Archiv der Kategorie: Feierabend! #46

Wawa for Mayor

Der Leipziger Polizeichef Horst, oder kurz „Wawa“, wie er sich seit Bekanntgabe seiner OBM-Kandidatur nennen lässt, findet keine Ruhe. Kurz bevor er seinen strafversetzten Nachfolger Bernd Merbitz – brutaler Haudrauf, versierter Nebelkerzenwerfer und CDU-Amigo wie er selbst – einlernt, lässt Hotte noch mal den Knüppel aus dem Sack, um sich mit großem Knall in den Wahlkampf zu verabschieden.

Freitag Nachmittag lässt er mit mehreren Hun­dertschaften eine Hälfte der Stockart­straße, unsereins auch als Stö bekannt, über Stunden abriegeln. „Drogenlabor“ lau­tet der Schluss der „monatelangen Ermittlungen“. Woher die Polizei das weiß? „Ver­dächtige Kabel und Schächte“ auf dem Dach wurden „durch die Auswertung von Luft­bildern“ ausgemacht. Das euphorisch gefeierte Ergebnis der fünfstündigen Suchaktion: ein paar Kilo Gras und Hasch im Wert von etwa 60.000 Euro (die genaue Ki­lo­menge variiert ständig in den Stellungnahmen) sowie „mehrere Stich- und Schuss­waffen“. Die dann aber so gefährlich nicht sein konnten, schließlich sind sie inzwischen nicht mehr der Erwähnung wert.

Aber zwei 36-Jährige Schwerverbrecher sind dingfest gemacht, Leipzig atmet auf!. Für ein Wochenende ist Hotte der Held und Retter in der Not, die reflexhaften Krawalle in Connewitz werden als Schuldeingeständnis der „Linksautonomen“ eingestuft, ein paar Scherben vor der Plag­witzer Wache als „Molotowcocktails, die aber nicht zün­den wollten“ deklariert.

So weit, so schmierig, möchte mensch meinen, doch schon am Montag wendet sich das Blatt. Denn der MDR berichtet, dass einige Dutzend Kleinkinder in unmittelbarer Nachbarschaft zur Stö gelegenen Kita Bieder­mannstraße die Stürmung ihres Spielplatzes gar nicht so doll fanden. Erst dann geben auch die örtlichen Medien ihr anfängliches Jubelgeschrei auf. Die beiden Polizeichefs sehen sich zerknirscht gezwungen, aus eigener Tasche ein paar Plastikbälle zu kaufen und diese persönlich in der Kita zu übergeben. Dazu gibt´s noch eine kleine Spende, womöglich damit sich die Erzie­her_innen in Traumatherapie begeben können.

Tags darauf ist Hotte aber wieder ganz der Alte. In seiner neunten Komplexkontrolle stellt sich heraus, was wir schon immer ahnten: Leipzigs eigentliches Problem sind die vielen Radfahrer_innen. Hunderte Cops stehen sich einen halben Tag lang die Beine in den Bauch, genießen die frische Luft und stellen dabei Dutzende Delinquent_innen mit technischen Mängeln am Rad oder bei-Rot-über-die-Ampel-Fahrer_innen. Da kann wenigstens niemand sagen, die Polizei würde wegschauen, wenn das Gesetz missachtet wird.

Und falls doch, verteidigt sich Wawa eben mit Erinnerungslücken. Wie an seinem letzten Arbeitstag vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des sächsischen Landtags. Mehr als 20 Mal versagte ihm, der von 2000 bis 2004 Polizeichef in Chem­nitz war, das Gedächtnis. Über die Arbeit seines Mobilen Einsatzkommandos hatte er keine Kenntnis, auch die Videoüber­wachung der Chemnitzer Wohnung des Trios durch seine eigenen Leute war ihm unbekannt. Vermutlich hat der gute Gendarm einfach die vorab zugeschickten Fragen der Parlamen­tarier_innen nicht richtig verstanden, denn diese waren, so verteidigte er sich, „sehr umfangreich und schwer verständlich formuliert“. Wie können sie nur?! Der Horst ist eben einer aus dem Volk, der weiß schon, was die Bürger_innen wollen. Zum Beispiel einen debilen bayrischen Rentner als Leipziger OBM, der in Naumburg wohnt.

bonz

Lokales

Der Clara-Zetkin-Park

Ein kleines Stück Leipziger Kolonialgeschichte.

