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Ein Interview zur Gemeinsamen Ökonomie

Ich denke, Menschen sind eher dafür gemacht in Gemeinschaft zu leben, als alleine.“

Immer mehr Menschen träumen von einem Leben in Gemeinschaft mit gegenseitiger solidarischer Unterstützung. Einige davon leben diesen Traum, bspw. in Haus- oder Kommuneprojekten. Allerdings hat selbst dort die gegenseitige Hilfe oftmals ihre Grenzen im finanziellen Bereich – nur wenige betreiben auch gemeinsame Einkommens- und Vermögensökonomie. Ein Leipziger Beispiel dafür ist die Luftschlosserei, eine Kommune die zwar noch keinen gemeinsamen Hof besitzt, dennoch seit März 2014 gemeinsam wirtschaftet und ihre gesamten Einnahmen solidarisch miteinander teilt. Aktuell besteht sie aus sieben Kommunard_innen, die zum Teil in einer WG zusammenleben. Welche Erfahrungen sie bisher mit gemeinsamer Ökonomie gemacht haben und wie sie mit dem Spannungsfeld von individuellen Bedürfnissen und Gruppenverantwortung umgehen, ist Gegenstand des folgenden Interviews mit zwei der Kommunard_innen.

FA!: Ihr teilt euer Einkommen, wie funktioniert das in der Praxis?

A: Also einige von uns verdienen Geld, das landet erst mal auf den Konten von den Leuten und wir haben eine gemeinsame Kasse im Haushalt, wo man sich Geld rausnehmen kann. Wir führen darüber Buch: Wieviel hab ich mir rausgenommen und was hab ich verdient diesen Monat und was ist so von Konten abgegangen? Wir versuchen uns einmal im Monat gemeinsam einen Überblick zu verschaffen und fangen jetzt auch an, uns monatlich zusammenzusetzen, um über unsere finanzielle Situation zu sprechen und zu gucken, wo wir Prioritäten setzen müssen. Es gibt bei uns Leute, die weniger arbeiten aber dafür ihre Arbeitszeit der Gruppe zur Verfügung stellen, weil wir gerade dadurch, dass wir einen Hof kaufen wollen, ganz viel Organisationsarbeit haben. Eine Person haben wir dafür sogar freigestellt, d.h. sie muss nicht mehr lohnarbeiten gehen. Das bin ich. Und parallel unterstützen wir mit unserer Arbeitskraft auch noch das KGB-Getränkekollektiv (1).

Wir haben uns quasi noch mal ein soziales Sicherungsnetz geschaffen, was nicht auf die soziale Sicherung Hartz4 angewiesen ist. Das muss dir aber auch erst mal bewusst sein. Diese Existenzangst ist ja nicht einfach weg, du musst dir immer wieder selbst sagen: Es gibt diese Gruppe und wir stehen füreinander finanziell ein im Alltag und du fällst nicht ins Bodenlose, wenn jetzt mal ein Auftrag wegbricht als Freiberufler. Oder bei einem der befristete Job zu Ende geht.

FA!: Plant ihr die Gesamtarbeitszeiten für Gruppe und Lohnarbeit oder funktioniert das eher spontan und organisch?

A: Wir rechnen die Arbeitsstunden nicht gegeneinander auf, sondern gucken, wie sich jeder wohlfühlt mit den Vereinbarungen, die getroffen wurden. In letzter Zeit hatten wir einige längere Treffen, die sich aber spontan aus der aktuellen Situation heraus ergeben haben, als sich die berufliche Situation geändert hat. Da haben wir auch die Entscheidung getroffen zu sagen: Du machst jetzt mehr Arbeit für die Gruppe und versuchst jetzt nicht noch, dir einen neuen Job zu suchen. In Zukunft wollen wir das verstetigen, uns 1x im Monat zusammenzusetzen. Wir haben ja auch Leute in der Gruppe, die in Ausbildung sind, die weder groß Geld einbringen, noch Kapazitäten haben, viel nebenbei zu machen. Und es gibt eine Person, die jetzt vor einer beruflichen Umbruchphase steht und überlegt, eine Ausbildung anzufangen. Das ist sehr stark mit den Zielen der Gruppe verknüpft, so dass wir sagen: Du kannst noch eine Lehre als Elektriker machen, das können wir später mal auf dem Hof sehr gut gebrauchen.

Auf jeden Fall stehen wir noch am Anfang und sind eine sehr kleine Gruppe, was finanziell aktuell herausfordernd ist. Wir versuchen gerade krampfhaft 10% dessen, was wir einnehmen, zu sparen, um den Hofkauf zu ermöglichen. Das ist schwierig im Vergleich zu anderen Kommunen, die es schon länger gibt und die auch Gelder für sechs Monate vorrätig haben. Die wirft so schnell nichts aus der Bahn.

FA!: Kann sich jeder aus eurer Kasse so viel rausnehmen, wie er oder sie will, oder gibt es da finanzielle Grenzen, wo die Gruppe gefragt werden muss?

A: Erstmal kannst du dir nach Selbsteinschätzung Geld rausnehmen und gibst einen allgemeinen Zweck an, wofür es ausgegeben wird, z.B. Lebensmittel oder Mobilität oder Kultur. So, dass wir uns einen Überblick verschaffen können, für was wir Geld ausgeben. Da sehen wir aktuell, dass über die Hälfte für diese klassischen Sachen wie Miete, Strom, GEZ, Krankenkassenbeiträge rausgeht. Und vom anderen Teil geht mindestens die Hälfte für Lebensmittel drauf und der Rest für kleinere Sachen. Und wenn du jetzt eine Einzelausgabe machen willst, also für eine einzelne Sache, die über 150 € kostet, dann haben wir die Regel, dass du das 7 Tage vorher ankündigst, so dass die anderen dich in der Zeit darauf ansprechen können. Da geht es nicht darum, das zu verbieten, sondern in Dialog zu treten. Also wenn du dir jetzt z.B. überlegst, ein Fahrrad zu kaufen, kann man dann überlegen: Hat noch wer ein Fahrrad, was er gerade nicht braucht, oder kennt jemand jemanden, der das preisgünstiger hat. Oder kann man gleich eine größere Gruppenlösung finden, wie z.B. eine Monatskarte. Haben wir relativ selten, diese Einzelausgaben über 150 €. Aber wenn es dann vorkommt, sprechen wir es gemeinsam ab.

Unser Konzept, was wir uns damals erarbeitet haben, haben wir auch nicht einfach übernommen, sondern selbst geschaffen, haben uns die Regeln von anderen angeguckt und überdacht.

 

FA!: Und habt ihr ein Veto-Recht, also wenn jemand beharrt und sagt: Nee ich möchte aber dieses eine Mountainbike für 500 € und da lass ich mich jetzt nicht abbringen?

A: Jein. Also natürlich kann die Gruppe eine Entscheidung treffen und sagen: das können wir jetzt so nicht machen. Das ist aber bei uns kein Veto, sondern wir haben ein Konsens-System ohne Veto. Wir versuchen eher festzustellen, welcher Vorschlag den größtmöglichen Zustimmungsgrad in der Gruppe hat. Und das kann auch ein Vorschlag sein, der bedeutet, diese Ausgabe nicht zu machen. Ist ein bisschen differenzierter, als ein einzelnes Veto.

 

FA!: Ich nehme mal an, das Reden über Geld nimmt viel Raum bei euch aufgrund des Konzepts ein, oder? Wie empfindet ihr das?

A: Ja und Nein. Ich kann jetzt auch nicht sagen, ob es mehr ist, als normalerweise. Also diese Debatten um die Idee der gemeinsamen Ökonomie, die führen wir natürlich regelmäßig. Was vielleicht so zentrale Erkenntnisse für mich sind, ist, dass es oft weniger die Auseinandersetzung ist: Bringst du genug Geld ein oder nicht, sondern eher diese: Sehe ich insgesamt, wenn ich alles zusammenrechne, deinen Beitrag gleichwertig mit meinem Beitrag? Das kann auch anderes sein, Arbeit im Haushalt oder so. Und was hast du überhaupt für einen Anspruch, wie viel Arbeit du am Tag erledigst? Wo wir auch sehr viele Debatten geführt haben, ist die Situation, dauerhaft eher Nehmer oder Geber zu sein. Es ist beides nicht leicht. Wir machen ja auch regelmäßig bei unserem Treffen Sozialplenum und da war das schon oft Thema. Wenn du dauerhaft in dieser Nehmerrolle bist, fühlen sich die Leute oft schlecht und trauen sich nicht mehr, etwas rauszunehmen, obwohl das ja eigentlich keine Rolle spielen soll. Und andersherum, derjenige der mehr reingibt, muss auch lernen, dass dieses eine dauerhafte Geberrolle ist, die jetzt nicht irgendwas Gönnerhaftes hat oder eine besondere Position bringt, sondern einfach normal ist irgendwann. Ich hab dann nicht mehr zu sagen oder mir steht dann kein größeres Stück Pizza zu oder so was. Davon wegzukommen, ist schon nicht einfach.

Als ich eingestiegen bin in die Gruppe, war ich z.B. in einer guten Geberposition – bis mein guter Auftrag zu Ende war. Mir fällt das auch nicht leicht vom Selbstbild her, nicht in so einer gönnerhaften Geberposition zu sein. Und manchen fällt das ganz schwer jetzt in einer Ausbildung zu sein und auf lange Sicht auf die Gruppe angewiesen zu sein. Damit musst du dich dann auseinandersetzen. Aber durch unsere Gespräche ist viel geklärt und jeder weiß, wo der andere steht. Wenn keine Hirngespinste mehr da sind, es könnte jetzt jemand Neid haben oder komisch finden, z.B. dass ich jetzt nicht mehr extern, sondern für die Gruppe arbeite, dann stellt sich auch ein ganz großes Gefühl von Freiheit ein. Denn ich mache was Sinnvolles, ohne mir um Essen und Wohnen Gedanken machen zu müssen. Aber man muss es sich halt immer wieder sagen, es ist nichts, was sich von alleine so anfühlt. Und es hat sich erst eingestellt, als es mit der Gruppe besprochen war.

B: Das eigentliche Ziel der gemeinsamen Ökonomie ist ja, dass das Thema Geld möglichst weniger Stellenwert im Leben bekommt. Das ist der Grund, warum ich das mache. So dass diese Determination der eigenen Persönlichkeit durch Geld aufhört, diese Ungleichheit, die von Geburt mitgegeben wird. Zur Zeit sind wir noch an einem Schritt, wo wir uns eher ein bisschen mehr mit dem Thema auseinandersetzen müssen, als es mir lieb ist. Hoffentlich nur vorübergehend. Und es soll ja nicht dauerhaft aufgerechnet werden, wie viel Geld oder Zeit man in das Projekt steckt oder wie viel man im Haushalt hilft. Auch andere Sachen sollen eine Rolle spielen, z.B. wie viel man die Gemeinschaft bereichert, wie viel Lebensfreude man reingibt. Da gibt es auch viele gar nicht so berechenbare Sachen. Das wäre auch so ein Ideal.

A: Das ist auch interessant, auch ein Spannungsfeld: Für den einen ist die monatliche Abrechnung ein Mehr an Bürokratie zu dem, was wir vorher gelebt haben. Und für andere ist die Beschäftigung mit dem eigenen Konsumverhalten ganz neu und ein Erkenntnisgewinn, der Spaß machen kann.

 

FA!: Was hat denn dieses eine Jahr Erfahrung mit gemeinsamer Ökonomie mit euch gemacht, in eurem persönlichen Umgang mit Geld? Hat sich da im Lebensstil und im Bewusstsein was verändert?

A: Es gibt zum einen ganz schöne Erfahrungen, z.B. war es am Anfang für uns immer wieder ganz spannend zu entdecken, dass es egal ist, wer was bezahlt wenn du in der Gruppe unterwegs bist. Dann gibt es so einige Themen, mit denen wir sonst anders umgehen würden z.B. sorgfältiger Umgang mit Sachen. Also wenn ich jetzt bei dir zu Besuch bin und deine Stereoanlage runterschmeiße, dann wirst du sagen: Bezahl mir das. Wenn jetzt aber jemand von uns die Lieblingsstereoanlage runterschmeißt, dann zahlen wir das alle. Und das macht schon eine andere Verantwortlichkeit, wenn es diesen individuellen Sanktionsmechanismus nicht gibt.

An einem Nachmittag haben wir mal eine Frage bearbeitet: Wie kann ich es ertragen, dass andere Leute Geld für Scheiß ausgeben? Und da geht es um ganz kleine Sachen. Also wenn du abends zum Späti gehst und dir für 1,80€ eine Limo holst. Wenn ein Teil der Gruppe sich jeden Abend 3-4 Limos holt, dann ist das ein ganz schöner Posten. Und dann zu gucken: Ist diese Limo wirklich wichtig? Für andere ist das totaler Scheiß. Da war eben festzustellen: du kannst da kein Maßband anlegen, was gut und was schlecht ist. Aber du bist schon selber stärker am Überlegen,: Ist das jetzt sinnvoll, brauch ich das? Bis hin, dass manche Anschaffungen auch nachhaltiger sind.

Eine andere Sache ist, dass wir zwischendurch auch einen harten Ausstieg hatten, mit jemandem, wo wir dachten, auch eine gute Freundschaft zu haben. Diese Person war nicht bereit, Transparenz über ihre Zahlen herzustellen und hat auch falsche Angaben gemacht. Das war schon ziemlich hart und auch nicht reibungsfrei.

B: Dass die Anfangszeit sehr schön war, mit dem sich gegenseitig einladen, da kann ich beipflichten. Und diese Haltung, anderen bei Engpässen weiterzuhelfen, hat sich weitergetragen und verstärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Schwierig ist aber, dass man eben nicht mehr für sich selber was sparen kann. Neben Kommune gibt es vielleicht noch ein paar andere Ziele, die man so im Leben hat, vielleicht Auslandsaufenthalte machen oder beruflich weiterkommen oder was anderes. Und das ist gerade jetzt in dieser Zeit, wo der Hof gekauft werden soll, schwierig mit den Gemeinschaftsinteressen zu vereinbaren.

 

FA!: Heißt das du steckst dann deine persönlichen Ziele für die gemeinsamen Ziele zurück? Oder wie gehst du damit um?

B: Ich glaube es kommt drauf an, an welchem Punkt man im Leben steht. Und wie wichtig es einem gerade ist, diesen Hof zu kaufen. Ich persönlich möchte gerade die persönliche Seite nicht zu kurz kommen lassen, weil da so viele Fragezeichen sind, die für mich geklärt werden müssen, unabhängig von der Tatsache, dass ich in einer Kommune leben will. Da stehen noch ein paar andere Sachen im Leben an. Denn irgendwie habe ich mich selbst in den letzten Jahren voller WG-Leben völlig vergessen und gar nicht gecheckt, wie sehr ich andere Stränge, wie z.B. meine berufliche Selbstfindung komplett schleifen gelassen habe.

FA!: Und wie gehst du oder ihr als Gruppe damit um, in dem Spannungsfeld zwischen individuellen Zielen, Plänen und Wünschen und der Verantwortung der Gemeinschaft gegenüber?

B: Zur Zeit ist es eben so, dass ich eine Pause mache von der gemeinsamen Ökonomie, weil ein paar persönliche Sachen jetzt Priorität bei mir haben. Danach entscheide ich, ob ich wieder einsteige. Aber das ist jetzt eine individuelle Lösung, da gibt es sicher auch noch eine ganze Palette an anderen Sachen, die man machen kann.

A: Ich denke, dass in der Gründungsgeneration in der Kommune, wo der Hof noch nicht da ist, von uns sehr viel abverlangt wird, Zeit oder Geld in die Gruppe zu stecken, und da wenig Ressourcen für andere Sachen sind. Solche individuellen Geschichten, wie ein Jahr ins Ausland gehen und Geld dafür zurücklegen, ist dann schon schwierig. Natürlich müssen wir da auch gucken, ist das für uns stimmig, was wir auch machen.

Speziell bei B war das finanziell ziemlich herausfordernd. Wir haben dann gemeinsam beschlossen, dass es einfacher ist, wenn B erst einmal aus der gemeinsamen Ökonomie aussteigt. Unsere Lösung ist aber aus meiner Sicht sehr am Solidargedanken orientiert, weil wir gesagt haben: Du steigst jetzt sofort aus dieser gemeinsamen Ökonomie aus, aber wir bezahlen dir noch für drei Monate das Zimmer in der Wohnung und die Verpflegung, wenn du hier mit isst. So dass du diese Auszeit hast, aber wir besser rechnen können als Gruppe.

Es ist schon so, dass wir durch die gemeinsame Ökonomie eine Einstehensgemeinschaft sind. Und ich kann jetzt nicht einfach sagen: Ich nehm mich zurück und arbeite mal ein Jahr nicht. Denn andere Leute haben dann die Konsequenzen zu tragen. Verantwortung bedeutet halt schon, dass du immer dran denkst, dass der andere mit dranhängt. Für mich fühlt sich das relativ selbstverständlich an, deswegen will ich in einer Kommune sein, weil mir das guttut und ich das gern mache. Und für Andere ist das was, wo sie sagen: Das würde ich nur in einer Beziehung mit Kind geben, oder wo ich mich jetzt noch nicht so weit fühle.

B: Ich bin da wahrscheinlich eher in der anderen Position, und würde sagen, dass es leichter ist, das in einer überschaubareren Beziehung zu machen, also in einer Partnerschaft mit Kind oder so. Wenn man selber noch auf der Suche ist, was man eigentlich im Leben will und dann aber Leute hat, die auf einen angewiesen sind, obwohl man selbst noch gar nicht seinen Platz endgültig gefunden hat, ist es natürlich schwierig. Insofern verlangt es von allen ab, dass sie irgendwie wissen, wo sie hinwollen.

Und grundsätzlich ist es schwierig, wenn jemand mit besonderen Bedürfnissen in der Gemeinschaft ist und vielleicht angeschlagen ist und man viel geben muss. Denn gleichzeitig hat man ja selbst auch ganz viele Ideen, was man selber machen will. Zumindest geht es mir so. Und das kann einem schon ziemlich schnell über den Kopf wachsen. Deswegen fühlt es sich für mich jetzt ganz befreiend an, diese Ruhepause zu haben. Und danach zu gucken, was passiert.

Aber grundsätzlich finde ich es total richtig, füreinander da zu sein. Aber man muss auch irgendwo eine Grenze setzen, man kann nicht alle Menschen retten oder für alle immer da sein. Klar, die Gruppe ist mir insofern wichtig, weil es eine ähnliche politische Grundeinstellung gibt, eine ähnliche Sozialisierung und gemeinsame Anknüpfungspunkte durch Politerfahrungen oder andere Lebenserfahrungen, und irgendwie ein bisschen die Verknüpfung von anarchistischen Idealen und dem Streben nach einem besseren Leben, sowohl materiell als auch ideell, was die Verwirklichung von Idealen angeht, als auch kulturell oder vielleicht auch spirituell im weitesten Sinne. So was zu verknüpfen eben, dieses Anarchistische mit dem Wunsch nach etwas Aufstrebendem. Und ein bisschen die Ordnung ohne Herrschaft zu realisieren, das kann die Gruppe auch ganz gut. Das ist so einer der großen Pluspunkte, Sachen die dafür sprechen hier meine Kraft zu investieren.

 

FA!: Ganz ehrlich, ich stell es mir schwieriger vor als kleine Gruppe in gemeinsamer Ökonomie zu leben, als in einer großen Gruppe wie z.B. der Kommune Niederkaufungen, wo 60 Erwachsene leben, weil im kleinen Kreis vielleicht auch dieser soziale Druck stärker ist und die Verantwortung im Kopf präsenter, so dass vielleicht individuelle Wünsche zeitweise auf der Strecke bleiben, aber dann als Konfliktthema zurückkehren. Oder andere zwischenmenschliche Konflikte über die gemeinsame Ökonomie ausgetragen werden, indem man z.B. dem anderen den Klamottenkauf für 80€ missgönnt. Seht ihr denn die Anzahl der Leute als Faktor für das Funktionieren des Konzeptes?

A: Über die Anzahl der Leute haben wir uns schon viele Gedanken gemacht und sind der Meinung, dass so 12 Leute eine Mindestanzahl ist. Da hast du eine Stabilität, wo auch mal 1-2 Leute wegbrechen können und es immer noch funktioniert. Die haben wir noch nicht erreicht. Aktuell ist es so, dass wir, wenn eine Person wegbricht, gucken müssen, wie es funktioniert. Bisher klappt es und ich habe den Eindruck, dass es uns auch mehr zusammengeschweißt hat. Unsere Optimalzahl liegt so zwischen 12 und 24 Leuten plus Kinder.

Ich habe es aber noch nicht erlebt, dass Konflikte über die gemeinsame Ökonomie ausgetragen werden. Alle Leute haben klar, dass sie anderen keine Basalbedürfnisse verweigern, nur weil sie gerade mit einem nicht können. Wir haben vielleicht aus der gemeinsamen Ökonomie heraus Konflikte miteinander gehabt, aber nicht, dass wir andere Konflikte über die gemeinsame Ökonomie ausgetragen haben. Das würde auch gar nicht funktionieren, wie will man dem anderen verwehren, dass er sich Geld herausnimmt?

Wir kriegen uns halt sehr intensiv mit, aber ich habe nicht erlebt, dass das besonders spannungsreich ist.Wenn mir was nicht passt, sprech ich das auch an, statt Bilder im Kopf zu haben oder es einfach laufen zu lassen. Das hat aber nichts mit Bewertungen zu tun, sondern auch mit positiver Anerkennung dem gegenüber, was der andere macht.

Ich denke auch, wenn du eine Kommune machen willst, dann ist es eine Voraussetzung, eine Mitte zwischen gelebter solidarischer Gemeinschaft und individueller Selbstverwirklichung zu finden. Du kannst weder dich komplett für eine Gruppe aufopfern und dich dabei vergessen. Das tut dir nicht gut, das hältst du nicht lang durch. Noch kannst du in so einer Gruppe sein und nur an dich denken und dich selbst verwirklichen, dann wird dir die Gruppe ziemlich schnell auf den Sack gehen.

Aber es ist nicht eine endliche Menge, wo du was wegnimmst, also Gruppe oder Individualität. Sondern du kannst schon, wenn du das selber gut in Einklang bringen kannst, bei beiden Sachen mehr haben. Du kannst ganz viel mehr Gruppe und Gemeinschaft haben und ganz viel mehr individuelle Selbstverwirklichung in der Kommune. Aber du musst selbst die Kompetenz mitbringen, dir das zu schaffen. Und dann ist das ganze übersummativ, also die Summe mehr als die Teile.

 

FA!: Was müssen denn eurer Meinung nach Leute an Grundverständnis und Idealen mitbringen, um in so einem Projekt wie eurem glücklich zu werden?

A: Das ist ganz schwierig zu beantworten. Es gibt so einen Spruch zum Thema: Wenn du in eine Gemeinschaft gehst, solltest du eher jemand sein, der geben kann, als darauf angewiesen sein zu nehmen. Du solltest Verantwortung übernehmen können für andere. Und du brauchst eine gewisse Affinität mit Gruppen umzugehen. Also dich selber zu vertreten, dich selber auch klar zu haben, zu wissen was du möchtest, es artikulieren zu können. Ich sag mal diese ganzen sozialen Fähigkeiten. Wir haben auch öfter Diskussionen darüber, wir wollen ja so offen wie möglich sein, trotzdem sind das Sachen, die du brauchst, wie sich immer wieder zeigt.

B: Ja und so eine Art Freude am Lernen durch die Interaktion mit den konkreten Menschen in der Gruppe. Was ein ganz anderes Lernen ist, als aus Büchern.

A: Ja, das ist auch persönliches Wachstum, eines unserer gemeinsamen Ziele. Und das passiert auf jeden Fall. Du wirst herausgefordert durch so eine Gruppe und du entwickelst dich auch weiter.

Und was sich immer wieder zeigt, bei allen von uns: Egal wieviel du reingibst, dass du dir mehr rausnimmst, als du reingegeben hast, das fällt allen unheimlich schwer. Geld für irgendwas ausgeben ist wesentlich herausfordernder in einer gemeinsamen Ökonomie, als wenn du da alleine für verantwortlich bist.

Was wir auf jeden Fall irgendwann auch haben wollen, so 5 Jahre nachdem wir einen Hof gekauft haben, ist für Rentenansprüche zu sorgen. Sodass, wenn du mal rausgehst, die Lebenszeit nicht „verloren“ ist, weil ja in der Kommune auch für dich gesorgt worden wäre. Aber gerade jetzt in der ersten Zeit ist es schon ein Projekt, wo du auch Lust haben musst, Zeit und Geld reinzustecken, was aufzubauen. Und das ist schon so die Frage, ob das gut ist oder nicht, wenn es wirklich die produktivsten Jahre deines Lebens sind. Das sollte man sich gut überlegen. Das ist auch was, was uns immer wieder beschäftigt, gerade wenn wir Kennnenlernentreffen machen.

