Archiv der Kategorie: Feierabend! #46

Vierzig Jahre Graswurzelrevolution

Ein kritischer Rückblick auf die GWR-Konferenz

Der vierzigste Geburtstag der Graswurzelrevolution wurde vom 7. bis 9. September mit einem Kongress in Münster gefeiert. Zwischen vielen Glückwünschen, spannenden Vorträgen und praktischen Workshops klang vor allem eines durch: Weiter so!

Als die Graswurzelrevolution im Juni 1972 gegründet wurde, standen die zwei essentiellen Eckpfeiler der politischen Arbeit fest: Einerseits sollte mit der Zeitung Theorie und Praxis der gewaltfreien anarchistischen Revolution gefördert werden, andererseits wurde angestrebt, die Friedensbewegung für den Anarchismus und die anarchistische Bewegung für die Gewaltfreiheit zu begeistern. Ziel, Mittel und Name der Zeitung sind demnach deckungsgleich: Eine basisdemokratische, föderalistische Gesellschaft mit bedürfnisorientierter Wirtschaftsform wird durch unabhängige, aber solidarisch mitein­ander vernetzte, politische Akteure gewaltfrei erstritten.

Unter „gewaltfrei“ ist eine Absage an jede Form der Gewalt, sei sie physisch oder strukturell, zu verstehen. Weder der Gebrauch des Molotow-Cocktails, noch das Versumpfen in gesichtslosen, bürokratischen und entmündigenden Zentralorganisationen sind akzeptable Mittel der Konfliktführung. Das Credo der Gras­wurzel­anarchistInnen ist ebenso einfach wie einleuchtend: Man kann sich nicht die Illusion machen, Probleme mit der Logik zu lösen, die sie ursprünglich verursacht hat.

Dieser Ansatz fand und findet vor allem in der Friedens- und Umweltbewegung brei­ten Anklang. Waren früher Gewalt­frei­heit und Umweltschutz zentrale The­menfelder der Berichterstattung, hat sich die Graswurzelrevolution heute einer bunten Palette gesellschaftlicher Konflikte ge­öffnet: Feminismus, globale Menschenrechte und Migrationsbewegungen, Antisexismus und Antirassismus sind nur einige Themenbeispiele, denen immer wie­der gebührend Platz eingeräumt wird.

Neben der explizit anarchosyndikalistisch orientierten Direkten Aktion kann die Graswurzelrevolution als das Organ der vielgesichtigen anarchistischen Bewegung im deutschsprachigen Raum verstanden werden.

Im Vorfeld des Kongresses hallte der Aufruf zur Geburtstagsfeier durch die alternative Medienlandschaft. Wohlwollende Artikel, herzliche Glückwünsche und solidarische Grußbotschaften waren unter anderem von analyse und kritik, Neues Deutschland, Buko, BBU, Akin, Labour­net und der FAU zu vernehmen.

Nach einer fröhlichen Eröffnungsrede ging am Freitag das Programm rasch in die Abendunterhaltung über. Die Musik­acts Duo Contraviento, Antje und Klaus der Geiger verbreiteten eine tolle Stimmung; leidenschaftlich vorgetragene libertäre Klassiker und spannende Neukompositionen schallten durch die Hallen der Evangelischen Studierendengemeinde, die sonst von Gebeten und Chorgesängen durchflutet werden.

Am nächsten Tag startete ein vielfältiges Programm aus Vorträgen, Diskussionsrunden und Praxisworkshops. Zwischen theoretisch-tiefgängigen Veranstaltungen zum Revoltekonzept Camus’ oder dem Verhältnis des Christentums zum Anarchismus und genauso lebhaften wie erschütternden Erfahrungsberichten zur Lage von Frauen und Homosexuellen im Iran konnten die Kongressteilneh­mer­Innen niedrig­schwellig an praktischen Kursen zum Ak­tionsklettern teilnehmen. Diverse Bü­cher­stände, eine Comic-Kunstausstellung sowie Kaf­fee aus zapatistischen Kooperativen rundeten das Angebot ab und trösteten über das maue Essen der ESG-Cafeteria hinweg.

