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Der Leib der zerteilen will den Geist oder: Der radikale Zyniker ist der Sadist

Ich bin gestolpert. Buchstäblich bin ich gestolpert über Worte, die mir Worte abverlangen. Jean Améry hat sie geschrieben, nachdem seine Schultern krachten. Im Stolpern regt sich der Knacks, der hallt, da sich die Dinge wandeln. Zuzeiten wandeln sie sich mit einem Schlag – ins Gesicht etwa, der Améry im Juli 1943 im Gefängnis der Brüsseler Gestapo traf. Kurz darauf und andernorts krachten und knackten und splitterten seine Schultern, als ihn ein Offizier der SS an den Haken hing. In diesen Tagen, in denen überall wieder die Gewalt anschwillt, erinnere ich mich, was diese letztlich ist: die Kontrolle, die Unterwerfung des Leibes am extremsten praktiziert in der Tortur. Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich tragen kann, schreibt Améry in seinem gleichnamigen Essay und wohl ist das In-Sich-Tragen dieses Eingriffes wörtlich zu nehmen. Er ist der Quell des Traumas. Mit einem Schlag zwingt der Folternde dem Gepeinigten seine Körperlichkeit auf, quält der Rassist den Fremden mit der Angst vor dem Ausbruch der Gewalt, der er unterläge, hegt der Herrschende den Körper des Kolonialisierten ebenso ein, wie den Körper der Frau.

Man hat mir ein Leids getan. Ich werde geschlagen. Mich durchfährt der Schreck. Auf das, was mir jetzt, in diesem Augenblick, geschieht, war ich nicht vorbereitet. Es hat mich schlicht übermannt. Es zernichtet mir jegliches Vertrauen (1), wirft mich aus der Welt, entstellt mich schlagartig als Gegenmenschen.

Der Geschlagene erschrickt nicht vor dem Schmerz allein. Nicht fassen kann er, dass eine Grenze übertreten wurde, dass man ihn berührt, in ihn eindringt. Bis ins Mark trifft die Gewissheit und drückt sich dort als Alp ein: Die Gewalt ist, das Schrecken kennt keine Grenzen, „Man is the animal.“ Und er, der ihm gegenüber steht, der sich die Freiheit nimmt, die Hand gegen ihn zu erheben, ihn an den Haken zu hängen, bis die Gelenke nachgeben, er ist der Sadist.

Doch seine Visage ist nicht die des Satans. Améry erschrickt über die „Dutzendgesichter“ seiner Peiniger, die wir nicht in den Folterkellern der SS suchen müssen. Ich schließe meine Augen und folge den Gewaltphantasien eines Mannes, der nicht mehr schlafen wolle, gäbe man ihm noch einmal eine Kalaschnikow in die Hand. Ich öffne meine Augen und finde mich in einer Straßenbahn wieder.

Den Sadisten auf das Moment der Geilheit zu reduzieren, wäre zu kurz gefasst. Unter diesem Blickwinkel würde ich den Mann, der jene Gewaltfantasien in der Straßenbahn äußert, übersehen. Er schaut etwas müde… Gerade deshalb erschrecke ich. Der Sadist kann jeder sein.

Blackout hearts with skull designs upon their shoes. (2)

Dieser Sadismus, um den es mir geht, ist fern der Pathologie. Wie auch sollte eine Krankheit des Geistes untersucht werden, wenn der Mensch seinen Geist überwindet? Der Sadist, schreibt Améry, schert sich um den Fortbestand der Welt nicht. Er hebt sie ganz einfach auf und berauscht sich an dem Triumph seines Willens über den Geist, die Vernunft, die Moral.

Der Sadist ist Zyniker im Radikalen. Er praktiziert seinen Zynismus. Der Abi-turient glänzt im Unterricht – vornehmlich in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Nach dem Unterricht quält er seinen Mitschüler. (3) Der Vernünftige, der Gepeinigte, kann das nicht fassen. Es kommt mir darauf an, hier den Worten von Jean Améry zu entsprechen: „Ein schwacher Druck mit der werkzeugbewehrten Hand reicht aus, den anderen samt seinem Kopf, in dem vielleicht Kant und Hegel und alle neun Symphonien und die Welt als Wille und Vorstellung aufbewahrt sind, zum schrill quäkenden Schlachtferkel zu machen. Der Peiniger selbst kann dann, wenn es geschehen ist und er sich ausgedehnt hat in den Körper des Mitmenschen und ausgelöscht hat, was dessen Geist war, zur Zigarette greifen oder sich zum Frühstück setzen oder, wenn es ihn danach gelüstet, auch bei der Welt als Wille und Vorstellung einkehren.“

Die Fragen wird der Gequälte, die Geschlagene, der Gedemütigte, die aus der Stadt Getriebene nicht mehr los: Woher rührt es? Wie ist es möglich, dass der Leib den Geist zerteilt? (4) Das Entscheidende ist die Willkür. (5) Der Sadist ist gewalttätig, weil er es will. Am Ende ist es seine Entscheidung. Er entscheidet sich für die Umwertung aller Werte.

Sowieso ließe sich ja alles umwerten. (6) Es gibt keine allein gültige Wahrheit über die Dinge, weil sich bereits das Ding als solches uns nie auf eine nur einzige Weise, nie präzise zeigt. Die Vertreter des Spekulativen Realismus schlagen daher auch vor, die Philosophie als Wissenschaft durch eine Philosophie als kraftvolle Kunst zu ersetzen, die sich den Dingen auf eine ebenso vage wie liebende Weise nähert. (7)

Gerade jedoch das offenbare Fehlen einer einzigen Wahrheit versetzt den Menschen ebenso in die Lage, die Dinge willkürlich auszulegen und daraus seine Wahrheit zu formulieren, wenn er es will. Es ist ihm ein Leichtes, kalt lächelnd das Andere, den Anderen zu negieren. Jean Amérys Peiniger war ein kleiner Mann. Es genügte ihm, zu sagen: „Jetzt passiert‘s.“ Dann hing er ihn einfach an den Haken. Vielleicht schaute er dabei in die Leere und pulte an dem Ochsenziemer in seiner Hand.

Das Ausüben von Gewalt erfreut. (8) Es versetzt den kreativen Geist des Führenden in höchste Gefilde. „Wo man sich der Folter zuwendet, kann man der menschlichen Phantasie bei der Arbeit zuschauen“, schreibt Roger Willemsen. Und in der Tat – wo die Schranken des Geistes geöffnet werden, kann sich die Fantasie frei entfalten und das tut sie auch – imaginär und wirklich.

Der einzigen Logik, der der Sadist folgt, ist die des Schmerzes. Ich muss ihn am Haken die Kette hinaufziehen, dann werden seine Schultergelenke brechen. Der Sadismus befähigt den Menschen zur außermoralischen Schöpfung. Der Mensch, der die Welt außer Acht lässt, wird so ganz Kreator. Und darüber erschrak Améry ebenso: Dass es nämlich Momente gab, „wo ich der folternden Souveränität, die sie über mich ausübten, eine Art von schmählicher Verehrung entgegenbrachte.“ Lautréamont schuf seinen Maldoror, den „Vergolder des Bösen“, um der Schöpfung ihr absolutes Gegenstück zu präsentieren und beide – den Schöpfer, wie den Menschen – zu verlachen…

 

Übrigens, wozu betreibe ich denn diese Jonglage der Namen?