FA!: Was ist so euer Fazit nach einem Jahr gelebter gemeinsamer Ökonomie?

B: Ich bin da eher der Falsche der quakt, eigentlich sollte ich zuhören. Also mein Fazit ist, eher noch mal ein Stück zurück rudern und überlegen, mit wem und wie vielen Leuten so was gehen kann. Und v.a., wie kann es auch gehen, ohne dass es organisatorisch sehr viel Zeit und Gedankenkapazität wegnimmt, die man auch für was anderes gebrauchen kann. Weil, Muße ist auch ein Wert, der auch zu kurz kommt, wenn man als Kommune sehr viel Wert auf das Ökonomische legt. Auf der anderen Seite sind mir aber viele spirituelle Kommunen auch zu diffus. Muße wäre aber auch für mich was Wichtiges, wo ich bisher noch keinen Weg gefunden habe, wie es sich vereinbaren lässt. Aber grundsätzlich im Leben ist es natürlich ganz wichtig zu teilen. Da will ich auch hin.

A: Wir haben gemeinsame Ökonomie ja gestartet auf dem Weg zur Kommune. Und ich musste irgendwann realisieren: Eigentlich sind wir ja schon eine Kommune. Wir entscheiden basisdemokratisch und teilen unser Geld. Wir sind ja jetzt auch Mitglied im kommuja-Netzwerk, dem Netzwerk der politischen Kommunen in Deutschland. Aber für mich ist es gefühlt immer noch ein „auf dem Weg sein“. Deshalb ist es auch schwierig ein Fazit zu ziehen. Was ich merke: es erfüllen sich immer mehr Aspekte und ich begreife immer mehr. Aber was mir natürlich noch fehlt, ist dieses Bleibende zu schaffen, der Hofkauf wäre so ein Schritt. Das gemeinsame Arbeiten und die gemeinsame Ökonomie bringt eine Pflanze hervor, die wächst. Das ist was, was mir Spaß macht. Ziel ist es, irgendwann Kollektivbetriebe aufbauen und einen Hof haben, den wir ausbauen, so dass das Gemeinsame etwas hervorbringt, was größer ist als die Gruppe. Wenn wir irgendwann mal aufhören Miete zu bezahlen, sondern einen Kredit abbezahlen und mit der gemeinsamen Anstrengung jeden Monat was schaffen, das würde sich noch besser anfühlen. Insofern fühlt es sich für mich immer noch wie eine Übergangsphase an, zu dem, was wir eigentlich wollen. Obwohl wir schon eine Kommune sind.

FA!: Danke für das Interview!

[momo]

 

Wer mehr von der Luftschlosserei wissen mag oder mitmachen will: http://luftschlosserei.org/. Einfach mal Kontakt aufnehmen.

(1) KGB-Getränkekollektiv: http://kgb-leipzig.blogspot.de

Kein Gott, kein Herr

Für einen nicht-religiösen Anarchismus

Sicher, Anarchismus ist ein Nischenthema, und „christlicher Anarchismus“ noch viel mehr – eine Nische in der Nische sozusagen. Das Folgende dürfte also für Außenstehende ein wenig wie eine Auseinandersetzung zwischen „judäischer Volksfront“ und „Volksfront von Judäa“ anmuten. Aber in Zeiten, wo wir einerseits von selbsternannten Verteidiger_innen des christlichen Abendlandes genervt werden und andererseits islamistische Attentäter wegen „blasphemischer“ Karikaturen Mordanschläge begehen, ist es nicht verkehrt, sich ein paar Gedanken zum Thema Religion zu machen. Und manche Debatten müssen eben auch mal etwas länger geführt werden. Das ist allemal besser, als sie gleich in einem großen Bottich aus Toleranz und Pluralismus zu ersäufen.

Gerade, wenn über Religion diskutiert wird – wie in der Feierabend!-Redaktion beim Thema „christlicher Anarchismus“ (vgl. FA! #51 und #52) –, kommen häufig solche Forderungen nach Toleranz dabei heraus: „Man muss doch über alles reden können, oder?“ Gegen wechselseitige Verständigung ist natürlich nichts einzuwenden, allerdings führen solche „Man muss doch…“-Aussagen meist zielgenau dahin, dass gar nicht mehr geredet wird. Vielmehr wird vom ursprünglichen Thema auf eine Meta-Ebene abgewichen: Statt sich über das diskutierte Thema zu verständigen, verständigt man sich dann darüber, dass man sich ja über alles verständigen kann. Vor lauter Toleranz wird die Debatte beendet, bevor sie begonnen hat.

Wie gesagt, gerade wenn es um Religion geht, passiert das öfter. Über „Gott“ lässt sich eben nicht sinnvoll debattieren, weil dieser – unabhängig davon, ob er nun existiert oder nicht – jedenfalls nicht als Fakt existiert, der sich überprüfen ließe und zwischenmenschlicher Verständigung zugänglich wäre. Aus genau diesem Grund versacken Debatten über Religion so leicht in wohlmeinendem Relativismus, nach dem Motto: Weil wir alle die „letzte Wahrheit“ ohnehin nicht kennen, sollten wir tolerant sein und z.B. religiösen Überzeugungen nicht allzu vehement widersprechen. Wobei das Argument hinkt, denn der Anspruch, sinnvolle Aussagen über irgendeine „letzte“ oder „absolute Wahrheit“ machen zu können, wird ja ziemlich einseitig, eben von Seiten der Religion, erhoben. Und wenn tatsächlich „wir alle“ die letzte Wahrheit nicht kennen, ist klar, welche Seite falsch liegt – nämlich die, die etwas anderes behauptet.

Demgegenüber werde ich im Folgenden versuchen, möglichst einseitig zu argumentieren – da ich nur eine einzelne Person bin, kann ich ohnehin nicht „pluralistisch“ sein. Ich bemühe mich dabei, meinen Standpunkt möglichst schlüssig und präzise darzulegen, damit alle anderen mich möglichst präzise kritisieren können, wenn sie das für nötig halten.

Christlicher Anarchismus – gibt’s das überhaupt?

Ich will an dieser Stelle die allgemeinen Vorüberlegungen beenden und mich dem eigentlichen Thema zuwenden. Eine naheliegende Frage zuerst: Wenn der Anarchismus tatsächlich „eine politische Haltung jenseits von jedem Dogmatismus“ ist, wie verträgt er sich dann mit Religion, die ja auf Dogmen, also Glaubenssätze, nicht verzichten kann? Überhaupt nicht, könnte man sagen. Wobei das Argument natürlich schwach ist: Dass man „jenseits von jedem Dogmatismus“ stünde, behaupten so ziemlich alle politischen Vereine von sich – auch die CDU ist total „undogmatisch“ und „fern von jeder Ideologie“.

Ich will die Frage also etwas anders akzentuieren: Wenn der Anarchismus vor allem ein politische Haltung ist, kann es dann so etwas wie einen religiösen Anarchismus überhaupt geben? Oder nochmal anders gefragt, denn der Gedanke ist sicher nicht unmittelbar eingängig: Gehen die beiden Elemente, die da in dem Begriffspaar des „christlichen Anarchismus“ scheinbar flüssig und widerspruchsfrei aneinander gekoppelt werden, wirklich so sauber inein­ander über, wie es die Sprache suggeriert? Und wenn nicht: Wie stellt sich die Beziehung von Christentum und Anarchismus dann dar, in welchem Verhältnis stehen diese beiden Elemente zueinander?

Polemisch ließe sich sagen: Es gibt natürlich Christ_innen, die in politischer Hinsicht eine anarchistische Position vertreten (und diese eben christlich „begründen“). Das ergibt dann anarchistische Christ_innen, aber noch lange keinen „christlichen Anarchismus“. Die Verbindung ist eben ziemlich einseitig: Auch für religiöse Menschen ist es unvermeidbar, dass sie sich irgendwie zur Welt und zur sie umgebenden Gesellschaft verhalten, also eine politische Position einnehmen, die dann unter Umständen anarchistisch ist. Nur gibt es umgekehrt keinen Grund, eine politische Position wie den Anarchismus religiös zu begründen – außer, mensch ist eben zufällig religiös.

Ich will das anhand eines Beispiels erläutern, dass immer wieder gern bemüht wird, um aus der Bibel heraus eine antikapitalistische Haltung zu „begründen“ – ich meine das bekannte Zitat: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein reicher Mann ins Himmelreich kommt.“ Das läuft zunächst mal auf ein reines Autoritätsargument hinaus: Seht hier, auch Jesus hat gesagt, dass Reichtum schlecht ist! – wobei dann der Name „Jesus“ als Begründung für die Sinnhaftigkeit der Aussage „Reichtum ist schlecht“ herhalten soll. Bei der CSU mag das ja als Argument durchgehen. Anarchist_innen sollten solchen Quatsch lieber unterlassen, weil es eben auch generell Quatsch ist: Die Aussage muss schon für sich selbst sinnvoll und schlüssig begründet sein, sonst hilft auch Jesus nicht weiter. Das gilt bei anderen Autoritäten natürlich genauso. Eine Behauptung von Kropotkin, Marx oder dem Dalai Lama ist auch nur eine Behauptung.

Zweitens: Mal angenommen, dass die Aussage faktisch richtig sei und der liebe Gott tatsächlich ein moralisches Vorurteil gegen reiche Leute hegt – hat das dann für unsere diesseitige, menschliche Existenz irgendeine Bedeutung? Die Frage, ob Bill Gates oder Josef Ackermann in den Himmel kommen, stellt sich ja ohnehin erst, wenn sie tot sind, und da hat sich das Problem ihres Reichtums bereits erledigt. Es mag vielleicht einer ominösen göttlichen „Gerechtigkeit“ dienlich sein, wenn Gates und Ackermann zu ewiger Verdammnis verurteilt würden. Aus menschlicher Sicht macht es keinen Unterschied – der Herrgott könnte sich dieses sinnlose Nachtreten also auch sparen.

Aber wir bewegen uns hier im Bereich der Spekulation, und eine solche spekulative Letztbegründung braucht es gar nicht, um den Kapitalismus kritisieren zu können. Die naheliegendste, nicht religiöse, sondern politische Begründung reicht vollkommen aus: Kapitalismus ist schlecht, weil er auf uns schlechte Auswirkungen hat, weil er uns das Leben in der Welt unnötig schwer macht. Weil er uns von den materiellen Gütern ausschließt, die wir zum Leben brauchen bzw. sie uns nur gegen Bezahlung zugänglich macht. Weil er uns zu sinnloser Arbeit zwingt, uns wertvolle Zeit und Kraft raubt usw. Wenn wir unter den Verhältnissen leiden, dann brauchen wir keine übergeordnete moralische Instanz, die uns ein „Recht“ darauf verleiht, diesen Zustand als unangenehm zu empfinden.

Die Frage nach „dem Wesen“

Für einen Anarchismus, der sich in Prinzipienerklärungen und moralischen Postulaten erschöpft, mag natürlich auch die Bibel eine brauchbare Fundgrube bieten. Die Frage ist aber, ob das irgendeinen Erkenntnisgewinn bringt. So mag, wie Sebastian Kalicha schreibt (1), „in den Evangelien eine ablehnende Grundhaltung gegen materiellen Reichtum, gegen Reiche an sich und die Ungerechtigkeit, die dies hervorbringt“ vorherrschen – über den Kapitalismus ist damit noch nichts gesagt, den gab es vor 2000 Jahren auch noch gar nicht.

Und wie kommt mensch denn überhaupt dazu, die Bibel „kapitalismuskritisch“ oder „anarchistisch“ zu interpretieren? Muss mensch dafür nicht vorab schon ein wenig Kapitalismus- und Staatskritik geübt haben? Die Bibel lässt sich ja offensichtlich ganz verschieden interpretieren, wenn sowohl „christliche Anarchist_innen“ als auch solche konservativen bis faschistoiden Vereine wie Opus Dei oder die Pius-Bruderschaft, sowohl Pazifist_innen als auch George W. Bush jeweils passende „Begründungen“ daraus ziehen können. Natürlich kann man sich jeweils die Rosinen aus dem Text herauspicken, also die Bibelstellen, welche die eigenen Überzeugungen zu unterstützen scheinen – aber welche Textstellen das sind, hängt allemal von den eigenen Überzeugungen ab.

Wir berühren hier die heikle Frage nach dem „Wesen“ des Christentums, mit der offenbar auch viele Anarchist_innen so ihre Schwierigkeiten haben. So z.B. in der Sonderausgabe der Direkten Aktion, die dem Schwerpunktthema „Religion“ gewidmet war. In einer Art Einleitungstext schrieb dort ein DA-Autor: „Es stellt sich aus progressiver Warte also die Frage, ob Religion wirklich etwas per se Schlechtes ist. Sicher: würde man diese Frage anhand von ultraorthodoxen FundamentalistInnen beantworten, so wäre die Antwort ziemlich eindeutig. Doch ist das wirklich ein beispielhafter Ausdruck von Religion oder nur ein Zerrbild oder ein Spiegel der Gesellschaft? Es ist nicht nur schwer, ein so komplexes Thema einzufangen und zu beurteilen, es ist schier unmöglich. Die vielen Verknüpfungen mit linker Geschichte machen die Suche nach dem Wesen der Religion nicht einfacher und eine Positionierung dazu erst recht nicht. Religion ist autoritär und befreiend, offen und verschlossen. Neben dem individuellen Glauben sind die Werte entscheidend, die transportiert werden, und die die Religion zu mehr werden lassen als rituelles Beten.“ (2)

Dazu wäre Einiges zu bemerken. Zunächst mal kritisiert Religionskritik nicht einzelne religiöse Menschen (auch wenn diese das anders empfinden mögen, sofern sie die Religion als Teil ihrer „Identität“ begreifen). Die Sache ist auch gar nicht so kompliziert: In konservativen Milieus herrscht sicher auch eine konservative, rigide Vorstellung von Religion vor. Demgegenüber haben sympathischere Menschen dann auch sympathischere Vorstellungen von Gott oder von der Religion – das spricht dann für die jeweiligen Menschen, aber nicht für Gott oder die Religion.

Zweitens ist die Frage nach „dem Wesen der Religion“ falsch gestellt – „das Christentum als solches“ ist eine Abstraktion, die sich in der Realität genauso wenig auffinden lässt wie z.B. „das Säugetier schlechthin“. Damit will ich natürlich Christ_innen nicht ihre Menschlichkeit absprechen. Ich wähle nur ein absichtlich banales Beispiel, um die verschiedenen logischen Ebenen zu unterscheiden, die der Autor im oben zitierten Text recht umstandslos durcheinanderwirft. In der Realität lassen sich natürlich haufenweise Säugetiere finden (Hunde, Katzen, Schabrackentapire usw.), aber „das Säugetier“ ist nur die abstrakte Oberkategorie, unter die alle diese Tiere sortiert werden, weil sie bestimmte Merkmale miteinander teilen. In ähnlicher Weise ist auch „das Christentum“, „der Islam“ nur eine Abstraktion, eine Oberkategorie, die aufgrund bestimmter gemeinsamer Merkmale (Glaubenssätze, Rituale usw.) gebildet wird. „Das Christentum“ wird sich real nicht finden lassen, sondern immer nur „dieses Christentum“, das Christentum in bestimmten, historisch und sozial geformten Ausprägungen.

In diesem Sinne ist es dann auch unsinnig zu sagen, der Islamismus habe mit „dem Islam“ nichts zu tun, oder umgekehrt: der Islam als solcher sei gewalttätig. Der Islam „als solcher“ ist weder gewalttätig noch friedfertig – nur die Gläubigen verhalten sich, je nachdem, gewalttätig oder friedfertig. Eine abstrakte Kategorie ist als solche gar nicht in der Lage, sich irgendwie zu „verhalten“.

An diesen ersten logischen Fehler schließt sich unmittelbar ein zweiter an, nämlich der, Christ_innen immer nur als solche zu betrachten, als ob sie eben nur Christ_innen wären und nicht auch z.B. Lohnarbeiter_innen in einer Fabrik, Teil einer Familie, alleinerziehend, jung oder alt, arm, reich, oder was es eben sonst noch an Merkmalen geben kann. Auch wenn wir die Religion grundsätzlich als Irrtum betrachten (wie gesagt, ich bemühe mich, möglichst einseitig zu argumentieren), wäre immer noch zu fragen, welche Rolle dieser Irrtum für die einzelnen Menschen spielt. Ein „christlicher“ Unternehmer und ein „christlicher“ Lohnarbeiter haben vielleicht bestimmte Glaubenssätze gemeinsam, so wie sie auch ganz allgemein das Menschsein gemeinsam haben. Für die Frage, wie sie sich z.B. bei einem Streik positionieren, spielt das keine Rolle – es sagt nichts über „das Wesen des Christentums“, wenn ein christlicher Lohnarbeiter streikt.

Ein langer Umweg und ein kurzes Fazit

Auch der Autor des oben zitierten Artikels verfällt, obwohl er der Religion eher kritisch gegenüber steht, letztlich dem gleichen Irrtum wie die Gläubigen selbst: Diese neigen natürlich dazu, so ziemlich alle ihre Handlungen religiös zu begründen. Das heißt aber nicht notwendig, dass sie tatsächlich aus religiösen Gründen handeln.

Wobei die religiöse Letztbegründung im besten Falle überhaupt nichts begründet – so wie im folgenden Zitat, das einem Artikel in der Graswurzelrevolution (3) entnommen ist: Der Verfasser lehnt dabei als „christlicher Anarchist“ zunächst mal die Anschauung ab, Gott sei eine übergeordnete, fremde Autorität. Nach seinen Worten ist Gott „kein fremdes Subjekt, das mich von außen bestimmen will“, vielmehr wolle er „das Gute für seine Schöpfung“: „Das ist ein Kriterium, an dem sich nach christlichem Selbstverständnis alles menschliche Verhalten und alle denkbaren staatlichen, kirchlichen, religiösen und sonstige Vorschriften messen lassen müssen. Und dies lässt die Frage inhaltlich offen, was das Gute für die Schöpfung – nämlich für mich, die anderen Menschen und die Natur – sei. Und dass diese Frage offen bleibt, ist gut so, ermöglicht doch genau das die Freiheit, sich immer wieder neu der Wirklichkeit zu stellen und so immer wieder neu sein Verhalten zu bestimmen. Diese Freiheit ist zutiefst antiideologisch und antihierarchisch.“

Da haben wir wieder etwas gelernt: Christ_innen sind also für „das Gute“. Das haben sie allerdings mit dem gesamten Rest der Menschheit gemeinsam, wenn man mal von der verschwindend kleinen Minderheit der orthodoxen Satanisten absieht. Wobei dem Autor das Gute selbst offenbar noch nicht gut genug erscheint. Jedenfalls braucht er noch eine zusätzliche Rechtfertigung dafür, dass er das Gute für gut hält – nämlich „Gott“. Weil dieser „das Gute für seine Schöpfung“ will, findet auch der Verfasser das Gute gut. Nach dieser komplizierten ideologischen Übung können wir dann „zutiefst unideologisch“ selber schauen, was gut für uns ist.

Viel Erkenntnisgewinn kommt bei dem ganzen Vorgang also nicht heraus: Der Autor endet mit großem Umweg an genau dem Punkt, wo man anfangen könnte, eine sinnvolle Debatte zu führen – zum Beispiel darüber, was für uns gut ist und warum es gut ist, was für politische Ziele sich daraus ableiten und welche Möglichkeiten wir haben, um diese zu erreichen. „Gott“ hilft uns in dieser Beziehung nicht weiter, und in diesem Sinne ist auch ein „christlicher Anarchismus“ schlicht überflüssig.

justus

 

(1) zitiert nach Sebastian Kalicha (Hg.), “Christlicher Anarchismus – Facetten einer libertären Strömung”, Verlag Graswurzelrevolution, Münster 2014, S. 33.

(2) https://www.direkteaktion.org/218/bad-religion

(3) zitiert nach Sebastian Kalicha, “Christlicher Anarchismus”, a.A.o., S. 80.

Weder Opfer noch fehlgeleitete Genossen!

Über den Gebrauch „soziologischer“ Erklärungen im militanten Milieu

[Der folgende Artikel erschien zuerst auf der französischen Webseite www.mondialisme.org (1), die als gemeinsame Plattform von verschiedenen libertären Zeitschriften genutzt wird. Hoffentlich ist es auch für unsere Leser_innen interessant, welche Debatten unter französischen Anarchist_innen nach den Anschlägen in Paris geführt werden. Zu bemerken ist hier, dass sich der französische Kontext in einigen wichtigen Punkten vom deutschen unterscheidet. So ist die hier vertretene Position sicher nicht repräsentativ für die libertäre Bewegung in Frankreich. Das betrifft vor allem die Kritik an linkem Antisemitismus und Antizionismus. Wobei mondialisme.org nichts mit dem antideutschen Irrationalismus zu tun haben, und sich auch nicht als freischaffende Geostrategen an irgendwelche Staatsmächte ranschmeißen – das hier sind eben working-class-Anarchist_innen, keine übereifrigen Antifa-Kids oder frustrierte ehemalige K-Grüppler…

Manche Seitenhiebe auf „Globalisierungskritik“, „post-koloniale Theorien“ usw. mögen ein wenig platt wirken oder müssten jedenfalls weiter erläutert werden – sie beziehen sich aber auf ältere Texte, die auf mondialisme.org erschienen sind, wo diese Themen ausführlicher behandelt wurden. Die (relativ umfänglichen) Original-Fußnoten haben wir entfernt und durch eigene ersetzt – wo sich Zusatzinformationen ohne Probleme in den Text einfügen ließen, haben wir das getan (erkennbar an den eckigen Klammern).

Eine letzte Anmerkung vorab noch zum hier benutzten Begriff des „religiösen Faschismus“, da dieser leicht allerlei Missverständnisse und Kurzschlüsse hervorrufen kann. Dies ist auch dem Autor selbst bewusst, der in einer Fußnote dazu Folgendes erklärt:

„Der Ausdruck ‚religiöser Totalitarismus’ ist unbefriedigend, und ich nutze ihn nur in Ermangelung eines ausgefeilteren Konzepts. Der Begriff des ‚religiösen Faschismus’ ist ebenso wenig adäquat – allem voran deswegen, weil er zuerst von den neokonservativen Vorkämpfern der Theorie eines ‚clash of civilizations’ in der Debatte verwendet wurde. Ebenso, weil auch jene Linken, die diesen Begriff benutzen (etwa die iranische und irakische kommunistische Arbeiterpartei, oder neuerdings einige Anarchist_innen), ihn einerseits niemals präzise definiert haben und andererseits davon auszugehen scheinen, dass die islamische Religion weitaus gefährlicher als andere Religionen sei – wobei alle Religionen gleichermaßen abzulehnen sind.“

Auch hier wird der Begriff des religiösen „Faschismus“ bzw. „Totalitarismus“ vor allem polemisch benutzt – es handelt sich natürlich auch um einen polemischen Text. Als solcher taugt er hoffentlich als Denkanstoß und vielleicht zur Eröffnung weiterführender Debatten. – die FA!-Red.]

In einer Kolumne, die kürzlich in der Zeitung Le Monde erschien, verglich [der Politikwissenschaftler] Olivier Roy die Revolten der extremen Linken, die in den 70er Jahren den bewaffneten Kampf praktizierten, mit den europäischen Djihadisten des 21. Jahrhunderts. Wenn dieser Vergleich rein pädagogische Zwecke hat, kann man ihm sicher zustimmen … unter der Bedingung, dass zugleich betont wird, wo die Grenzen dieses Vergleichs liegen.

Angesichts der derzeitigen anti-muslimischen Paranoia kann es nützlich sein, den Europäer_innen in Erinnerung zu rufen, dass auch sie selbst, in gewissen Momenten der Geschichte, sich für hochgespannte politische Anliegen begeistern konnten, auch in der Weise, dass sie sich dafür bewaffneten und bereit waren, ihr Leben für ihr Ideal zu opfern. Dabei muss aber bemerkt werden, dass weder die „antifaschistischen“ Ideale der 30er Jahre, beim Kampf gegen Franco, noch die „anti-imperialistischen“ oder „anti-kapitalistischen“ Ideale der 1970er den Tod oder die Zerstörung glorifizierten. Stattdessen

– waren sie mit marxistischen Ideologien verbunden, die zumindest eine einigermaßen rationale Grundlage hatten und in jedem Fall Gegenstand unzähliger Debatten waren, die in voller Freiheit geführt wurden;

– sie forderten weder den Menschenhandel mit Frauen noch die Versklavung ihrer Gegner_innen, weder die Tötung von Kindern noch die Ausrottung dieser oder jener Ethnie als Mittel, der eigenen Sache zum Sieg zu verhelfen;

– sie töteten nicht unterschiedslos alle Zivilist_innen, die ihnen in die Hände fielen;

– sie nahmen die Soldaten des gegnerischen Lagers oder (vermeintliche) Repräsentanten der kapitalistischen Klasse zum Ziel;

– und last but not least bezogen sich die antikapitalistischen Bewegungen auf egalitäre Ideen der Gleichheit zwischen den Menschen, den Völkern, zwischen Männern und Frauen, im Gegensatz zu den faschistischen oder autoritären Bewegungen des letzten Jahrhunderts oder zu den heutigen Islamisten.

