Der lange Sommer der Autonomie (Teil 4)

Operaismus für Anfänger_innen

In den ersten drei Teilen die­ser Arti­kel­reihe habe ich die Ent­stehung der operaistischen Theorie nach­zu­zeichnen versucht: von der Gründung der Zeitschrift Quaderni Rossi und die „militanten Untersuchungen“ bei Olivetti und FIAT, über die Streiks und Riots von 1962, die schließlich zur Gründung der Gruppe Classe Operaia führten.

Bis dahin waren die Operaist_innen kaum mehr als eine linkskommunistische Splittergruppe. Ihre Untersuchungen in den Fabriken lieferten zwar auf­schlussreiche Theorien, und ihre Inter­ventionen waren wirkungsvoll genug, um die Routinen der Gewerk­schafts- und Parteipolitik zu stören. Aber insgesamt waren sie weit entfernt, die kapitalistische Gesellschaft ernst­haft zu gefährden. Das änderte sich mit dem „Heißen Herbst“ von 1969. Eben diese ereignisreichen Jahre von 1968 bis 1973, in denen Italien nicht nur die größte Streikwelle nach dem 2. Weltkrieg erlebte, sondern wohl tatsächlich haarscharf an einer Revolution vorbeischrammte, will ich in diesem Teil behandeln.

Freilich lässt sich die Komplexität der Bewegung, die Vielzahl der Akteure und rasche Folge der Ereignisse hier nicht mal ansatzweise vollständig darstellen, sondern bestenfalls skizzieren – dies als dezente Warnung vorweg.

Arbeitermacht in Porto Marghera

Im Jahr 1967 war von den kommenden Unruhen noch wenig zu ahnen, und die Organisation Classe Operaia, die so etwas wie die Keimzelle der operaistischen „Bewegung“ bildete, hatte sich gerade in ihre Einzelteile zerlegt. Eine ganze Anzahl der Militanten (allen voran Mario Tronti) trat wieder in die PCI, die kommunistische Partei ein. (1) Die andere Fraktion entschied sich dafür, die eigene Unabhängigkeit zu bewahren und gründete die Organisation Potere Operaio („Arbeitermacht“) – oder besser Potere Operaio veneto-emiliano, abgekürzt PO-ve, so benannt nach den Regionen Emilio-Romagna und Venetien im Norden Italiens, auf die sich der Aktionsradius der Gruppe damals begrenzte.

Vorerst gelang es der Organisation nur in der Region von Porto Marghera an Einfluss zu gewinnen, wo sich in der Nähe von Venedig die petrochemische Industrie angesiedelt hatte. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass die PO-ve sich so aus­gerechnet in einem Industriezweig fest­setzen konnte, wo Angestellte und technisches Personal die Mehrheit bil­deten, während sonst vor allem die unqualifizierten „Massenarbeiter“ im Fokus der opera­istischen Debatte standen. (2)

Vor allem beim Unter­nehmen Montedison gelang es den Militanten, Kontakt zu den Be­schäftigten aufzubauen und Einfluss zu ge­winnen. Einen ersten großen Erfolg konnten sie dabei im Sommer 1968 erzielen. Aus Anlass der anstehenden Tarifverhandlungen, bei denen die Gewerkschaft wie üblich eine mäßige prozentuale Lohnerhöhung anpeilte, stellten die Aktivist_innen der PO-ve ihre eigene Forderung in den Raum: 10.000 Lire mehr im Monat, und zwar für alle! Von den Beschäftigten wurde dies begeistert aufgenommen, und auch die Gewerkschaft schloss sich widerwillig an, um die Kontrolle über die Lage nicht zu verlieren. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung war im August 1968 erreicht, als tausende Streikende zur nahen Stadt Mestre zogen und die Verbindungsstraßen nach Venedig blockierten. Wenig später brach die Gewerkschaft den Streik ab und einigte sich mit dem Management, wie üblich, auf eine prozentuale Lohnerhöhung.

Die Forderung nach gleichen Lohn­erhöhungen für alle kam in den Kämpfen dieser Jahre immer wieder auf. Den Arbeiter_innen war voll bewusst, dass das System der Lohn­kategorien vor allem dazu diente, die Masse der Beschäftigten in viele kleine Untergruppen zu zerlegen und so die Macht der Unter­nehmer zu sichern. Und jede prozentuale Lohn­erhöhung verstärkte die Unterschiede zwischen den Kategorien, weil in einer niedrigen Lohnkategorie natürlich auch die Er­höhung niedriger ausfiel.