Es zeigt gewissermaßen die Willkür meiner „Arbeit am Wortwerk“, wie es Dylan Thomas nennt. Ich sitze daheim in meiner wohlbeheizten Mansarde, am Mahagonimundstück meiner Pfeife kauend und greife mir willkürlich Bücher aus dem Regal. Ich sage: Die Worte münden dorthin, wo ich sie münden lassen will. Ihr Quell ist ja derselbe. (9) Natürlich ist es mir eine Freude und natürlich wollt ich es noch viel ärger treiben. Ich sage aber auch: All diese Worte sind! Tausende und Millionen haben sie gelesen, haben sie gedacht. Sie sind eingeflossen in das Bewusstsein der Menschheit. Und dennoch verhindern sie nicht, dass der Mensch haut, sticht, hinein schießt, dass jetzt, in diesem Augenblick, ein Mensch verfolgt und gefoltert wird, dass Kretins wie Gelehrte gleichermaßen das in Brand gesteckte Haus des Fremden beklatschen oder dass ein Kritiker des Zynismus selbst zum Zyniker wird. Ich denke mir aus: Amérys Peiniger greift nach dem Frühstück zur Zigarette und kehrt bei der Welt als Wille und Vorstellung ein. Natürlich tut er das! Und danach gelüstet es ihn, einen Dissidenten mit dem Ochsenziemer zu bearbeiten. Beides – die Lektüre und die Tortur – geht zusammen. (10) Vielleicht befriedet jener SS-Offizier damit seinen eigenen Pessimismus. Vielleicht ist es seine Art, Schopenhauer beizupflichten, dass es ihn gibt: den Willen. Jedoch: Der Philosoph lässt sein Werk in die Ethik der Askese münden. Dem Sadisten könnte man den ganzen Schopenhauer wechselseitig um die Ohren hauen und damit dennoch nicht garantieren, dass er es lässt, sich an dem Menschen zu vergehen. Es ist ja sein Wille…

Und so vermögen tausende Schriften alles und nichts, nichts und alles, wenn der Mensch, in Überheblichkeit oder in Demut, es will. Wir sind in der Welt, die jedermanns Werk ist, diejenigen, die darüber entscheiden, was uns heilig ist und was nicht, wo wir beginnen, wo wir enden.

Olav Amende

 

(1) Mit Jean Améry gesprochen: Zusammen bricht das „Weltvertrauen“.

(2) Ich sah den Teufel einst auf Facebook. Sie trug das anverwandelte Lächeln meiner ersten Liebe.

(3) Die Figur Herbert aus Max Frischs Requiem Nun singen sie wieder: „Ich werde töten, bis der Geist aus seinem Dunkel tritt, wenn es ihn gibt, und bis der Geist mich selber bezwingt. Man wird uns fluchen, ja, die ganze Welt wird uns fluchen, jahrhundertelang. Wir aber sind es, die den wirklichen Geist ans Licht gezwungen, wir allein – gesetzt den Fall, dass nicht die Welt mit uns zugrunde geht, weil es den Geist, den unbezwinglichen, nicht gibt.“

(4) Freud und die Zentrifugalkraft des Todestriebes…

(5) „Es lässt sich begreifen, dass es nie darum ging, Menschen zur Wahrheit oder zum Sprechen zu bringen, sondern dass es um die Willkür einer Zerstörung der Körper und Seelen ging, die ihre Logik ausschließlich in der Fabrikation der größten, dem Menschen erreichbaren Schmerzen besaß.“ (Roger Willemsen – Der Knacks)

(6) Es genügt, auf Derridas Konzeption der Différance oder auf Friedrich Nietzsches Schrift „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ zu verweisen.

(7) Diese Gedanken finden sich auch bei Martin Bubers „Ich und Du“ wieder.

(8) Das Tier zeigt die Zähne und greift an. Der Mensch zeigt die Zähne und lacht.

(9) Walter Benjamin und die Adamitische Sprache

(10) Ich nehme an, dass das Kapitel „Geistige Elite“ immer noch zu den Tabus in der Aufarbeitung der NS-Geschichte zu zählen ist. Freilich, es zermürbt den Geist ebenso, wie die Namen Horst Mahler oder Jürgen Elsässer, weil viele der gängigen Argumentationsmuster hier eben nicht mehr greifen.

Autoritäre Antiautoritäre

„Wo geht’s denn hier zur Macht?“, fragte der autoritäre Antiautoritäre mit einem Selbstbewusstsein, das an Selbstverliebtheit grenzte, mit einem Lächeln auf den Lippen, scheinbar souverän wie immer. Die eigentlichen Worte lauteten anders. Wahrscheinlich irgendwas mit „Strukturen stärken“, „Kontakte aufnehmen“, „ein Player werden“ – dies alles aber auf bestimmte Art und Weise, nämlich um jemand zu werden. Wo sind die Leute, die „wirklich was machen“, jene die „wirklich Kontakte haben“, die „vernetzt“ sind? So lauten derlei Fragen auch.

Dabei werden fleißig Keywords platziert, sowas wie „Protestchoreographie“, „Diskurs“, „ideeller Gesamtkapitalist“ oder was auch immer. Nicht zu vergessen ist auch der Anschein, um irgendwelche „Interna“ aus irgendwelche Gruppen zu wissen, überhaupt zu wissen „wie die Linke derzeit aufgestellt ist“ und sich „die politische Lage entwickelt hat“, beeindruckender noch: „wie sie sich entwickeln wird“. Up to date sein im Szene-Gossip ist eine permanent zu bewältigende und schwierige Aufgabe mit enormen Zugangsvoraussetzungen.

Schwer zu bewältigen ist teilweise der Spagat zwischen vermeintlich professionellem und irrsinnigerweise für seriös gehaltenem Auftreten auf der einen und einer von oben herab behandelnden kumpelhaften Art auf der anderen Seite. Dabei handelt es sich um die Einübung der coolen Art linker Politiker, der Checker, die wissen, wo sie den nächsten Widerspruch begraben werden: unter ihrem Deckmantel, dafür schon eine Lösung zu finden. Entscheidend dafür ist natürlich, Kontakte zu halten, Informationen abzugreifen, sich blicken zu lassen wo notwendig, und sich einige zuverlässige Sympathisant_innen zuzulegen, die am klebrigen Schein der Aura des Simulanten hängengeblieben sind.

Wo sie glauben, Macht zu finden, lassen sie sich von den Leuten blenden, denen solche zugeschrieben wird. Früh übt sich, wer in der Hierarchie nach oben klettern will, und kein Buckeln, Kratzen, Selbsterniedrigen und Lächeln ist zu viel, wenn ein Stück vom Kuchen abfallen könnte. Und wer mal Kuchen essen will, frisst auch mal Scheiße. Allerdings verliert er dabei sein „anti“ und wird nur noch ein autoritärer Autoritärer, was die Sache für ihn wesentlich erleichtert, denn dann braucht es kaum mehr Rechtfertigung vor einem selbst, sondern nur noch vor den linken Bossen – solange man in ihrer Gnade steht.

Stattdessen nehmen antiautoritäre Autoritäre die Prinzipien der Selbstverwaltung und Selbstorganisation sogar fast ernster als ein stinknormaler Apparatschik. Irgendwo muss damit ja angefangen werden. Deswegen streichen sie für sich einfach das Adjektiv „kollektiv“ von diesen Begriffen, organisieren und verwalten also sich selbst. Und wenn sie einmal dabei sind, organisieren und verwalten sie auch gern andere mit, denen sie ihre ungefragte Hilfe aufdrängen können.

Äußerst wichtig dabei ist, wie schon erwähnt, das politische Geschwätz und das Darstellen der „politischen“ Bekanntschaften, um sich Bedeutung zu verschaffen.