Diese Punkte bezeichnen meines Erachtens die fundamentalen Unterschiede und zeigen, wo die Grenzen des von Roy gezogenen Vergleichs liegen. Dennoch finden sich unter jenen Linken und Radikalen, die sich vom Neostalinismus oder der gängigen „Globalisierungskritik“ haben verdummen lassen, auch Leute, die bereit sind, sich mit den heutigen Djihadisten zu „identifizieren“ oder deren Taten verständnisvoll gegenüberstehen. Als Beispiel zitiere ich im Folgenden zwei bezeichnende Stellen aus einer Korrespondenz, die ich mit einer Sympathisantin der radikalen Linken führte. Zu Beginn unserer Diskussion schrieb diese mir: „Wenn diese Frau als Tochter einer armen ‚migrantischen‘ Familie aufgewachsen wäre, isoliert in einem der Banlieues von Paris, stigmatisiert und diskriminiert von der französischen Republik, die ihre Herkunft und ihre Existenz nicht wahrnimmt, von den Männern unterdrückt… dann wäre sie wahrscheinlich auch zur Terroristin geworden.“

Amédy Coulibaly, der an den Morden in dem koscheren Supermarkt in Vincennes beteiligt war, arbeitete für einen amerikanischen multinationalen Konzern [für Coca Cola – d. Red.], war weder arbeitslos noch besonders arm, sondern verdiente ungefähr 2000 bis 2200 Euro monatlich, während von seinen neun Schwestern – Frauen und Migrantinnen, also zweifach diskriminiert – keine einen ähnlichen sozialen Aufstieg schaffte oder sich zur „Djihadistin“ entwickelte.

Erstaunlicherweise fragt sich offenbar niemand , warum etwa die Nachkommen der aus Afrika in die Vereinigten Staaten verschleppten Sklav_innen nicht zu „Terroristen“ geworden sind, sondern stattdessen alle möglichen anderen Mittel ergriffen haben, um gegen die weiße/kapitalistische Unterdrückung zu kämpfen – von der bewaffneten Selbstverteidigung, der Gründung eigener Organisationen und Gewerkschaften bis hin zum gewaltfreien Widerstand. Es ist also offensichtlich, dass es keinen Automatismus gibt, der von der unterdrückten Lage etwa der Sklav_innen und ihrer Nachkommen unvermeidlich zum „Terrorismus“ führt – was die eiligen Soziolog_innen freilich nicht weiter irritiert.

[…] Es ließe sich hinzufügen, dass die soziale Lage derer, die sich selbst als Muslime verstehen, vielfältiger ist, als man glauben könnte. Einer Untersuchung der CEVIPOF (2) zufolge, die im Jahr 2003 durchgeführt wurde, gehören 30% den sog. „intermediären Berufen“ an (Vorarbeiter, Grundschullehrer_innen, Krankenpfleger_innen, Sozialarbeiter_innen usw.), arbeiten im Handel, in handwerklichen Berufen oder der höheren Verwaltung. Diese Angaben widersprechen den Vereinfachungen derer, die die von Merah, Nemmouche, Coulibaly und den Kouachi-Brüdern begangenen Taten mehr oder weniger zu entschuldigen oder zu begründen versuchen, indem sie den Großteil der „Muslime“ als Opfer unerträglicher sozialer und ökonomischer Diskriminierungen darstellen, durch welche sie von der kapitalistischen Gesellschaft geradezu in die Arme der Djihadisten getrieben würden. Auch jene 66% (von denen, die nicht arbeitlos sind), die Arbeiter_innen und Angestellte sind, üben sich nicht täglich in der Handhabung von Kalashnikovs, bevor sie zur Arbeit gehen. Die „Muslime“ (im kulturellen oder religiösen Sinne) sind vollkommen in der Lage zu reflektieren und politische Entscheidungen zu treffen.

Als ich meine Gesprächspartnerin darauf aufmerksam machte, dass sich solche „Opfer des Kapitalismus und des Staats“ nicht nur unter Frauen „ausländischer“ oder migrantischer Herkunft finden ließen, sondern dass es diese auch haufenweise im „eingeborenen“ Proletariat gäbe – bei den italienischen Faschisten, den deutschen Nazis ebenso wie bei den ostdeutschen Neonazis von heute oder der Wählerschaft der Front National – erhielt ich eine Antwort, die gleichermaßen überraschend war, heutzutage aber ziemlich gängig ist: „Ich denke, man kann beide nicht vergleichen – Terroristen, die eine migrantische Herkunft haben und deswegen seit ihrer Geburt diskriminiert wurden, und Leute, die sich vielleicht zu Faschisten entwickeln, weil sie durch die Krise deklassiert worden sind. Der Ausgangspunkt ist einfach nicht vergleichbar. Du weißt genau, dass der soziale Status von migrantischen und ‚einheimischen‘ Arbeiter_innen nie der gleiche war, seit Entstehung des französischen Nationalstaats und seit der Kolonisierung. Diese ‚armen weißen Faschos‘ waren niemals DIE ANDEREN in ihrem eigenen Land, nicht unbedingt, was ihre wirtschaftliche, aber jedenfalls, was ihre soziale Lage angeht.“

DIE ANDEREN, das große Wort ist gesagt. Dieses Wort, das seit Jahrzehnten Verwirrung stiftet – meist zum Nachteil antirassistischer Bemühungen. Vor allem, wenn es eine selbstgenügsame Ideologie der Sorte „Schau, wie offen ich den Fremden gegenüberstehe!“ unterstützt, wie sie bei Salon-Antirassist_innen weit verbreitet ist, den Stadtteil-Vereinen, die von der Politik mit Hinblick auf die nächsten Wahlen gesponsert werden, besserwisserischen Politiker_innen usw..

Das mag im Rahmen einer therapeutischen Behandlung nützlich sein, oder in einer psychologischen Selbsthilfegruppe. Aber es lässt sich nur schwer in politische Begriffe übersetzen. Wenn man dies versucht, landet man nur bei einem kommunalen oder staatlichen Multikulturalismus, der bekanntlich zur Bildung von allerlei Gemeinschaften führt, die sich jede für sich gegen „die Anderen“ abschotten, aber zugleich eine Rhetorik aufrecht erhalten, die zwar mit ihrer Praxis wenig zu tun hat, aber eben nötig ist, damit weiter Subventionen fließen – zur Förderung des „Zusammenlebens“.

Denselben Katalog an soziologischen Erklärungsmustern – „Elend und sozialer Abstieg, Ghettoisierung, struktureller Rassismus, kulturelle Unterdrückung, individuelle und kollektive Stigmatisierung und Demütigung“ usw. – findet man in einem Artikel von Julien Salingue (3), einem Aktivisten der NPA [Nouveau Parti anticapitaliste, eine trotzkistische Partei – Anm. d.Red].

Unser Aktivist fährt folgendermaßen fort: „Die Faktoren, die dazu führten, dass die Kouachi-Brüder und Amedy Coulibaly sich radikalisierten, sind nicht nur in Frankreichs Außenpolitik zu suchen, sondern ebenso (und vor allem) in seiner Innenpolitik. Man könnte sich für einmal mit der ‚elenden Kindheit der Kouachi-Brüder‘ befassen oder – nicht ohne Hintergedanken – erwähnen, dass der beste Freund von Coulibaly 2000 bei einem Raubüberfall von einem Wachmann erschossen wurde. Oder dass derselbe Coulibaly sich 2010 dadurch bemerkbar machte, dass er die Haftbedingungen im Gefängnis Fleury-Mérogis kritisierte. In anderen Worten: Man könnte behaupten, ohne etwas entschuldigen zu wollen, dass es sich bei diesen Anschlägen um sehr französische Anschläge handelt – einen (wenn auch schrecklich verzerrten) Ausdruck eines gewalttätigen Ressentiments gegen ein Gesellschaftsmodell, das nur eine Maschine zur Produktion von Stigmatisierungen und Ungleichheiten ist.“

Es ist bezeichnend, dass Julien Salingue hier die Worte „schrecklich verzerrt“ [im Original. „horriblement déformée“] verwendet. Es handelt sich dabei um einen Ausdruck, der von Trotzkisten immer benutzt wird, um die Diktaturen des real nicht-existierenden Sozialismus´ zu bezeichnen. Für sie sind diese totalitären, der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter_innen dienenden Systeme letztlich „degenerierte Arbeiterstaaten“, die nur irgendwie „bürokratisch deformiert“ wurden. In irgendeiner Weise bleibt darin also etwas Positives erhalten – sie sind ein entfernter, „verzerrter“ Nachhall der Oktoberrevolution. Aber so wie es absolut nichts Positives, nichts „Arbeiterhaftes“, nichts Sozialistisches an diesen stalinistischen Staaten gab, gibt es ebenso nichts Positives an dem genannten „gewalttätigen Ressentiment“ […] Dieses ist, wenn es ein reines Ressentiment bleibt, ebenso die Grundlage aller Faschismen und Diktaturen.

Die Zitate zeigen, wie verheerend sich post-koloniale und anti-rassistischen Theorien, die sich nur auf „rein menschliche“ Anteilnahme stützen und von jeder Klassenfrage abgelöst sind, bei linken Aktivist_innen – vor allem aus dem intellektuellen Mittelschichts-Milieu – auswirken können.

Statt die Verwandtschaft zwischen verschiedenen Formen von Faschismus aufzuzeigen (hier insbesondere religiös begründete „Faschismen“ oder „Totalitarismen“), bringen diese reaktionären Theorien bestimmte linksradikale, auch libertäre Aktivist_innen dazu, sich „soziologische“ Erklärungen zurechtzulegen, die sie ausschließlich für „Migranten“ (deren Familien mitunter schon seit drei oder vier Generationen in Frankreich leben) vorbehalten, von denen sie aber „franko-französische“ Proletarier ausschließen, die etwa die Front National wählen oder noch klarere Sympathien für den Faschismus hegen.

Trotzdem sollte man nicht vergessen, dass der Faschismus sich nicht nur in Europa verbreitet hat. Auch die nationalen Bewegungen des „globalen Südens“ – von Indien, über Ägypten und Palästina bis hin zum Irak – waren vom italienischen Faschismus und vom deutschen Nationalsozialismus fasziniert. Dies beschränkte sich nicht nur darauf, taktische Bündnisse mit dem Dritten Reich abzuschließen, um die eigene nationale Unabhängigkeit voranzubringen.

Es ist sicher schwierig, den heutigen internationalen, inner- und außereuropäischen Djidahismus mit den Faschisten und Nazis der 30er Jahre zu vergleichen. Aber diese Formen von Faschismus – oder vielleicht besser: diese verschiedenen totalitären Ideologien – lassen sich vergleichen, wozu es freilich noch längerer Studien und Analysen bedarf (solche wurden bislang leider nur von konservativen Historikern im angelsächsischen Sprachraum durchgeführt, die der Theorie vom „Kampf der Kulturen“ folgen).

Dass die bloße Möglichkeit eines solchen Vergleichs von meiner Gesprächspartnerin so hartnäckig bestritten wurde, zeigt einerseits, welch unguten Einfluss „post-koloniale“ Theorien auf die radikale Linke haben, und andererseits, wie schrecklich diese Linke den heutigen global verbreiteten Antisemitismus unterschätzt. Es besteht keinerlei Zusammenhang zwischen den Diskriminierungen, denen Menschen maghrebinischer oder afrikanischer Herkunft in Europa ausgesetzt sind, und der Handlungsweise z.B. von Mohamed Merah, der eine jüdische Schule betrat und kaltblütig drei jüdische Kinder tötete; oder von Amédy Coulibaly, der die Kund_innen eines koscheren Supermarkts erschoss; oder von Mehdi Nemmouche, der Besucher_innen des jüdischen Museums in Brüssel ermordete.

Jene Linken und Anarchist_innen, die „soziologische“ Erklärungen bemühen, um diese Morde zu erklären, die in den letzten Jahren an jüdischen Menschen in Europa begangen wurden, gehen damit völlig in die Irre – man kann den heutigen Antisemitismus in Frankreich und anderswo nicht mit abstrakten, zeitlosen Erörterungen über den Kolonialismus oder den Rassismus erklären. Vor allem nicht in einem Staat, der [unter dem Vichy-Regime – Anm. d. Red.] die Vernichtung von 70.000 Jüdinnen und Juden zuließ und deren Kinder in Internierungslager der französischen Polizei verfrachtete.

Es ist zudem bezeichnend, dass Julien Salingue einen ganzen Absatz in seinem Text darauf verwendet, die sog. „Islamophobie“ (10) anzuprangern, und zugleich die „Morde von Vincennes“ nur in einen Satz erwähnt. Als hätten diese Morde nicht in einem jüdischen Supermarkt stattgefunden, sondern eben nur irgendwo „in Vincennes“, einem Ort ohne weitere besondere Eigenschaften – und als ob er nicht in der Lage wäre, sich mit dem Antisemitismus ebenso auseinanderzusetzen, wie mit der heute herrschenden anti-muslimischen Paranoia! Diese Ignoranz ist in der radikalen Linken und bei „anti-zionistischen“ Anarchist_innen weit verbreitet. So ist auch nicht besonders überraschend, dass Julien Salingue den djihadistischen Antisemitismus nicht zur Kenntnis nehmen will, ebenso wenig wie die religiösen und politischen Wurzeln, die dieser in der arabisch-muslimischen Welt hat.

In seinem Weltbild und in dem von vielen der heutigen postmodern und akademisch geprägten Linken, stellt sich die „Islamophobie“ als unabtrennbarer Bestandteil der kapitalistischen, westlichen, neo-kolonialen Weltordnung dar, wogegen der Antisemitismus nur ein überholtes und letztlich zweitrangiges Vorurteil sei – ein „scheußliches Gift“, wie Salingue sagt, das aber sich aber fast schon verflüchtigt hat und nur noch von Israel, diesem „Brückenkopf des US-Imperialismus“ in manipulativer Absicht ausgenutzt wird. Ignoriert wird, dass auch der Antisemitismus eine mindestens ebenso „strukturelle“ Bedeutung hatte und immer noch hat, sowohl für die kapitalistischen westlichen Gesellschaften als auch die (laut Eigenbezeichnung) „sozialistischen“ Staaten des Ostblocks – und darüber hinaus auch in der Linken seit anderthalb Jahrhunderten gepflegt wurde und wird (11). Die Ju­den „auszu­merzen“ war ein al­ter Wunschtraum nicht nur des christ­lichen Abend­lands. Dieser wur­de En­de des 19. Jahr­hun­derts von der fran­zösischen und deut­schen Rech­ten wieder aufgegriffen, von den Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert, und schließlich, Anfang der 1930er Jahre, auch von bestimmten islamisch geprägten nationalen Befreiungsbewegungen übernommen. Dass es wichtige Unterschiede zwischen diesen reaktionären/totalitären Bewegungen und ihren jeweiligen Ideologien gibt, darf uns freilich nicht blind machen für die offenkundigen Ähnlichkeiten. Die Vertreter_innen des politischen Islams – mindestens in seinen nationalistischen oder djihadistischen Ausprägungen –, welche Attentate auf Jüdinnen und Juden verüben, setzen eifrig fort, was der europäische Faschismus begonnen hat. Sie sind keine „Opfer von Staat und Kapital“, jedenfalls nicht mehr, als irgendein beliebiger Faschist proletarischer Herkunft es ist, welcher – als Anhänger der Chrysi Avgi, der Casa Pound oder der Front National (4) – seine Ideen in die Tat umsetzt, indem er migrantische Arbeiter_innen oder linke Aktivist_innen ermordet.

Einen Unterschied gibt es allerdings: Wenn europäische Faschisten zum Beispiel Arbeiter_innen arabischer, kabylischer, afrikanischer oder pakistanischer Herkunft töten, würden linke Aktivist_innen nicht auf die Idee kommen, soziologische Erklärungen zu bemühen, um „Verständnis“ für solche Morde zu fördern. Ich sehe keinen Grund, solche politischen Morde, seien sie antisemitisch oder nicht, mit zweierlei Maß zu messen, nur weil sie in einem Fall von Menschen begangen wurden, deren Eltern oder Großeltern aus dem „globalen Süden“ stammten. Ein „Faschist“ oder ein Vorkämpfer des religiösen Totalitarismus bleibt ein politischer Gegner, egal, was seine Herkunft ist oder welchen Diskriminierungen er ausgesetzt war.

Y.C., Ni patrie ni frontières, 25. 01. 2015

(1) www.mondialisme.org/spip.php?article2236

(2) Centre de recherches politiques de Sciences Po, dt. etwa Zentrum für politische Studien der Politikwissenschaften. 1960 gegründet mit Sitz in Paris.

(3) vgl. resisteralairdutemps.blogspot.fr/2015/01/tueries-charlie-hebdo-et-porte-de.html

(4) Chrysi Avgi: Goldene Morgenröte, griechische faschistische Partei. Casa Pound: italienisches Neonazi-Netzwerk. Der Name bezieht sich auf ein Haus, das 2003 in Rom von Faschisten besetzt wurde und seither als Hauptquartier dient.

Der lange Sommer der Autonomie (Teil 6)

Operaismus für Anfänger_innen

 

Im „Heißen Herbst“ von 1969 schien Italien kurz vor einer Revolution zu stehen. Eine Welle von wilden Streiks, deren Epizentrum die Fabriken des Autokonzerns FIAT in Turin waren, erschütterte die herrschende Ordnung. Dies habe ich im vorletzten Teil dieser Artikelreihe beschrieben. Im letzten Heft habe ich mich dann vor allem mit der feministischen Gruppe Lotta Femminista beschäftigt. Indem sie auch die „revolutionären“ linksradikalen Großorganisationen – wie z.B. Potere Operaio und Lotta Continua – einer systematischen Kritik aussetzten, spielten gerade die Feministinnen eine wichtige Vorreiterrolle bei der Entstehung der neuen neuen autonomen Bewegung der 1970er Jahre.

Mit eben dieser neuen Bewegung, der „Autonomia“, die 1977 erneut eine politische Krise von ungeahnten Ausmaßen hervorrufen sollte, werde ich mich nun im letzten Teil dieser Reihe befassen. Genauer gesagt, soll hier gezeigt werden, wie die operaistischen Theoretiker_innen versuchten, diesen neuen Zyklus von sozialen Kämpfen zu erfassen und verständlich zu machen. Einen ersten Eindruck davon, wie schwierig das war, mag diese Äußerung des operaistischen Historikers Sergio Bologna geben: „Die 1977er Bewegung […] war eine neue und interessante Bewegung, da sie erstens nicht wirklich Wurzeln in vorhergehenden Bewegungen hatte, oder falls sie sie hatte, auf eine vielschichtige Art und Weise. Sie hatten eindeutig eine andere soziale Basis, die sich von jener der Bewegungen von 1968 und 1973 unterschied. Ihre soziale Zusammensetzung basierte auf einer Jugend, die mit den politischen Eliten, inklusive den Eliten von 1968, also auch mit den Gruppen wie Lotta Continua und selbst der Autonomia Organizzata gebrochen hatte oder sie zurückwies. […] Sie brach völlig mit der Vision des Kommunismus, während letztlich auch der Operaismus von sich dachte, er sei der Vertreter des ‘wahren Kommunismus’. Die 77er Bewegung wollte absolut nicht der ‘echte Kommunismus’ sein.“ (1)

Die neue Bewegung bewegte sich also einerseits in den Fluchtlinien der Klassenkämpfe von 1969, aber zugleich taten sich neue Konfliktfelder auf und neue Akteure traten auf den Plan – die feministische Bewegung habe ich bereits erwähnt, hinzu kamen Jugendliche, Arbeitslose und prekär Beschäftigte, Hausbesetzer_innen usw. Auf die Frage, wie sich diese vielfältige Bewegung begrifflich erfassen ließe, fanden die operaistischen Theoretiker_innen recht unterschiedliche Antworten, wobei ich hier beispielhaft zwei davon behandeln will: den bereits erwähnten Sergio Bologna sowie Antonio Negri.

Beide teilten eine lange gemeinsame Geschichte (beide waren bei der Organisation Potere Operaio aktiv gewesen, Negri hatte dort zeitweilig den Posten des Generalsekretärs inne), entwickelten sich aber von da aus in sehr unterschiedliche Richtungen – polemisch gesagt, vertrat Bologna den „rationalen“ Flügel der operaistischen Bewegung, während Negri eher den „irrationalen“ verkörperte. Nach der Auflösung von Potere Operaio 1973 begründete Sergio Bologna die Zeitschrift Primo Maggio („Erster Mai“) mit. Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf seinen Text „Der Stamm der Maulwürfe“ (2), der im Frühjahr 1977 in Primo Maggio veröffentlicht wurde. Im Anschluss daran werde ich mich dann Negris Geschichtsphilosophie und dem von ihm entdeckten neuen Klassensubjekt des „gesellschaftlichen Arbeiters“ widmen.

 

Bezahlt wird nicht!

 

Das italienische Kapital und der Staatsapparat sahen sich durch die Klassenkämpfe von 1969 bis 1973 unter Druck gesetzt. Während die sozialen Kämpfe „von unten“ weitergingen, versuchte man „von oben“ demgegenüber das System neu zu strukturieren und die allgemeine „Krise“ zu lösen. Soweit es die Politik betraf, liefen diese Versuche auf eine Neuordnung des Parteiensystems hinaus vor allem auf eine stetige Annäherung zwischen der PCI (der kommunistischen Partei) und der christdemokratischen Regierungspartei DC, die bis dahin alles getan hatte, um die Kommunisten von der Macht fernzuhalten. Vor allem der DC-Politiker Aldo Moro bemühte sich, diesen „historischen Kompromiss“ zustande zu bringen.

In ökonomischer Hinsicht machten sich ab 1974 die Folgen der sogenannten „Ölkrise“ auch in Italien bemerkbar. Das Kapital nutzte die Krisensituation in seiner Weise – so bot die Inflation eine Möglichkeit, über Preissteigerungen die von den Arbeiter_innen erkämpften Lohnzuwächse abzufangen (in manchen Industriezweigen hatten zuvor die Belegschaften mit ihren Streiks Lohnerhöhungen von 25% pro Jahr durchsetzen können). Zugleich betrieb die christdemokratische Regierung eine rigide Austeritätspolitik und erhöhte u.a. die Gebühren für Strom, Wasser und Telefongebühren.

Dies führte – zusammen mit den allgemein steigenden Lebenshaltungskosten – zu neuen Unruhen, einer landesweiten Bewegung, die sich neuer Aktionsformen bediente. Den Anfang machten dabei die Arbeiter_innen der FIAT-Werke in Turin. Nachdem zwei lokale Busgesellschaften beschlossen hatten, die Fahrpreise um 20 bzw. 50% zu erhöhen, kam es zum Protest, der auch von den Gewerkschaften unterstützt wurde. Die Zahlung der neuen Preise wurde kollektiv verweigert, stattdessen fuhr in jedem Bus ein Gewerkschaftsmitglied mit und kassierte von den Arbeiter_innen (gegen Quittung) die alten Fahrpreise ein – dieses Geld wurde dann gesammelt an die Busgesellschaften überwiesen. Nachdem sich auch die FIAT-Konzernleitung einschaltete und Druck ausübte, kehrten die Busgesellschaften zu den alten Preisen zurück (4).

Indem sie so auf das Mittel der „direkten Aktion“ setzten, zeigten die Gewerkschaften auch, dass sie aus den Erfahrungen des „Heißen Herbstes“ gelernt hatten. Der Protest in Turin erwies sich jedenfalls als beispielgebend: Ähnliche Praktiken der „eigenmächtigen Herabsetzung“ (autoriduzione) fand bald in vielen, vor allem norditalienischen Städten massenhafte Anwendung. Nicht nur wurden in Städten wie Rom, Mailand und Neapel tausende Häuser besetzt. Zugleich entwickelte sich eine breite Bewegung der Mieter_innen, welche die überhöhten Mieten zurückwiesen und eigenmächtig reduzierten.

