, in der Debatte über das neugebaute „Paulinum (siehe FA! # 31). Auch die pro-tibetischen Proteste im Vorfeld der Olym­­pi­schen Spie­­le in Peking 2008 dürften nicht nur mit den Lebensbedingungen der tibetischen Bevölkerung, sondern auch mit der kaum von Sachkenntnis ge­trübten Popularität des Dalai Lama zu tun gehabt haben (1).

Die heutigen Erscheinungsformen der Religiosität sind freilich nicht einfach nur irrationale Restbestände in einer ansonsten durch und durch rationalen Gesellschaft – eine solche Sichtweise würde das Statische der Religiosität zu sehr betonen. Selbst wenn die jeweiligen Glaubensinhalte und Praktiken gleich bleiben, kann die Funktion, die sie in einer bestimmten Gesellschaft haben, stark variieren. So wäre es z.B. absurd zu glauben, die religiöse Praxis neuheidnischer Gruppen, die sich auf alte germanische oder keltische Religionen beziehen, sei mit der ihrer Vorbilder identisch, egal wie sehr mensch sich dabei um genaue Rekonstruktion von Riten und Glaubensvorstellungen bemüht. Auch die Selbstwahrnehmung religiöser Gruppierungen, die sich als Hüter einer „ewigen Wahrheit“ begreifen, ist also illusorisch. Im Gegensatz dazu soll hier die Religiosität (bzw. einige ihrer Spielarten) als soziales, sehr „diesseitiges“, zeit- und ortsgebundenes Phänomen im Mittelpunkt der Untersuchung stehen.

Einkaufsbummel im Weltanschaungsladen

Dabei ist nicht zu übersehen, dass sich Form und Funktion der Religiosität in den letzten 100 Jahren gravierend verändert haben: Wie so ziemlich jeder Teil der menschlichen Ex­is­tenz ist heute auch sie zu einer Sache des Marktes geworden. Wer ein wie auch immer geartetes Bedürfnis nach Sinnstiftung und weltanschaulicher Orientierung hat, kann sich aus dem Sortiment die Ware aussuchen, die ihm oder ihr am ehesten zusagt. Im Zuge der Säkularisierung hat sich neben den etablierten Kirchen eine Marktlücke für ein ganzes Spektrum „parareligiöser“ (2) Strömungen aufgetan. Als Oberbegriff für dieses Spektrum hat sich das Schlagwort „Esoterik“ eingebürgert – gerade weil der Begriff ebenso diffus ist, wie die Sache, die er bezeichnet, soll er auch hier weiter verwendet werden. In ihrer Vermitteltheit über den Markt ist die Esoterik trotz aller Rückgriffe auf ältere Traditionen ein genuin modernes Phänomen, eine in gewissem Sinn wirklich „neue“ Form von Religiosität. Als solche soll sie im nächsten Heft genauer unter die Lupe genommen werden – hier sollen zunächst einige theo­re­tische Vorannahmen geklärt und der ge­sell­schaftliche Kontext dieser neuen Form der Religiosität un­­tersucht werden.

Dieses Unterfangen stößt allerdings auf Schwierigkeiten – zuallererst die Unübersichtlichkeit des zu beackernden Feldes. Bleiben wir noch kurz bei der Esoterik. Dieser Begriff bezeichnet ein loses Bündel von Gruppierungen, Weltanschauungen und Praktiken, dessen kleinster gemeinsamer Nen­­ner der diffuse Glaube an im Ver­bor­genen wirkende „höhere Kräfte“ ist – egal, ob diese nun als personifizierte Mächte (Gottheiten, Engel, Seelen usw.) oder abstrakter als „kosmische Energie“ oder „Schicksal“ begriffen werden. Sonderfälle (z.B. UFO-Gläubige und Weltverschwörungstheo­retiker_innen, deren Literatur in Buchhandlungen ebenfalls unter dem Schlagwort „Esoterik“ einsortiert wird) müssen dabei mitbedacht werden. Von diesem weltanschaulichen Minimalkonsens abgesehen, gibt es aber auch große Unterschiede – die jeweiligen Praktiken können körperzentriert sein oder im Gegenteil auf eine „reine Geistigkeit“ abzielen, in stark individualisierter Form oder in festen Gruppenstruk­turen ablaufen, diese Struk­turen wiederum können flache Hierarchien aufweisen oder um eine autoritäre Gurufigur zentriert sein usw.