Die Psychologie des antiautoritären Autoritären ist ein vertracktes Ding. Bisher unverstanden ist auch sein Verbalradikalismus, der ans Lächerliche grenzt und nur politische Analphabeten zu überzeugen vermag. Sei es drum: Er weiß die Gründe, kennt die Wege, im Übrigen auch die Mittel – deren Anwendung er gern anderen überlässt, während er zum nächsten „Projekt“ weitereilt. Deswegen fällt es ihm schwer, anderen zuzuhören, sie überhaupt tiefgehender wahrzunehmen und sich vorstellen zu können, dass seine Meinung möglicherweise doch nicht so klug und durchdacht ist, wie er selbst stets glaubt und sich selbst beweisen muss.

Wenn er auftritt, wird der Raum eng. Lassen sich Situationen nicht vermeiden, in denen die Gruppe keine rein oberflächliche, sondern eine grundsätzliche Debatte führt, versucht er sich ihnen zu entziehen. An basisdemokratische Beschlüsse, die seinem Ego zuwiderlaufen, würde er sich ohnehin nicht beteiligen. Dies versucht der antiautoritäre Autoritäre dadurch zu übertünchen, dass er unterlegene Positionen in Dienst nimmt und anderen aufdrängt, sich mit ihnen zu beschäftigen – unabhängig davon, ob sie dies möglicherweise schon ausgiebig tun oder nicht. Beispielsweise geht er davon aus, wenn er sich mit Feminismus beschäftigen würde, könnte er sich Inhalte und Techniken aneignen, die ihn dann des Problems seiner eigenen Verstrickung entledigen würden, womit er besser dastünde, diese Sache abgehakt hätte und über andere urteilen könnte, „die es noch nicht geblickt haben“.

Dass eine solche Beschäftigung eine langwierige und schwere Aufgabe wäre, die am Ende seine eigene Selbstverliebtheit und Aufgeblasenheit in Frage stellen müsste, geht ihm nicht in den Kopf rein. Überhaupt ist Emanzipation für ihn nur ein Wort neben vielen anderen. Salvador Dalí malte 1929, ich denke noch vor der Phase seiner faschistischen Sympathien, ein Gemälde mit dem Titel „Le Grand Masturbateur“ („Der Großmasturbator“). Ganz im hier beschriebenen Sinne würde ich den antiautoritären Autoritären analog als den „Großorganisator“ bezeichnen.

jens

Mein Gott, mein Staat, mein Niemandsland

Frei nach dem Motto „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, bild‘ ich einen Staatsraumkreis“, gibt es weltweit immer wieder Menschengruppen, die ihren eigenen Staat ausrufen. Wahlweise finden sie dafür ein noch staatenfreies Fleckchen Erde oder erkennen bestehende Staaten nicht als rechtmäßig an. Durchaus ernst gemeint und mit verschiedenen Motiven ausgestattet.

Ein Beispiel dafür ist der im April ausgerufene Staat mit dem vielversprechenden Namen Freie Republik Liberland und seinem Motto „Leben und Leben lassen“. Das bisherige Niemandsland erstreckt sich zwischen Kroatien und Serbien auf einer sieben km² langen Sumpflandschaft mit Wald und Wiesen.

Eine subversive anarchistische Aktion, um die auf Nationalstaaten basierte politische Elite zu provozieren, das Staatenwesen vor und ad absurdum zu führen? Ein Freiraum für Unterdrückte, die in solidarischer Gemeinschaft ohne Herrschaft leben wollen? Leider nein.

Dieser im April 2015 ausgerufene Staat beansprucht zwar weitestgehende Freiheit für sich, definiert diese jedoch vorzugsweise wirtschaftlich. Ganz anarchokapitalistisch geht es dem Gründer und Präsidenten Vít Jedlicka um eine Steueroase. Privateigentum ist das höchste schützenswerte Gut. Will man Staatsbürger von Liberland werden, muss man diesen Grundsatz teilen und darf zudem „keine kommunistische, extremistische oder Nazivergangenheit“ haben. Ansonsten wird mensch laut Homepage nicht für „vergangene kriminelle Handlungen“ zur Rechenschaft gezogen, ist jedoch angehalten „andere Menschen und deren Meinungen unabhängig von ihrer Herkunft & Orientierung zu respektieren“.

Auch wenn es die Liberländler vielleicht gern anders hätten: International erregt ihr neues Staatsgebiet bisher wenig Aufsehen, sondern wird ignoriert oder als vermeintliche Satire-Aktion heruntergespielt. Sicher nicht ohne Kalkül, schließlich sollen doch die Bürger ihre zu versteuernden Gelder im eigenen Land lassen. Und erst recht nicht auf die Idee kommen, weitere Ministaaten auszurufen, in der jenseits der Staaten-basierten (Un-)Ordnung – aber dennoch unter deren Label – eigene Gesetzte herrschen.

Ignoranz ist jedoch noch eine der harmloseren Reaktionen auf derlei Neustaaten. Denn wenn es Gruppen gibt, die ihren neuen Staat auf bereits vergebene Staatsräume legen, wird meist härter durchgegriffen. Am bekanntesten ist hierzulande wohl die sog. Reichsbürgerbewegung, die zumeist aus rechten Ideologen oder Verschwörungstheoretiker_innen besteht, welche die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Grundgesetz rechtlich für völker- und verfassungswidrig halten. Dies wird als Argumentationsgrundlage ausgebaut, um Menschen zur Unterstützung eigener Machtansprüche zu gewinnen, wahlweise in Form von sog. Reichsregierungen, Fürstentümern oder Königreichen.

Ein Beispiel dafür ist der „Imperator Fiduziar“ Peter Fitzek mit dem Königreich Deutschland, das er bereits 2012 auf einem acht Hektar großen Gelände in der Lutherstadt Wittenberg ausrief. In Anlehnung an die Reichsbürgerbewegung erkennt auch er die staatliche Souveränität Deutschlands nicht an, weil die Verfassung fehlt. Allerdings will er nicht die Alte zurück samt der Grenzen von 1937, sondern lieber eine „lupenreine Monarchie“. Seit der neue König mit dem Aufbau einer eigenen Krankenkasse, Versicherung und Währung begann, zudem noch eigene Autokennzeichen anfertigen ließ und von königlicher Steuererhebung träumt, wird er jedoch nicht mehr von der Staatsgewalt ignoriert. Sondern staatsrechtlich verurteilt.

Kurzum, so einfach ist es also doch nicht mit den neuen Staaten. Stellen sie die Alten in Frage oder werden sie wirtschaftlich und politisch gefährlich, ist Schluss mit Lustig. Vielleicht hat sich Liberland auch deshalb dieses Motto gegeben, weil es hofft, dass man es „leben lässt“?

Wie sehr kann mensch wollen, dass solche Konstrukte am Leben bleiben? Gar nicht. Denn so sympathisch vielleicht die Aushöhlung der auf Nationalstaaten basierten Weltordnung ist, das macht den Gründungsgrundgedanken einfach nicht besser. Weder im Hardcorekapitalismus noch mit selbsternannten Monarchen lässt es sich solidarisch und gerecht in Gemeinschaft leben und leben lassen. Erst recht nicht mit den Nazis der Reichsbürgerbewegung. Abgesehen davon ist die Macht der bestehenden Staatenwelt gegenüber allerlei separatistischen Bewegungen ausgesprochen hoch.

Doch wenn nur Pippi Langstrumpf in der Lage ist, sich ihre Welt so zu gestalten, wie sie ihr gefällt, was bleibt dann uns? Neben ganz kleinen, selbstgebauten Nischen zumindest ein lauter Ruf in die Welt: Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland!