Wenn Leipziger den Namen Clara Zetkin hören, verbinden sie damit meistens zwei Dinge: ein kleines Stück historische Revolution und einen wunderschönen Park. Was die meisten nicht wissen ist, dass die imposanten Bäume nicht nur im Herbst schön aussehen und Schatten spenden, sondern wachsende Produkte einer dunkel-deutschen Kolonial-Geschichte sind. Tatsächlich wurde „unser Clara-Park“ für eine Garten-Ausstellung entworfen, dessen zentraler Teil eine großzügig angelegte Menschenschau war. Informationen darüber zu bekommen, ist noch immer nur über alternative Quellen (1) möglich. Beispielhaft dafür liest sich der Text zur Geschichte des Clara Zetkin-Park auf der Homepage der Stadt Leipzig:

Wer sich mit den genannten Parkanlagen etwas näher beschäftigt, begibt sich auf einen interessanten Streifzug durch die Leipziger Geschichte der Gartenkunst von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.“ (2)

Die Frage, weshalb die Leipziger Geschichte der Gartenkunst für die Besucher_innen/Bürger_innen von Interesse sein sollte, aber nicht die Kolonialgeschichte, bleibt so unbeantwortet wie die Frage, weshalb der Bundestag das Thema deutsche Kolonien in seinen Diskursen gekonnt ignoriert. Grund genug weiter zu forschen und Informationen zu teilen.

Als Clara Zetkin (1857-1933) in Leipzig eine Ausbildung zur Volks­schullehrerin machte, knüpfte sie Kontakte mit der revolutionären, antimilitaristischen Arbeiter_innen- und Frauenbewegung. Sie gehörte bis 1917 der marxistischen Fraktion der SPD an, die sich später in den Spartakus-Bund (USPD) abspaltete. Wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht übte Zetkin massive Kritik an der Deutschen Kolonialpolitik. Mit dieser Position machte sich die Frauenrechtlerin in der Mehr­heitsbevölkerung nicht beliebt. Das wurde spätestens durch die so genannten „Hottentottenwahlen“ 1907 deutlich. Dort verlor die SPD ein Drittel ihrer Reichstag-Sitze, weil sie sich nach dem Genozid an den Herero und Nama in „Deutsch-Südwest“ (heutiges Namibia) gegen die Gewährung weiterer Gelder für die Kolonialtruppen entschieden hatte.

10 Jahre zuvor eröffnete die Deutsch-Ostafrikanische Ausstellung im heutigen Clara-Zetkin-Park unter der Leitung von Leutnant Blümcke, der zuvor unter Gouverneur Hermann von Wissmann in der „Schutztruppe“ in Deutsch-Ostafrika diente. Sie war Teil der Sächsisch-Thüringischen Gewerbe-Ausstellung und eine von vielen Ausstellungen, die zu Beginn des Deutschen Kolonialismus auch das Fußvolk für die „Koloniale Idee“ begeistern sollte. Und das Fußvolk kam in Scharen. Denn die als Sensationen angepriesenen Kolonialausstellungen erfreuten sich zu einer Zeit, zu der es noch kein Fernsehen oder Billigflüge gab, großer Popularität.

Ziel der Ausstellung, zu der insgesamt rund 635.000 Gäste pilgerten, sollte es sein „…neben die hoch entwickelte moderne europäische Kultur die eigenartig gestaltete afrikanische, welche die ersten Stufen unseres Kulturlebens etwa erst zu erreichen bestrebt ist, zum Vergleich zu setzen.“ (3).