Die Schwammigkeit des Gegenstandes ist aber nicht nur durch die Vielzahl der weltanschaulichen Angebote bedingt, sondern verweist auf ein immanentes Problem von Religiosität unter den Bedingungen der Moderne. Um dieses zu erfassen, müssen wir uns das Verhältnis von Vernunft und Glaube, Rationalität und Irrationalität im religiösen Denken ein wenig genauer ansehen.

Religion als Weltanschauung, als „Theologie“ im weitesten Sinne, als System von Aussagen also, baut sich auf Dogmen, willkürlich gesetzten und rational nicht weiter begründbaren Basisbehauptungen, auf. Logisch lassen sich diese weder widerlegen noch beweisen – man kann höchstens glauben, eine bestimmte Aussage entspräche der Wahrheit. Tut mensch das, kann man allerdings auf dieser Basis durchaus folgerichtig weiterargu­men­tieren. Hat man z.B. die Behauptung „Die Bibel ist Gottes Wort“ akzeptiert, ist es nur logisch, sich z.B. über das Wesen der Engeln Gedanken zu machen – die werden schließ­lich auch in der Bibel erwähnt (was natürlich nicht beweist, dass es Engel wirklich gibt). Eben weil religiöse Gruppierungen zur Vermittlung ihrer Ansichten nicht auf die Sprache als wichtigstes Mittel zwischenmenschlicher Kommunikation verzichten können, sind religiöse Weltanschauungen immer eine spezifische Verbindung von Irrationalität und logischer Rationalität (Logik ist schließlich vor allem eine Sache des präzisen Sprachgebrauchs).

Die religiösen Weltanschauungen zugrundeliegenden Dogmen geraten so lange nicht als bloße Behauptungen in den Blick, wie entweder der Kreis der Gläubigen so nach außen abgeschottet ist, dass seine Mitglieder gar nicht erst mit der Möglichkeit anderer Weltsichten konfrontiert werden, oder eine strafende Instanz existiert, die Abweichungen vom „rechten Glauben“ mehr oder weniger gewaltsam unterbindet. Beide Bedingungen sind in den westlichen Industrienationen heute kaum noch gegeben – ein hohes Maß an Mobilität, allgemeine Schulpflicht, neue Kommunikationsmedien usw. machen völlige Abschottung schwierig, und das Verbrennen von Menschen auf öffentlichen Plätzen wird mittlerweile zu Recht als barbarische Praxis angesehen. Zudem ist der Religion mit den Naturwissenschaften eine ernsthafte Konkurrenz erwachsen, die den großen Vorteil hat, nicht nur vage Versprechungen für das Jenseits, sondern auch praktische Ergebnisse im Diesseits liefern zu können.

Die fundamentalen Dogmen verlieren damit an Verbindlichkeit, die sorgfältig konstruierten religiösen Aussagensysteme geraten ins Wanken. Eben das ist der Grund, warum die religiösen Vorstellungen heute zunehmend abstrakter werden, sich religiös denkende Menschen immer seltener zu klaren Aussagen bezüglich des Wesens des „Göttlichen“ hinreißen lassen – die Religiosität zieht sich im Zuge der Säkularisierung und der Konkurrenz durch die Naturwissenschaften auf weniger angreifbare Positionen zurück. Die Vorstellung eines persönlichen Gottes, der im Zorn gelegentlich mit Blitz und Donner dreinhaut, wird z.B. ersetzt durch die Idee einer abstrakten höheren Macht. An eine solche unpersönliche „höhere Macht“ glauben laut der Shell-Jugendstudie von 2006 19% der Jugendlichen in Deutschland, in der Gesamtbevölkerung sind es etwa 33% (an einen persönlichen Gott glauben dagegen nur noch 22%). So ließe sich Esoterik auch definieren: als Religiosität von Leuten, die aus einem säkularisierten Milieu stammen, aber trotz fehlender oder geringer Bindung an eine Kirche ein vages Bedürfnis nach „Spiritualität“ haben. Es fragt sich nur, woher dieses Bedürfnis kommt.