[momo]

Filmprojekt: Istanbul United

Am 27. Mai 2013 gingen in Istanbul tausende Menschen auf dem Taksim-Platz demonstrieren. Ziel der Demonstrant_innen war es, den Bau eines Einkaufszentrums auf dem Gelände des Gezi-Parks zu verhindern, welcher direkt neben dem Taksim-Platz liegt. Der Gezi-Park ist der letzte Park im Zentrum Istanbuls. Auf ihm befinden sich bis zu 70 Jahre alte Bäume, die nun gefällt werden sollen. Die Demonstrationen und die darauf folgende Besetzung des Taksim-Platzes zogen sich über Tage und wurden somit zu einem weitreichenderen politischen Problem für die Regierung Erdogans (1). Der Aufstand breitete sich auf weitere Städte aus und wurde zu einem Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit gegenüber der AKP- Regierung (2). Die Polizei antwortete darauf indem sie am frühen Morgen des 31. Mai 2013 den Platz umstellte. Sie zündete Zelte der campierenden Demonstrant_innen an, setzte Pfefferspray und auch Tränengas ein.

Inmitten dieses Szenarios bildete sich eine Koalition heraus die vorher nicht denkbar gewesen wäre. Die Ultrà-Gruppierungen der eigentlich verfeindeten Istanbuler Vereine Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas begruben ihre Feindseligkeiten, um für eine gemeinsame Sache zu kämpfen. Sie verbündeten sich mit den Demonstrant_innen, gingen gemeinsam auf die Barrikaden und fanden auch bald einen Namen für ihr Bündnis: ISTANBUL UNITED.

Dies war der Anlass für eine Filmcrew, einen Dokumentarfilm über erwähntes Bündnis zu drehen. Das Projekt ist vollkommen unabhängig und wird zunächst von den Produzent_innen selber finanziert. Dieses Vorgehen soll sicherstellen, dass ein realer Ein­blick in die Ultrà-Kultur ge­schaffen wird. Außerdem soll dadurch gewährleistet werden, die Lebensweise und die Gründe für die Wut der Menschen mög­lichst objektiv darzustellen. Während des Films werden Bilder von Ultràs beim Spiel, im Privatleben und während der Demonstrationen zu sehen sein. Erscheinen wird die Dokumentation leider erst im Oktober 2013­ – aber unterstützen könnt ihr sie schon jetzt unter: www.indiegogo.com/projects/istanbul-united-the-movie.

Der Autor empfiehlt: Unterstützt das Projekt und haltet Augen und Ohren offen! Vielleicht gibt es bald einmal eine Filmvorführung in Leipzig!

Klaus C.

(1) Recep Tayyip Erdogan ist ein türkischer Politiker. Er ist derzeit Vorsitzender der islamisch-konservativen Regierungspartei Adalet ve Kalk?nma Partisi (AKP) und seit dem 11. März 2003 Ministerpräsident, seit Juli 2011 mit dem dritten Kabinett Erdogan.
(2) AKP: Die Adalet ve Kalk?nma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ist nach eigener Programmatik eine konservativ-demokratisch ausgerichtete politische Partei in der Türkei und lehnt trotz gegenteiliger Wahrnehmung eine Klassifizierung als „muslimisch-demokratisch“ ab. Beobachtern zufolge trägt die Regierung der AKP jedoch zu einer stärkeren Islamisierung der Gesellschaft in der Türkei bei.

Uebrigens

„Der FC Bayern und seine Juden“

Subjektive Erlebnisse zum Buch

Bayern München ist für fast jede Person ein Begriff, unabhängig ob diese Interesse für Fußball hat oder nicht. Bei Gesprächen mit Leuten, die sich selber als Fußballfans definieren, kristallisieren sich häufig zwei Positionen heraus: „Das sind die reichen Typen, die alles und jeden aufkaufen“ (Ich hasse Bayern) oder „Ich find die super, die spielen einen tollen und attraktiven Fußball“ (Ich bin Bayern-Fan). Unabhängig davon, dass es anscheinend nur wenige Menschen gibt, die eine gemäßigte Meinung zu diesem Verein haben, hat man das Gefühl, dass die Themen „Reichtum“ und „attraktiver Fußball“ die einzigen sind, die den Hass bzw. das Bayern-Fan-Sein definieren. Dass Bayern viele Erfolgsfans hat, dürfte wohl jedem bewusst sein. Darum überrascht es auch nicht, wenn diese sich selber als Fans eines Vereins bezeichnen, aber nichts über dessen Geschichte wissen. Da die Welt aber nicht nur Schwarz-Weiß ist, gibt es natürlich auch sympathische Bayern-Fans. Als erstes fällt mir da die Schickeria München (Ultrà-Gruppierung) ein, die seit Jahren durch ihr antirassistisches Engagement im Stadion auffällt und die mit dem FCB wahrscheinlich sogar bis in die Regionalliga und noch viel weiter gehen würde. Das sympathische Auftreten der Schickeria und deren Glaube daran, dass hinter Bayern München mehr steckt als nur Geld, veranlasste mich also dieses Buch zu kaufen.

Inhaltlich befasst sich der Autor, ­Dietrich Schulze-Marmeling, mit der Geschichte des FC Bayern München kurz vor der Vereinsgründung (1897) bis heute. Das Hauptaugenmerk liegt natürlich auf dem Einfluss jüdischer Spieler und Funktionäre auf den Verein selber. Aber auch der Einfluss des FCB auf den gesamten Fußball in Deutschland ist Themenschwerpunkt.

Das Buch umfasst zwölf Kapitel mit 287 Seiten. Für mich persönlich war es bis zum siebten Kapitel etwas schwer, in das Buch hinein zu kommen. Das lag vor allem am Aufbau des Buches und daran, dass meine Erwartungshaltung eine andere war. Nach meinem Gefühl beschreibt der Autor immer nur kurz die jüdischen Personen und ihre Funktion im Verein, um dann in den restlichen 2/3 des Kapitels ihre Biographien unabhängig vom Verein zu erzählen. Wie bereits erwähnt entsprach dies nicht meiner Erwartung, da ich mir erhofft hatte, konkretere Informationen zum Wirken der jeweiligen Person im Verein und vor allem genauere Angaben zur Positionierung des Vereins an sich zu erhalten. Ab dem siebten Kapitel („Neuordnung in Politik und Fußball“), das 1933 beginnt, erfüllt der Autor genau diese Erwartungen. Er spricht über die Positionierung und das Wirken des FCB in der Nazizeit. Im Vergleich zu vielen anderen Vereinen, die sich sofort und bereitwillig dem NS-Regime beugten, leistete dieser Verein wenigstens passiven Widerstand. So waren z.B. viele jüdische Personen noch im Umfeld der Bayern aktiv, obwohl sie keine Vereinsmitglieder mehr sein durften. Außerdem war Bayern München einer der letzten Vereine, der eine regimetreue Person zum Vorsitzenden bekam. Der Autor stellt in diesem Kapitel gut dar, dass der FCB, solange es ihm möglich war, auf kleiner Ebene Widerstand leistete, wogegen viele andere Vereine sich nur zu gerne dem Naziregime unterordneten. Schulze-Marmeling arbeitet die Positionierung des Vereins in der NS-Zeit gut heraus.