Auch Fabrikanten und Unternehmer sollten durch die Ausstellung angeregt und auf die neuen deutsch-kolonialen Absatzmärkte aufmerksam gemacht werden. Gesponsert wurde der massentauglich verbreitete Sozialdarwinismus von Leipziger Unternehmern, dem Stadtrat und dem Staat. Um sich mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie zu brüsten wurden keine Kosten und Mühen gescheut. So sollte das „Schutzgebiet“ möglichst originalgetreu nachgebaut werden. Dazu zählten zwei Kolonialstationen (Usungula und Mquapua), ein militärisches Expeditionslager, eine evangelische Missionsstation und die Haupthandels-Straße Barra-Rasta in Dar es Salaam, die in der Ausstellung als Souvenir- und Cafémeile diente.

In den Gebäuden selbst fanden die Besucher_innen unzählige ethnographische Gegenstände, landestypische Produkte und Bilder. Darunter auch

einige sehr interessante Stücke aus der Sammlung des Herrn Gouverneur v. Wissmann, von ihm (…) in den Gefechten gegen die Wawamba erbeutet.“ (4).

Um den Besuchern ein „wahrhaftiges“ Antlitz der „schützenswerten“ Zone zu verleihen, wurden auch Menschen aus Fleisch und Blut ausgestellt. Für dieses „authentische“ Erlebnis reiste der Beamte Karl Kaufmann am 27. Dezember 1896 mit Erlaubnis der Kolonial-Abteilung des Auswärtigen Amtes und des Gouverneurs DOAs nach Dar es Salaam. Sein Auftrag: Anwerbung von „Eingeborenen“. Vier Monate später erreichte Kaufmann mit 47 Bewohner_innen DOAs Leipzig. Bei der Auswahl der „Eingeborenen“ achtete Kaufmann darauf, dass sie vorher mög­lichst wenig Kontakt mit Europäern hatten. Schließlich ging es laut seinem Auftrag darum

„…Vertreter der innerafrikanischen Stämme zu gewinnen, da die Suaheli als etwas Bekanntes – wie viele Suaheli-Karawanen gab es in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zu sehen! – niemals die Anziehungskraft ausüben konnten, wie Repräsentanten anderer Stämme.“ (5).

Das gesteigerte Interesse wurde durch Kannibalen-Gerüchte angeheizt. Die Ausstellungs-Zeitung verkündete am 12.April 1897:

…dass bei besonderen Festlichkeiten dort Menschen verspeist wurden, und dass auch drei Matrosen von Sr. Majestät Schiff ‚Leipzig‘, die sich im Jahre 1888 zur Zeit des Buschiri-Aufstandes vom Schiffe entfernten, von ihnen verspeist sein sollen. Herrn Kaufmann gaben die Leute auf sein Befragen die Erklärung ab, dass sie früher Menschen gegessen hätten, der drei Matrosen könnten sie sich aber nicht entsinnen…“.

Auf diese und ähnliche Weise konstruierte mensch die „Anderen“ entlang einer Differenz, die sich bis heute durch Dualismen auszeichnet: „Primitive“ vs. hochentwickelte Kulturen. „Naturkinder“, „Ungläubige“, „schwarze Teufelsanbeter“, die vor noch mehr Unheil geschützt werden müssen – durch eine als hochentwickelt geglaubte westliche Zivilisation. Ein „Schutz“, der heute auch gerne von so genannten Nicht-Regierungsorganisationen als Entwick­lungszusammenarbeit verkauft wird. Aber das nur am Rande.

Die in ihren nachgestellten Behausungen eingesperrten „Primitiven“ durften ihre „gut beheizten Räume“ nur einmal für einen Rundgang mit ihrem Fänger verlassen, wo dieser sie in Tänze, Kämpfe und traditionelles Handwerk einführte.