Auch als Mittel, um sich gegen die Erhöhung der Strom- und Telefongebühren zu wehren, war die „eigenmächtige Herabsetzung“ sehr beliebt. In Rom wurden diese Kämpfe von Aktivisten der autonomen Szene unterstützt, von denen relativ viele bei den städtischen Elektrizitätswerken beschäftigt waren – wenn wegen der Zahlungsverweigerung irgendwo der Strom abgestellt worden war, kamen sie vorbei und setzten die Stromversorgung wieder in Gang. In denselben Zusammenhang gehörten auch der „proletarische Einkauf“, wie er im Oktober 1974 in Mailand erstmals praktiziert wurde, wo eine Gruppe von wütenden Hausfrauen einen Supermarkt stürmte und die Herausgabe von Waren zu reduzierten Preisen erzwang.

 

Die Rolle der kleinen Fabriken

 

Die wirtschaftliche Krise trug aber noch in anderer Weise dazu bei, dass sich das Terrain der Kämpfe verlagerte. So wurden einerseits eine ganze Reihe von Fabriken geschlossen oder zeitweise stillgelegt. Zugleich schossen Unmengen an kleinen „Klitschen“-Betrieben aus dem Boden. Das Textilunternehmen Benetton war dabei besonders innovativ, indem er gleich seine gesamte Produktion an solche formell unabhängige Kleinunternehmen übertrug – wobei freilich der „Mutterkonzern“ nach wie vor eine sehr direkte Kontrolle z.B. über die Arbeitsgeschwindigkeit an den Fließbändern ausübte.

Während diese Klitschenbetriebe zunehmend das Bild der italienischen Wirtschaft bestimmten, änderte sich zugleich die Zusammensetzung der Arbeiterschaft. So waren in diesem Sektor überproportional viele Minderjährige und Jugendliche beschäftigt, ebenso sehr viele weibliche Arbeitskräfte. Die wenigsten von diesen war gewerkschaftlich organisiert – überhaupt ließen sich viele gewerkschaftliche Methoden, die in der Großfabrik wunderbar funktionierten, in den Kleinbetrieben kaum anwenden.

Diese Umstrukturierung der Produktion und die Umschichtung der Arbeiterschaft stellte aber keineswegs nur eine „von oben“, von Seiten des Kapitals betriebene Strategie dar. Für viele proletarische Jugendliche war die selbstgewählte Prekarität und die zeitweilige, immer wieder unterbrochene Beschäftigung in Teil-, Saison- oder Schwarzarbeit auch ein Mittel, sich gewisse Freiheiten zu sichern – eine Festanstellung in der Fabrik stellte schließlich kaum eine wünschenswerte Perspektive dar. Die autonome Szene in Bologna baute sogar eine Art selbstorganisierte Arbeitsvermittlung auf. Die Arbeitssuchenden der Region wurden in einer Liste erfasst, und dann die Stadtverwaltung (die damals von der kommunistischen Partei gestellt wurde) dahingehend unter Druck gesetzt, dass sie entsprechende Jobs vergab. Arbeit in der Fabrik oder auf dem Bau wurde von den Autonomen dabei prinzipiell verweigert. Zeitweise waren um die 5.000 Personen in dieser Liste organisiert. (5)

Sergio Bologna sah in den kleinen Fabriken ein mögliches Terrain, von dem ausgehend sich eine neue Klassenbewegung entwickeln könnte. Während die Belegschaften der Großbetriebe sich eher still hielten, um angesichts der vielbeschworenen Wirtschaftskrise ihre eigene Position nicht zu gefährden, schien bei den Arbeiter_innen der Klitschen eine größere Konfliktbereitschaft gegeben zu sein. Allerdings wies Bologna auch darauf hin, dass die Kleinbetriebe untereinander große Unterschiede aufwiesen: Unterschiede in der technischen Ausstattung, der Märkte, die jeweils beliefert wurden, des gewerkschaftlichen Organisationsgrades der Belegschaft, zwischen unausgebildeten und schlecht bezahlten Beschäftigten und solchen, die hochspezialisierte anspruchsvolle Tätigkeiten ausübten…

 

Negri und der „gesellschaftliche Arbeiter“

 

Um das Folgende verständlich zu machen, müssen wir uns noch einmal die operaistische Theoriegeschichte, und dort vor allem das Konzept der „Klassenzusammensetzung“ anschauen. Dieses Konzept hatten die Operaist_innen Anfang der 60er Jahre bei ihren „militanten Untersuchungen“ in den Fabriken von FIAT und OLIVETTI entwickelt (siehe FA! #47).

Auch damals befand sich die italienischen Industrie in einer Phase der Umstrukturierung: Durch zunehmende Automatisierung und Ausweitung der Fließbandarbeit wurde die ältere Generation der Facharbeiter unter Druck gesetzt – deren Fähigkeiten und Kenntnisse wurden durch die technische Entwicklung zunehmend überflüssig gemacht. Das brachte auch eine schwere Krise der Gewerkschaften mit sich, deren Mitglieder sich vorrangig aus der Facharbeiterschaft rekrutierten. Das bedeutete freilich nicht, dass nun völlige Ruhe herrschte: Vielmehr kam es um 1960 zu einer ganzen Reihe von wilden Streiks, wobei die Initiative gerade von den ungelernten und nicht gewerkschaftlich organisierten jüngeren Arbeiter_innen ausging. Diese „Massenarbeiter“ – meist junge Männer, die aus dem Süden des Landes in die Industrieregionen im Norden abgewandert waren – standen dann auch im Zentrum des „Heißen Herbstes“ von 1969.

Darauf aufbauend entwickelten die Operaist_innen den Begriff der „Klassenzusammensetzung“, um die Ereignisse analytisch zu fassen. Diesem Konzept zufolge gab es eine bestimmte „technische Zusammensetzung“ des Kapitals, die von oben her, durch eine neuen Organisation der Produktionsabläufe und Einführung neuer Technologie durchgesetzt wurde. Dieser entsprach jeweils auch eine bestimmte „politische Zusammensetzung“ der Arbeiterschaft, ein bestimmtes zentrales Arbeitersubjekt mit spezifischen Formen des widerständigen Verhaltens.Mit diesem Schema ließen sich die Klassenkämpfe der 1960er Jahre ziemlich gut analysieren.

Hier kommen wir zu Antonio Negri: Dieser verpasste dem Konzept einen recht eigenwilligen Dreh und interpretierte es im Sinne einer breit angelegten Geschichtsphilosophie, deren zentrale Annahmen schon Mitte der 60er von Mario Tronti formuliert worden waren (vgl. FA! #49). Für Tronti war „die kapitalistische Entwicklung den Arbeiterkämpfen untergeordnet, sie kommt nach ihnen“ (6). Die Arbeiter_innen waren demzufolge dem Kapital also immer einen Schritt voraus, und dieses konnte nur reagieren, indem es – mittels neuer Technologie und Umstrukturierung – seine Macht wieder herzustellen suchte.

Dieser Prozess lief für Tronti zwangsläufig auf die Revolution hinaus, denn: „Begriff der Revolution und Wirklichkeit der Arbeiterklasse sind […] identisch.“ (7) Die Arbeiter_innen hatten also schlicht keine andere Wahl.

Negri knüpfte daran an, und damit ließ sich die Frage, wie die veränderte Lage Mitte der 70er zu bewerten seien, mit einem einfachen Analogieschluss beantworten: Die Umstrukturierung der Produktion zeigte, dass da eine neue Klassenzusammensetzung am Entstehen war, und somit musste dabei auch eine neue zentrale Arbeiterfigur als revolutionäres Subjekt entstehen – der „gesellschaftliche Arbeiter“, wie Negri ihn nannte. Dieser hätte nicht nur das Erbe des alten „Massenarbeiters“ übernommen, sondern würde es vielmehr auf einem weitaus höheren Niveau fortführen: Die Klassenkämpfe seien nun eben nicht mehr auf die Fabrik beschränkt, sondern würden sich vielmehr über das gesamte gesellschaftliche Territorium ausbreiten. Somit müsse man „die Restrukturierung als Herausbildung eines immer breiteren vereinheitlichenden Potentials von Kämpfen verstehen“. (8) Diese Thesen formulierte Negri Mitte 1975 in seinem Text „Proletari e Stato“ („Proletarier und Staat“) aus.

Sergio Bologna sprach stattdessen vom „zerstreuten Arbeiter“, was nicht nur weitaus vorsichtiger, sondern auch deutlich realistischer war. Realistischer deshalb, weil Diagnose und Prognose nun mal zwei verschiedene Sachen sind – zumal sich eine wirklich revolutionäre Situation nicht einfach so prognostizieren, also aus dem Ist-Zustand ableiten lässt.

Es ist also nicht verwunderlich, dass Negris Thesen auf Widerspruch stießen. So kritisierte Guido De Masi in einem Artikel, der 1977 in der Zeitschrift Primo Maggio erschien, dass Negri letztlich nur „widersprüchliche Bruchstücke sprachlich ver-eindeutigt“, also „die verschiedenen Kämpfe und gesellschaftlichen Situationen (die alle sehr interessant sind, gerade weil sie so verschieden voneinander sind)“ lediglich unter einem gemeinsamem Schlagwort zusammenfasse. Tatsächlich gäbe es kein neues Klassensubjekt, all diese Kämpfe hätten keinen engeren Zusammenhang: „Sie stellen keinen qualitativen Sprung in der Klassenzusammensetzung dar, sondern ihre Desintegration, Punkt und basta.“ (9)

Auch Sergio Bologna zeigte sich eher skeptisch, und wies auf die Widersprüche und Gegentendenzen hin, die bei Negri gar nicht auftauchten: „Es hat viele kleine (oder große) Schlachten gegeben, aber im Laufe dieser Schlachten hat sich die politische Zusammensetzung der Klasse in den Fabriken wesentlich verändert, und zwar mit Sicherheit nicht in die Richtung, die Negri andeutet. Es gibt keine Tendenz zu jener größeren Einheit, von der er redet, das Gegenteil ist der Fall. Der Graben ist tiefer geworden: nicht zwischen Fabrik und Gesellschaft, sondern innerhalb der Fabrik selbst, zwischen der Rechten und der Linken in der Arbeiterklasse. Alles in allem haben die Reformisten die Hegemonie über die Fabriken zurückgewonnen und versuchen, brutal und rücksichtslos die Klassenlinke zu enthaupten und aus der Fabrik zu vertreiben.“ (10)

 

This is not the end…

 

An dieser Stelle schalte ich mal den Zeitraffer ein – eine erschöpfende Geschichte der autonomen Bewegung der 70er Jahre ist auf diesem beschränkten Raum allemal nicht möglich. Das Jahr 1977 brachte, wie erwähnt, eine politische Krise mit sich, in der eine Revolution tatsächlich in greifbarer Nähe zu sein schien. Im Frühjahr des Jahres besetzten autonome Gruppen z.B. die komplette Altstadt von Bologna – der kommunistische Bürgermeister musste schließlich die Armee zur Hilfe rufen, die mit Panzern einrückte, um die Revolte unter Kontrolle zu bringen. Eine Welle von Universitätsbesetzungen, Demonstrationen und Straßenschlachten folgte.

Nachdem dann im Frühjahr 1978 der christdemokratische Politiker Aldo Moro von der Stadtguerilla-Gruppe Rote Brigaden entführt und schließlich ermordet worden war, nutzte der Staat die Möglichkeit, um auf breiter Front gegen die vermeintlichen „Rädelsführer“ der radikalen Linken vorzugehen. Am 7. April 1979 begannen massenhafte Razzien, bei denen neben vielen anderen auch Antonio Negri verhaftet wurde. Er saß vier Jahre lang im Gefängnis, ehe ihm die Flucht nach Frankreich gelang.

Sein weiterer Werdegang dürfte halbwegs bekannt sein: Spätestens mit seinem 1999 erschienenen Theorie-Bestseller „Empire“, den er zusammen mit Michael Hardt verfasste, brachte Negri es zu weltweiter Berühmtheit. Seinen Überzeugungen ist er dabei weitgehend treu geblieben, was sich ebenso positiv wie negativ bewerten lässt: Einerseits ist ist es schon phänomenal, wie Negri sich seit Jahrzehnten an jede neue Protestwelle, von der Öko-Bewegung bis zu Occupy anhängt. Andererseits hat seine Theorie sich auch kaum weiterentwickelt, sondern ist nur noch allgemeiner und ungenauer geworden – so ist die heute von ihm gefeierte „Multitude“ leicht als verwässerte Neuauflage des „gesellschaftlichen Arbeiters“ zu erkennen.

Das ist nicht weiter schlimm – der Negrische „(Post-)Operaismus“ ist im Feuilleton und in universitären Soziologie-Seminaren bestens aufgehoben. Ansonsten sollte man eher das Gegenteil von dem tun, was Negri zwar schmissig, aber wie üblich einigermaßen falsch, schon 1981 empfahl – nämlich großzügig zu vergessen: „Die Klassenzusammensetzung des heutigen metropolitanen Subjekts kennt keine Erinnerung, […] weil es befohlene Arbeit, dialektische Arbeit nicht will […], proletarische Erinnerungen sind nur Erinnerungen an vergangene Entfremdung […]. Die bestehenden Erinnerungen an 1968 und an die zehn Jahre danach sind heute nur noch die Erinnerungen des Totengräbers […] Die Jugendlichen von Zürich, die Proletarier von Neapel und die Arbeiter von Danzig brauchen keine Erinnerung, […] kommunistischer Übergang bedeutet die Abwesenheit der Erinnerung.“ (11) Das ist keine gute Idee. In der offiziellen Geschichtsschreibung werden die sozialen Kämpfe der Vergangenheit ohnehin allemal als erstes vergessen.

Und natürlich will ich hier Negri nicht das letzte Wort überlassen. Immerhin ist sein Werdegang symptomatisch. Der Operaismus war eben nie eine einheitliche Bewegung, und die Aktivist_innen schreckten oft davor zurück, aus ihren radikalen Ansätzen auch die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen: So führte ihre entschiedene Parteinahme für die Arbeiter_innen und deren Kämpfe von unten und gegen die Institutionen der offiziellen „Arbeiterbewegung“ für viele von ihnen (mit einigen Umwegen) dann doch wieder zur Parteipolitik zurück. Die Praxis der „militanten Untersuchung“ und die kleinteilige Analyse der Verhältnisse in den Fabriken, die sich daraus ergab, wurde zugunsten einer großspurigen Geschichtsphilosophie fallen gelassen.

Demgegenüber sollten die positiven Ansätze des Operaismus natürlich nicht vergessen werden – in den vorangegangenen Teilen dieser Artikelreihe habe ich dazu hoffentlich ein wenig beigetragen. Vor allem sollte man nicht vergessen, dass Staat und Kapital niemals die einzigen Subjekte der Geschichte waren und es auch heute nicht sind. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.

 

justus

 

(1) http://www.copyriot.com/unefarce/no5/autonomia.html

(2) englische Version unter http://libcom.org/library/tribe-of-moles-sergio-bologna

(3) Austerität: von lat. austeritas „Herbheit“, „Strenge“, bezeichnet eine staatliche Haushaltspolitik, die einen ausgeglichenen Staatshaushalt ohne Neuverschuldung anstrebt.

(4) vgl. www.trend.infopartisan.net/trd0513/t060513.html

(5) vgl. www.wildcat-www.de/thekla/08/t08akmu1.htm

(6) Mario Tronti, „Lenin in England“, zitiert nach Nanni Ballestrini/Primo Moroni: „Die goldene Horde – Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien“, Assoziation A, Berlin 2002, S. 87

(7) zitiert nach Bodo Schulze: „Autonomia – Vom Neoleninismus zur Lebensphilosophie. Über den Verfall einer Revolutionstheorie“, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, No. 10, 1989, S. 151 (online unter www.wildcat-www.de/material/m009schul.htm)

(8) zitiert nach Steve Wright: „Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus“, Assoziation A, 2005, S. 178.

(9) zitiert nach Roberto Battaggia: „Massenarbeiter und gesellschaftlicher Arbeiter – einige Bemerkungen über die neue Klassenzusammensetzung“, Wildcat-Zirkular Nr. 36/37, April 1997, online unter www.wildcat-www.de/zirkular/36/z36batta.htm

(10) zitiert nach Wright, a.A.o., S. 184.

(11) zitiert nach Wright, S. 188.

„Die Bereitschaft Ja zu sagen“

Freiheit und Widerstand bei Joachim Gauck

Bundespräsident Joachim Gauck ist der selbst ernannte „Liebhaber der Freiheit“ unter den deutschen Politikern. Seit bald einem Vierteljahrhundert tourt der überzeugte Antikommunist nun schon durch deutsche Medienarenen und Universitäten, um einer irrlichternden, mit den Verhältnissen unzufriedenen Bevölkerung von den freiheitlichen Segnungen der hiesigen Gesellschaft zu künden. Die Stimmen der Unzufriedenen sind, allen Verkündungen zum Trotz, bisher nicht verstummt. Ein Blick auf das Verständnis von Freiheit, für das Gauck wirbt, erklärt warum.

Im Mittelpunkt seines Freiheitsbegriffs steht die Verantwortung. Wer die politischen Debatten seit der Jahrhundertwende verfolgt hat, mag sich bei diesem Wort erinnert fühlen an rot-grüne Regierungsjahre, an die Agenda 2010, hier insbesondere an das Mantra von der Eigenverantwortung. Für den erklärten Agenda-Freund Gauck bedeutet Verantwortung „die Bereitschaft, Ja zu sagen, zu den vorfindlichen Möglichkeiten der Gestaltung und Mitgestaltung.“ (1) Nur wer also dazu bereit ist, „Ja zu sagen“ zu den bestehenden sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen innerhalb einer Gesellschaft, kann, so Gauck, überhaupt in Freiheit handeln: „Wenn wir uns derart […] zu der uns umgebenden Wirklichkeit verhalten, dürfen wir das als Verantwortung bezeichnen. Ich nenne die Freiheit der Erwachsenen »Verantwortung«“. (2) Diese „Freiheit der Erwachsenen“ kann jedoch nur in einem geeigneten gesellschaftlichen Rahmen sinnvoll ausgeübt werden, und dieser Rahmen ist für Gauck die staatsbürgerliche Herrschaft von freiheitlich-demokratischer Art. Ist diese Herrschaftsform innerhalb eines Gemeinwesens nur schwach ausgeprägt, oder überhaupt nicht vorhanden, besteht Grund zum Widerstand: „Die DDR-Regierung nannte uns zwar »Bürger«. […] Dabei wussten wir, gelehrt von der europäischen Aufklärung und einigen Staaten in denen Demokratie schon zuhause war, dass Bürger diejenigen Menschen sind, die Bürgerrechte haben, und diese auch ausüben können. Wir, die wir diese Bürgerrechte nicht hatten, waren zwar auch wertvoll und hatten unsere Würde – aber Bürger waren wir nicht. […] Die Freiheit war nicht dort, wo ich lebte.“ (3) Gaucks Kritik am DDR-Regime zielt mithin nicht ab auf ein Vorhandensein von Herrschaft per se, sondern nur auf die in­effektive Or­ga­nisation von Herrschaft. Die rohe, allzu offen­sichtliche Poli­zeistaatlichkeit der DDR machte es ihren Bewohnern letztlich unmöglich, daran zu glauben, herrschende Klasse und Bevölkerung verfolgten gemeinsame politische und ökonomische Interessen. Eine echte positive Hinwendung der allgemeinen Bevölkerung zur herrschenden Klasse war in der DDR zur Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse nicht notwendig, und daher auch nicht vorgesehen. Die von Gauck verfochtene staatsbürgerliche Herrschaftsform freiheitlich-demokratischer Prägung hingegen baut auf die Fähigkeit des mit staatlich eng abgefassten Freiheitsrechten ausgestatteten Bürgers zur Einsicht in die Notwendigkeit des Vorhandenseins der bestehenden Herrschaft. Sie vertraut also auf das, was Gauck „Freiheit der Erwachsenen“ nennt – eine echte, positive, geradezu vertrauensvolle Hinwendung zur Macht, eine vom Bürger selbst für gut und richtig gehaltene Bejahung der bestehenden Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft: „Wir werden gebraucht und alles wird gebraucht, was aus Untertanen Bürger macht. […] Es braucht eine Geneigtheit seiner Bewohner für die der französische Schriftsteller Montesquieu sogar den Begriff Liebe verwandte. Als Deutscher und Kind dieses Jahrhunderts denkt man natürlich sofort an die Fülle missbrauchter Gefühle – die Liebe zu Scholle, Heimat, Nation zum Thron und zum Führer – und hört weg. Aber wir sollten die alte Begrifflichkeit vielleicht neu buchstabieren. Es könnte ja sein, dass wir auf eine innere Wahrheit stoßen, die wir dringend brauchen.“ (4)

Freiheit bei Gauck rekurriert also auf eine Freiheit des Beherrschten vermittels staatsbürgerlicher Freiheitsrechte wie dem Recht auf freie Rede, der Gewissens- und Wahlfreiheit, Vertrauen in politische Führer und gesellschaftlichen Eliten aufzubauen, um dann schließlich an die „gute Herrschaft“, an Einigkeit und Interessengleichheit zwischen herrschender Klasse und Gesamtbevölkerung glauben zu können. Diese Freiheit, sich „aus freien Stücken“ und „guten Gewissens“ einer herrschenden Klasse verschreiben zu können, erhebt Gauck zum Grundbestandteil der menschlichen Natur: „Unsere Fähigkeit zur Verantwortung ist somit nicht etwas, das durch Philosophen, Politiker oder Geistliche quasi von außen in unser Leben hineingebracht würde, sondern gehört zum Grundbestand des Humanum“. (5) Wer gegen diese, dem Menschen angeblich innewohnenden Bestimmung, „Verantwortung zu übernehmen“, Widerstand leistet, d.h. wer es wagt, das so in Staatsbürgerlichkeit abgefasste Herrschaftsgefüge der Bundesrepublik, bzw. anderer westlicher Demokratien fundamental abzulehnen, versündigt sich an sich selbst und seinen Mitmenschen. Widerstand gegen die hiesige Gesellschaft ist damit moralisch delegitimiert, aber auch psychologisch unhaltbar, denn Gauck will entdeckt haben, „dass es einen unglaublich kraftvollen Indikator für dieses Ja zu einem Leben in Verantwortung gibt […] Es ist nämlich so, dass unsere Psychen uns belohnen, wenn wir leben, was als Potenz in uns angelegt ist.“ (6)

Entsprechend abschätzig beurteilt Gauck dann auch jeden dennoch stattfindenden Versuch einer Kritik an den politischen und ökonomischen Resultaten dieser freiheitlich-demokratisch abgefassten Herrschaft. So erscheinen ihm die Proteste gegen die Sozialreformen der Agenda 2010 als „töricht und geschichtsvergessen“ (7), Antikapitalismus-Debatten „albern“ (8), und Kriegsgegner „glückssüchtig“ (9). Bundesdeutsches Politikpersonal darf, so Gauck, nicht „beschimpft“ werden, denn diese sind schließlich „nicht Erwählte von Gottes Gnaden, sondern es sind von uns und aus unserer Mitte Erwählte. Und darum haben sie unsere Farbe, unsere Tugenden und unsere Laster. Es ist wohlfeil, sich von ihnen abzuheben, als gehörten sie einer anderen Rasse an. Es ist übrigens auch verantwortungslos.“ (10) Folgerichtig konstatiert Gauck mit Blick auf staatsbürgerliche Herrschaft und Lohnsklaverei das Ende menschlicher Geschichte: „Warum gehen wir oft in die nicht-demokratische Welt hinaus, und tun so, als hätte unsere demokratische Welt »Nichtwerte« ? […] Kann nur ein polnischer Ministerpräsident, wie Donald Tusk, der die Unfreiheit des Sozialismus erlebt hat, formulieren, was unser aller Grundhaltung zu Europa sein sollte: »Es ist tatsächlich der beste Ort der Welt, etwas besseres hat bisher niemand erdacht!«? […] Darin zeigt sich: Wenn wir politische Freiheit gestalten wollen, gibt es nicht allzu viele Varianten. Ich jedenfalls kenne keine, die den Grundsätzen dieser westlichen Variante von Eigenverantwortung vorzuziehen wäre. Es gab zwar Gegenentwürfe, in Europa erwachsen aus dem Marxismus […] Aber diese Entwürfe haben sich nicht behauptet […] Und deshalb gibt es auch keinen Grund für den alt-neuen Versuch, eine neue Variante von Antikapitalismus in die politische Debatte zu bringen.“ (11)

Worin auch immer nun eine annehmliche oder „richtige“ Variante von Freiheit bestehen mag, in der Befähigung Herrschaft unter Zuhilfenahme von staatlich genehmigten Bürgerrechten schätzen zu lernen, kann sie kaum bestehen. Kein Mensch sehnt sich nach Herrschaft, und niemand akzeptiert sie widerstandslos. Davon zeugen Gefängnisausbrüche, Arbeitsniederlegungen und Delinquenzen im Schulalltag genauso wie jener dauernde Spott an den Politiker_innen, den Gauck nicht gelten lassen will. Diesen Sachstand empfinde ich als ungemein beruhigend.

carlos

(1) Joachim Gauck, „Freiheit – ein Plädoyer“, S.26, Kösel-Verlag, 2012
(2) ebd.
(3) ebd., S.17 ff.
(4) Joachim Gauck, „Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen – Denkstationen eines Bürgers“, S.149, Siedler Verlag, 2013
(5) Joachim Gauck, „Freiheit – ein Plädoyer“, S.36, a.A.o.
(6) ebd., S.40
(7) Thomas Rogalla, „Joachim Gauck nennt die Hartz IV-Proteste berechtigt, sieht aber einen grundlegenden Unterschied zum Herbst 1989“, Berliner Zeitung, 09.08.2004
(8) http://www.sueddeutsche.de/politik/occupy-beweung-und-die-macht-der-finanzmaerkte-gauck-empfindet-antikapitalismus-debatte-als-unsaeglich-albern-1.1166051
(9) http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/06/120612-Bundeswehr.html
(10) Joachim Gauck, „Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen – Denkstationen eines Bürgers“, S.194, a.A.o.
(11) Joachim Gauck, „Freiheit – ein Plädoyer“, S.55 ff., a.A.o.