Den vorher von mir so erwünschten Stil behält er auch zur Aufarbeitung der Nachkriegszeit bei. Ein positives Resümee in Bezug auf die Geschichtsauf­arbeitung des FCB zieht Schulze-­Marmeling allerdings nur bis Ende der 60er Jahre, danach geriete das Thema in Vergessenheit, so der Autor. Er kommt in seiner Untersuchung dahin, dass die Geschichte willentlich nicht aufgearbeitet wird, um „unangenehm zu verarbeitende“ Kapitel der Vereinshistorie auszublenden. Was mich dann wirklich überraschte, war sein Lob für die Schickeria München, da Schulze-Marmeling nicht gerade als Sympathisant der Ultrà-Bewegung bekannt ist. Laut ihm hat die Gruppierung einen großen Anteil daran, dass Anfang des Jahrtausends ein Umdenken im Umgang mit der eigenen Vereinshistorie stattfindet. Die Aktionen der Schickeria, z.B. deren Choreographien zum Auswärtsspiel in Stuttgart für Richard Dombi (1), oder zum jährlich stattfindenden antirassistischen Kurt-Landauer-Turnier (2), sieht er als Fundament für das neue Geschichtsbewusstsein im Verein. Seiner Argumentation nach war dies auch der Auslöser dafür, dass der FC Bayern dem neugegründeten Verein Maccabi München eine Spende über 20.000 Euro übergab und ein Freundschaftsspiel zur Einweihung von dessen Sportstätte absolvierte. Am Ende zieht Schulze-Marmeling dann doch eher eine positive Bilanz zur Geschichtsaufarbeitung – auch wenn er betont, dass es noch viele Mängel gibt.

Somit habe auch ich am Ende eher einen positiven Eindruck von diesem Buch erhalten. Auch wenn der Anfang etwas holprig war, war ich dann doch damit zufrieden, dass mein Beweggrund, das Buch zu kaufen, sich auch im Inhalt bestätigte. Für mich festigte sich das Bild, dass hinter dem FC Bayern mehr steckt als Erfolgsfans und Geld. Der Schickeria München wünsche ich weiterhin viel Erfolg.

Klaus C.

(1) Dombi war der erste Meistertrainer des FCB mit jüdischen Wurzeln.
(2) Kurt Landauer war der jüdische Präsident des FCB, der den Verein sehr prägte.

Uebrigens

„Die allerletzte Härte sind Oberlippenbärte!“

Gedanken zum Schnauzbart

Ich weiß ja nicht, ob es Euch schon aufgefallen ist – der Schnauzbart ist wieder da. Schon eine ganze Weile. Zuerst in Berliner Szeneclubs, aus denen alles Schlechte in die Welt hinausstrahlt, dann in Musikvideos, auf Studentenparties und letztlich von all diesen Devotionalien prangend: auf Jute-Beuteln, T-Shirts, Postkarten und sogar duftend an Rückspiegeln hängend.

Freilich kein deutsches Phänomen, auch Hollywood-Stars tragen ihn wieder, den Moustache. Brad Pitt und George Clooney dienen damit ebenso als Trendsetter wie trashige Kunstfiguren á la Icke & Er {1}. Angeblich als Zeichen der „neuen Männlichkeit“, mit kosmopolitischer Note und wahnsinnig viel Intellekt. Offen bleibt dabei, ob letzterer ironisch gemeint ist und sog. Hipster angetreten waren, ihre Oberlippenpracht im Kontrast zu all den glattrasierten Langweilern hervorzutun. Doch Retro ist es allemal, sei es als Hommage an Magnum und Schimanski oder ironisches Rekurrieren auf den „White Trash“, wie Kurt Cobain ihn sah.*

Immer wieder auftauchende Gemeinsamkeit ist dabei das Sinnbild autoritärer Männlichkeit. Wer kennt sie nicht, die US-amerikanischen Cops mit ihren vor [Autorität] strotzenden Schnurrbärten, den sogenannten Copstache Standards. In Polizeiserien wie [Chips] und später in Musikvideos von NWA oder den Beastie Boys sehen wir die Copstaches als klare Symbole staatlicher Gewalt und Autorität.

Bei weniger Informierten lässt diese Scheinkausalität gerade anhand von Beispielen wie Stalin, Hussein oder Charles Bronson {2} den Eindruck entstehen, Rotzbremsen wären die haargewordene Autorität, ihre Träger per se männlich dominant und Schnauzbärte an sich ein Unterdrückungsinstrument.

Im Rahmen meiner Forschung zeigte sich jedoch, dass Schnurrbärte einfach nur weniger mit Friedensbewegten wie Mahatma Gandhi, Albert Schweitzer oder Martin Luther King in Verbindung gebracht werden. Es zeigt sich hier allerdings eher die tendenziöse Wahrnehmung der meist unbehaarten Bevölkerungsmehrheit. Es liegt außerdem die Vermutung nahe, dass Friedensbewegte hierzulande bewusst auf diese Bärte verzichten, während sie in anderen Kulturkreisen unbeschwert getragen werden können. Und auf die vielen Unterschiede von Anker- bis Zwirbelbart, die dieser Autoritätstheorie ebenfalls widersprechen, möchte ich an dieser Stelle gar nicht eingehen.

Denn nicht Autorität ist in Wirklichkeit das Wesen des Schnurrbarts, sondern pure, ungehemmte Männlichkeit. 70er-Jahre-Pornogott John Holmes dürfte zurecht als derjenige gelten, der maßgeblich den Begriff Pornstache prägte, auch wenn Ron Jeremy vielen von Euch eher ein Begriff sein wird. Oberlippenbärte in der Pornoindustrie kamen auch nicht von ungefähr. In abgeschwächter Form wird bei Cunnilingus-Freunden auch Lovestache {zu deutsch etwas ordinärer Muschibürste} verwendet, welcher den Mythos Schnurrbart in sexueller Hinsicht weiter anfacht. So ist es hier die unbedingte Männlichkeit, die ebenso wie bei den Fußballern der 70er und 80er Jahre in den Vordergrund gerückt werden sollte. Genau diese Überbetonung des starken Geschlechts ließ den Pornobalken in Zeiten des aufkommenden Feminismus dann auch wieder schnell in Verruf geraten. Trugen 1985 ganze 162 Fußballspieler einen Oberlippenbart, so waren es drei Jahre später nur noch 125, 1996 lediglich vierzehn und ab 2001 gab es der Wochenzeitung Die Zeit zufolge keine einzige Rotzbremse mehr in der Bundesliga. Doch der Trend kehrt sich um. 30 Jahre später holt uns noch jede Retro-Welle ein und so lief vor einem halben Jahr der Schalke04-Profi Tranquillo Barnetta mit einem Schnauzbart auf’s Spielfeld, was für ein ordentliches mediales Echo sorgte. Das war bewusst kalkuliert, denn Tranquillo warb für die jährliche weltweite Spendenaktion Movember {3}, im Kampf gegen Prostatakrebs. Und er wurde so zum Teil des erkennbaren Trends, der den Schnurres wieder salonfähig macht. Wobei auch der trashig in Subkulturen getragene Moustache es in den Mainstream schaffte und mittlerweile Modemagazine ziert.