Die Frage des Lohns war aber auch für die operaistische Theorie und Praxis dieser Zeit von zentraler Bedeutung. Schon der frühe Operaismus hatte die Planung als elementaren Bestandteil der kapitalistischen Wirtschaft erkannt. Das war einerseits ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem Parteimarxismus, für den jedes „Mehr“ an Planung ein Schritt in Richtung Sozialismus war. Allerdings neigten die Operaist_innen dazu, nun ihrerseits in umgekehrter Richtung zu übertreiben. Ihre Befürchtung war, dass es durch ein Programm der staatlich gelenkten und geplanten Wirtschaftentwicklung (wie es damals vor allem die sozialistische Partei PSI vertrat) gelingen könnte, die Kämpfe der Arbeiter_innen zu befrieden.

Von diesem Punkt aus lässt sich das Konzept des „politischen Lohns“ ver­stehen, das Mario Tronti schon Jahre zuvor formuliert hatte: „Vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus ist ein Kampf dann politisch, wenn er bewusst die Krise der ökonomischen Abläufe der kapitalistischen Entwicklung herbeiführt.“ Und der Lohn schien der geeignete He­bel zu sein, um so eine Krise her­bei­zuführen, wie Tronti meinte: „Das Ungleichgewicht, das Auseinanderfallen von Löhnen und Produktivität, ist ein politischer Fakt. Er muss als solches verstanden und benutzt werden.“ (3) Wenn Lohnerhöhungen, die strikt an die Steigerung der Produktivität gekoppelt blieben, ein Mittel der Kontrolle wa­ren, dann war die Entkopplung von Lohn und Produktivität ein Mittel der Revolution – so lautete der Umkehr­schluss, der auch die Politik von Potere Operaio in den Kämpfen des „Heißen Herbsts“ bestimmte.

Unzufriedene Jugend

Entscheidender Auslöser für die landes­weite Revolte waren dabei die Kämpfe bei FIAT, entsprechend der Rolle, die dieser Konzern in der italienischen Wirtschaft einnahm. Das Unternehmen produzierte 3% des Bruttoinlandsprodukts, 6% des Gesamtexports und 20% des Exports der Maschinenindustrie. Der Konzern besaß auch die zweitgrößte Tageszeitung Italiens, La Stampa, und hatte damit großen Einfluss auf die Politik und die „öffentliche Meinung“.

Die Erneuerung und Modernisierung der Anlagen war bei FIAT zu diesem Zeitpunkt weitgehend abgeschlossen. Steigerungen in der Produktivität wurden vor allem durch die immer stärkere Beschleunigung der Arbeitsrhythmen erzielt. Viele Beschäftigte sahen sich darum gezwungen der Arbeit tageweise fernzubleiben, um unter der Belastung nicht zusammenzubrechen – trotz der Lohneinbußen, die das zur Folge hatte. Rund 13% der Belegschaft waren so be­ständig abwesend. Zugleich verließen jedes Jahr etwa 10% der Beschäftigten das Unternehmen. Bei den neu Eingestellten waren es sogar 40%, die nach zwei oder drei Monaten wieder kündigten.

Im Vergleich zu den Gewinnen des Konzerns waren die Löhne im Laufe der 1960er nur unwesentlich gestiegen. Der gezahlte Grundlohn lag noch unter dem Existenzminimum. Die Arbeiter waren so zu allerlei Zusatzleistungen ge­zwungen, um über Prämien und Zu­lagen eine Summe zu erzielen, die halbwegs reichte, um die hohen Lebens­haltungskosten zu decken. Ein drängendes Problem waren vor allem die Wohnverhältnisse: Viele Arbeiter zahlten horrende Preise für ihre Schlafplätze, und hunderte mussten in den Bahnhöfen der Stadt oder im Auto übernachten, weil der Wohnungsbau mit dem Zustrom immer neuer Arbeitskräfte nach Turin bei weitem nicht Schritt hielt.

Gut die Hälfte der Turiner Stadt­bevöl­kerung war wirtschaftlich direkt oder indirekt von FIAT abhängig. Und die Zahl der Beschäftigten in den Werken war in den ver­­gangenen zwei Jahr­zehn­ten rasch ge­stiegen, von 71.000 im Jahr 1952 auf beinahe 160.000 im Jahr 1968.