Dafür müssen wir uns den gesellschaftlichen Kontext ansehen, in dem diese neue Form der Religiosität steht. Denn ob mensch sich den Schöpfer der Welt nun als etwas grantigen älteren Herrn oder als fliegendes Spaghettimonster vorstellt, ist zunächst mal beliebig – nachprüfen lässt sich die Behauptung im einen wie im anderen Falle nicht. Wenn sich jemand für die eine oder die andere Art des Glaubens entscheidet, ist diese Entscheidung in erster Linie sozial bedingt, z.B. dadurch, dass die entsprechende Religion ein hohes Ansehen genießt, die eigenen Eltern dieser anhängen oder dass sie bestimmte individuelle Bedürfnissen bedient. Wäh­len wir ein anderes Beispiel: Wenn ich behaupten würde, Gott wäre mir er­schie­nen und hätte mir befohlen, kleine Kin­der zu töten und aufzufressen, so würde mir wohl jeder(r) entrüstet widersprechen – widerlegen ließe sich die Aussage nicht, aber weil sie anerkannten gesell­schaft­lichen Normen zuwider läuft, würde niemand sie überzeugend finden.

Wir sollten also die Esoterik in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen einordnen, um zu erklären, warum bestimmte Dogmen trotzdem weiterleben, in immer neuen Zusammenhängen zum Vorschein kommen, obwohl sie nicht mehr von einer kirchlichen oder staatlichen Gewalt gestützt werden.

Dabei kommen wir nicht umhin, von Herrschaft zu sprechen. Meiner These nach beruht Herrschaft nicht nur auf einer bestimmten Verteilung materieller Güter (Lebensmittel, Geld, Waffen usw.) beruht, sondern komplementär dazu auf einer entsprechenden „gesellschaftlichen Mythologie“. Herrschaft wird nicht nur durch rohen Zwang durchgesetzt – sie ist auf die Mythologie angewiesen, um sich zu legitimieren, d.h. die Leute dazu zu bringen, die über sie ausgeübte Herrschaft zu akzeptieren. Entgegen einem vulgärmarxistischen Ideologiebegriff wäre diese gesellschaftliche Mythologie also nicht nur ein „Überbauphänomen“, etwas der ökonomischen „Basis“ Nachgeordnetes und aus dieser Ableitbares, sondern als konstituierenden Bestandteil eines Ge­samt­zusammenhangs von Herrschaft – die kapitalistische Ordnung der Dinge stützt die gesellschaftliche Mythologie und wird ihrerseits von dieser gestützt. Als integraler Bestandteil der Gesellschaft schlägt sich diese Mythologie nicht nur in Religion und Esoterik, sondern auch im „Alltagsverstand“ (3) und im wissenschaftlichen Diskurs nieder.

Kritik der Religionskritik

Um diese doch etwas dreiste Behauptung zu stützen, greifen wir noch einmal auf ein (willkürlich gewähltes, aber hoffentlich erhellendes) Beispiel zurück. Denn unhin­terfragte Vorannahmen spuken auch dort herum, wo mensch sich auf größtmöglicher Distanz zum Glauben wähnt, in den di­versen Formen von naturwissenschaftlich fundierter Reli­gionskritik. Eine Or­ga­nisation, die sich dafür stark macht, sind die Brights Deutschland, laut Selbstdarstellung „eine basisdemokratische Bewegung, die für die Gleichberechtigung von Naturalisten eintritt“. Schauen wir uns einen ihrer Texte mal genauer an (4).