Schlecht finden muss man diesen Trend, der anhält und nicht aufzuhalten scheint, nicht allein aus Hipsterfeindlichkeit. Auch aus ästhetischer Sicht gilt es, diesem populären Gesichtswahn erbitterten Widerstand zu leisten. Zu harmlos erscheinen die Schnauzbärte heutzutage, wenn junge freiheitsliebende Menschen sie tragen, als dass sie noch den nötigen Respekt und die Angst hervorrufen, die zu empfinden einst der Selbstschutzmechanismus der Gesellschaft war.

shy

PS: Für alle, die meinem Beitrag nicht genügend Godwin-Punkte zugestehen, sei der Verweis auf den Hitlerbart freilich noch nachgeliefert. Wer wusste schon, dass diese Bartmimik als offizielles Brokerhandzeichen die Deutsche Bank (und früher auch die D-Mark) symbolisiert. {4}

{1} Richtig-geil-Video
{2} Großbritanniens berühmtester Häftling noch mehr als der Schauspieler
{3} Wortschöpfung aus Moustache und November
{4} tradingpithistory.com/gallery/20/participants/cme/152/brokerage_deutsche_bank

Uebrigens

Flüchtlingslager Bernburg

Kakerlaken, Urin und vieles mehr…

In der von der AWO betriebenen Flüchtlingsunterkunft im Teichweg in Bernburg leben 177 Menschen auf engstem Raum. Am Rand der Stadt in einem Industriegebiet, mehr als 30 Gehminuten entfernt zur nächsten Einkaufsmöglichkeit, zum Sozialamt, einer Schule, Kindergarten oder auch eine/r Ärzt/in.

Aber noch unwürdiger sind die Zustände, unter denen die Menschen dort leben müssen: Es gibt keine Gemeinschaftsräume oder ein Spielzimmer für Familien mit Kindern. Fallrohre von Sanitäranlagen verlaufen teilweise durch Schlafräume. Für Männer und Frauen gibt es nur gemeinsam zu nutzende Sanitärräume und Duschen – ohne Vorhänge. Nach Angaben der Heimleitung beschäftigt die AWO zudem BewohnerInnen des Hauses für einen Stundenlohn von 1 Euro als Billig-Putzkräfte. Auch nach dem Einsatz eines Kammerjägers kriechen Unmengen Kakerlaken durch die Zimmer, unter den Kühlschränken und in jedem Kleiderspind herum.

Erst öffentliches Interesse und Medienberichte konnten den AWO-Ortsverband bewegen, die Zustände in der Unterkunft einzugestehen. Inzwischen gibt es zwar getrennte Duschräume für Frauen und Männer, allerdings ohne Duschvorhänge oder Sichtschutz. Die grundlegenden Missstände, besonders der massive Ungezieferbefall, sind unverändert. Besonders unerträglich ist das für Mütter, die fürchten müssen, dass ihren Säuglingen im Schlaf die Kakerlaken über den Körper laufen. Statt einer intensiven Beseitigung teilt die Heimleitung Kakerlakenfallen aus, die angesichts des Ausmaßes der Plage unwirksam sind. Zudem sollen die BewohnerInnen Kakerlakenspray in den Wohn- und Schlafräumen verwenden, dessen gesundheitliche Nebenwirkungen mindestens fragwürdig sind. Auch ein sogenannter Gemeinschaftsraum wurde der Presse vorgeführt, aber mittlerweile wieder verschlossen. Darüber hinaus wurden BewohnerInnen von der Heimleitung unter Druck gesetzt, weil sie sich über die Zustände beklagt hatten und zu Pressegesprächen bereit gewesen waren. Gleichzeitig behaupteten Betreiber und Verwaltung wiederholt, dass die Misere in Bernburg von den Flüchtlingen selbst verursacht wurde. Das lenkt von der Verantwortung der Heimbetreiber und des Landkreises ab, schürt aber Vorurteile und trägt zur Ausgrenzung der BewohnerInnen bei.

Es bleibt zu sagen: Es ist an der Zeit, aktiv zu werden und diese Zustände zu skandalisieren – damit die Sammelunterkünfte in Bernburg und anderswo bald der Vergangenheit angehören!

mona

Übrigens

Vierzig Jahre Graswurzelrevolution

Ein kritischer Rückblick auf die GWR-Konferenz

Der vierzigste Geburtstag der Graswurzelrevolution wurde vom 7. bis 9. September mit einem Kongress in Münster gefeiert. Zwischen vielen Glückwünschen, spannenden Vorträgen und praktischen Workshops klang vor allem eines durch: Weiter so!

Als die Graswurzelrevolution im Juni 1972 gegründet wurde, standen die zwei essentiellen Eckpfeiler der politischen Arbeit fest: Einerseits sollte mit der Zeitung Theorie und Praxis der gewaltfreien anarchistischen Revolution gefördert werden, andererseits wurde angestrebt, die Friedensbewegung für den Anarchismus und die anarchistische Bewegung für die Gewaltfreiheit zu begeistern. Ziel, Mittel und Name der Zeitung sind demnach deckungsgleich: Eine basisdemokratische, föderalistische Gesellschaft mit bedürfnisorientierter Wirtschaftsform wird durch unabhängige, aber solidarisch mitein­ander vernetzte, politische Akteure gewaltfrei erstritten.

Unter „gewaltfrei“ ist eine Absage an jede Form der Gewalt, sei sie physisch oder strukturell, zu verstehen. Weder der Gebrauch des Molotow-Cocktails, noch das Versumpfen in gesichtslosen, bürokratischen und entmündigenden Zentralorganisationen sind akzeptable Mittel der Konfliktführung. Das Credo der Gras­wurzel­anarchistInnen ist ebenso einfach wie einleuchtend: Man kann sich nicht die Illusion machen, Probleme mit der Logik zu lösen, die sie ursprünglich verursacht hat.

Dieser Ansatz fand und findet vor allem in der Friedens- und Umweltbewegung brei­ten Anklang. Waren früher Gewalt­frei­heit und Umweltschutz zentrale The­menfelder der Berichterstattung, hat sich die Graswurzelrevolution heute einer bunten Palette gesellschaftlicher Konflikte ge­öffnet: Feminismus, globale Menschenrechte und Migrationsbewegungen, Antisexismus und Antirassismus sind nur einige Themenbeispiele, denen immer wie­der gebührend Platz eingeräumt wird.

Neben der explizit anarchosyndikalistisch orientierten Direkten Aktion kann die Graswurzelrevolution als das Organ der vielgesichtigen anarchistischen Bewegung im deutschsprachigen Raum verstanden werden.

Im Vorfeld des Kongresses hallte der Aufruf zur Geburtstagsfeier durch die alternative Medienlandschaft. Wohlwollende Artikel, herzliche Glückwünsche und solidarische Grußbotschaften waren unter anderem von analyse und kritik, Neues Deutschland, Buko, BBU, Akin, Labour­net und der FAU zu vernehmen.

Nach einer fröhlichen Eröffnungsrede ging am Freitag das Programm rasch in die Abendunterhaltung über. Die Musik­acts Duo Contraviento, Antje und Klaus der Geiger verbreiteten eine tolle Stimmung; leidenschaftlich vorgetragene libertäre Klassiker und spannende Neukompositionen schallten durch die Hallen der Evangelischen Studierendengemeinde, die sonst von Gebeten und Chorgesängen durchflutet werden.

Am nächsten Tag startete ein vielfältiges Programm aus Vorträgen, Diskussionsrunden und Praxisworkshops. Zwischen theoretisch-tiefgängigen Veranstaltungen zum Revoltekonzept Camus’ oder dem Verhältnis des Christentums zum Anarchismus und genauso lebhaften wie erschütternden Erfahrungsberichten zur Lage von Frauen und Homosexuellen im Iran konnten die Kongressteilneh­mer­Innen niedrig­schwellig an praktischen Kursen zum Ak­tionsklettern teilnehmen. Diverse Bü­cher­stände, eine Comic-Kunstausstellung sowie Kaf­fee aus zapatistischen Kooperativen rundeten das Angebot ab und trösteten über das maue Essen der ESG-Cafeteria hinweg.