Am Samstagabend referierte Maikel Nabil Sanad, der erste Kriegsdienstverweigerer Ägyptens, eindrucksvoll über seinen Kampf im Hungerstreik im ägyptischen Gefängnis. Zum Abschluss des Tages zauberte der Liedermacher Pit Budde mit seiner Gitarre einen bunten Abend.

Am Sonntag setzte sich das inhaltliche Programm nahtlos fort. Nach einem anarchistischen Poetry-Slam und einem gemeinsamen Abschlussplenum, in dem eine anregende Diskussion über die Zukunft und aktuelle Praxis von Aktionstrainings entbrannte, nutzte ein Großteil der noch nicht abgereisten KongressteilnehmerInnen das Angebot, einen kommentierten Ausflug zur Paul-Wulf-Statue an der Münsteraner Promenade zu unternehmen. Jan vom Künstlerduo Jae Pas intervenierte mit lecker gefüllten Pizzakartons in die lokale Geschichts­stunde. So wurden lokale anarchistische Geschichte und Tagespolitik anschaulich verbunden.

Ein etwas größeres und vor allem bunter gemischtes Publikum hätte dem Kongress gut zu Gesicht gestanden. Des Eindrucks, dass die Mehrheit der etwa 250 Besucher­Innen seit Zeitungsgründung über ein Abo verfügt, konnte man sich nicht erwehren.

Während sich in einer geradezu gemütlichen Beschaulichkeit in den Räumlichkeiten der Evangelischen Studierendengemeinde – zu Recht – wohlwollend auf die Schultern geklopft und auf vierzig ereignisreiche Jahre zurückgeblickt wurde, toben die Kriege und Konflikte der Welt unvermindert weiter. Das Fazit der dreitägigen Geburtstagsfeier erinnert – im gut gemeinten Sinn – an die Inschrift des Grabsteins Herbert Marcuses: „Weitermachen!“

Mathias Schmidt

Übrigens

Waldbesetzungen von Räumung bedroht

Die Besetzungen von Wäldern und verlassenen Landstrichen, bspw. zur Verhinderung von Flughafen-, Straßen- oder Tagebau, werden zunehmend mehr zur Aktionsform konsequenter Aktivist_innen aus der ganzen Welt. Dabei geht es den meisten von ihnen sowohl um den konkreten lokalen Schutz der Natur, als auch um den aktiven Widerstand gegen allgemeine kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse, durch die Menschen unterdrückt und Lebensräume von Pflanzen und Tieren zerstört werden. Um diese Art des Protestes per Kriminalisierung zu unterbinden, arbeiten wirtschaftliche Großkonzerne oftmals Hand in Hand mit politischen Eliten.

Diverse Besetzungen dieser Art gibt es kurzfristig oder langjährig in vielen Ländern Europas. Aktuell sind mindestens zwei akut räumungsbedroht: der Hambacher Forst in Deutschland und La Zad in Frankreich.

Hambacher Forst

Der Hambacher Forst, ein Waldstück in Nordrhein-Westfalen, nahe Köln, wird seit April 2012 von Aktivist_innen dauerhaft besetzt, um die Rodung durch den RWE-Konzern zu verhindern. RWE betreibt direkt nebenan den größten Braunkohletagebau Europas (8.500 Hektar). Um den Tagebau erweitern zu können, sollen die Waldbesetzer_innen samt ihrer in diesem Jahr gebauten Hütten und Baumhäuser mit Hilfe deutscher Polizist_innen geräumt werden. Seit Oktober besteht akute Räumungsgefahr, denn da endete die Brut- und Setzzeit, welche die Baumrodung natur­schutzrechtlich unterbindet. Die Aktivist_innen vor Ort sind vorbereitet, ein „Unräumbar-Festival“ Ende Oktober soll weitere Menschen mobilisieren. Der Aktionskonsens ist breit, die Besetzungsformen sind kreativ, die Besetzer_innen sind entschlossen. Was es jedoch am meisten braucht, sind weitere Aktivist_innen, die bereit sind den Protest mit ihrer Anwesenheit in dieser heißen Phase zu unterstützen. Weitere Infos: hambacherforst.blogsport.de