Der Artikel trägt den Titel „Gottlos auf der Suche nach Wahrheit“ und enthält durchaus sinnvolle Argumente: Der Verfasser erklärt, dass es Adam und Eva nachweislich nie gegeben hat, er zitiert einige blutrünstige Stellen aus dem Alten und Neuen Testament und geiselt die „homo­phobe, sexistische, barbarische und primitive Unterdrückermoral“ der christlichen und mus­li­mischen Religion – viel­leicht etwas platt, aber nicht falsch. Sein Motto beschreibt er am Ende so: „Nichts glauben. (…) Wenn man lange ge­nug alles in Frage stellt, stehen die Chancen gut, dass man sich irgend­wann Naturalist nennt oder Bright. Ein Bright ist jemand, der nicht an Übernatürliches glaubt, nicht an Gott, den Teufel, nicht an Elfen oder den Weihnachtsmann.“

So weit, so gut – aber welchen Begriff von „Natur“ führt der selbsternannte „Naturalist“ da gegen das Übernatürliche ins Feld? Schauen wir noch mal genauer hin: So beruft sich der Autor auch auf Greg Graffin (Biologie-Professor und Sänger der Punkband Bad Religion) als Zeugen. In positivem Bezug auf einen von diesem verfassten Essay heißt es da unter anderem: „Graffin verurteilt die Leugnung der menschlichen Natur, wie sie sowohl von der Linken, etwa von Gender-Feministinnen und anderen Postmodernisten, als auch von der Rechten, vor allem der religiösen Rechten und von Rassisten, betrieben wird.“

Das ist, kurz gesagt, Nonsens – und eben deshalb aufschlussreich. So leugnen Gender-Feministinnen nicht, dass der Mensch auch ein biologisches Wesen ist, sie bestreiten bloß, dass soziales Verhalten von der Biologie determiniert ist. Nur weil Mann z.B. einen Penis hat, muss er nicht unbedingt jeden verprügeln, der einen komisch anschaut – wenn er sich so verhält, dann eher um einem bestimmten gesellschaftlichen Ideal von „Männlichkeit“ zu entsprechen (z.B. aus Angst, man würde sonst für schwul gehalten). Im Gegenzug berufen sich Rassisten stän­dig auf die „menschliche Natur“ und führen dabei exakt den Kurzschluss von Biologie und sozialem Verhalten vor, den Gender-Feminis­tin­nen kri­ti­sie­ren: So meinen Rassisten, dun­­kel­­häu­tige Men­schen wären sexuell be­son­­ders trieb­haft und könnten gut trommeln, während z.B. Juden von ihrer rassischen Veranlagung dazu getrieben würden, besonders gierig zu sein und ständig Welt­ver­schwö­­run­gen anzuzetteln.

Die ursprüngliche Argumentation Greg Graffins mag komplexer gewesen sein, als unser Religionskritiker sie wie­­dergibt (5). Dass Graffin auch der Meinung ist, die Strophe-Refrain-Form in der Musik hätte sich deshalb durchgesetzt, weil sie „eine bestimmte Funktion in unserer biologischen Natur“ erfülle (6), zeigt jedenfalls, dass auch er offenbar Probleme hat, biologische Evolution und Kulturgeschichte auseinander zu halten. Die Neigung zu soziobiologischen Kurzschlüssen scheint er also mit den Rassisten zu teilen – seine Rassismuskritik dürfte auf den Vorwurf hinauslaufen, Rassisten würden nicht genug von Biologie verstehen.

Es fragt sich, wie weit man mit einem solchen Ansatz bei der Religionskritik kommt: Was sagt es bspw. aus, wenn man bei meditierenden buddhistischen Mönchen Veränderung in den Hirnströmen feststellt? Am Ende landet mensch noch bei der Idee eines „religiösen Gens“, welches der Schöpfer selbst uns vorsorglich eingepflanzt hat (wie clevere Theologen argumentieren könnten) bzw. uns dazu bringt, allen möglichen Unfug zu glauben (wie Rationalisten sagen würden). Im einen wie im anderen Fall stünde die Religionskritik blöd da – sie wäre dann ein ähnlich sinnloses Unterfangen wie z.B. eine Kritik des Verdauungssystems.