Trotz der „guten Beheizung“ und der medizinischen Betreuung starb ein junger Angehöriger der Wassukuma kurz nach der Eröffnung der Ausstellung an einer Lungenentzündung. Er wurde auf dem Leip­ziger Südfriedhof bestattet. Er war nicht das einzige Todesopfer. Viele der „Ausgestellten“ starben. Dokumente von ihnen gibt es nur sehr wenige. Eines davon stammt von Abraham. Er wurde in der „Eskimo-Völkerschau“ ausgestellt und starb wie alle anderen Ausgestellten dieser Schau an Pocken. In seinem Tagebuch vermerkte er:

…Donnerstag, 7 November. Hatten wir wieder betrübtes gehabt. Unser Gefährte, der led. Tobias wurde von unserem Herrn Jakobsen mit der Hundepeitsche gehauen…“ (6).

Herr Jakobsen und sein Bruder waren auch von Interesse für das Leipziger Völker­kundemuseum. Das kaufte nämlich 1885 deren ethnographische Sammlung aus Nordwestamerika. Wie die ausgestellten Gegenstände erworben wurden, wird dem Besucher_innen damals wie heute nicht verraten. Zum Völkerkundemuseum gäbe es noch viel zu sagen, doch dazu ein anderes Mal. Nur so viel: An der Fassade der Stadtbibliothek am Wilhelm-Leuschner-Platz, das damals als Völkerkundemuseum erbaut und genutzt wurde, prangt noch heute die Amazone aus der Armee der Dahomey (heutiges Benin), das zu jener Zeit gerade von Frankreich besiegt worden war.

Koloniale Spuren in Leipzig gibt es viele. Sie führen unter anderem zu akademischen Elite-Institutionen wie dem Institut für Ethnologie, dem Institut für Geographie, sie führen aber auch zu öffentlichen Orten wie dem Grassi-Museum, dem Ring-Messehaus, zum Krystallpalast-Varité, zur Nikolaikirche, zum Völkerschlacht-Denkmal, aber vor allem zum Leipziger Zoo, dem Ort, der früher Menschenschauen bewarb wie heute neue Tiergeburten. Im Leipziger Zoo werden die kolonialen Spuren zwar geleugnet, aber weiterhin „authentisch“ reproduziert:

Abendveranstaltung ‚Hakuna Matata‘ in der Kiwara-Lodge. Erleben Sie eine spannende Tour mit den Zoolotsen durch den abendlichen Zoo, ein spannendes Programm mit afrikanischen Tänzern und Trommlern und ein Buffet im exotischen Ambiente der Kiwara-Savanne. Tickets und weitere Infos im Safari-Büro.“

Clara Fall

(1) www.engagiertewissenschaft.de
(2) www.leipzig.de/de/buerger/freizeit/leipzig/parks/clara/allg/
(3) Ausstellungs-Zeitung vom 29.4.1897
(4) D.K. Blümcke 1897, S.23
(5) Ausstellungs-Zeitung vom 29.5.1897
(6) Tagebuch von Abraham, übersetzt von Bruder Kretschmer 7.11.1880 nach Thode-Arora 1989, S. 125
Wer sich stärker für das Thema interessiert, dem sei die Homepage www.leipzig-postkolonial.de empfohlen, auf der in Kürze Texte zu postkolonialen Orten in Leipzig erscheinen. Die Seite wird von der Arbeitsgruppe Postkolonial/Engagierte Wissenschaft e.V. betrieben, die regelmäßig auch „postkoloniale“ Stadtrundgänge in Leipzig anbieten.

Kasten:

Deutschland begann mit der Kolonisierung verstärkt „erst“ Ende des 19. Jahrhunderts. Die größte Kolonie war Deutsch-Südwestafrika, auf dem Gebiet des heutigen Namibia, das von 1884 bis 1915 kolonisiert wurde. Ab 1904 kämpften deutsche Truppen gegen die Herero, die erbitterten Widerstand leisteten. Später schlossen sich auch die Nama, die im Süden des Landes lebten und von den Deutschen „Hottentotten“ genannt wurden, dem Kampf gegen die deutsche Kolonialmacht an. Die meisten Historiker_innen bezeichnen den Krieg gegen die Herero und Nama als Genozid, da die Ziele nicht nur Sieg und Unterwerfung mit einschlossen, sondern vor allem Vertreibung und Vernichtung.