„‚Religion ist Scheiße‘-Rhetorik nervt“

Interview über Christlichen Anarchismus

FA!: Hallo, Sebastian Kalicha. Du hast ja Ende 2013 ein Buch zum Christlichen Anarchismus im Verlag Graswurzelrevolution herausgegeben. Was hat dich motiviert, ein derartiges Buchprojekt in Angriff zu nehmen?

SK: Ich komme aus der nicht-religiös anarchistischen Ecke und verstehe mich gleichzeitig als gewaltfreien Anarchisten. Durch meine Beschäftigung mit verschiedenen Traditionen des gewaltfreien Anarchismus stieß ich relativ früh notgedrungen auch auf Leo Tolstoi, der ja einer der bekanntesten gewaltfreien Anarchisten ist, dies dabei jedoch christlich begründet. Von da aus habe ich mich weiter und intensiver mit christlich-anarchistischen Theorien und Ideen – auch fernab von Tolstoi – beschäftigt und begann mich mehr und mehr dafür zu interessieren; wohlgemerkt ohne selbst gläubig zu sein. Gleichzeitig wurde mir auch schnell bewusst, dass christlich-anarchistische Literatur im deutschsprachigen Raum nur sehr spärlich gesät ist und man, will man sich näher in das Thema einlesen, relativ rasch auf fremdsprachige Bücher und Artikel angewiesen ist. Daher kam die Motivation, einen aktuellen Sammelband zum Thema für eine deutschsprachige LeserInnenschaft zusammenzustellen, um dieses Defizit zu beheben.

FA!: Wer sollte dein Buch lesen, und was kann der_die Leser_in inhaltlich von deinem Buch erwarten und erfahren?

SK: Zuallererst hoffe ich, dass das Buch ein Beitrag ist, um den christlich-anarchistischen Diskurs zu verbreitern und zu intensivieren. Daher hoffe ich, dass der Sammelband für die kleine Gemeinde der christlichen AnarchistInnen im deutschsprachigen Raum von Interesse ist. Desweiteren gibt es eine Reihe progressiver christlicher Strömungen wie die Theologie der Befreiung, Religiöser Sozialismus, die christliche Friedensbewegung, etc., bei denen es bestimmte Überschneidungen zum christlichen Anarchismus gibt. Auch für VertreterInnen dieser Richtungen ist das Buch hoffentlich von Interesse. Es ist aber auch ein Buch, das sich sowohl an eine nicht-religiös anarchistische, als auch an eine nicht anarchistische, christlich-religiöse LeserInnenschaft bzw. an TheologInnen richtet. Bei beiden Lagern stößt man immer wieder auf Ablehnung oder Skepsis wenn der christliche Anarchismus zur Sprache kommt, was ich für bedauernswert halte. Es geht hier darum den christlichen Anarchismus wieder verstärkt ins Gespräch zu bringen, Vorurteile abzubauen, reflexartige Schnellschüsse zu vermeiden und Pauschalurteile durch differenzierte Betrachtungen zu ersetzen. Diese Berührungsängste zwischen Anarchismus und Christentum sind, wenn man sich der Thematik von einer bestimmten Richtung her nähert und die inhaltlichen Schnittmengen analysiert, meiner Ansicht nach unbegründet.
Inhaltlich ist der Sammelband als Einführung in den christlichen Anarchismus konzipiert. Er beinhaltet einen generellen Überblick über christlich-anarchistische Thematiken und eine Diskussion zum Verhältnis von Anarchismus und Christentum, Beiträge, die sich mit einer anarchistischen Lesart und Interpretation der Bibel beschäftigen, Reflexionen zu christlich-anarchistischem Aktivismus sowie Porträts bedeutender christlicher AnarchistInnen. Jacques Ellul, dessen Buch Anarchie et christianisme (Anarchie und Christentum) behandelt wird, ist einer davon. Weiterhin werden Dorothy Day und Ammon Hennacy von der Catholic-Worker-Bewegung vorgestellt. Peter Chelchicky, ein Frühreformator und „Ketzer“ der im Tschechien des 14./15. Jahrhunderts lebte, wird ebenfalls porträtiert und dessen christlich-anarchistische Dimension diskutiert.

FA!: Dieses Sammelwerk verdeutlicht ja vor allem, dass christlicher Glaube und Anarchismus nicht zwangsweise ein Gegensatz sind, sondern, dass es auch Anarchist_innen gab und gibt, die beides miteinander verbinden können. Wo siehst du die Schnittstellen zwischen christlichem Glauben und anarchistischem Denken? Was haben beide gemein?

SK: Ich kann das hier nur ansatzweise und stichwortartig erörtern und es gibt natürlich auch innerhalb der christlich-anarchistischen Bewegung immer wieder unterschiedliche Meinungen und Ansätze. Prägnant auf den Punkt gebracht würde ich sagen: Christliche AnarchistInnen gehen prinzipiell davon aus, dass das, was im Evangelium geschrieben steht und was uns von Leben und Wirken Jesu überliefert ist, unter den politischen Vorzeichen von heute am ehesten mit „Anarchismus“ beschrieben werden kann. Dabei finden wir laut christlichen AnarchistInnen im Evangelium alles, was auch den „klassischen“ Anarchismus ausmacht: eine Kritik und Ablehnung von Klassenstrukturen und unterdrückerischen Herrschaftsformen; eine egalitäre und inklusive Alternative dazu; eine Ablehnung von Gewalt, Zwang und Machtausübung; eine Anprangerung ungerechter und ausbeuterischer ökonomischer Verhältnisse und der Versuch diese zu überwinden. In diesem Sinne ist es nur konsequent und logisch, dass die erste Bewegung, die sich direkt auf all das berufen hat, in der Apostelgeschichte in einer Art beschrieben wird, die uns AnarchistInnen sehr bekannt vorkommen und sympathisch sein müsste: „Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte.“ (Apg 2,44-45) Und weiter zur Gütergemeinschaft in dieser sog. Urgemeinde: „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam.“ (Apg 4,32) Viele sehen also in diesem Idealzustand, das in der Bibel als „Reich Gottes“ bezeichnet wird, letztendlich eine Entsprechung zur „Anarchie“ von der die AnarchistInnen reden. In diesem Sinne meinte Nicolai Berdyaev bereits: „Das Reich Gottes ist die Anarchie.“

FA!: Ich habe den Eindruck, dass die theoretischen Ansätze und die (wenigen) Aktivist_innen, die sich als christliche Anarchist_innen verstehen, in der anarchistischen Szene wenig Bedeutung erfahren, mitunter sogar tabuisiert werden. Weil es viele Anarchist_innen gibt, die sagen, dass der Gottesglaube prinzipiell nicht mit der anarchistischen Idee vereinbar ist, fällt es gläubigen Politaktivist_innen entweder schwer sich als anarchistisch denkend zu beschreiben, oder sie verbergen weitestgehend ihren Glauben in ihrer politischen Aktivität. Woher kommt dieser weitverbreitete Gedanke an die Unvereinbarkeit? Und wo siehst du Grenzen zwischen christlichem Glauben und anarchistischem Denken?

SK: Woher dieser weitverbreitete Meinung nach Unvereinbarkeit zwischen Anarchismus und Christentum kommt ist für mich insofern eher schwer verständlich, da selbst in den anarchistischen „Klassikern“ von Kropotkin über Rocker und de Cleyre bis hin zu Bookchin und Woodcock ein sehr differenziertes Bild des Christentums aus anarchistischer Perspektive gezeichnet wird. Da wird natürlich einerseits von den unterdrückerischen und reaktionären Ausformungen dieser Religion (zumeist im Sinne der institutionalisierten Form dieser) geschrieben, die ja unleugbar existierten und auch weiter existieren. Diese Ausformungen werden auch von christlichen AnarchistInnen heftig kritisiert, weshalb es in dieser Frage ohnehin keinen Unterschied zu den nicht-religiösen AnarchistInnen gibt. Gleichzeitig wird aber auch stets betont, dass dies nur eine Seite der Medaille ist und dass es im Christentum, um es mit Kropotkin zu sagen, „ernstzunehmende anarchistische Elemente“ gibt. Es ist wichtig, dies zur Kenntnis zu nehmen. Diese anarchistischen Elemente finden aber leider eher wenig Beachtung und werden gerne im Zuge einer fundamentaloppositionellen Haltung gegenüber Religion schlicht ausgeblendet. Grenzen in dem Sinn wie ich sie verstehe sehe ich daher nicht wirklich. Ich würde sagen, dass es Sinn macht klarzustellen, dass die historischen und ideengeschichtlichen Wurzeln des Christentums und des Anarchismus natürlich andere sind und es von daher falsch wäre zu sagen, Anarchismus und Christentum seien im Grunde genommen das gleiche. Auch die Frage des Glaubens ist letztendlich eine, wo sich klarerweise Unterschiede auftun können. Das rechtfertigt meiner Ansicht nach aber nicht das Aufziehen von undurchlässigen Grenzen oder dergleichen. Wenn gläubige und nicht-gläubige AnarchistInnen in einen Diskurs treten, halte ich es vor allem für wichtig, dass das Ganze polemikfrei und mit gegenseitigem Respekt von statten geht. Reflexartige und polemische „Religion ist Scheiße“-Rhetorik geht mir eher auf die Nerven.

FA!: Was waren für dich persönlich in der Beschäftigung mit dem Thema die beeindruckendsten Erkenntnisse, die du mitgenommen hast?

SK: Als jemand, der klassisch katholisch sozialisiert wurde, ist eines der beeindruckendsten Dinge beim christlichen Anarchismus für mich die anarchistische Lesart und Interpretation der Bibel, die anarchistische Exegese, aber auch historische Fragen zu dieser Zeit, in der sich diese Geschichten, von denen wir in der Bibel lesen, abspielten. Dieser Zugang ist auch hilfreich, das Geschriebene anders einordnen zu können. Aber nicht einmal ein explizit anarchistischer Zugang ist notwendig, um das Offensichtliche feststellen zu können: Das Evangelium ist ein Text, der sich radikal auf die Seite der Marginalisierten, Armen, Ausgestoßenen und Subversiven stellt, die gegen die Mächtigen aufbegehrten und Ungerechtigkeiten anprangerten. Wenn das Ganze dann noch mit anarchistischen Theorien in Verbindung gebracht wird, ist es noch spannender. Das ist es, was den christlichen Anarchismus ausmacht und so beeindruckend für mich macht.

FA!: Was gibt es darüber hinaus für inhaltliche Aspekte beim Christlichen Anarchismus, die wichtig bei der Auseinandersetzung mit dem Thema sind und die nicht vergessen werden sollten?

SK: Ein Aspekt, der mir wichtig und interessant erscheint, ist die Frage zum christlich-anarchistischen Aktivismus. Wie können christliche AnarchistInnen aktiv werden, um gegen Ungerechtigkeiten anzukämpfen angesichts der bekannten Maxime: „Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ (Mt 5,39) Vor allem Tolstoi hatte diesen Aspekt stark betont und schrieb viel über Nicht-Widerstand in diesem Sinne. Gleichzeitig gibt es viele christliche AnarchistInnen, die sehr wohl für sich in Anspruch nehmen, aktiven gewaltfreien Widerstand zu leisten, ohne dabei unchristlich zu handeln. Christlich-anarchistische AktivistInnen gehören mitunter zu den mutigsten und radikalsten, die mir je begegnet sind. Die verschiedenen Interpretationen und Diskussionen zu diesem Thema sind sehr spannend.

FA!: Wie war eigentlich die bisherige Resonanz auf das Buch und/oder wie haben die Leute in deinen Lesungen und Veranstaltungen zu dem Thema reagiert?

SK: Die Resonanz war gut. Ich habe Lesungen sowohl in eher nicht-religös anarchistischen, als auch in eher christlich-theologischen Rahmenbedingungen gemacht und von beiden Seiten kamen überwiegend positive Rückmeldungen. Auch die Rezensionen waren gut bislang. Teils hatte ich bei Veranstaltungen auch das Gefühl, dass die anarchistische Szene weit weniger zu einer strikten Anti-Haltung was Religion anlangt tendiert, als ich das zuvor angenommen hatte. Das freut mich natürlich.

FA!: Vielen Dank für das Interview!

momo

Der lange Sommer der Autonomie (Teil 5)

Operaismus für Anfänger_innen

 

Bislang habe ich in dieser Artikelreihe dargestellt, wie sich die operaistische Theorie und Bewegung vom Ende der 1950er Jahre bis 1970 entwickelte. Den weiteren Verlauf werde ich in den letzten beiden Teilen sozusagen im Schnelldurchlauf behandeln. Nicht etwa, weil dazu nichts Wichtiges mehr zu sagen wäre – die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, dass die Lage ab diesem Zeitpunkt zusehends unübersichtlich wird.

Ein kurzer Überblick darüber, wie sich die operaistische Bewegung organisatorisch entwickelte, mag das Problem verdeutlichen: Ganz zu Anfang, 1960, bestand sie nur aus einer Handvoll linker Aktivist_innen, die sich um die Zeitung Quaderni Rossi sammelten und Untersuchungen in den Fabriken durchführten. Erst wesentlich später im „Heißen Herbst“, den wilden Streiks von 1969 (siehe FA! #50), gewann der Operaismus eine wirkliche Massenbasis. Hier wurde die Szenerie durch die großen Gruppen der „organisierten Autonomie“, namentlich Potere Operaio und Lotta Continua geprägt, die mit jeweils mehreren tausend Mitgliedern landesweit aktiv waren.

Dagegen entstand Anfang der 70er eine neue autonome Bewegung, die durch zahllose kleine Gruppen und lose, informelle Zusammenhänge geprägt war. Neue Subjekte, Frauen, Arbeitslose, Jugendliche usw. traten mit eigenen Forderungen auf den Plan. Die Autonomia knüpfte einerseits an die vorangegangenen Kämpfe der Fabrikarbeiter_innen an, weitete den Konflikt aber auf ein größeres Terrain aus und entwickelte eine Kritik und Praxis, die alle Aspekte des Alltagslebens einbezog – von der Wohnsituation bis zur Kindererziehung, vom Bildungssystem bis zur Lage in den psychiatrischen Einrichtungen und Knästen…

 

Organisierte Autonomie“ und Frauenbewegung

Der erste Anstoß für diese Neuzusammensetzung der sozialen Kämpfe „von unten her“ kam dabei von Aktivistinnen der neuen Frauenbewegung, die 1970 entstand. Viele, wenn nicht die meisten dieser Frauen waren in den einschlägigen linken Organisationen sozialisiert worden. Sie machten aber rasch die Erfahrung, dass sie dort – egal wie „revolutionär“ sich diese Organisationen nach außen darstellen mochten – doch immer nur eine untergeordnete Stellung gegenüber den männlichen Militanten einnahmen. Die logische Antwort war, sich unabhängig zu organisieren, autonom sowohl den etablierten Parteien und Gewerkschaften als auch den großen linksradikalen Organisationen gegenüber. (1)

Dies betraf auch die operaistischen Gruppen, allen voran Potere Operaio. So traten 1971 eine ganze Reihe von Aktivistinnen, darunter Mariarosa Dalla Costa, Leopoldina Fortunati und andere, aus der Organisation aus. Daraus entstand bald eine neue Gruppe, nämlich Lotta Femminista („Feministischer Kampf“), die in der italienischen und internationalen Frauenbewegung eine wichtige Rolle spielte.

Zu den Gründen ihres Austritts erklärt die Feministin Mariarosa Dalla Costa im Rückblick: „Wenn ich gefragt würde, warum ich Potere Operaio im Juni 1971 verließ und eine Gruppe von Frauen sammelte, aus der später der erste Keim von Lotta Femminista wurde, dann würde ich antworten: ‚Es war eine Sache persönlicher Würde’. Zu dieser Zeit war das Verhältnis von Mann und Frau, gerade in diesem Umfeld von intellektuellen Genossen, nicht so, dass ich mich hinreichend gewürdigt fühlen konnte.“ (2)

Das Problem war freilich nicht nur, dass sich das Rollenverhalten der männlichen Aktivisten nicht unbedingt positiv von der Mehrheitsgesellschaft abhob. Auch in den theoretischen Debatten bei Potere Operaio fand die Lebenslage der weiblichen Lohnabhängigen keine Beachtung. Vielmehr wurde das „Proletariat“ fast selbstverständlich als „männlich“ vorausgesetzt. Das hatte sicher auch reale Gründe – die niedrig qualifizierten „Massenarbeiter“, welche Ende der 60er Jahre die zahlenmäßig größte Fraktion der Arbeiterschaft in den norditalienischen Industriegebieten darstellten, waren ja tatsächlich zum Großteil junge Männer.

Bei FIAT waren bis zum „Heißen Herbst“ von 1969 überhaupt keine Frauen in der Produktion tätig – erst Anfang 1970 und in Reaktion auf die wilden Streiks begann die Konzernleitung Tausende von jungen Frauen einzustellen. Damit wurden einerseits die männlichen Montagearbeiter an den Fließbändern ersetzt, die in den vorangegangenen Kämpfen eine treibende Rolle gespielt hatten. Zugleich nutzte das Unternehmen die Chance, um die Lohnkosten zu senken: Die Frauen übten zwar eine Tätigkeit aus, die der dritten Lohnkategorie entsprach, sie wurden aber nach der (niedrigeren) vierten Lohnkategorie bezahlt.

Das warf Fragen auf, die von den männlichen Theoretikern von Potere Operaio allerdings nur mit wenigen flapsigen Worten abgetan wurde, wie in einem Artikel vom Februar 1970: „Die Einstellung von Frauen bei FIAT Mirafiori ist vergleichbar mit der Einstellung von Schwarzen in der Autoindustrie von Detroit in den dreißiger Jahren. Es ist Zeit damit aufzuhören, vor lauter Sorge um die ‚Gleichstellung’ der Frauen zu vergehen, die wie jede Unterweisung in Sachen Bürgerrechten vollkommen daneben ist. Das Kapital hat die Frauen bei Mirafiori längst ‚gleichgestellt, indem es sie an die Fließbänder geschickt hat.“ (3) Es handelte sich um ein Spaltungsmanöver des Kapitals, die Frauen sollten sich eben organisieren und den Kampf der männlichen Arbeiter unterstützen – ein besonderes Problem gab es da nicht.

Diese Analyse war sicherlich mangelhaft und trug eher dazu bei, gerade die Spaltungen zwischen verschiedenen Fraktionen des Proletariats zu befördern, die sie doch verhindern wollte. Dazu stellt die italienische Feministin Leopoldina Fortunati, fest: „Die Debatte bei Potere Operaio war sehr weit entwickelt, soweit es darum ging, die neuen Fabriken, die Rolle der neuen Arbeitergeneration innerhalb des gegenwärtigen kapitalistischen Systems zu analysieren, aber sie war sehr arm in Bezug auf Fragen der Hausarbeit, Affekte, Emotionen, Sexualität, Bildung, Familie, zwischenmenschliche Beziehungen, Miteinander usw.“ (4)

Bei aller Kritik betont Fortunati aber auch, wie wichtig die Leistungen der operaistischen Theoretiker für sie gewesen seien: „Sie verwandelten das Vermächtnis der Marxschen Theorie in etwas Dynamisches und nutzten es, um die Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts analysieren und verstehen zu können, und das war es, was sie den Graswurzelaktivist_innen wie mir mitgaben: die Fähigkeit, Marx ohne falsche Ehrerbietung zu nutzen.“ (4) Mit anderen Worten: Der Operaismus bot ein brauchbares theoretisches Rüstzeug, mit dem sich auch die Stellung der Frauen innerhalb der kapitalistischen Arbeitsteilung besser verstehen ließ – es war nur nötig, dieses Rüstzeug angemessen respektlos zu gebrauchen.

 

Kritik der Hausarbeit

Genau das taten die Feministinnen auch, und erweiterten dabei die operaistische Kritik der Fabrikarbeit um eine Kritik der Hausarbeit. Die Grundzüge dieser Analyse entwickelte Dalla Costa in ihrem Text „Die Macht der Frau und die Umwälzung der Gesellschaft“ (5). Dieser war zunächst als internes Papier für die Debatten bei Potere Operaio verfasst, wurde von Dalla Costa aber später überarbeitet und als Broschüre veröffentlicht. Der Text fand in der internationalen feministischen Bewegung großen Anklang und wurde mehrfach übersetzt.

Dalla Costa zufolge beruht die Macht des Kapitals nicht allein auf der produktiven Arbeit des „doppelt freien Lohnarbeiters“. Das Kapital ist ebenso auf die unbezahlte Arbeit der Frauen angewiesen, die nötig ist, um die Arbeitskraft des (männlichen) Lohnarbeiters zu reproduzieren. „Seit Marx ist klar, dass das Kapital mittels des Arbeitslohns herrscht und sich entwickelt, das heißt, dass der oder die Lohnarbeiter_in und deren Ausbeutung die Basis der kapitalistischen Gesellschaft bildet. Was weder klar war noch seitens der Organisationen der Arbeiterbewegung bemerkt wurde, war der Fakt, dass genau durch den Arbeitslohn die Ausbeutung der unbezahlten Arbeit organisiert wurde. […] Das heißt, über den Lohn wurde eine größere Menge an Arbeit kommandiert, als in der für die Fabrikarbeit gezahlten Geldsumme auftauchte.“

Dass diese Arbeit prinzipiell ohne Lohn geleistet wurde, wirkte sich nicht nur auf die Profitrate aus. Es trug auch dazu bei, zu verschleiern, dass es sich an dieser Stelle überhaupt um ein Zwangs- und Ausbeutungsverhältnis handelte. Diese Arbeit der Frauen schien vielmehr „ein persönlicher, außerhalb des Kapitalverhältnisses geleisteter Dienst zu sein.“ Ihre Funktion „im Zyklus der gesellschaftlichen Produktion blieb unsichtbar, weil von dort aus nur das Endprodukt ihrer Arbeit, der Arbeiter, zu sehen war. Sie selbst blieb dabei in prä-kapitalistischen Arbeitsverhältnissen gefangen“.

Lotta Femminista waren, ähnlich wie Potere Operaio (siehe FA! #50), vor allem in den norditalienischen Regionen Veneto und Emiliana aktiv, ebenso in Rom. Die Gruppe war in ihrer Tätigkeit aber auch sehr stark international ausgerichtet. So wurde 1972 in Padua das International Feminist Collective gegründet, ein Netzwerk, das neben Italien auch in den USA und Kanada, aber auch in Großbritannien und Deutschland sehr aktiv war. Aus diesem heraus wurde eine internationale Kampagne gestartet – „Lohn für Hausarbeit“. (5)

 

Internationale Debatten

Die Forderung stieß innerhalb der Frauenbewegung keinesfalls auf ungeteilte Zustimmung. Im Gegenteil sahen viele Feministinnen gerade die gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben als das beste Mittel, um die Emanzipation der Frauen voranzubringen. Eine Bezahlung für Hausarbeit einzufordern, schien ihnen dagegen vor allem eine Bestätigung des Status quo zu sein und wurde von ihnen harsch kritisiert.

Demgegenüber verteidigte die in den USA lebende Feministin Silvia Federici, ein Gründungsmitglied des International Feminist Collective, in einem Text von 1974 die Kampagne gegen etwaige Missverständnisse. Es handle sich vielmehr um einen „Lohn gegen Hausarbeit“ (6). Die Lohnforderung sei nur das gewählte Mittel, nicht etwa das Ziel der Kampagne. Die Forderung bedeute auch nicht, „dass wir diese Arbeit weiterhin verrichten werden, sofern wir dafür bezahlt werden. Es bedeutet genau das Gegenteil.“

Denn Hausarbeit sei eben keine Arbeit „wie jede andere”: „Einen Lohn zu erhalten, heißt Teil eines Vertragsverhältnisses zu sein, und es gibt keine Unklarheit, was dessen Inhalt betrifft: Du arbeitest, nicht weil du es gerne tust oder weil es dir eben so einfällt, sondern weil dir nur unter dieser Bedingung erlaubt wird zu leben. Aber egal wie sehr du auch ausgebeutet wirst, du bist mit deiner Arbeit nicht identisch.”