La Zad (Zone A Defendre)

Circa 2.000 Hektar Land nahe Notre Dame in der französischen Bretagne, mehrheitlich Weide- und Waldfläche, sollen einem neuen Flughafen weichen (siehe FA!#43). Pläne dazu bestehen schon seit 40 Jahren – konkrete Drohungen gegen die dort Wohnenden wurden vom Konzern Vinci mit Hilfe der französischen Regierung seit diesem Jahr wieder verstärkt. Seit 2009 wird der langjährige Protest der ansässigen Bauern durch zahlreiche linksalternative Besetzer_innen aus aller Welt unterstützt. Ihre Anzahl hat sich in den letzten zwei Jahren vervielfacht. Sie haben viele der verlassenen Häuser besetzt, neue Hütten und Baumhäuser gebaut, Gärten angelegt und allerlei selbstorganisierte Projekte und Protestformen vorangetrieben. Am 16. Oktober fanden die ersten Zwangsräumungen statt, Weitere werden in den nächsten Wochen erwartet. Die Aktivist_innen brauchen jede Unterstützung, um die Räumungen verhindern und die Plätze neu besetzen zu können. Infos zur aktuellen Lage und dem geplanten re-occupation-Aktionstag: zad.nadir.org

momo

Uebrigens

Friedenskrieger

Der EU wird am 10. Dezember für „die Förderung von Frieden und Versöhnung über sechs Jahrzehnte“ der Friedensnobelpreis verliehen.

Ein Nobelpreis also für eine Weltmacht im Aufbau, die sich eifrig bemüht, mit der EUFOR eine gemeinsame militärische Hand­lungs­fähig­keit herzustellen und führende Kraft im Rüstungsgüterexport zu sein, Battle Groups aufzustellen, Polizei im Inneren aufzurüsten und mit Hilfe der europäischen Frontex-Agentur Flüchtende in den angrenzenden Meeren ersaufen zu lassen. Ein Nobelpreis auch für die „Förderung von Demokratie und Integration“: Diese wird besonders im Finanzkrisenmanage­ment und der zunehmenden Machtzentrali­sierung deutlich – die vielen protestierenden Menschen in Griechenland und Spanien haben das einfach nur noch nicht verstanden. Die in Deutschland gleich gar nicht.

Mit anderen Worten würdigt das fünfköpfige norwegische Nobelpreiskomitee also eine neue Supermacht im Aufbau, die gekonnt ein friedfertiges Image von sich zu präsentieren weiß und bisher nur bei denen Repressionen ausübt, die wenig Lobby genießen. Was zukünftig wird, ist ja auch schlecht voraussehbar. Damit steht diese Entscheidung auch in der Tradition des Komitees: Schließlich sind Henry Kissinger und Barack Obama auch Friedensno­bel­preis­träger geworden. Mahatma Ghandi hat diesen Preis hingegen trotz mehrmaliger Nominierungen nie erhalten – wahrscheinlich war er einfach zu schlecht angezogen. Allerdings könnte sich das Komitee mal Gedanken über eine Namensänderung machen, mein Vorschlag zur Debatte: Friedensvorgaukel-Nobelpreis.

Wenn ich groß bin will ich auch einem Preiskomitee angehören und ich weiß auch schon wen ich ehren will: McDonalds – für sein globales Engagement gegen den Hunger in der Welt. Schließlich kann man auch im hintersten Zipfel des afrikanischen Kontinents eine McDoof Filiale erspähen.

momo

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