Schätzungen gehen davon aus, dass damals 50 bis 70 Prozent der bis zu 100.000 Herero und die Hälfte der damals rund 20.000 zählenden Nama, ums Leben kamen. Tausende von ihnen starben in Konzentrationslagern. Zu den verfolgten Völkern gehörten auch die Damara und San. Der Krieg wurde offiziell am 31. März 1907 für beendet erklärt. Erst 1908 wurden die letzten Konzentrationslager aufgelöst. Am 22.3.2012, einen Tag nach dem 22. namibischen Unabhängigkeitstag und dem internationalen UN-Tag gegen Rassismus, lehnte der Bundestag einen Antrag der Linksfraktion vom 29.2.2012 ab, in dem diese forderte, das Parlament möge den Krieg gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika als Völkermord anerkennen.

Lokales

In Grenzen frei

Die Residenzpflicht als Bestandteil rassistischer Sondergesetzgebung in Deutschland

Im September startete in Würzburg auf zwei Routen ein Protestmarsch von an die hundert geflüchteten Menschen. Zu Fuß und per Bus wollten diese nach Berlin gelangen, um dort ihrem Protest gegen die rassistische deutsche Asyl- und Flüchtlingspolitik Ausdruck zu verleihen. Ohne größere Störungen durch staatliche Instanzen oder Neonazis kamen beide Gruppen Anfang Oktober in Berlin an, wo am 13.10. insgesamt 5000 Menschen für einen Wandel der Flüchtlingspolitik demonstrierten.

Bundesweit wird derzeit verstärkt über die deutsche Asylgesetzgebung und den damit einhergehenden Rassismus diskutiert. Dazu beigetragen hat z.B. der Rückblick auf das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992. Dieses lieferte damals den Anlass für die faktische Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl, die drastische Senkung der Flüchtlingszahlen und der Asyl-Bewilligungsquote und Sondergesetze wie das Asylbewerberleistungsgesetz. Aber auch gegenwärtige Anschläge und Bürgermobs gegen Unterkünfte von Asylsuchenden lenken die Aufmerksamkeit auf die Lebenssituation der in Deutschland lebenden Geflüchteten.

Gleichzeitig sind mit dem Hungerstreik in Würzburg, dem Boykott von Gutscheinen in drei Heimen im Landkreis Leipzig im Juli und dem Protestmarsch wichtige Selbst­ermäch­tigungs-Bewegungen von Flüchtlingen in Gang.

Im Folgenden soll die Spezifik der Residenzpflicht beleuchtet werden, deren Abschaffung ein Ziel des Refugee-Protest-Marsches ist.

Teil eines rassistischen Ausgrenzungs-Systems

„Residenzpflicht“ meint die räumliche Beschränkung des Aufenthaltes auf einen Landkreis oder eine kreisfreie Stadt (1). AsylbewerberInnen, denen für die Durchführung des Asylverfahrens der Aufenthalt im Bundesgebiet gestattet wurde, ist es nach den §§ 56 bis 58, 85 und 86 des Asylverfahrensgesetzes unter Androhung einer Geld- oder Freiheitsstrafe untersagt, ohne schriftliche Erlaubnis den Wirkungskreis der zuständigen Ausländerbehörde zu verlassen.

Für Geduldete, die eigentlich zur Ausreise verpflichtet sind, für die aber eine „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“ veranlasst wurde, gelten die §§ 12 und 61 des Aufenthaltsgesetzes, denen zufolge der Aufenthaltsbereich auf das Bundesland begrenzt ist. Die Ausländerbehörden können den Bewegungsraum aber durch Auflagen beliebig weiter einschränken, wie es in zahlreichen Bundesländern bis vor kurzem praktiziert wurde und teilweise noch praktiziert wird.