Bei der Hausarbeit stelle sich dies grundlegend anders dar. Diese sei zwar ebenfalls ein Ausbeutungsverhältnis – aber gerade weil für die geleistete Arbeit kein Lohn gezahlt werde, erscheine sie nicht als Arbeit im eigentlichen Sinn. Es sei nicht nur so, dass die Hausarbeit den Frauen zugeteilt und aufgezwungen werde, zugleich „wurde sie in ein scheinbar natürliches Merkmal unserer Körperlichkeit und Persönlichkeit als Frauen verwandelt, in ein inneres Bedürfnis, ein Drang, der angeblich aus den Tiefen unseres weiblichen Charakters entspringt.“

Die Ausbeutung würde also verschleiert und mystifiziert – sie erscheine als Produkt der „Liebe“ oder der „weiblichen Natur“. Genau diese Mystifikation solle mit der Kampagne durchbrochen werden, die Lohnforderung solle die Hausarbeit wieder als Zwangs- und Ausbeutungsverhältnis kenntlich machen.

Von diesem Punkt aus kritisierte Federici auch die Institution der Kleinfamilie. Trotz aller romantischer Vorstellungen, die sich daran knüpften, stelle diese die kleinste basale Einheit der kapitalistischen Gesellschaft dar. Die Ausbeutung im Haushalt lasse sich nur im Verhältnis zur Ausbeutung in der Fabrik verstehen: „Es ist kein Zufall, dass die meisten Männer gerade dann anfangen an Heirat zu denken, wenn sie ihren ersten Job kriegen. Nicht nur, weil sie es sich leisten können – jemanden zu Hause zu haben, der sich um einen kümmert, ist die einzige Möglichkeit, nach einem langen Tag am Fließband oder Schreibtisch nicht durchzudrehen. […] Und auch in diesem Fall gilt, dass die Sklaverei der Frau sich umso tiefgreifender gestaltet, je ärmer die Familie ist, und dies nicht nur aus monetären Gründen. Tatsächlich verfolgt das Kapital eine doppelte Politik, eine für die Mittelklasse und eine für die proletarische Familie. Es ist kein Zufall, dass wir den stumpfesten Machismo gerade in Familien der Arbeiterklasse finden: Je mehr Schläge der Mann auf Arbeit einstecken muss, umso mehr muss die Frau darauf getrimmt sein, sie aufzufangen, umso mehr wird es ihm freigestellt, sein Ego auf ihre Kosten.wieder aufzubessern. Du schlägst deine Frau, wenn du frustriert oder fertig von der Arbeit bist oder wenn du eine Niederlage einstecken musstest (und zur Arbeit in die Fabrik zu gehen ist an sich schon eine Niederlage).“

Federici erklärte es für absurd, diesen Kampf der Frauen für eine Bezahlung ihrer Arbeit mit den Lohnkämpfen zu vergleichen, wie sie von den männlichen Fabrikarbeitern geführt wurden. Die Ausgangslage stelle sich bei den Hausfrauen nämlich komplett anders dar: „Der Lohnarbeiter stellt, indem er mehr Lohn fordert, seine soziale Rolle in Frage und bleibt doch in ihrem Rahmen. Wenn wir für eine Bezahlung unserer Arbeit kämpfen, dann kämpfen wir ohne Zweideutigkeit und direkt gegen unsere soziale Rolle.“

Dabei ginge es nicht darum, sich „einen Platz innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse zu erkämpfen, weil wir niemals außerhalb derselben waren.“ Das Ziel sei vielmehr, den kapitalistischen Plan zu durchkreuzen, das Kapital anzugreifen und damit zu zwingen, „die sozialen Verhältnisse in einer Weise neu zu strukturieren, die für vorteilhafter für uns selbst ist und in der Folge auch vorteilhafter, um eine Einigkeit der Klasse zu erreichen.“

 

Italienische Verhältnisse

Das war ziemlich nah an der politischen Linie, die auch Potere Operaio in den Jahren von 1969 bis 1973 verfolgten. So erinnerte der „Lohn für Hausarbeit“ nicht von ungefähr an das Konzept des „politischen Lohns“, also die Strategie, mit immer neuen Lohnforderungen das Kapital in die Krise zu treiben – nur mit dem von Federici erwähnten Unterschied, dass die männlichen Lohnarbeiter dabei allemal „im Rahmen ihrer Rolle“ blieben. So gerieten Potere Operaio rasch in eine Krise, zumal sie sich nicht nur strategisch eingleisig auf immer neue Lohnforderungen festlegten, sondern sich zugleich auch in ihrer Klassenanalyse ziemlich verrannten und alle Akteur_innen abseits der jungen, unqualifizierten, männlichen „Massenarbeiter“ weitgehend ignorierten. Welche Folgen dies für die operaistischen Debatten hatte, werde ich im nächsten (letzten) Teil dieser Serie noch genauer darstellen.

Jedenfalls liefen die feministischen und die operaistischen Debatten in ihrer weiteren Entwicklung weitgehend bezugslos nebeneinander her – wie Mariarosa Dalla Costa im Rückblick feststellte (2): „Ich selbst hatte meine ersten Schritte bei Potere Operaio gemacht, deswegen war es frustrierend zu sehen, wie sehr diese ganze Debatte abgeblockt wurde. Männliche Genossen, die nichts über die Entwicklung unseres Diskurses oder die für uns zentralen Themen wussten, konnten uns nicht folgen und nur auf dem Niveau von Höhlenmenschen argumentieren wenn sie mit uns zusammentrafen. Umgekehrt blieben ihre Debatten für uns undurchschaubar, während es dringend nötig gewesen wäre, eine gemeinsame Diskussion zu führen.“

Zugleich wuchs die Frauenbewegung in Italien rasch. So versammelten sich bei einer landesweiten Konferenz 1974 etwa 10.000 Frauen, und am 18. Januar 1975 fand in Rom eine große Demonstration für die Legalisierung der Abtreibung mit 20.000 Teilnehmerinnen statt – das waren Größenordnungen, die im internationalen Vergleich wohl einzigartig waren.

Die Bewegung erhielt teilweise Unterstützung durch die Gewerkschaften und Organisationen der radikalen Linken – so bildeten sich z.B. bei Lotta Continua eigene Frauengruppen. Zugleich blieb das Verhältnis zwischen der Frauenbewegung und der restlichen Linken gespannt. So kam es am Rande der erwähnten Anti-Abtreibungs-Demonstration 1975 zu Handgreiflichkeiten, als einige männliche Aktivisten die Reihen des Ordnungsdienstes durchbrechen wollten.

Alisa Del Re, eine andere ehemalige Aktivistin von Potere Operaio, die aber von dort zur kommunistischen Partei wechselte, bemerkte dazu: „Ich hatte mit Frauen zu tun, die in außerparlamentarischen Gruppen aktiv und zugleich Feministinnen waren, und die waren zu dramatischen Entscheidungen gezwungen […] Der Gegner war oft im eigenen Heim: Wenn eine Frau persönliche Autonomie erlangen und zugleich die Beziehungen aufrecht erhalten wollte, zu Geliebten, Freunden, Gatten, Vätern oder zu Männern, die in der Linken engagiert waren und somit viele ihrer Ideen von einem grundsätzlichen Wandel der Gesellschaft teilten, dann war das für sie mit viel Unbehagen verbunden.“ (8)

Während die männlichen Aktivisten den Feministinnen ihren „Separatismus“ vorwarfen, kritisierte die Frauenbewegung umgekehrt die Aktionsformen der Linksradikalen – allen voran die Gewalt bis hin zum Schusswaffengebrauch bei Demonstrationen, die sich oft genug mit allerlei Macho-Attitüden verband. In strategischer Hinsicht sollten die Feministinnen damit recht behalten: Die zunehmende Militarisierung der autonomen Bewegung (wobei natürlich auch die harte, von der Polizei ausgehende Gewalt ihre Rolle spielte) führte zunehmend in eine Sackgasse. Ab 1978 – nachdem der ehemalige Ministerpräsident Aldo Moro durch die Stadtguerillagruppe der Roten Brigaden ermordet worden war – wurde die radikale Linke durch massive staatliche Repression zerschlagen, viele hunderte Aktivist_innen wanderten ins Gefängnis.

Im Zuge dessen wurde auch die feministisch-marxistische Theorielinie von Lotta Femminista aus dem akademischen und allgemeinen Diskurs verdrängt, wie Mariarosa Dalla Costa beschreibt: „In den 1980ern, Jahren der Repression und Normalisierung, ersetzte eine grundlegend ‘kulturelle’ Ausformung des Feminismus diese großen Kämpfe und Forderungen, und das hatte die Funktion, die Forderungen und Wortmeldungen der Frauen zu kontrollieren und zu selektieren. […] Zu sagen, dass unsere Arbeiten nicht frei zirkulieren konnten, wäre noch allzu beschönigend ausgedrückt. Sie verschwanden geradezu, […] sie wurden überwältigt, von einen entgegengesetzten politischen Willen und einer Unmenge an Studien zur ‘Frauenfrage’, die von einer gänzlich anderen Perspektive aus durchgeführt wurden.“ (2)

Mit den vorangegangenen Seiten habe ich hoffentlich ein wenig dazu beigetragen, dem Vergessen entgegen zu wirken. Im nächsten Heft werde ich diese Artikelreihe dann (endlich!) zum Abschluss bringen – dort wird dann Antonio Negri und dessen Konzept des „gesellschaftlichen Arbeiters“ das Thema sein. Ihr dürft also weiterhin gespannt sein.

justus

 

(1) Darauf verweist z.B. Patrick Cuninghame: „Italian feminism, workerism and autonomy in the 1970s: The struggle against unpaid reproductive labour and violence”, online unter:

libcom.org/history/italian-feminism-workerism-autonomy-1970s-struggle-against-unpaid-reproductive-labour-vi

(2) Mariarosa Dalla Costa: „The door to the garden: Feminism and Operaismo“

(Vortrag von 2002), online unter libcom.org/library/the-door-to-the-garden-feminism-and-operaismo-mariarosa-dalla-costa

(3) zitiert nach Steve Wright: „Den Himmel stürmen – Eine Theoriegeschichte des Operaismus”, Assoziation A, Berlin/Hamburg 2005, S. 146.

(4) Leopoldina Fortunati: „Learning to struggle: My story between workerism and feminism”

libcom.org/library/learning-struggle-my-story-between-workerism-feminism-leopoldina-fortunati

(5) Mariarosa Dalla Costa: „Women and the subversion of the community”, www.commoner.org.uk

(6) vgl. www.citsee.eu/interview/organising-and-living-interview-silvia-federici

(7) Silvia Federici: „Wages Against Housework”, http://caringlabor.wordpress.com/2010/09/15/silvia-federici-wages-against-housework/

(8) zitiert nach Patrick Cuninghame, a.A.o.

Staaten über Menschen

Wie die ukrainische Bevölkerung mit Hilfe der Medien entmündigt wird

 

Die Geschehnisse in der Ukraine in den letzten Monaten, sowie die von vielen als einseitig wahrgenommene Berichterstattung hierzulande haben hohe Wellen geschlagen.

In meinem letzten Artikel (FA! #50) habe ich ein Propaganda-Modell vorgestellt, das einseitige und verzerrte Berichterstattung allein aus Grundannahmen erklärt, die die wirtschaftliche und institutionelle Beschaffenheit der westlichen Mediensysteme widerspiegeln. Ihm zufolge werden offizielle Feinde stark verunglimpft, während unliebsame Fakten über ideologische Verbündete ignoriert werden oder verhältnismäßig wenig Berichterstattung erfahren. Mensch dürfte also erwarten, dass die Medien tendenziell die russische Politik übermäßig auch auf unfaire Art und Weise kritisieren, ohne die neoliberale und teils eskalierende Politik des transatlantischen EU-USA-Bündnisses und des IWF zu hinterfragen. Eine umfassendere Behandlung dieses komplexen Themaa wäre angebracht, doch werde ich mich hier nur grob auf einige Aspekte beziehen, die das Modell in seinen Schlussfolgerungen bestärken.

Die Mängel der deutschen Medien offenbaren sich vor allem durch ihre Auslassungen. Es ist schwer möglich, sich ein genaueres Bild von der Lage in der Ukraine zu machen, ohne sich auf alternative, anti-imperialistische oder im Westen sendende russische Medien wie Russia Today zu stützen, die ebenso zur einseitigen Berichterstattung neigen. Mensch sollte sich jedoch davor hüten zu meinen, er oder sie könne mit nur einer Nachrichtenquelle die Situation richtig rekonstruieren und alles in einen korrekten Kontext setzen. Selbst kritische Medien können natürlich einseitig und ideologisch voreingenommen berichten, vom Staat direkt abhängige Medien sollten mit der größten Skepsis beäugt werden. (1)

Die im Bundestag vertretenen Parteien taten sich bis auf die LINKE dadurch hervor, dass sie den Einfluss der rechten Kräfte in der Ukraine geflissentlich ignorierten und nicht einmal Einspruch erhoben, als mehrere Swoboda-Mitglieder dazu auserkoren wurden, Ministerposten in der neuen ukrainischen Regierung zu besetzen. Bereits während der Demonstrationen waren die Mitglieder der Swoboda und des Rechten Sektors durch ihre Gewalttätigkeit, ihre paramilitärische Organisationsweise und ihre Zurschaustellung rechtsextremer Symbole aufgefallen.

Den deutschen Medien war dies keine Erwähnung wert. Im Gegenteil waren sie von Anfang an bemüht, den Einfluss der nationalistischen Kräfte bei den von November bis Ende Februar laufenden Maidan-Protesten sowie bei der Regierungsbildung klein zu reden und zu ignorieren. Die deutschen RedakteurInnen schrieben kaum etwas über jene Kräfte in der Ukraine, die entweder eindeutig faschistisch sind oder eine ideologische und historische Nähe zum ukrainischen Faschismus aufweisen. (2) Noch wurden ihre Kontakte mit westlichen Spitzenpolitikern wie dem deutschen Außenminister Frank Walter Steinmeier oder dem ehemaligen US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten und Scharfmacher John McCain jemals thematisiert oder kritisch hinterfragt. (3) Politiker wie Medien waren eher darum besorgt, gegen wen sie agieren, ungeachtet dessen, welche zweifelhaften Kräfte sie im Gegenzug dafür unterstützen. (4)

Die Meinung der pro-russischen Bevölkerung oder der Regierung konnte gar nicht wahrgenommen werden, fast ausschließlich verschafften sich Mitglieder oder Führer der Opposition in den deutschen Medien Gehör. So konnte etwa Vitali Klitschko, da er deutschsprachig und auf der Seite der Demonstrant_Innen war, übermäßig viele Interviews hierzulande abhalten. Seine öffentliche Präsenz stand kaum in Relation zu seiner politischen Bedeutung in der Ukraine während oder nach den Protesten. (5)

Es ist den Medien auch nicht gelungen, die Ereignisse in der Ukraine in einen umfassenden geopolitischen Kontext zu setzen. Es gibt seit den 90ern Anzeichen dafür, dass die NATO, deren Existenzberechtigung spätestens seit 1990 sehr zweifelhaft ist, sich darum bemüht, Russland strategisch einzukreisen. So expandierte sie nach dem Ende des Kalten Krieges entgegen der Abmachungen zwischen dem ehemaligen Generalsekretär der KPdSU, Michael Gorbatschow, und seinen westlichen Gegenspielern weiterhin nach Osten. Angebote seitens Russlands, die NATO zugunsten eines gemeinsamen Sicherheitsnetzwerks aufzulösen, wurden mehrmals ausgeschlagen. Hinzu kam die Errichtung eines Raketenschilds in den osteuropäischen Ländern, der zwar offiziell gegen die iranischen und nordkoreanischen Atomwaffenprogramm gerichtet sein sollte, jedoch wohl eher darauf abzielte, Russland im Falle eines nuklearen Krieges deutlich zu benachteiligen. Das Projekt wurde 2009 nach dem Amtsantritt Obamas und nach langen Streitereien zwischen Ost und West in dieser Form vorerst auf Eis gelegt, doch besteht nach wie vor die Möglichkeit, dass es wieder aufgenommen wird und zur Einkreisung Russlands dient.

Das jetzige Spannungsverhältnis der beiden Machtblöcke hätte also schon lange abgebaut werden können, womit die jetzige Lage in der Ukraine auch harmloser wäre.

Weiterhin zeigte der Westen, dass er nur sehr selektiv oder gar nicht dazu bereit war, Abmachungen und seine eigenen Standards einzuhalten. So griff er 2011 militärisch in den libyschen Bürgerkrieg ein, obwohl die von Russland und China tolerierte Resolution lediglich eine Flugverbotszone für Gaddhafis Streitkräfte vorsah. Und seit 2008 verwehrt er Südossetien eine Abspaltung von Georgien, obwohl die Parallelen zur Kosovo-Abspaltung von Serbien so stark sind, dass es eigentlich naheliegend wäre, dieselben völkerrechtlichen Standards anzuwenden. Es ist daher eine verkürzte und einseitige Analyse, wenn z.B. die WELT behauptet, Putin habe mit einer „Blitzannexion“ den „geltenden Ordnungsrahmen Europas aufgekündigt.“ (6)

 

Real Bad Boys

Psychologisierungen von Putin und verkürzte Darstellungen der Konfliktlage dienen insbesondere dazu, ein einseitiges Feindbild zu schaffen. Die ständige Konzentration auf Putins Freizeitaktivitäten, sein „Macho“-Gehabe sowie Spekulationen über seine Intentionen (wie z.B. N-TV mit reißerischen Überschriften wie „Präsident Putin träumt von der Wiederauferstehung eines großrussischen Reiches“ (7)) – so etwas findet man nie in dieser Form und in diesem Ausmaß in der deutschen Berichterstattung über westliche Führer oder repressive Partnerregime wie Saudi-Arabien. Die Fokussierung auf Putins Persönlichkeit ist noch abstruser, wenn man sich vor Augen hält, dass seine Beliebtheitswerte in Russland nach dem Krim-Referendum auf 60-70% hochgeschnellt sind. Es müssen andere Erklärungsansätze gefunden werden, wenn ein Großteil der russischen Bevölkerung und seiner Eliten genauso gehandelt hätte.

Genauso manipulatorisch ist es, psychologische Behauptungen über politisch Andersdenkende anzustellen, wie in etwa Clemens Wirgin auf WELT ONLINE jenen, die Verständnis für die Politik Russlands aufzeigen, beweislos eine „Faszination für starke autoritäre Führer wie Wladimir Putin“ (8) unterstellt.

Ebenso erstaunlich ist die Art und Weise, mit welchen Begriffen Personen belegt werden, die sich um eine differenzierte Betrachtung der Gesamtlage bemühen. So wurde unter anderem Gregor Gysi, welcher sich in seiner Bundestagsrede weder auf die Seite Russlands noch auf die des Westens schlug, sondern beide in ihrer Handhabung des Völkerrechts kritisierte, als „Putin-Versteher“ gebrandmarkt. Diese von Personen wie dem Chefredakteur der ZEIT Josef Joffe genutzte Wortwahl suggeriert, dass jede Person, die die Schuld bei der Krim-Krise nicht einseitig Russland zuschreibt, zugleich ein Sympathisant Wladimir Putins und seines politischen Systems ist.

Es muss gesagt werden, dass es in den Medien Stimmen gab, die solch eine Verunglimpfung kritisch sahen und als nicht hilfreich erachteten. Doch sagt es schon viel über die deutsche Presse aus, dass Bezeichnungen wie „Putin-Versteher“ als Schimpfwort ihren Weg in die Öffentlichkeit finden.

Politiker wie Angela Merkel und Barack Obama, die sich durch illegale Drohnenkriege, die Ausweitung der Überwachungsgesellschaft und das Aufzwingen wirtschaftlich und sozial fataler Maßnahmen auf andere Länder hervortun, müssen solche öffentlichen Verunglimpfungen hingegen nicht fürchten. Die Apologeten dieser politischen Strategien bedürfen anscheinend keinerlei besonderer Bezeichnungen und werden auch sonst weitestgehend ignoriert, während in Putins Fall jegliche Abweichler gekennzeichnet und kritisiert werden.

 

Die Semantik der Manipulation

Es sollten auch grundlegende Begrifflichkeiten hinterfragt werden, die in den Medien gebraucht werden. So wird bei fast jeder Gelegenheit die Eingliederung der Krim in das russische Staatsgebiet als „Annexion“ bezeichnet. Eine „gewaltsame und widerrechtliche Aneignung fremden Gebiets“ – so wird der Begriff auf der Duden-Website erklärt.

Der völkerrechtliche Status dieser Angliederung ist jedoch nicht so offensichtlich illegal, wie es die konsequente mediale Anwendung dieses Begriffs vermuten lässt. Der Begriff der Annexion legt nahe, dass es sich bei der Unabhängigkeitserklärung der Krim um einen Gewaltakt Russlands gegen die Ukraine gehandelt hat. Damit wird schlicht die Bevölkerung der Krim entmündigt, die sich zu 93% für einen Beitritt zur Russischen Föderation entschieden hat. Es ist natürlich wichtig zu hinterfragen, welchen Einfluss das russische Militär auf die Wahl hatte, die nicht nach westlichen Standards hinsichtlich Transparenz geführt wurde. Es gibt jedoch wenige Hinweise darauf, dass der Großteil der Wähler auf der Krim drangsaliert wurde, wenn sie nicht für einen Beitritt stimmen würden. Noch hat es den Anschein, dass das doch eindeutige Wahlergebnis anders gewesen wäre, wenn das russische Militär nicht zu Zeiten des Referendums stationiert gewesen wäre. (9) Es ist daher falsch, von der Bevölkerung der Krim nur im Passiv zu schreiben und ihr damit jegliche Autonomie bei der Festlegung ihrer Nationalität zu versagen. Ähnlich verhält es sich mit den Separatisten im Südosten der Ukraine. (10)

Die Meinung der einfachen Bevölkerung dort fand in den deutschen Medien gar keine Repräsentation, und mensch kann sich nach wie vor nur eine grobe Vorstellung davon machen, was für eine Zukunft sich die Menschen dort selbst wünschen. Blind wurde spekuliert, dass es sich bei diesen Personen schlichtweg um russische Agenten und Truppen handeln müsste. Die „Beweise“ westlicher Regierungen wurden nicht angezweifelt. Es scheint für viele Redakteure unvorstellbar, dass viele Menschen auf der Krim wirklich Teil Russlands sein oder einfach nicht in der Ukraine verbleiben wollen. Dies könnte zufriedenstellend z.B. damit erklärt werden, dass sich viele Bewohner_Innen dort durch einen Beitritt zur Russischen Föderation wirtschaftliche Vorteile, wie z.B. eine Anhebung der Renten und Beamtengehälter erhoffen. (11) Es ist auch nicht einleuchtend, die 1954 staatlich verordnete Abgabe der damals russischen Krim an die ukrainische Sowjetrepublik als legitimer anzusehen, als einen Mehrheitsbeschluss der dortigen Bevölkerung.

Weiterhin müsste es logisch sein, dass eine illegale Absetzung des ukrainischen Präsidenten, dessen Partei vor allem Unterstützung in den südlichen und östlichen Gebieten findet, die Einheit des ukrainischen Staatsgebildes schwächen kann. Dieser Zusammenhang wurde allerdings so gut wie nirgends in den Medien so dargestellt. Stattdessen wird der allmächtige und alles kontrollierende Russe postuliert, weshalb der SPIEGEL auf seinem Cover Putin als „Brandstifter“ bezeichnet und die Frage „Wer stoppt ihn?“ (12) stellt.

Natürlich ist es absurd, wenn manche alternativen oder pro-russischen Medien die Maidan-Proteste lediglich als neo-faschistische Agitation oder als Inszenierung der ach so allmächtigen USA darstellen.

Ebenso realitätsfern ist es aber auch, hinter den Aktionen separatistischer Aktivisten und Paramilitärs stets nur das Tun des russischen Staates zu vermuten und ihnen damit jegliche Art von selbstbestimmtem Handeln abzusprechen. Die Demonstrationen auf beiden Seiten haben wohl ihre Eigendynamik, die auf verstehbaren materiellen und politischen Bedürfnissen fußt.