Mit einem biologistischen Begriff von „menschlicher Natur“, wie unser Re­ligons­kritiker ihn hier gegen die Religion ins Felde führt, stecken wir schon tief im Sumpf der gesellschaftlichen Mythologie. Es geht hier nicht bloß um eine „selbstverschuldete“, sondern um eine „fremdverschuldete Unmündigkeit“, die gesellschaftlich produziert wird. Auch wissenschaftliche Theoriebildung findet schließ­lich nicht im luftleeren Raum statt – wie bei der Religion lassen sich hier „interessierte Irrtümer“ und unhinterfragte Voraussetzungen finden.

Metaphysik der Macht

Die moderne kapitalistische Gesellschaft ist ein komplexes Gefüge von Trennungen, von Ein- und Ausschlüssen. Nationalstaaten trennen zwischen Staats­bürger_innen und „Ausländern“. Die Staatbürger_innen werden ihrerseits nach biologischem Geschlecht, Hautfarbe, sexuellen Vorlieben usw. sortiert. Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt schließt die Verlierer von bestimmten Erwerbsmöglichkeiten aus. Das Bildungssystem selektiert Menschen je nachdem, ob sie es innerhalb einer bestimmten Zeit schaffen, sich eine vorgegebene Menge an Wissen anzueignen oder eben nicht. Das Eigen­tumsrecht trennt die Erwerbstätigen von den Produktionsmitteln, die warenproduzierende Wirtschaft trennt Menschen von den Gütern, die sie vielleicht brauchen, aber nicht bezahlen können. Staatliche und nichtsstaatliche Herrschaft trennt zwischen denen, die Entscheidungen treffen, und denen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind.

Kein besonders vernünftiges System, sollte man meinen – jedenfalls kein besonders angenehmes. Dieses System von Trennungen ist nicht nur von Menschen produziert und bedarf fortwährenden menschlichen Handelns, um sich zu reproduzieren. Es erzeugt auch fortwährend Konflikte, die für die Gesellschaftsordnung potentiell bedrohlich sind und deshalb kontrolliert werden müssen. Diese Kontrolle findet dabei nur in Ausnahmefällen durch gewaltsame Unterdrückung statt (auch wenn Herrschaft darauf nicht verzichten kann), sondern eben mit Hilfe der gesellschaftlichen Mythologie. So sehr es bei genauerer Betrachtung unübersehbar ist, dass die gesellschaftlichen Trennungslinien auf menschlichem Handeln und sozialer Interaktion beruhen, so heikel ist diese Erkenntnis für diejenigen, die meinen, ein Interesse am Fortbestand dieser Trennungen zu haben. Hier kommen die oben beschriebenen „interessierten Irrtümer“ wieder in´s Spiel – wer Angst vor Veränderung hat, hat eben ein Interesse an einer Weltsicht, in der die Hierarchien, Ein- und Ausschlüsse ihre Grundlage in einer ewigen „Natur“ oder „göttlichen Vorsehung“ haben.

So mögen militante Nationalisten viel­leicht gerade mit handfester Gewalt daran arbeiten, ein homogenes „Volk“ zu schaffen, indem sie diejenigen vertreiben oder umbringen, die ihrer Meinung nach nicht dazugehören (wie es z.B. in den 1990er Jahren im ehemaligen Jugoslawien zu beobachten war) – aber sie werden dabei der festen Überzeugung sein, nur das wiederherzustellen, was „schon immer“ so war. Ein anderes Beispiel: Die Rolle des Mannes als „Familienernährer“ mag ein Produkt des frühen bis mittleren 19. Jahrhunderts sein – dennoch werden sich genug an Geschlechterfragen uninteressierte Historiker finden, die diese gesellschaftliche Arbeitsteilung schon in der frühen Steinzeit wiederzufinden meinen, und genug Soziobiologen, die diese mit der biologischen Ausstattung des „Mannes“ bzw. der „Frau“ erklären.