Der Großteil davon, 80%, waren Arbeitsmigranten aus dem Süden des Landes – eben jene „Massenarbeitern“, die ich in dieser Artikelreihe schon öfter behandelt habe. Die meisten von ihnen waren männlich (alleinstehend oder mit Familie), zwischen 20 und 30 Jahre alt, verfügten kaum über Schulbildung und übten in der Fabrik gering qualifizierte, monotone Tätigkeiten aus.

Gegen Ende der 1960er stellten diese jungen unqualifizierten Arbeiter die Mehrheit in vielen Unternehmen (wozu die Konzerne selbst viel beitrugen, indem sie in der Rezession ab 1965 gezielt vor allem Frauen und ältere Arbeiter entließen). Und sie waren auch das treibende Subjekt im „Heißen Herbst“ bei FIAT.

In ihrem Kampf gegen die Arbeit drückte sich praktisch aus, was Mario Tronti in marxistischer Theoriesprache einige Jahre zuvor so ausgedrückt hatte: Die Arbeiter müssten ihren eigenen Status als Ware infrage stellen, sich weigern, als Arbeitskraft zu fungieren, um das Kapitalverhältnis von innen heraus zu sprengen. Die Arbeiterklasse müsse folglich dahin kommen, „das gesamte Kapital zum Feind zu haben: daher auch sich selbst, insofern sie selbst Teil des Kapitals ist. Die Arbeit muss die Arbeitskraft, insofern sie Ware ist, als ihren eigenen Feind ansehen.“ (6) Das war abstrakt genug formuliert, ließ sich aber erstaunlich gut auf die Alltagslage der jungen Arbeiter übertragen – die meisten von ihnen hassten ihren Job und wollten ihr Dasein als Lohnabhängige lieber heut als morgen beenden.

Allerdings war es nicht Mario Tronti, der diese jungen Arbeiter politisierte und zum Widerstand anregte. Weitaus wichtiger war dabei die Studentenbewegung, die ab 1967 auch in Italien als neue Kraft eindrucksvoll in Erscheinung trat – mit Uni­versitätsbesetzungen, De­mons­­trationen und Kämpfe mit der Polizei.

Die studentischen Militanten suchten dabei von Anfang an den Schulterschluss mit der Arbeiterschaft. Viele von ihnen stammten selbst aus proletarischen Familien, finanzierten sich das Studium mit mies bezahlten Gelegenheitsjobs und wohnten in denselben Vierteln wie die Arbeitsmigranten aus dem Süden. So entstand ein gemeinsames Milieu der Unzufriedenen, in dem auch die Theorien der operaistischen Gruppen an Einfluss gewannen. Indem sich der studentische Protest mit den Revolten und wilden Streiks in den Fabriken verband, gewann die Bewegung eine Brisanz und Ausdauer, die europaweit einzigartig war – letztlich sollte es in Italien ein rundes Jahrzehnt dauern, bis diese Revolte beendet war.

Revolte bei FIAT

Aber der Reihe nach. Schon 1967 hatten junge Aktivist_innen damit be­­gon­nen, vor den Werkstoren bei FIAT zu agitieren und Flugblätter zu ver­teilen. So entstanden erste Kontakte zu den Arbeitern und in die einzelnen Werkstätten hinein.

Bereits 1968 kam es bei FIAT zu ersten Streiks. Aber der ganze angestaute Un­mut entlud sich erst im Frühjahr 1969. In der Metallindustrie standen neue Tarifverhandlungen an. Die Ge­werkschaften planten, nach dem üb­lichen Modus zu verfahren: erste Ver­handlungen in den Sommermonaten, wenn die meisten Beschäftigten im Urlaub waren. Danach einige weitgehend symbolische Arbeitsniederlegungen, die für FIAT keine ernsten Einbußen brachten – die meisten Aufträge wurden vor der Sommerpause abgear­beitet, und da war der Konzern auch besonders auf reibungslose Abläufe an­gewiesen.