Die Residenzpflicht ist bereits seit 1982 Teil der Sondergesetzgebung für Flüchtlinge. Sie komplettiert die zahlreichen anderen Ausgrenzungsmechanismen, wie Zwangsunterbringung in Lagern, Arbeitsverbot oder die minimalen Mittel zur Existenzsicherung, welche oft nur in Form von Gutscheinen oder Paketen gewährt werden. Deutschland ist europaweit das einzige Land, das die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen in dieser Weise einschränkt, und arbeitete erfolgreich dafür, dass diese Praxis, immerhin „nur“ als Kann-Bestimmung, in die EU-Aufnahme-Richtlinie aufgenommen wurde. Nur Österreich und Slowenien haben bisher davon, allerdings in abgeschwächter Form, Gebrauch gemacht.

Willkürliche Praxis

Um den Landkreis oder die Stadt, dem sie zwangsweise zugewiesen wurden, temporär verlassen zu können, müssen die Betroffen eine so genannte Verlassenserlaubnis (Urlaubsschein) beantragen. Es gibt einen Rechtsanspruch, wenn „ein dringendes öffentliches Interesse besteht“, „ein zwingender Grund das Verlassen erfordert“ oder wenn das Versagen der Erlaubnis eine „unbillige Härte“ bedeuten würde. In einigen Bundesländern werden diese allgemeinen Ausführungsbestimmungen des Bundes durch Verwaltungsvorschriften präzisiert. Für Sachsen ist wie in den meisten Ländern dazu nichts bekannt. Entscheidungen, die auf den formelhaften Kriterien beruhen, sind daher vollkommen intrans­parent und willkürlich.

Der Antrag selbst muss durch die Flüchtlinge meist langfristig im Voraus eingereicht werden. Allein dies ist ein entwürdigender Akt, den viele der Betroffenen gar nicht erst in Kauf nehmen wollen. Kommt es zur Ablehnung des Antrages, ist dies durch die AntragsstellerInnen schwer zu hinterfragen. Eine Kontrolle der Entscheidungsfindung ist schon durch die gängige Praxis, Ablehnungen mündlich auszusprechen, erschwert. Die Kampagne residenzpflicht.info empfiehlt deswegen, Anträge auf Verlassenserlaubnis grundsätzlich schriftlich zu stellen (2), um das Handeln der Behörden kontrollierbar zu machen und ggf. juristisch gegen Ablehnungen vorgehen zu können. Diese formalisierte Antragsstellung kann durch­aus auch dazu führen, dass Anträge eher bewilligt werden.

Bei mehrmaligem Verstoß gegen die räumliche Aufenthaltsbeschränkung drohen bis zu einem Jahr Gefängnisstrafe, Geldstrafen bis zu 2.500 Euro, im äußersten Fall sogar die Ausweisung.

Im negativen Sinne bemerkenswert ist die Machtfülle, die die Ausländerbehörden auch in der Frage der Sanktionierung des Verstoßes haben. Die Polizei leitet Anzeigen gegen kontrollierte Asylsuchende, die sich unerlaubt außerhalb des für sie definierten Gebietes bewegen, in der Regel an die Ausländerbehörde weiter. Diese entscheidet, ob der Verstoß als Straftat oder Ordnungswidrigkeit zu werten ist, und stellt entweder Strafanzeige oder veranlasst einen Bußgeldbescheid. Es kommt vor, dass sie auch die Höhe des Bußgeldes festlegt. Wird der Residenzpflichtbruch in Form eines Strafverfahrens geahndet und vom zuständigen Amtsgericht verurteilt, wird ebenfalls die Ausländerbehörde informiert. Solche Verurteilungen verursachen dann nicht nur das Ansteigen der Krimi­nalitätsstatistik, die RassistInnen jeglicher Couleur als Anlass dienen, um gegen die „überbordende Ausländerkrimi­nalität“ zu hetzen. Sie fließen auch in aufenthaltsrechtliche Entscheidungen ein. Ebenso werden Verstöße oft als Argument für Ablehnungen von Anträgen auf eine Ver­lassenserlaubnis herangezogen, die im Sinne der Behörden dann „disziplinierend“ wirken sollen.