Nachlässig ist es auch, wenn verkannt wird, dass die USA tatsächlich ihre Interessen in der Ukraine vertreten. Es gab keine journalistischen Bemühungen in den Mainstream-Medien, um herauszufinden in welche Kanäle die 5 Milliarden Dollar fließen, mit denen die USA NGOs in der Ukraine finanzieren, und welchen Zielen sie konkret dienen. Es ist wahrscheinlich, dass zumindest ein Teil der Gelder genutzt wurde, um die Regierung Janukowitsch zu destabilisieren, genauso wie auch die restlichen Anstrengungen der NATO-Länder darauf abzielen, eine pro-westliche Regierung in Kiew an der Macht zu sehen. Dabei wird der Westen wie auch Russland eher die eigenen geopolitischen Interessen im Blick haben, als die jener, die direkt von den politischen Umbrüchen dort betroffen sind.

Manche sehen sogar die Gefahr, dass Russland seine militärische Macht nutzt, um in die Ukraine einzumarschieren und sich das Land anzueignen. Zwar kann das russische Militär extrem brutal vorgehen, wie die beiden Kriege in Tschetschenien deutlich gemacht haben. Doch gibt es bisher wenig Hinweise darauf, dass die Kreml-Führung dazu bereit ist, auch im Ausland militärische „Abenteuer“ zu starten. Die Spekulationen über einen Kriegsbeginn seitens Russlands sind daher eher abwegig. (13)

Weiterhin sollte der Begriff der „Maidan-Revolution“ nicht ohne weiteres akzeptiert werden. Der Begriff der „Revolution“ impliziert weitreichende politische, soziale und ökonomische Umbrüche. Zwar erreichten die Demonstrant_Innen ihr Ziel, die Janukowitsch-Regierung abzusetzen. Doch ist es bisher nicht ersichtlich, ob die Tradition der korrupten Politik, die sowohl von pro-westlichen wie von pro-russischen ukrainischen Politiker_Innen betrieben wird, jetzt wirklich ihr Ende findet.

So kommentiert Trenin, seinerseits Chef des Moskauer Think Tanks Carnegie-Center:

Der Maidan hat leider die Chance verpasst, sich zu einem Aufstand gegen die Korruption zu wandeln. Alle ukrainischen Machthaber der vergangenen Jahre waren korrupt, wenn es auch selten so offensichtlich und so widerlich war wie bei Janukowitsch. Der Kampf gegen das korrupte System hätte die Menschen einen können in Ost und West. Aber die Nationalisten haben die Revolution gekapert und gestohlen.“ (14)

Die pro-westlichen Politiker_Innen wie Timoschenko hatten schon einmal nach der sogenannten „Orangenen Revolution“ 2004 die Chance, die Ukraine nach ihrem Willen zu formen. Doch war das Resultat so enttäuschend, dass Janukowitsch trotz seiner bekannten Korruptheit wieder an die Macht kam.

 

There is no Alternative?

Die Diskussionen in der deutschen Presse gingen für den meisten Teil nur so weit, ob im Hinblick auf Russland lieber eine Politik der Diplomatie oder eine Hardliner-Haltung samt härterer Sanktionen angebracht wäre. Der Fakt, dass weder eine Angliederung der Ukraine an Russland noch an die EU überzeugende Perspektiven darstellen, wurde gänzlich ignoriert. Es sollte für jeden minimal progressiv eingestellten politischen Beobachter von Interesse sein, dass der ukrainischen Bevölkerung, eine bessere Zukunft in Aussicht gestellt wird, als jene, die beiden europäischen Großmächte vertreten. Weder das von der EU und dem IWF gewollte Austeritätsregime (15), welches bereits in Südeuropa einer ganzen Generation zu Lasten fällt, noch das autoritäre und auf billigen Rohstoffen basierende Gesellschafts- und Wirtschaftssystem Russlands werden eine Gesellschaft hervorbringen können, die frei von repressiven Herrschaftsstrukturen sowie von wirtschaftlicher Armut ist.

Die Berliner Zeitung etwa rechtfertigt ihre Opposition zur „Annexion“ der Krim überwiegend moralisch:

Menschenwürde, Meinungs- und Pressefreiheit, Recht auf sexuelle Selbstbestimmung – darum geht es, nicht um die in Deutschland geschmäcklerisch diskutierte Frage, ob Putins eindeutig völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die ebenso eindeutig völkerrechtswidrige Bedrohung der Ukraine wirklich als völkerrechtswidrig anzusehen seien. Es geht um die Menschenrechte und damit um das Recht, selbst zu entscheiden, wie und wo einer leben möchte.“ (16)

An der Einforderung dieser Rechte ist selbstverständlich nichts auszusetzen. Doch wird dabei geflissentlich ignoriert, dass der Auslöser der Maidan-Proteste nicht nur Janukowitschs Politik allgemein war, sondern auch konkret die Frage, ob man entweder ein Assoziierungsabkommen mit der EU schließen oder die Partnerschaft mit der Russischen Föderation vertiefen will, die die Ukraine mit verbilligten Gaspreisen unterstützt. Eine wirtschaftliche Ausrichtung an den neoliberalen Maßstäben der EU würde wohl, ähnlich wie in Südeuropa, breite Teile der Bevölkerung weiterhin verarmen lassen. Und gibt es nicht auch ein Menschenrecht, eine ökonomische Zukunft zu haben und frei von Armut zu sein?

Es ist zu erwarten, dass mit einer Sparpolitik an frühere neoliberale Maßnahmen angeknüpft wird. Besonders ärmere Schichten wird es schwer belasten, wenn sich die Preise für Güter des täglichen Gebrauchs wie Gas und öffentlicher Nahverkehr weiterhin erhöhen.

Die deutschen Mainstream-Medien verkennen, dass insbesondere Menschen ohne Aussicht auf Verbesserung ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage sehr anfällig für reaktionäre Weltanschauungen sein können. Gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten lassen sich fast unmöglich aufstellen, doch kann mensch wohl genügend Beispiele finden, die solch eine Betrachtungsweise erlauben. (17)

Es ist wohl kaum wünschenswert, dass die Ukraine auf dieselbe Weise „westliche Werte“ durch ein ruinöses Austeritätsprogramm kennen lernt. Insbesondere dann, wenn die hoffnungslose Lage der letzten Jahre schon dazu führte, dass die rechte Swoboda-Partei bei den Parlamentswahlen sich von 0,7 auf 10 Prozent steigerte. Es ist daher schlichtweg fahrlässig und gefährlich, wenn die destruktiven Folgen der IWF/EU-Politik weder Beachtung finden noch Kritik erfahren.

Die einzige Person, die Alternative abseits der Großmächte gefordert und dafür ein Podium in den deutschen Medien bekam, war Marina Weisband in der ARD-Talkshow von Günther Jauch. Der SPIEGEL mag sie dafür als „idealistische Basisdemokratin“ betiteln. (18) Doch je mehr mensch sich die beiden angebotenen Alternativen vor Augen führt, desto offensichtlicher wird es, dass für die ukrainische Bevölkerung weder eine Anbindung an Russland noch eine an die EU als wünschenswert erachtet werden kann.

Natürlich kann mensch meinen, dass solch eine Alternative nicht existiert, die Realisierung einer freien Gesellschaft aus den gegebenen Machtverhältnissen unrealistisch ist, und dass die Presse deshalb alternative Gesellschaftsmodelle jenseits der großen Machtzentren nicht zu erwägen braucht. Dabei geht es um die grundlegende Frage, welche Aufgaben den Medien in vermeintlich aufgeklärten Gesellschaften zukommen sollen. Natürlich sollen sie ein möglichst umfangreiches und akkurates Bild politischer Geschehnisse und der Welt liefern. Doch ist es ebenso von größter Bedeutung, wie ich meine, dass sie für das Wohlbefinden aller Menschen eintreten und sich gegen jegliche Art von Ausbeutung und Unterdrückung positionieren. Dafür ist es notwendig, gesellschaftliche Alternativen in Betracht zu ziehen, die gerade, weil sie in den Medien keinen Platz finden, weitestgehend als unrealistisch angesehen werden. Dies wäre ein schweres Zugeständnis für die Medien, die sich größtenteils dem Paradigma des „There is no Alternative“ ergeben haben und denen zufolge es keine Alternative jenseits des politischen Realismus gibt.

Daher liegt es letztlich an den Menschen selbst, eine Presse zu schaffen, die nicht die bestehenden Machtstrukturen stützt und damit ihr eigenes Schicksal in die Hand nimmt.

alphard

 

(1) Empfohlene kritische Quelle www.hintergrund.de

(2) Ein Artikel auf Englisch zum Weiterlesen: www.globalresearch.ca/the-medias-disinformation-campaign-on-ukraine-there-are-no-neo-nazis-in-the-interim-government/5376530

(3) Steinmeier lud sogar den Chef der Swoboda im Februar zu sich ein, der Jahre zuvor gegen die „jüdische Mafia in Moskau“ gehetzt hatte (www.derwesten.de/politik/ukrainische-partei-hetzt-gegen-juden-und-russen-id9074942.html)

(4) In dasselbe Muster fällt die dürftige Berichterstattung über die Toten in Odessa. Mehr dazu: www.hintergrund.de/201405053091/globales/kriege/odessa-keine-tragoedie-sondern-ein-gezieltes-progrom/drucken.html

(5) Die Bezugnahme auf Klitschko war anscheinend auch ein rein deutsches Phänomen, welches in englischsprachigen Medien nicht zu finden war. Seit dem Krim-Referendum spielte er de facto keine Rolle mehr. Insbesondere der Vergleich mit Timoschenko macht deutlich, wie wenig Gewicht er in der Politik hat: www.spiegel.de/politik/ausland/julia-timoschenko-lobt-kanzlerin-merkel-a-957378.html

(6) www.welt.de/debatte/kommentare/article126629930/Die-verquere-Realpolitik-Idee-der-Putin-Versteher.html

(7) www.n-tv.de/politik/politik_kommentare/Putins-Irrtum-article12468626.html

(8) www.welt.de/debatte/kommentare/article126629930/Die-verquere-Realpolitik-Idee-der-Putin-Versteher.html

(9) Eine unabhängige Umfrage des PEW-Instituts scheint dies zu bestätigen: www.heise.de/tp/artikel/41/41704/1.html

(10) Eine nicht-repräsentative Umfrage der FAZ und 6 weiterer Medien lässt vermuten, dass es auch dort eine Mehrheit für eine erweiterte Unabhängigkeit gab. Inwiefern dies wirklich der Fall ist, muss zusätzliche Forschung ergeben: www.faz.net/aktuell/politik/ausland/separatisten-verkuenden-grosse-mehrheit-fuer-abspaltung-von-ukraine-12934681.html

(11) Die Russische Föderation hat ein 3-mal so hohes Bruttosozialprodukt wie die Ukraine und hat daher mehr Spielraum für Sozialleistungen: de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Bruttoinlandsprodukt_pro_Kopf (nach Daten des IWF)

(12) SPIEGEL 11/2014

(13) Wie z.B. der FOCUS Kriegsbestrebungen unterstellt, wenn er im selben Kontext von Russlands „Territorial-Hunger“ spricht. (http://www.focus.de/politik/ausland/russische-hegemoniebestrebungen-hunger-auf-land_id_3700503.html) Ein imperialer Angriffskrieg wäre unter den gegebenen Bedingungen nichts als politischer Suizid.

(14) www.spiegel.de/politik/ausland/interview-mit-dmitrij-trenin-zur-krise-auf-der-krim-a-956381.html

(15) Austerität beschreibt im politischen Kontext eine strenge Sparpolitik.

(16) www.berliner-zeitung.de/meinung/leitartikel-zur-krise-in-der-ukraine-es-geht-schlichtweg-um-das-menschenrecht,10808020,26753066.html

(17) Wie etw=a die Zuwendung der Deutschen hin zur damals politisch schwachen NSDAP während der Weltwirtschaftskrise der 20er/30er Jahre und die Erstarkung faschistischer Kräfte in Griechenland nach dem Einbruch der dortigen Wirtschaft aufgrund der Finanzkrise.

(18) www.spiegel.de/kultur/tv/krim-krise-im-jauch-talk-bei-der-ard-a-956525.html

Antifa in der Krise? Antifa in der Krise!

Seit nunmehr etwa 30 Jahren sind antifaschistische Gruppierungen damit beschäftigt, in der Bundesrepublik einen Kampf gegen den Faschismus zu organisieren – mit mäßigem Erfolg. Immer wieder ist es in den vergangenen Jahrzehnten, trotz vehementer antifaschistischer Agitation, zu Übergriffen auf Asylbewerberheime und Migrant_innen gekommen. Die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes bildet da nur den absoluten Höhepunkt. Fremdenfeindliche Diskussionen finden in vielen demokratischen Leitmedien aus Rundfunk und Fernsehen seit Jahrzehnten regelmäßig statt. So diente der Spiegel im September 1991, ein knappes Jahr vor den Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen, als Brandbeschleuniger für einen von Christ- und Sozialdemokraten seit den 1980er Jahren intensiv betriebenen, ausländer- und insbesondere asylbewerberfeindlichen Diskurs, als das Magazin titelte: „Flüchtlinge, Aussiedler, Asylanten – Ansturm der Armen“. (1) Auch als konsequente Argumentationshilfe für antimuslimische Rassist_innen traten demokratische Leitmedien in den letzten Jahren hervor.

Im Jahre 2004 berichtete der Spiegel über „Allahs Rechtlose Töchter“, im dazugehörigen Leitartikel durfte Alice Schwarzer die Öffentlichkeit über den schwierigen Umgang der Deutschen mit Musliminnen und den wachsenden Einfluss des Islam“ aufklären, im Jahre 2006 dann vom heiligen Hass“ der Muslime gegen die aufgeklärte Welt, und 2007 über die stille Islamisierung“ Deutschlands berichten. (2) Dass Thilo Sarrazin wenig später mit unverhohlenem Rassismus publizistische Erfolge erzielen konnte, verkommt da schon fast zur Randnotiz. Um den Antifaschismus in Deutschland scheint es nicht gut bestellt zu sein. Die Interventionistische Linke (IL) hatte deshalb im April in Berlin zu einem Kongress unter dem Motto „Antifa in der Krise?“ geladen.

Für die Organisator_innen stellte sich die Problematik dabei wie folgt dar. Es sei ein Erstarken rechter Bewegungen, Parteien und Bündnisse in Deutschland und im europäischen Ausland zu beobachten: „Der antisemitische und extrem rechte Front National um Marine Le Pen und die niederländischen Rechtspopulist_innen um Geert Wilders rücken zusammen und schmieden ein Bündnis gegen Europa. […] Auch in Deutschland wird auf dieser Klaviatur gespielt. Die NPD versucht, aus ihrer desolaten Situation durch die von ihr vielfach gesteuerten Proteste gegen Flüchtlingsunterkünfte herauszukommen. Mit der Alternative für Deutschland ist ein Parteiprojekt entstanden, in dem sich marktradikale Eurogegner_innen bis hin zu extrem rechten Kräften sammeln.“ (3) Die „neue Herausforderung“ bestünde nun darin, zu ermitteln, wie sich dieses Äußerliche in der Agitation der Rechten genau verändert haben könnte, und wie man als Antifa auf diese Veränderung im Äußerlichen des politischen Gegners am besten zu reagieren habe: „Nicht nur in Deutschland bringen sich neofaschistische und rechtspopulistische Parteien in Stellungen. Überall in Europa nutzen sie die aktuelle Situation zur Neugruppierung ihrer Kräfte. […] Wie sind die Veränderungen im Lager der extremen Rechten zu bewerten? Welche Rolle spielen die sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Zeichen der Krise? Welche Schwerpunkte sind in der eigenen Arbeit zu setzen? Wie können geeignete Gegenstrategien aussehen?“ Diese Debatten seien notwendig, denn die „antifaschistische Bewegung tut sich mit der Analyse dieses europäischen Rechtsruck schwer“. (3)

Dieses zurecht festgestellte Unvermögen einiger Antifas, den Faschismus zu erklären, stellt jedoch keine Schicksalsfügung dar, sondern lediglich das Resultat einer gewollten Politik von Antifas wie der IL selbst, die sich mit Äußerlichkeitsbeschreibungen des politischen Gegners aufhalten, und sich bereitwillig zu Parteigängern der bestehenden Verhältnisse machen. Diesbezüglich ist die IL ein besonders drastisches Beispiel. Dem deutschen Parlamentarismus stellt sie, in den Worten Franz Josef Strauß’, ein befriedigendes Zeugnis aus: „Noch hat sich in Deutschland bundesweit keine Partei dauerhaft und erfolgreich rechts von CDU/CSU etablieren können. Doch immer wieder kommt es zu Vorstößen“. Ihr Urteil, die Union im Parlament sei immer noch besser als die NPD, lässt sich die IL auch nicht dadurch beschädigen, dass sie anschließend selbst feststellt, beim Verbreiten rassistischer Parolen sei „immer auch die bayrische CSU“ mit dabei. (3)

Die IL will den Faschismus bekämpfen, aber mit dem Staat als Waffenbruder. Ihre Integration in die Klassengesellschaft wertet sie daher auch als großen Erfolg. So ist IL-Mitglied und Mitorganisator des Antifa-Kongresses Henning Obens sehr stolz darauf, wenn auch einmal „jemand von uns“ in der Tagesschau sprechen darf. (4) Für Aktivist_innen mit einem Selbstverständnis wie Obens muss die Überraschung da natürlich groß sein, wenn derselbe Staat, den sie verzweifelt um Anerkennung für ihre Agitation ersuchen, ihnen dennoch „keinen Fuß breit traut“, sie beständig observiert, und ihnen Polizei und bundesrepublikanische Staatssicherheit ins Szenelokal oder in die Wohnung schickt, sobald einzelne Mitglieder auch nur im Verdacht stehen, die staatlich genehmigte antifaschistische Marschroute in Richtung Antikapitalismus verlassen zu haben. Doch für Obens ist der Verzicht auf Antikapitalismus als Grundlage antifaschistischer Agitation ohnehin kein Problem: „Auf diese politischen Konstellationen müssen wir auf der Höhe der Zeit reagieren. Das auf die Parole »Hinter dem Faschismus steckt das Kapital, der Kampf ist international« herunterzubrechen, […] geht dann nicht mehr. Daran ist zwar ganz viel Wahres, doch es spiegelt eben längst nicht alles wider.“ (4)

Obens Selbstverständnis und Arbeitsweise sind unter Antifaschist_innen keineswegs eine Rarität. So erschöpft sich dann auch die Agitation vieler Antifas in Blockade und Störung von Naziaufmärschen, Konzerten und anderen Verstaltungen, auf die minutiöse Dokumentation rechter Agitation und Gewalt, auf das Katalogisieren rechter Kleidungs- und Sprechcodes, und auf das Outen von Faschist_innen mit Namen und Anschrift. Dieselben Antifas stellen nun verdutzt fest, dass Faschist_innen im Zuge der ökonomischen Krise immer größere Teile der frustrierten, weil materiell zunehmend prekarisierten Arbeiterklasse ideell an sich binden können. Nichts fällt den Faschist_innen mittlerweile leichter, als all die staatlich produzierten Bildungsverlierer_innen, Niedriglohnempfänger_innen und Umsonstarbeiter_innen darauf hinzuweisen, dass Antifaschist_innen mit genau diesem Staat gemeinsame Sache machen wollen. Hier beweisen Faschist_innen politischen Instinkt, indem sie die materielle Not vieler Menschen als gegeben hinnehmen, und ursächlich in Zusammenhang zu bringen versuchen mit einem vom derzeitigen Staat und seinen mutmaßlichen Handlangern auf der linken Seite organisierten, vermeintlich „gegen das deutsche Volk gerichteten Kapitalismus“. Diesem „Antikapitalismus von rechts“ stehen viele Antifaschist_innen ratlos gegenüber. Sie können der Gesellschaft nicht nur nicht erklären, was an ihm so furchtbar falsch ist, sondern auch dem materiell prekarisierten Teil der Gesellschaft nicht erklären, was am demokratisch regierten Kapitalismus so großartig sein soll.

Einige dieser Antifas haben deshalb – konsequenterweise – auch ihre antifaschistische Stoßrichtung komplett umgeworfen, und den Faschismus kurzerhand zu einer Art Massenprojekt der Arbeiterklasse und des Islam umdeklariert. Dazu stellen die Journalist_innen Susann Witt-Stahl und Michael Sommer fest: „Und wenn Phase 2-Antifas heute ihren Haß auf den »Prolet-Arier« herausbrüllen, dann gilt die Aggression meist weniger den »Ariern«, den Neonazis, sondern dem Proleten: »Gerade antikapitalistischer Widerstand manifestiert sich leicht als antisemitischer, auch in der deutschen Arbeiterbewegung«, lautete schon vor zehn Jahren ein Argument in einem Streit zwischen Hannoveraner Antifas. […] Anetta Kahane, Vorstandsvorsitzende der »konsequent gegen Rechtsextremismus« engagierten Amadeu Antonio Stiftung, hat Antiimperialisten und Abgeordneten der Linkspartei, die sich an der »Free Gaza!«-Flotte beteiligt haben, den Kampf angesagt. […]Daher streitet Kahane lieber für das westliche Sanktionsregime gegen den Iran – beispielsweise auf der Kundgebung »Freiheit statt Islamische Republik« zusammen mit der neokonservativen Kriegslobby (Stop the Bomb und das Iranian Freedom Institute).“ (5)

Dass die faschistische Ideologie stete Kultivierung erfährt, durch die gegenwärtige, staatlich gewollte und gesetzlich festgeschriebene kapitalistische Vorsortierung von hier lebenden Menschen in Deutsche und „Asylanten“, nutzlose und nützliche Ausländer, Leistungsträger_innen und Sozialschmarotzer_innen, ist diesen Antifas dann natürlich unbegreiflich. Ebensowenig im Stande zu begreifen sind sie, dass auch Faschist_innen die heutigen Produktionsverhältnisse befürworten, und gar nichts auszusetzen haben an Privateigentum an Produktionsmitteln, Konkurrenz, Elitenbildung und Ausbeutung im Wege der Lohnarbeit, solange dies nur alles im Zeichen des „völkischen Gemeinwohls“ geschieht. Sowohl Faschist_innen als auch die große Mehrheit der Demokrat_innen innerhalb der Parlamente stimmen grundsätzlich darin überein, dass aufgrund gedachter Merkmale (Staatsbürgerschaft, Leistungsfähigkeit) unterschiedliche rechtliche und materielle Lebenspositionen gerechtfertigt sind. (6)

Die Organisator_innen des Kongresses haben mithin Recht: Der Antifaschismus in Deutschland steckt tatsächlich in einer Krise. Doch liegt diese Krise nicht etwa in Umgruppierungen, Machtverschiebungen oder Uniformwechseln innerhalb des rechten Parteienspektrums begründet, sondern einzig in der beständigen Weigerung vieler Antifaschist_innen, den Antikapitalismus wieder zur Grundlage ihrer Agitation zu machen. Wer, wie die IL, dem Staat bejahend gegenüber steht, hat letzten Endes gar keine andere Wahl, als sich in bloßer Beschreibung des politischen Gegners aus ästhetischer, ideeller und psychologischer Sicht zu ergehen. Denn eine Erklärung des Faschismus darf niemals über die Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen erfolgen. Eine Erklärung des Faschismus aber, die sich einzig aus seiner Beschreibung ableitet, ist „nicht nur keine kritische Theorie des Faschismus, es ist überhaupt kaum Theorie“. (7)

carlos

(1) Spiegel, 37/1991

(2) Spiegel, jeweils: 47/2004, 6/2006, 13/2007

(3) kriseundrassismus.noblogs.org/warumdieserkongress/

(4) Martin Höfig, „Antifa auf der Höhe der Zeit?“, www.neues-deutschland.de/artikel/929872.antifa-auf-der-hoehe-der-zeit.html

(5) Suanne Witt-Stahl, Michael Sommer: „Position. Die Einsicht, dass Antifaschismus und Antikapitalismus zusammengehören, droht verlorenzugehen.“, www.antifa.de/cms/content/view/1991/32/

(6) vgl. Freerk Huisken, „Der demokratische Schoß ist fruchtbar“, S.66 ff., VSA-Verlag, 2012

(7) David Renton, zitiert nach: Suanne Witt-Stahl, Michael Sommer: „Position. Die Einsicht, dass Antifaschismus und Antikapitalismus zusammengehören, droht verlorenzugehen.“, www.antifa.de/cms/content/view/1991/32/

Der lange Sommer der Autonomie (Teil 4)

Operaismus für Anfänger_innen

In den ersten drei Teilen die­ser Arti­kel­reihe habe ich die Ent­stehung der operaistischen Theorie nach­zu­zeichnen versucht: von der Gründung der Zeitschrift Quaderni Rossi und die „militanten Untersuchungen“ bei Olivetti und FIAT, über die Streiks und Riots von 1962, die schließlich zur Gründung der Gruppe Classe Operaia führten.