Nur diesmal lief es anders. Schon ab April 1969 kam es im FIAT-Werk von Mirafiori immer öfter zu Versammlungen, und schließlich wurde in einer Kundgebung von 8000 Arbeitern ein Streik be­schlossen. Die Initi­ative dazu kam von den gewerkschaftlich organisierten Fach­­arbeitern, die für die Wartung der Anlagen zuständig waren. Sie for­der­ten u.a. Lohnerhöhungen und die Ab­schaffung der niedrigsten Kategorie. Ab 11. Mai 1969 begann eine Reihe von je zweistündigen, noch gewerkschaftlich kontrollierten Arbeitsniederlegungen. Bald schlossen sich andere Abteilungen an, die Arbeiter der Zulieferabteilungen traten nun auf eigene Initiative in den Streik. Dadurch wurde der gesamte Produktionsablauf stillgelegt. Und als die Arbeit an den Montagebändern stockte, wo der Groß­teil der jungen „Massenarbeiter“ beschäftigt war, tra­ten auch diese in den Streik und tru­gen im Folgenden viel dazu bei, die Formen der Auseinandersetzung zu radikalisieren – durch zeitweilige Beset­zung einzelner Abteilungen, durch Sabotage, durch Militanz auf der Straße, aber auch durch neue und kreative Aktionsformen. So wurden etwa mit Demonstrationszügen durch die Fabrik die noch unbeteiligten Kollegen agitiert, sich den Streiks an­zuschließen.

Bald entstand eine regelmäßige „Ver­samm­lung der Arbeiter und Studenten“, die sich nach Schichtende in einem Lokal nahe Mirafiori trafen. Daraus wurde ein regelmäßiges Treffen, bei dem die Arbeiter der verschie­de­nen Werk­stätten In­for­mationen aus­­­­­tauschten und Aktionen für die folgenden Tage geplant wurden (5). Die allgemeineren Probleme und Fragen der Strategie wurden auf Versammlungen debattiert, die bald regelmäßig jeden Sonntag stattfanden. Aus diesem Kreis heraus entstanden Flugblätter, die vor den Fabriktoren verteilt und mit der Formel „la lotta continua“ (der Kampf geht weiter) unterzeichnet wurden – nach dieser Losung benannte sich später die gleichnamige Organisation, von der weiter unten noch die Rede sein wird.

Gewerkschaften und Bosse

Die Gewerkschaften sahen sich durch dieses autonome Handeln der Arbeiter in Bedrängnis gebracht. Sie mühten sich, die allgemeine Revolte in eine geregelte Choreografie zu überführen, bei der nur in einzelnen Abteilungen der Reihe nach gestreikt und gesondert verhandelt wurde. Das misslang erstmal gründlich. So begannen am 29. Mai die Arbeiter auf eigene Faust zu streiken, ohne den von den Gewerkschaften angesetzten Termin abzuwarten. Und als die Gewerkschaften Mitte Juni ei­nen neuen Vertrag für die Arbeiter an den Montagebändern präsentierten, reagierten diese mit offe­ner Ablehnung und traten zwei Tage später erneut in den Streik.

Andererseits konnten die Gewerk­schaf­­ten die Unruhe nutzen, um ihre ei­gene Position stärken, die bei FIAT traditionell eher schwach war. Bereits 1955 hatte FIAT die meis­ten Kader der Metall­­ge­werkschaft FIOM und der kom­­mu­nis­­­tischen Partei ge­feuert und zu­gleich eine eigene „gelbe“ Gewerkschaft gegründet. So war Ende der 1960er der Einfluss der unabhängigen Ge­werkschaften bei FIAT gering – nur ein Viertel der Beschäftigten war in ihnen organisiert.

Ihre wichtigste Forderung war nun die Anerkennung sog. „Abteilungs­delegierter“, mit denen sie ihre Entschei­dungsmacht im Werk zu vergrößern hofften. Mit Erfolg: Der Abschluss am 27. Juni 1969 beinhaltete u.a. die Anerkennung von 56 solcher Delegierten. Ebenso wurden Abteilungskomitees (comitati di linea) eingerichtet, die jeweils mit vier Repräsentanten je einer Gewerkschaft besetzt wurden.

Die Konzernleitung, zumindest de­ren „progressiver“ Flügel, war durchaus zum Entgegenkommen an diesem Punkt bereit. Denn damit die Gewerkschaften von den Arbeitern als offizielles Vertretungsorgan anerkannt wurden, mussten sie auch Erfolge vorweisen können, und dafür mussten man ihnen größere „Rechte“ zugestehen. Darüber war sich auch die Konzernleitung klar, wie sich deutlich an der Berichterstattung der von FIAT kontrollierten Tageszeitung La Stampa und dem Tenor der dort veröffentlichten Artikel zeigte. Zugleich versuchte La Stampa aber auch, gegen die linksradikalen „Agitatoren“ Stimmung zu machen, und intern legte die Kon­zern­leitung Listen mit den Namen vermeintlicher Rädelsführer an, die bei nächster Gelegenheit entlassen oder versetzt werden sollten.