Am Samstagabend referierte Maikel Nabil Sanad, der erste Kriegsdienstverweigerer Ägyptens, eindrucksvoll über seinen Kampf im Hungerstreik im ägyptischen Gefängnis. Zum Abschluss des Tages zauberte der Liedermacher Pit Budde mit seiner Gitarre einen bunten Abend.

Am Sonntag setzte sich das inhaltliche Programm nahtlos fort. Nach einem anarchistischen Poetry-Slam und einem gemeinsamen Abschlussplenum, in dem eine anregende Diskussion über die Zukunft und aktuelle Praxis von Aktionstrainings entbrannte, nutzte ein Großteil der noch nicht abgereisten KongressteilnehmerInnen das Angebot, einen kommentierten Ausflug zur Paul-Wulf-Statue an der Münsteraner Promenade zu unternehmen. Jan vom Künstlerduo Jae Pas intervenierte mit lecker gefüllten Pizzakartons in die lokale Geschichts­stunde. So wurden lokale anarchistische Geschichte und Tagespolitik anschaulich verbunden.

Ein etwas größeres und vor allem bunter gemischtes Publikum hätte dem Kongress gut zu Gesicht gestanden. Des Eindrucks, dass die Mehrheit der etwa 250 Besucher­Innen seit Zeitungsgründung über ein Abo verfügt, konnte man sich nicht erwehren.

Während sich in einer geradezu gemütlichen Beschaulichkeit in den Räumlichkeiten der Evangelischen Studierendengemeinde – zu Recht – wohlwollend auf die Schultern geklopft und auf vierzig ereignisreiche Jahre zurückgeblickt wurde, toben die Kriege und Konflikte der Welt unvermindert weiter. Das Fazit der dreitägigen Geburtstagsfeier erinnert – im gut gemeinten Sinn – an die Inschrift des Grabsteins Herbert Marcuses: „Weitermachen!“

Mathias Schmidt

Übrigens

Waldbesetzungen von Räumung bedroht

Die Besetzungen von Wäldern und verlassenen Landstrichen, bspw. zur Verhinderung von Flughafen-, Straßen- oder Tagebau, werden zunehmend mehr zur Aktionsform konsequenter Aktivist_innen aus der ganzen Welt. Dabei geht es den meisten von ihnen sowohl um den konkreten lokalen Schutz der Natur, als auch um den aktiven Widerstand gegen allgemeine kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse, durch die Menschen unterdrückt und Lebensräume von Pflanzen und Tieren zerstört werden. Um diese Art des Protestes per Kriminalisierung zu unterbinden, arbeiten wirtschaftliche Großkonzerne oftmals Hand in Hand mit politischen Eliten.

Diverse Besetzungen dieser Art gibt es kurzfristig oder langjährig in vielen Ländern Europas. Aktuell sind mindestens zwei akut räumungsbedroht: der Hambacher Forst in Deutschland und La Zad in Frankreich.

Hambacher Forst

Der Hambacher Forst, ein Waldstück in Nordrhein-Westfalen, nahe Köln, wird seit April 2012 von Aktivist_innen dauerhaft besetzt, um die Rodung durch den RWE-Konzern zu verhindern. RWE betreibt direkt nebenan den größten Braunkohletagebau Europas (8.500 Hektar). Um den Tagebau erweitern zu können, sollen die Waldbesetzer_innen samt ihrer in diesem Jahr gebauten Hütten und Baumhäuser mit Hilfe deutscher Polizist_innen geräumt werden. Seit Oktober besteht akute Räumungsgefahr, denn da endete die Brut- und Setzzeit, welche die Baumrodung natur­schutzrechtlich unterbindet. Die Aktivist_innen vor Ort sind vorbereitet, ein „Unräumbar-Festival“ Ende Oktober soll weitere Menschen mobilisieren. Der Aktionskonsens ist breit, die Besetzungsformen sind kreativ, die Besetzer_innen sind entschlossen. Was es jedoch am meisten braucht, sind weitere Aktivist_innen, die bereit sind den Protest mit ihrer Anwesenheit in dieser heißen Phase zu unterstützen. Weitere Infos: hambacherforst.blogsport.de

La Zad (Zone A Defendre)

Circa 2.000 Hektar Land nahe Notre Dame in der französischen Bretagne, mehrheitlich Weide- und Waldfläche, sollen einem neuen Flughafen weichen (siehe FA!#43). Pläne dazu bestehen schon seit 40 Jahren – konkrete Drohungen gegen die dort Wohnenden wurden vom Konzern Vinci mit Hilfe der französischen Regierung seit diesem Jahr wieder verstärkt. Seit 2009 wird der langjährige Protest der ansässigen Bauern durch zahlreiche linksalternative Besetzer_innen aus aller Welt unterstützt. Ihre Anzahl hat sich in den letzten zwei Jahren vervielfacht. Sie haben viele der verlassenen Häuser besetzt, neue Hütten und Baumhäuser gebaut, Gärten angelegt und allerlei selbstorganisierte Projekte und Protestformen vorangetrieben. Am 16. Oktober fanden die ersten Zwangsräumungen statt, Weitere werden in den nächsten Wochen erwartet. Die Aktivist_innen brauchen jede Unterstützung, um die Räumungen verhindern und die Plätze neu besetzen zu können. Infos zur aktuellen Lage und dem geplanten re-occupation-Aktionstag: zad.nadir.org

momo

Uebrigens

Wo ist denn nun der Wald?

Als ich meine Arbeit im Schloss verlor, war mir vor allem klar, dass es sich hier nur um neue Möglichkeiten und Wege handelt. Schließlich hatte mich mein persönlicher Weg schon weit gebracht und durch alle Forderungen und Umwege bin ich genau dort gelandet wo ich jetzt bin. Was also könnte daran falsch sein? Als ich ging, weinten aber alle meine Kollegen. Sie verstanden gar nicht weshalb obwohl der König selbst doch immer wieder allen erzählt, dass „jeder hier austauschbar“ sei. Weshalb also Tränen um etwas vergießen was jederzeit ersetzt werden kann? Und inwiefern bin ich eigentlich ersetzbar? Oder ist es nur meine Arbeit die ersetzbar ist? Und was ist mit dem Rest?

Bevor ich hier her kam und das erste und wahrscheinlich einzige Mal in meinem Leben „fest“ arbeitete, hatte ich alles versucht, um mich „frei“ zu machen und einer unangenehmen familiären Abhängigkeit zu entkommen. Deshalb nahm ich jede Arbeit, die ich bekommen konnte, an. Und obwohl ich dabei nur an Arbeit dachte und versuchte mich unsichtbar in der Küche, in der ich zeitweise arbeitete, zu verstecken, rettete mir letztlich nicht nur die Arbeit, sondern die Menschen, die tatsächlich mich dort sahen, eines Tages das Leben.

Also nahm ich die Zeit der Arbeitslosigkeit nach der festen Stelle als Geschenk an und begann mich umzusehen nach den Menschen und den Möglichkeiten. Auf diese Weise stolperte ich eines Tages in meiner Nachbarschaft in einen Ort, der es sich zum Ziel gemacht hat, denjenigen zu dienen, die Hilfe brauchen. Hier gibt es eine Küche die ihnen jeden Tag eine warme Mahlzeit serviert.

Ganz unbedarft meldete ich mich also bei der Leiterin an. Sie lächelt, legt sich ein Blatt Papier zurecht und schreibt sich meinen „Lebenslauf“ auf. Dann schickt sich mich runter in den Essraum mit der offenen Küche. Ein schmuckloser Raum, aber mit einem wunderschönen Klavier. Das ist Annas Reich und eines Tages erfahre ich ihre Geschichte.