Bis dahin waren die Operaist_innen kaum mehr als eine linkskommunistische Splittergruppe. Ihre Untersuchungen in den Fabriken lieferten zwar auf­schlussreiche Theorien, und ihre Inter­ventionen waren wirkungsvoll genug, um die Routinen der Gewerk­schafts- und Parteipolitik zu stören. Aber insgesamt waren sie weit entfernt, die kapitalistische Gesellschaft ernst­haft zu gefährden. Das änderte sich mit dem „Heißen Herbst“ von 1969. Eben diese ereignisreichen Jahre von 1968 bis 1973, in denen Italien nicht nur die größte Streikwelle nach dem 2. Weltkrieg erlebte, sondern wohl tatsächlich haarscharf an einer Revolution vorbeischrammte, will ich in diesem Teil behandeln.

Freilich lässt sich die Komplexität der Bewegung, die Vielzahl der Akteure und rasche Folge der Ereignisse hier nicht mal ansatzweise vollständig darstellen, sondern bestenfalls skizzieren – dies als dezente Warnung vorweg.

Arbeitermacht in Porto Marghera

Im Jahr 1967 war von den kommenden Unruhen noch wenig zu ahnen, und die Organisation Classe Operaia, die so etwas wie die Keimzelle der operaistischen „Bewegung“ bildete, hatte sich gerade in ihre Einzelteile zerlegt. Eine ganze Anzahl der Militanten (allen voran Mario Tronti) trat wieder in die PCI, die kommunistische Partei ein. (1) Die andere Fraktion entschied sich dafür, die eigene Unabhängigkeit zu bewahren und gründete die Organisation Potere Operaio („Arbeitermacht“) – oder besser Potere Operaio veneto-emiliano, abgekürzt PO-ve, so benannt nach den Regionen Emilio-Romagna und Venetien im Norden Italiens, auf die sich der Aktionsradius der Gruppe damals begrenzte.

Vorerst gelang es der Organisation nur in der Region von Porto Marghera an Einfluss zu gewinnen, wo sich in der Nähe von Venedig die petrochemische Industrie angesiedelt hatte. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass die PO-ve sich so aus­gerechnet in einem Industriezweig fest­setzen konnte, wo Angestellte und technisches Personal die Mehrheit bil­deten, während sonst vor allem die unqualifizierten „Massenarbeiter“ im Fokus der opera­istischen Debatte standen. (2)

Vor allem beim Unter­nehmen Montedison gelang es den Militanten, Kontakt zu den Be­schäftigten aufzubauen und Einfluss zu ge­winnen. Einen ersten großen Erfolg konnten sie dabei im Sommer 1968 erzielen. Aus Anlass der anstehenden Tarifverhandlungen, bei denen die Gewerkschaft wie üblich eine mäßige prozentuale Lohnerhöhung anpeilte, stellten die Aktivist_innen der PO-ve ihre eigene Forderung in den Raum: 10.000 Lire mehr im Monat, und zwar für alle! Von den Beschäftigten wurde dies begeistert aufgenommen, und auch die Gewerkschaft schloss sich widerwillig an, um die Kontrolle über die Lage nicht zu verlieren. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung war im August 1968 erreicht, als tausende Streikende zur nahen Stadt Mestre zogen und die Verbindungsstraßen nach Venedig blockierten. Wenig später brach die Gewerkschaft den Streik ab und einigte sich mit dem Management, wie üblich, auf eine prozentuale Lohnerhöhung.

Die Forderung nach gleichen Lohn­erhöhungen für alle kam in den Kämpfen dieser Jahre immer wieder auf. Den Arbeiter_innen war voll bewusst, dass das System der Lohn­kategorien vor allem dazu diente, die Masse der Beschäftigten in viele kleine Untergruppen zu zerlegen und so die Macht der Unter­nehmer zu sichern. Und jede prozentuale Lohn­erhöhung verstärkte die Unterschiede zwischen den Kategorien, weil in einer niedrigen Lohnkategorie natürlich auch die Er­höhung niedriger ausfiel.

Die Frage des Lohns war aber auch für die operaistische Theorie und Praxis dieser Zeit von zentraler Bedeutung. Schon der frühe Operaismus hatte die Planung als elementaren Bestandteil der kapitalistischen Wirtschaft erkannt. Das war einerseits ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem Parteimarxismus, für den jedes „Mehr“ an Planung ein Schritt in Richtung Sozialismus war. Allerdings neigten die Operaist_innen dazu, nun ihrerseits in umgekehrter Richtung zu übertreiben. Ihre Befürchtung war, dass es durch ein Programm der staatlich gelenkten und geplanten Wirtschaftentwicklung (wie es damals vor allem die sozialistische Partei PSI vertrat) gelingen könnte, die Kämpfe der Arbeiter_innen zu befrieden.

Von diesem Punkt aus lässt sich das Konzept des „politischen Lohns“ ver­stehen, das Mario Tronti schon Jahre zuvor formuliert hatte: „Vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus ist ein Kampf dann politisch, wenn er bewusst die Krise der ökonomischen Abläufe der kapitalistischen Entwicklung herbeiführt.“ Und der Lohn schien der geeignete He­bel zu sein, um so eine Krise her­bei­zuführen, wie Tronti meinte: „Das Ungleichgewicht, das Auseinanderfallen von Löhnen und Produktivität, ist ein politischer Fakt. Er muss als solches verstanden und benutzt werden.“ (3) Wenn Lohnerhöhungen, die strikt an die Steigerung der Produktivität gekoppelt blieben, ein Mittel der Kontrolle wa­ren, dann war die Entkopplung von Lohn und Produktivität ein Mittel der Revolution – so lautete der Umkehr­schluss, der auch die Politik von Potere Operaio in den Kämpfen des „Heißen Herbsts“ bestimmte.

Unzufriedene Jugend

Entscheidender Auslöser für die landes­weite Revolte waren dabei die Kämpfe bei FIAT, entsprechend der Rolle, die dieser Konzern in der italienischen Wirtschaft einnahm. Das Unternehmen produzierte 3% des Bruttoinlandsprodukts, 6% des Gesamtexports und 20% des Exports der Maschinenindustrie. Der Konzern besaß auch die zweitgrößte Tageszeitung Italiens, La Stampa, und hatte damit großen Einfluss auf die Politik und die „öffentliche Meinung“.

Die Erneuerung und Modernisierung der Anlagen war bei FIAT zu diesem Zeitpunkt weitgehend abgeschlossen. Steigerungen in der Produktivität wurden vor allem durch die immer stärkere Beschleunigung der Arbeitsrhythmen erzielt. Viele Beschäftigte sahen sich darum gezwungen der Arbeit tageweise fernzubleiben, um unter der Belastung nicht zusammenzubrechen – trotz der Lohneinbußen, die das zur Folge hatte. Rund 13% der Belegschaft waren so be­ständig abwesend. Zugleich verließen jedes Jahr etwa 10% der Beschäftigten das Unternehmen. Bei den neu Eingestellten waren es sogar 40%, die nach zwei oder drei Monaten wieder kündigten.

Im Vergleich zu den Gewinnen des Konzerns waren die Löhne im Laufe der 1960er nur unwesentlich gestiegen. Der gezahlte Grundlohn lag noch unter dem Existenzminimum. Die Arbeiter waren so zu allerlei Zusatzleistungen ge­zwungen, um über Prämien und Zu­lagen eine Summe zu erzielen, die halbwegs reichte, um die hohen Lebens­haltungskosten zu decken. Ein drängendes Problem waren vor allem die Wohnverhältnisse: Viele Arbeiter zahlten horrende Preise für ihre Schlafplätze, und hunderte mussten in den Bahnhöfen der Stadt oder im Auto übernachten, weil der Wohnungsbau mit dem Zustrom immer neuer Arbeitskräfte nach Turin bei weitem nicht Schritt hielt.

Gut die Hälfte der Turiner Stadt­bevöl­kerung war wirtschaftlich direkt oder indirekt von FIAT abhängig. Und die Zahl der Beschäftigten in den Werken war in den ver­­gangenen zwei Jahr­zehn­ten rasch ge­stiegen, von 71.000 im Jahr 1952 auf beinahe 160.000 im Jahr 1968.

Der Großteil davon, 80%, waren Arbeitsmigranten aus dem Süden des Landes – eben jene „Massenarbeitern“, die ich in dieser Artikelreihe schon öfter behandelt habe. Die meisten von ihnen waren männlich (alleinstehend oder mit Familie), zwischen 20 und 30 Jahre alt, verfügten kaum über Schulbildung und übten in der Fabrik gering qualifizierte, monotone Tätigkeiten aus.

Gegen Ende der 1960er stellten diese jungen unqualifizierten Arbeiter die Mehrheit in vielen Unternehmen (wozu die Konzerne selbst viel beitrugen, indem sie in der Rezession ab 1965 gezielt vor allem Frauen und ältere Arbeiter entließen). Und sie waren auch das treibende Subjekt im „Heißen Herbst“ bei FIAT.

In ihrem Kampf gegen die Arbeit drückte sich praktisch aus, was Mario Tronti in marxistischer Theoriesprache einige Jahre zuvor so ausgedrückt hatte: Die Arbeiter müssten ihren eigenen Status als Ware infrage stellen, sich weigern, als Arbeitskraft zu fungieren, um das Kapitalverhältnis von innen heraus zu sprengen. Die Arbeiterklasse müsse folglich dahin kommen, „das gesamte Kapital zum Feind zu haben: daher auch sich selbst, insofern sie selbst Teil des Kapitals ist. Die Arbeit muss die Arbeitskraft, insofern sie Ware ist, als ihren eigenen Feind ansehen.“ (6) Das war abstrakt genug formuliert, ließ sich aber erstaunlich gut auf die Alltagslage der jungen Arbeiter übertragen – die meisten von ihnen hassten ihren Job und wollten ihr Dasein als Lohnabhängige lieber heut als morgen beenden.

Allerdings war es nicht Mario Tronti, der diese jungen Arbeiter politisierte und zum Widerstand anregte. Weitaus wichtiger war dabei die Studentenbewegung, die ab 1967 auch in Italien als neue Kraft eindrucksvoll in Erscheinung trat – mit Uni­versitätsbesetzungen, De­mons­­trationen und Kämpfe mit der Polizei.

Die studentischen Militanten suchten dabei von Anfang an den Schulterschluss mit der Arbeiterschaft. Viele von ihnen stammten selbst aus proletarischen Familien, finanzierten sich das Studium mit mies bezahlten Gelegenheitsjobs und wohnten in denselben Vierteln wie die Arbeitsmigranten aus dem Süden. So entstand ein gemeinsames Milieu der Unzufriedenen, in dem auch die Theorien der operaistischen Gruppen an Einfluss gewannen. Indem sich der studentische Protest mit den Revolten und wilden Streiks in den Fabriken verband, gewann die Bewegung eine Brisanz und Ausdauer, die europaweit einzigartig war – letztlich sollte es in Italien ein rundes Jahrzehnt dauern, bis diese Revolte beendet war.

Revolte bei FIAT

Aber der Reihe nach. Schon 1967 hatten junge Aktivist_innen damit be­­gon­nen, vor den Werkstoren bei FIAT zu agitieren und Flugblätter zu ver­teilen. So entstanden erste Kontakte zu den Arbeitern und in die einzelnen Werkstätten hinein.

Bereits 1968 kam es bei FIAT zu ersten Streiks. Aber der ganze angestaute Un­mut entlud sich erst im Frühjahr 1969. In der Metallindustrie standen neue Tarifverhandlungen an. Die Ge­werkschaften planten, nach dem üb­lichen Modus zu verfahren: erste Ver­handlungen in den Sommermonaten, wenn die meisten Beschäftigten im Urlaub waren. Danach einige weitgehend symbolische Arbeitsniederlegungen, die für FIAT keine ernsten Einbußen brachten – die meisten Aufträge wurden vor der Sommerpause abgear­beitet, und da war der Konzern auch besonders auf reibungslose Abläufe an­gewiesen.

Nur diesmal lief es anders. Schon ab April 1969 kam es im FIAT-Werk von Mirafiori immer öfter zu Versammlungen, und schließlich wurde in einer Kundgebung von 8000 Arbeitern ein Streik be­schlossen. Die Initi­ative dazu kam von den gewerkschaftlich organisierten Fach­­arbeitern, die für die Wartung der Anlagen zuständig waren. Sie for­der­ten u.a. Lohnerhöhungen und die Ab­schaffung der niedrigsten Kategorie. Ab 11. Mai 1969 begann eine Reihe von je zweistündigen, noch gewerkschaftlich kontrollierten Arbeitsniederlegungen. Bald schlossen sich andere Abteilungen an, die Arbeiter der Zulieferabteilungen traten nun auf eigene Initiative in den Streik. Dadurch wurde der gesamte Produktionsablauf stillgelegt. Und als die Arbeit an den Montagebändern stockte, wo der Groß­teil der jungen „Massenarbeiter“ beschäftigt war, tra­ten auch diese in den Streik und tru­gen im Folgenden viel dazu bei, die Formen der Auseinandersetzung zu radikalisieren – durch zeitweilige Beset­zung einzelner Abteilungen, durch Sabotage, durch Militanz auf der Straße, aber auch durch neue und kreative Aktionsformen. So wurden etwa mit Demonstrationszügen durch die Fabrik die noch unbeteiligten Kollegen agitiert, sich den Streiks an­zuschließen.

Bald entstand eine regelmäßige „Ver­samm­lung der Arbeiter und Studenten“, die sich nach Schichtende in einem Lokal nahe Mirafiori trafen. Daraus wurde ein regelmäßiges Treffen, bei dem die Arbeiter der verschie­de­nen Werk­stätten In­for­mationen aus­­­­­tauschten und Aktionen für die folgenden Tage geplant wurden (5). Die allgemeineren Probleme und Fragen der Strategie wurden auf Versammlungen debattiert, die bald regelmäßig jeden Sonntag stattfanden. Aus diesem Kreis heraus entstanden Flugblätter, die vor den Fabriktoren verteilt und mit der Formel „la lotta continua“ (der Kampf geht weiter) unterzeichnet wurden – nach dieser Losung benannte sich später die gleichnamige Organisation, von der weiter unten noch die Rede sein wird.

Gewerkschaften und Bosse

Die Gewerkschaften sahen sich durch dieses autonome Handeln der Arbeiter in Bedrängnis gebracht. Sie mühten sich, die allgemeine Revolte in eine geregelte Choreografie zu überführen, bei der nur in einzelnen Abteilungen der Reihe nach gestreikt und gesondert verhandelt wurde. Das misslang erstmal gründlich. So begannen am 29. Mai die Arbeiter auf eigene Faust zu streiken, ohne den von den Gewerkschaften angesetzten Termin abzuwarten. Und als die Gewerkschaften Mitte Juni ei­nen neuen Vertrag für die Arbeiter an den Montagebändern präsentierten, reagierten diese mit offe­ner Ablehnung und traten zwei Tage später erneut in den Streik.

Andererseits konnten die Gewerk­schaf­­ten die Unruhe nutzen, um ihre ei­gene Position stärken, die bei FIAT traditionell eher schwach war. Bereits 1955 hatte FIAT die meis­ten Kader der Metall­­ge­werkschaft FIOM und der kom­­mu­nis­­­tischen Partei ge­feuert und zu­gleich eine eigene „gelbe“ Gewerkschaft gegründet. So war Ende der 1960er der Einfluss der unabhängigen Ge­werkschaften bei FIAT gering – nur ein Viertel der Beschäftigten war in ihnen organisiert.

Ihre wichtigste Forderung war nun die Anerkennung sog. „Abteilungs­delegierter“, mit denen sie ihre Entschei­dungsmacht im Werk zu vergrößern hofften. Mit Erfolg: Der Abschluss am 27. Juni 1969 beinhaltete u.a. die Anerkennung von 56 solcher Delegierten. Ebenso wurden Abteilungskomitees (comitati di linea) eingerichtet, die jeweils mit vier Repräsentanten je einer Gewerkschaft besetzt wurden.

Die Konzernleitung, zumindest de­ren „progressiver“ Flügel, war durchaus zum Entgegenkommen an diesem Punkt bereit. Denn damit die Gewerkschaften von den Arbeitern als offizielles Vertretungsorgan anerkannt wurden, mussten sie auch Erfolge vorweisen können, und dafür mussten man ihnen größere „Rechte“ zugestehen. Darüber war sich auch die Konzernleitung klar, wie sich deutlich an der Berichterstattung der von FIAT kontrollierten Tageszeitung La Stampa und dem Tenor der dort veröffentlichten Artikel zeigte. Zugleich versuchte La Stampa aber auch, gegen die linksradikalen „Agitatoren“ Stimmung zu machen, und intern legte die Kon­zern­leitung Listen mit den Namen vermeintlicher Rädelsführer an, die bei nächster Gelegenheit entlassen oder versetzt werden sollten.

Für den 3. Juli riefen die Gewerkschaften zum Generalstreik in Turin auf, um gegen den „Mietwucher“ zu protestieren und beim Parlament Aufmerksamkeit für ihre Forderungen zu schaffen. Sie verfehlten jedoch ihr Ziel, einerseits die Initiative und damit die Kontrolle zurückgewinnen, andererseits den Unmut auf andere Ziele zu lenken. Gegen Mittag sammelte sich vor dem Werk in Mirafiori ein etwa 3000 Per­sonen starker Demonstrationszug von Arbeiter_innen und Student_innen. Dieser wurde fast unmittelbar von der Polizei angegriffen. Das ließ die Lage eskalieren. Barrikadenkämpfe begannen, die bis in die Nacht dauerten und sich bis in die Vororte der Stadt ausbreiteten. Am Ende mussten die Polizeikräfte sich zurückziehen.

Die „organisierte Autonomie“ und der Staat

Nach dem 3. Juli breiteten sich die Kämpfe auf andere Industriezweige und Regionen aus. Bei Alfa Romeo, Innocenti, Sit-Siemens, Seat, Michelin, Lancia und Phillips wurde ebenso gestreikt wie bei Olivetti, in den Chemiefabriken von Porto Marghera ebenso wie in Rom, Bologna, Pisa und Florenz. Und auch bei FIAT gingen die Arbeitskämpfe nach der Sommerpause unvermindert weiter. Die Konzernleitung setzte nun auf harte Repression und begnügte sich nicht mehr damit, einzelne „Rädelsführer“ zu entlassen. Ihre Maßnahmen richteten sich vielmehr gegen alle, die an den Streiks beteiligt waren. Am 3. September wurden so insgesamt 40.000 Arbeiter „suspendiert“, die Hälfte davon aus Mira­fiori. Am Folgetag stürmten meh­­­­rere tausend der Entlassenen das Fa­briksgelände, zogen durch die Werk­­stätten und zet­tel­ten dort Ver­samm­lungen und Diskussionen an.

Die Bewegung weitete sich aus, trotz der Repression, die auch von der Polizei ausgeübt wurde. Am Generalstreik am 19. November beteiligten sich schließlich etwa 20 Millionen Arbeiter_innen. In diesem Kontext entwickelte sich Potere Operaio zu einer landesweiten Organisation mit zeitweilig bis zu 4000 Mitgliedern. Schon ab Frühjahr 1969 gab sie die Zeitung La Classe heraus, die ab Herbst auch überregional im Wochentakt erschien und für die De­batten der Bewegung sehr wichtig war. Daneben entwickelte sich Lotta Continua zur größten Gruppe der „organisierten Autonomie“. Ursprüng­lich wurde sie von studentischen Aktivist_innen gegründet, die nach Turin gekommen waren, um bei den FIAT-Kämpfen mitzumischen, und bildete sich bald zu einer landesweiten Organisation weiter. Ab November 1969 gab sie eine eigene Zeitung heraus. Die Organisation war auch weiterhin stark in der studentischen Linken verankert, hatte aber auch unter den jungen Fabrik­arbeiter_innen großen Einfluss.

Auch die Militanten dieser Grup­pen sahen sich einer zunehmenden staat­lichen Repression ausgesetzt. Eine dras­tische Wendung erhielt die Situation durch die Bombenanschläge vom 12. Dezember 1969. Eine Bombe detonierte in der Mailänder Land­wirtschaftsbank, 16 Menschen wur­­den getötet und wei­tere 80 verletzt. Auch in Rom explodierten drei Bomben, hier gab es keine Toten, aber viele Verletzte. Tatsächlich waren diese An­schläge von faschistischen Grup­pen durchgeführt und von staat­lichen Ins­tanzen, Mili­tär und Geheim­diensten, un­ter­stützt worden. Die Poli­zei kon­zentrierte sich mit ihren Er­mitt­lungen aber ausschließlich auf die radikale Linke und konnte umgehend die angeblichen Täter präsentieren. Eine Rei­he von Anarchisten wurde ver­haftet. Einer von ihnen, Pino Pinelli, stürzte bei einem Verhör aus einem Fenster im vierten Stock und starb.

Um diese Zusammenhänge halbwegs erschöpfend darzustellen, wäre frei­lich mindestens ein eigener Artikel notwendig (6). Jedenfalls erfüllte das „Staatsmassaker“ von Mailand seinen un­mittelbaren Zweck. Es begann eine Pressekampagne gegen die Streikenden und die studentischen Unruhestifter. Unter diesem Druck beeilten sich die Ge­werkschaften zu verhandeln. Am 21. Dezember 1969 wurde der letzte Tarif­vertrag bei FIAT abgeschlossen. Der „Frieden“ war vorerst gerettet.

Die staatliche Repression und die geheim­dienstliche „Strategie der Spannung“ soll­ten die linke Bewegung die ganzen 1970er hindurch prägen und langfristig auch zu ihrem Ende führen. Mittelfristig führten sie dazu, dass sich die Politik großen linksradikalen Gruppen, Potere Operaio und Lotta Continua, von den Fa­bri­ken auf die Straße verlagerte. An­ti­faschistische Demonstrationen und Kämpfe mit der Poli­zei spielten eine immer größere Rol­le. Zugleich verschärften und ver­engten sich die internen Debatten – die Konfrontation mit der Staatsmacht wurde nun zum wichtigsten Punkt. Der „Aufbau der bewaffneten Partei“ wurde eine gängige Parole, sowohl bei Potere Operaio als auch bei Lotta Continua.

Dies war dem An­spruch der Gruppen, von den Kämpfen „an der Basis“ aus­­zugehen, eigent­lich diametral ent­gegen­gesetzt. Die­ser Widerspruch ließ sich letztlich nicht lösen – und zumindest die Aktivist_innen von Potere Operaio waren konsequent genug, sich dies einzugestehen und be­schlossen auf der letzten nationalen Kon­ferenz der Or­ga­­­nisation im Mai 1973 die Auflösung. Mit den Ursachen dieser Entscheidung werde ich mich im nächsten Heft noch beschäftigen. Dabei wird vor allem die feministische Gruppe Lotta Femminista im Fokus stehen, die als Abspaltung von Potere Operaio entstand und die operaistische Kritik der „produktiven Arbeit“ in der Fabrik um eine Kritik der Hausarbeit erweiterte. Damit spielte sie nicht nur für die italienische Frauenbewegung, sondern auch die autonome Bewegung der 70er Jahre eine wichtige Rolle. Im letzten Teil dieser Artikelreihe will ich dann vor allem Toni Negri Thesen vom „gesellschaftlichen Arbeiter“ als neuem revolutionären Subjekt beleuchten. Ihr dürft gespannt sein.

(justus)
(1) Wichtige Hinweise zu Trontis weiterer Entwicklung gibt Theodor Sander: „Von der Theorie der Arbeitersubjektivität zur antiproletarischen Propaganda“, Universität Osnabrück 1999.

(2) Bezeichnend ist die Haltung Mario Trontis, der 1967 das technische Personal als „eine Handvoll Techniker“ abtat, „die sich damit brüsten, Mehrwert zu produzieren, indem sie Knöpfe drücken“. Vgl. Steve Wright: „Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus“, Assoziation A, Hamburg/Berlin 2005, S. 115

(3) zitiert nach Steve Wright 2005, S. 78.

(4) Mario Tronti, „Arbeiter und Kapital“, online unter www.kommunismus.narod.ru/knigi/pdf/Mario_Tronti_-_Arbeiter_und_Kapital.pdf, vgl. „Fabrik und Gesellschaft“, S.22 im PDF.

(5) Wolfgang Rieland (Hg.): „FIAT-Streiks – Massenkampf und Organisationsfrage“, Trikont Verlagskooperative München, 1970, S. 72.

(6) Literatur zum Thema ist jedenfalls genug vorhanden. Vgl. z.B. Luciano Lanza: „Bomben und Geheimnisse – Geschichte des Massakers von der Piazza Fontana“, Edition Nautilus, Hamburg 1999, oder Dario Fos Theaterstück „Zufälliger Tod eines Anarchisten“, das die Ereignisse literarisch verarbeitet.

Weitere verwendete Literatur:
Nanni Ballestrini/Primo Moroni: „Die goldene Horde – Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien“, Assoziation A, Berlin 2002

Theorie & Praxis