Für den 3. Juli riefen die Gewerkschaften zum Generalstreik in Turin auf, um gegen den „Mietwucher“ zu protestieren und beim Parlament Aufmerksamkeit für ihre Forderungen zu schaffen. Sie verfehlten jedoch ihr Ziel, einerseits die Initiative und damit die Kontrolle zurückgewinnen, andererseits den Unmut auf andere Ziele zu lenken. Gegen Mittag sammelte sich vor dem Werk in Mirafiori ein etwa 3000 Per­sonen starker Demonstrationszug von Arbeiter_innen und Student_innen. Dieser wurde fast unmittelbar von der Polizei angegriffen. Das ließ die Lage eskalieren. Barrikadenkämpfe begannen, die bis in die Nacht dauerten und sich bis in die Vororte der Stadt ausbreiteten. Am Ende mussten die Polizeikräfte sich zurückziehen.

Die „organisierte Autonomie“ und der Staat

Nach dem 3. Juli breiteten sich die Kämpfe auf andere Industriezweige und Regionen aus. Bei Alfa Romeo, Innocenti, Sit-Siemens, Seat, Michelin, Lancia und Phillips wurde ebenso gestreikt wie bei Olivetti, in den Chemiefabriken von Porto Marghera ebenso wie in Rom, Bologna, Pisa und Florenz. Und auch bei FIAT gingen die Arbeitskämpfe nach der Sommerpause unvermindert weiter. Die Konzernleitung setzte nun auf harte Repression und begnügte sich nicht mehr damit, einzelne „Rädelsführer“ zu entlassen. Ihre Maßnahmen richteten sich vielmehr gegen alle, die an den Streiks beteiligt waren. Am 3. September wurden so insgesamt 40.000 Arbeiter „suspendiert“, die Hälfte davon aus Mira­fiori. Am Folgetag stürmten meh­­­­rere tausend der Entlassenen das Fa­briksgelände, zogen durch die Werk­­stätten und zet­tel­ten dort Ver­samm­lungen und Diskussionen an.

Die Bewegung weitete sich aus, trotz der Repression, die auch von der Polizei ausgeübt wurde. Am Generalstreik am 19. November beteiligten sich schließlich etwa 20 Millionen Arbeiter_innen. In diesem Kontext entwickelte sich Potere Operaio zu einer landesweiten Organisation mit zeitweilig bis zu 4000 Mitgliedern. Schon ab Frühjahr 1969 gab sie die Zeitung La Classe heraus, die ab Herbst auch überregional im Wochentakt erschien und für die De­batten der Bewegung sehr wichtig war. Daneben entwickelte sich Lotta Continua zur größten Gruppe der „organisierten Autonomie“. Ursprüng­lich wurde sie von studentischen Aktivist_innen gegründet, die nach Turin gekommen waren, um bei den FIAT-Kämpfen mitzumischen, und bildete sich bald zu einer landesweiten Organisation weiter. Ab November 1969 gab sie eine eigene Zeitung heraus. Die Organisation war auch weiterhin stark in der studentischen Linken verankert, hatte aber auch unter den jungen Fabrik­arbeiter_innen großen Einfluss.

Auch die Militanten dieser Grup­pen sahen sich einer zunehmenden staat­lichen Repression ausgesetzt. Eine dras­tische Wendung erhielt die Situation durch die Bombenanschläge vom 12. Dezember 1969. Eine Bombe detonierte in der Mailänder Land­wirtschaftsbank, 16 Menschen wur­­den getötet und wei­tere 80 verletzt. Auch in Rom explodierten drei Bomben, hier gab es keine Toten, aber viele Verletzte. Tatsächlich waren diese An­schläge von faschistischen Grup­pen durchgeführt und von staat­lichen Ins­tanzen, Mili­tär und Geheim­diensten, un­ter­stützt worden. Die Poli­zei kon­zentrierte sich mit ihren Er­mitt­lungen aber ausschließlich auf die radikale Linke und konnte umgehend die angeblichen Täter präsentieren. Eine Rei­he von Anarchisten wurde ver­haftet. Einer von ihnen, Pino Pinelli, stürzte bei einem Verhör aus einem Fenster im vierten Stock und starb.