Protest und minimale Veränderungen

Infolge von starken und breiten Protesten gegen die Residenzpflicht Anfang der 2000er Jahre und einer Reihe von politisch motivierten Weigerungen, Bußgelder zu zahlen, wurde eines der daraus folgenden Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Men­schen­­rechte (EUGMR) in Straßburg verhandelt. Die Entscheidung al­lerdings bedeutet(e) einen Rückschlag für die Kriti­ker­Innen, denn der EUGMR befand im November 2007, dass die räum­lichen Aufenthaltsbeschränkungen aus seiner Sicht mit der Europäischen Men­schen­rechts­­kon­ven­tion ver­­einbar sind.

Seit 2010 gibt es aller­dings Bewegung. Es begann mit dem Beschluss der rot-roten Regierung in Bran­denburg, den Aufenthaltsbereich für Flücht­linge auf das gesamte Bundesland zu erweitern. Zudem vereinbarte Bran­den­burg mit dem Nach­barland Berlin, dass Flüchtlinge im jeweils anderen Bundesland ei­ne Daueraufent­halts­er­laubnis bekommen. Diese Lockerung der Residenzpflicht hat allerdings Tücken. Geduldete, die „ihre Rückführung vorsätzlich verzögern, indem sie ihre Identität verschleiern oder bei der Passbeschaffung nicht mitwirken“, bleiben von dieser Regelung ausgeschlossen. Dabei liegt der Grund für fehlende Ausweispapiere oft bei den Herkunftsländern. Viele Flüchtlinge verschleiern auch völlig zurecht ihre Identität, aus Angst vor Abschiebung in prekäre und lebensgefährliche Verhältnisse. Die Flüchtlingsräte Berlin und Bran­den­burg analysieren vor diesem Hintergrund, dass die Residenzpflicht einen Wandel erfahren hat, vom pauschalen Schikane- zum Sanktionsinstrument gegen die, die in ihrem Asylverfahren angeblich „nicht mitwirken“.

Mittlerweile haben sieben Bundesländer (3) den Aufenthaltsbereich für Flüchtlinge auf das gesamte Land ausgeweitet. In Sachsen und Bayern dürfen sich Flüchtlinge mittlerweile im Regierungsbezirk und in Thüringen in den angrenzenden Landkreisen bewegen.

In Sachsen wurde zudem im Januar 2011 der Be­wegungsraum für Geduldete auf den gesamten Landkreis erweitert. Ausgeschlossen bleiben allerdings Menschen, die vorbestraft sind oder den besagten „Mit­wir­kungs­pflichten“ nicht nachkommen.

Die Länder behalten sich mit halbherzigen Regelungen also weiterhin Zugriffsmöglichkeiten auf die Bewegungsfreiheit der betroffenen Menschen vor. Für die tatsächliche Abschaffung der Residenzpflicht wäre die Veränderung des Aufenthaltsgesetzes auf Bundesebene nötig. Dies wäre ein lohnendes Ziel emanzipatorischer Politik. Eine Abschaffung der Resi­denz­pflicht und der anderen rassistischen Son­derregelungen würde nicht nur die Hand­lungs­mög­lichkeiten für Flüchtlinge beträchtlich erweitern. Sie würde damit auch die Ausgangsposition weiterer sozialer Kämpfe und die Perspektiven in Richtung einer wirklich grenzenlosen Gesellschaft deutlich verbessern.

Rote Hilfe Leipzig, 13.10.2012

(1) Im Kontext der Asylpolitik kann Residenzpflicht neben der räumlichen Aufenthaltsbeschränkung auch die Verpflichtung bedeuten, in Sammellagern zu wohnen. Das heißt, dass nicht nur der Ort diktiert wird, sondern auch die Art zu leben. Im Falle der dezentralen Unterbringung in einer Wohnung muss zudem die Wohnortauflage eingehalten werden.
(2) Siehe Formular: www.residenzpflicht.info/rechtshilfe/verlassenserlaubnis/
(3) Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Meck­lenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg

Rote Hilfe