Sie hält mir ihren Arm entgegen, schiebt den Ärmel hoch und deutet auf die 4 cm-langen Narben an ihrem Unterarm: Messerstiche. Sie ist dazwischen gegangen „Damit sie sich nicht gegenseitig tot stechen. Damals hatte ich noch keine Angst“.

Anna ist fünfzig, 20 Jahre älter als ich. Sie kann es nicht verstehen wenn Menschen nicht über sich selbst lachen können. Sie ist sehr großzügig, aber nicht maßlos, denn sie versucht fair zu teilen. Ich sage auch nichts als sie der jungen Frau den Nachtisch nicht schenkt. Trotzdem kommt sie zu mir „Normalerweise bin ich ja nicht so, aber sie versucht es jedes Mal, und am Ende ist nichts mehr für die anderen da“. Ich nicke. Ich vertraue ihrer Erfahrung.

„Es ist so still hier. Wollt ihr keine Musik bei der Arbeit hören?“ Frage ich. „Ja, früher hatten wir mal ein Radio, aber die Chefin sagt, dass die GEMA einfach zu teuer ist“. Der Ort bleibt still und wird jeden Tag ein wenig leerer.

Am Mittwoch bin ich alleine mit dem Koch. Anna ist nicht da. Die Stimmung drückt, die Stille erst unerträglich, dann plötzlich unterbrochen von lautem Gelächter „Was ist mit dem Klavier?“ ruft ein Mann mit leichter Fahne.

„Das hat schon seit Jahren keiner gespielt. Versuch es doch!“ ermutigt ihn der Gärtner.

„Oh nein, oh nein, das gibt Ärger“ murmelt der Koch, „Die Chefin hat es verboten.“

„Weshalb?“ frage ich ihn, aber er schüttelt nur den Kopf und beugt sich tief über seine Schüssel.

Und dann schallt die Musik durch den Raum und überflutet die Stimmung mit Fröhlichkeit. Am Ende kommt der Spieler zu mir an den Tresen. Er besingt erst mich, dann den Koch für seine Feigheit. Zum Abschied winkt er mir zu und zwinkert „Wenn ihr hier eine Gitarre rein stellt, komme ich gerne wieder.“ „Das wäre schön. Dann bis bald.“ Und zum Abschied tauschen wir ein Lächeln.

Der Koch beugt sich tiefer über den Topf, schüttelt noch immer mit dem Kopf. Er ist einer der 400-Euro-Jobber der Einrichtung, genau wie Anna. Dann kommt der Gärtner zu mir. Er lacht und freut sich noch immer über die Musik. „Endlich hat sich mal einer getraut.“ Er gibt mir seine Karte, dann können wir gemeinsam etwas pflanzen. Auch er ist ein Ehrenamtlicher. Etwa die Hälfte der Leute die hier arbeiten sind ehrenamtlich tätig, die andere ist geringfügig beschäftigt. Die Chefin ist keines von beidem.

Anna ist seit fünf Jahren als Köchin in der Einrichtung tätig. Jeden Tag könnte der Brief vom Amt kommen und sie weg schicken. „Gestern hat die Chefin mich gefragt was mir helfen könnte mit dem Rauchen aufzuhören.“ erzählt sie mir weiter ihre Geschichte. „Da sagte ich ihr direkt: eine feste Stelle. Ich glaube es gibt Hoffnung.“

Ich nicht. Das sage ich ihr aber nicht, und vielleicht ist das „jugendlicher“ Skeptizismus, aber meine Einschätzung ist anders.

Die Chefin war auch überrascht als Anna ihr darlegte – ganz offen – wie wenig sie tatsächlich im Monat zum Leben braucht. Vielleicht war sie auch einfach überrascht, dass jemand nicht sinnlos versucht noch etwas mehr als nötig für sich selbst raus zu schlagen.

„Ich habe ihr gesagt, was du mir erzählt hast, dass die GEMA für die Hintergrundmusik die wir uns wünschen nur 100 Euro im Jahr kosten würde, aber es geht wirklich nicht. Sie tut schon was sie kann, dreht jeden Pfennig um.“

Jedes Mal wenn wir sprechen, kommen wir auf das Gleiche: Wir möchten nicht mit Politikern darüber reden und dann ist da noch das Geld.

„Früher war ich Mal richtig glücklich, an meiner Tanke“

Bis zum Raubüberfall.

Knarre am Kopf, Knie auf dem Boden, Stirn gegen die Wand.

„An einer anderen Tanke ist die Frau gestorben. Das war sicher keine Absicht, aber sie hat geschrien, ich habe mich solidarisiert.“

„Normalerweise hat mein Chef das Geld abends immer weggebracht. An diesem Abend nicht.“

„Erst habe ich einfach normal weiter gearbeitet. Die Angst kam später“.

„Ich möchte nur so viel, dass ich wieder mehr Achtung vor mir selbst habe. Genug, um nicht ein Bittsteller beim Amt zu sein“, schließt Anna ihre Geschichte.

Sie reicht mir ein Glas Wasser „Ich kann nämlich Gedanken lesen und du hast Durst“. Ich lache: „Das denke ich mir, dass du das kannst.“ Sie packt mir die Reste von Gestern fürs Abend­­essen ein.

Ich hinterlasse ihr meine Nummer. Es macht mir Angst, dass so ein liebevoller Mensch, der sich ohne etwas dafür zu erwarten um mich kümmert als wäre sie meine Mutter, zwei Wochen lang alleine und krank in ihrer Wohnung liegt. Aus der Einrichtung war in dieser Zeit niemand bei ihr.

Unter die Nummer schreibe ich „Jederzeit!“ und sie ist gerührt. Ich finde das eigentlich gar nicht mehr rührend, eher elend, dass sie das für etwas besonderes hält.

In meinem eigenen Leben haben mich Menschen gerettet. Aussätzige, Punker, Verlierer, Versager, Diebe. In meiner Not und in meiner Angst haben sie sich um mich geschlossen wie eine Mauer bis ich wieder sicher war. Ich habe niemals um ihre Hilfe gebeten. Ich war einfach nur zufälligerweise zur richtigen Zeit am richtigen Ort – als Köchin, illegal, großzügig je nach belieben bezahlt mit viel lauter Musik jeden Tag, an einem Ort der Unzuverlässigkeit und des Trotz, geprägt vom Egoismus der Selbstverwirklichung. Aber gesehen haben sie mich irgendwie trotzdem.

„Was sollen wir tun?“ frage ich meinen Freund den Musiker. Er besitzt einen Plattenladen und gab mir die GEMA-Info als ich ihm davon erzählte, dass die schlecht-bezahlten Mitarbeiter der Einrichtung keine Musik mehr hören dürfen wenn sie arbeiten.

Ich lasse meiner Wut freien Lauf.

„Ständig dieses ‘das kann ich nicht, weil…’. Ich kann es nicht mehr hören. Das ist doch totaler Quatsch.“

Er nickt. Er hat den gleichen Traum. Und er versteht es auch nicht.

„Warte noch ein bisschen,“ beschwichtigt er mich. „Vielleicht haben wir bald alle zusammen. Dann schaffen wir hier so einen Ort“.

„Ich finde ja bemerkenswert mit wie wenig Geld ihr jungen Leute heute auskommt“ sagt meine Mutter.

„Am liebsten mit keinem“, sage ich.

Ist das Utopie, Naivität oder letztlich unsere einzige Chance? Was macht denn das Geld? Austauschbar?

Keine Kasse

Kein Geld

Keine Knarre

Keine Angst?

(isobel)

Uebrigens