Die „interessierten Irrtümer“ müssen dabei nicht unbedingt offen ausgesprochen werden. Komplementär dazu gibt es auch eine „interessierte Wahrheitsproduktion“. Ein Wirtschaftswissenschaftler mag vielleicht insgeheim dem liberalen Glauben an die „unsichtbare Hand des Marktes“ anhängen – er kann dennoch durchaus wahre Aussagen über das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft produzieren. Der grundlegende „Irrtum“ muss in der Theorie nicht formuliert werden, er wird aber dennoch insgeheim den Lauf der Theorieproduk­tion beeinflussen. Dabei funktioniert der wissenschaftliche Anspruch auf Objektivität und „Interesselosigkeit“ oft genug als subtile Ver­schleierungstaktik: Wer von sich behauptet, kein Interesse zu haben, will in der Regel, dass alles so bleibt wie es ist.

Da das wissenschaftliche Denken die beobachtbaren Fakten freilich nicht gänzlich ignorieren kann, gerät es dabei auch immer wieder in potentiell produktive Widersprüche: Es stellt sich heraus, dass die Realität sich anders verhält, als sie es der Theorie nach tun sollte – also muss nach einer Theorie gesucht werden, die die neu ins Blickfeld geratenen Fakten besser erklärt.

Dies wäre eine produktive Reaktion auf zum Vorschein kommende Widersprüche. Es gibt freilich auch eine unproduktive Art der Reaktion: die Produktion eines neuen „interessierten Irrtums“ eben.

Und hier kommt wieder die Esoterik in´s Spiel. So ist der Glaube an Verschwörungstheorien völlig folgerichtig, wenn mensch z.B. daran festhält, Eigentum und kapitalistische Konkurrenz als naturgegeben anzusehen, aber gleichzeitig den Fakt, dass dieses Wirtschaftssystem ständig unerfreuliche Folgen nach sich zieht, nicht ignorieren kann. Der Widerspruch zwischen zwei in einer bestimmten Weltsicht nicht vereinbaren Aussagen wird nicht gelöst, indem mensch seine bisherigen Erklärungsmodelle hinterfragt und verbessert – wenn mensch sowohl an Aussage a („Kapitalismus ist gut und normal“) als auch an Aussage b („Irgendwas läuft hier falsch“) festhält, bleibt als Ausweg nur der Sprung in´s Irrationale: Nicht der Kapitalismus ist das Problem, sondern eine im Verborgenen wirkende Macht, eine Verschwörung finsterer Hintermänner.

Aber Verschwörungstheorien sind nur ein Beispiel esoterischen Denkens – und nicht einmal dessen populärste Spielart. Im nächsten Heft soll anhand einiger konkreter Beispiele der Zusammenhang zwischen Esoterik und Gesellschaft, ökonomischem „Unterbau“, gesellschaftlicher Mythologie und esoterischem Denken näher untersucht werden.

(justus)

 

(1) siehe dazu u.a. Colin Goldner, „Dalai Lama – Fall eines Gottkönigs“ Alibri Verlag 1999

(2) „para-“, lat. für „halb“. Die Grenzlinie zwischen solchen parareligiösen Phänomenen und „echten“ Religionen ist relativ willkürlich, entscheidend sind dabei Kriterien wie gesellschaftliches Ansehen und Alter einer religiösen Weltanschauung, innere Systematik der jeweiligen „Theologie“ und die organisatorische Festigkeit einer Gruppe.

(3) vgl. dazu z.B. Theo Votsos, „Der Begriff der Zivilgesellschaft bei Antonio Gramsci“, Argument Verlag 2001, S. 122-130

(4) Trust Magazin # 125, August/September 2007. Weitere Infos findet ihr unter www.brights-deutschland.de

(5) Graffins Essay „A Punk Manifesto“ könnt ihr unter punkhistory0.tripod/punk/id2.html nachlesen

(6) Testcard # 12, 2003, S. 107