Um diese Zusammenhänge halbwegs erschöpfend darzustellen, wäre frei­lich mindestens ein eigener Artikel notwendig (6). Jedenfalls erfüllte das „Staatsmassaker“ von Mailand seinen un­mittelbaren Zweck. Es begann eine Pressekampagne gegen die Streikenden und die studentischen Unruhestifter. Unter diesem Druck beeilten sich die Ge­werkschaften zu verhandeln. Am 21. Dezember 1969 wurde der letzte Tarif­vertrag bei FIAT abgeschlossen. Der „Frieden“ war vorerst gerettet.

Die staatliche Repression und die geheim­dienstliche „Strategie der Spannung“ soll­ten die linke Bewegung die ganzen 1970er hindurch prägen und langfristig auch zu ihrem Ende führen. Mittelfristig führten sie dazu, dass sich die Politik großen linksradikalen Gruppen, Potere Operaio und Lotta Continua, von den Fa­bri­ken auf die Straße verlagerte. An­ti­faschistische Demonstrationen und Kämpfe mit der Poli­zei spielten eine immer größere Rol­le. Zugleich verschärften und ver­engten sich die internen Debatten – die Konfrontation mit der Staatsmacht wurde nun zum wichtigsten Punkt. Der „Aufbau der bewaffneten Partei“ wurde eine gängige Parole, sowohl bei Potere Operaio als auch bei Lotta Continua.

Dies war dem An­spruch der Gruppen, von den Kämpfen „an der Basis“ aus­­zugehen, eigent­lich diametral ent­gegen­gesetzt. Die­ser Widerspruch ließ sich letztlich nicht lösen – und zumindest die Aktivist_innen von Potere Operaio waren konsequent genug, sich dies einzugestehen und be­schlossen auf der letzten nationalen Kon­ferenz der Or­ga­­­nisation im Mai 1973 die Auflösung. Mit den Ursachen dieser Entscheidung werde ich mich im nächsten Heft noch beschäftigen. Dabei wird vor allem die feministische Gruppe Lotta Femminista im Fokus stehen, die als Abspaltung von Potere Operaio entstand und die operaistische Kritik der „produktiven Arbeit“ in der Fabrik um eine Kritik der Hausarbeit erweiterte. Damit spielte sie nicht nur für die italienische Frauenbewegung, sondern auch die autonome Bewegung der 70er Jahre eine wichtige Rolle. Im letzten Teil dieser Artikelreihe will ich dann vor allem Toni Negri Thesen vom „gesellschaftlichen Arbeiter“ als neuem revolutionären Subjekt beleuchten. Ihr dürft gespannt sein.

(justus)
(1) Wichtige Hinweise zu Trontis weiterer Entwicklung gibt Theodor Sander: „Von der Theorie der Arbeitersubjektivität zur antiproletarischen Propaganda“, Universität Osnabrück 1999.

(2) Bezeichnend ist die Haltung Mario Trontis, der 1967 das technische Personal als „eine Handvoll Techniker“ abtat, „die sich damit brüsten, Mehrwert zu produzieren, indem sie Knöpfe drücken“. Vgl. Steve Wright: „Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus“, Assoziation A, Hamburg/Berlin 2005, S. 115

(3) zitiert nach Steve Wright 2005, S. 78.

(4) Mario Tronti, „Arbeiter und Kapital“, online unter www.kommunismus.narod.ru/knigi/pdf/Mario_Tronti_-_Arbeiter_und_Kapital.pdf, vgl. „Fabrik und Gesellschaft“, S.22 im PDF.

(5) Wolfgang Rieland (Hg.): „FIAT-Streiks – Massenkampf und Organisationsfrage“, Trikont Verlagskooperative München, 1970, S. 72.

(6) Literatur zum Thema ist jedenfalls genug vorhanden. Vgl. z.B. Luciano Lanza: „Bomben und Geheimnisse – Geschichte des Massakers von der Piazza Fontana“, Edition Nautilus, Hamburg 1999, oder Dario Fos Theaterstück „Zufälliger Tod eines Anarchisten“, das die Ereignisse literarisch verarbeitet.

Weitere verwendete Literatur:
Nanni Ballestrini/Primo Moroni: „Die goldene Horde – Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien“, Assoziation A, Berlin 2002

Theorie & Praxis

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