Die Großstadtindianer (Folge 6)

Streifzüge – zur Kritik

Als ich Kalles Kapitel fertig gelesen hatte und er mich erwartungsvoll und lobessicher ansah, hätte ich die Seiten am liebsten aus dem Notizbuch herausgerissen. Sicher auch ein wenig wegen meines verletzten Stolzes. Ganz bestimmt aber, weil ich nicht glauben konnte, daß Kalle gerade in dem schwierigen Verhältnis zur Gewalt so verklärt, so kritiklos gedacht hatte. Eine harmlose Rempelei, für die Addi mit einem Urlaubstag wegen eines verstauchten Knöchels löhnen mußte; und an der er im Übrigen nicht ganz unschuldig war. Der Alleingang gegen jede Abmachung. Und nicht zuletzt der Zahn, den Kalle sich quasi selbst ausschlug, als er versuchte, eine harmlose Tür zu öffnen. Das Ganze aufgebauscht zu einer Blut-und-Ehre-Geschichte, Zahn um Zahn … nach einigem persönlichen Hickhack haben wir dann doch noch sehr lang und ausführlich über die ganze Sache diskutiert und uns auf die obige Formel der Kritik geeinigt. Danach war unsere erste Idee, die Diskussion als Weiterführung der Geschichte wiederzugeben. Als jedoch Boris, Moni und Schlumpf von dem Projekt mit dem Büchlein und unserem Streit erfuhren, mußten wir kurzerhand auf eine Gruppendiskussion umplanen, so sehr hatte die Idee die drei entflammt. Außerdem wollte jeder von ihnen in Kürze selbst eine Anekdote zum besten geben. Ein verheißungsvoller Gedanke, der mich schon jetzt entzückt.

Wir trafen uns also am Abend auf dem Dach des Wohnhauses. Kalle hatte eine erste Kostprobe des diesjährigen Holunderblütenweins vorbereitet, Moni einen mühlsteinförmigen Käse in der Käserei erworben und ich aus unserem eigenen Mehl drei Brote gebacken. Die Diskussion unter einem phantastischen Sternenzelt dauerte die halbe Nacht, und ich kann sie hier leider nur ungenügend, auf Grundlage einer Mitschrift wiedergeben, die im späteren Abend nicht zuletzt wegen des schweren aber äußerst mundenden Weins immer unsauberer wurde: …

Kalle: Ich glaub‘ halt, daß man sich ab und an auch wehren muß, als damals die Kameraden vom Oststurm vorm Tor standen, hat auch keiner daran gedacht, daß alles hier aufzugeben.

Schlumpf: Ich weiß nicht …

Finn: Wenn wir hier gewaltbereiter gewesen wären, hätte die Lage viel schneller eskalieren können. Außerdem Kalle, ging dem Ganzen ja eine Kette von Provokationen voraus.

Kalle: Die wär’n auch so irgendwann gekommen, glaub‘ mir.

Moni: Das Problem ist doch, daß gerade diese Leute auf politischen Widerstand mit Gewalt antworten. Was bei uns aus einer Folge von Provokationen erwächst, ist bei denen schon von Anfang an mitgedacht.

Finn: Aber wer sind DIESE Leute, Moni?

Moni: Sexisten, Rassisten und Faschisten. Frauen im Schnitt weniger. Das kann man doch klar belegen.

Boris: Titel! Nichts als Titel. Ideologische Negativsubjekte. Selbst ein Arbeitgeber kann in Folge wechselnder Lebenslagen zum Arbeitnehmer werden. Das Leben ist im Fluß …

Moni: … Man muß das doch benennen können! Ich kenne genug Sexisten, auch einige Rassistinnen. Und die Leute damals, Finn, die vor unserem Tor standen, das waren organisierte Faschisten.

Finn: Woher weißt Du das so genau?

Moni: Demonstrationen, Flugblätter, Aktionen – aus ihrem politischen Handeln und ihrer Ideologie. Hier hat doch schon immer unsere Kritik angesetzt.

Kalle: Und unser Kampf gegen die Strukturen, die Logistik, die Kader …

Schlumpf: Drei von den jüngeren habe ich wiedererkannt. Wir haben mal zusammen ein Feuerchen gemacht. Am Badesee. Da kamen sie mir ganz nett vor, ein bißchen naiv, aber ganz harmlos.

Boris: Die haben sich halt beeinflussen lassen. Da fällt der Groschen vielleicht noch. Gerade solche sollten wir aufklären.

Kalle: Ja, vor allen Dingen, wenn sie mit Knüppeln vor Deiner Tür stehen …

Finn: Du bist unfair, Kalle. In Deiner Geschichte zieht ihr auch los, um den ‚Anderen‘ einen Denkzettel zu verpassen, „einen Hinterhalt legen“. Ich kann den Unterschied gerade nicht sehen.

Kalle: Die hatten es verdient!

Boris: Wir …

Schlumpf: Aber Addi hatte doch schon den ganzen Abend Stunk gemacht und …

Finn: … er war sturzbetrunken. Jemand hat ihm ein Bein gestellt. Nicht fein, aber davon geht doch die Welt nicht unter.

Boris: Wir… wir kannten die doch. Langjährige Kameraden.

Finn: Eben. Euer politischer Widerstand ist in Gewalt umgeschlagen. Murphy sei dank, ging die Sache glimpflich ab.

Moni: Finn, verharmlost Du das nicht? Addi hatte schließlich Glück. Die ganze Geschichte hätte auch viel böser enden können.

Boris: Es reicht eben nicht, nur ihre Ideologie zu kritisieren. Man muß auch handgreiflich werden, da hat Kalle schon recht.

Schlumpf: Physische Gewalt mit einbegriffen? Da renn ich doch lieber weg.

Finn: Ich glaub‘ auch nicht, daß jemals jemand durch den berüchtigten Schlag auf den Hinterkopf auf ganz neue Ideen gekommen ist. Jedenfalls nicht unmittelbar … oder wollt ihr den ‚Anderen‘ darniederstrecken, am Ende vernichten?

Boris: Und doch muß man sich schützen können.

Moni: Und nicht erst, wenn es zu spät ist!

Finn: Aktive Prävention, heißt dann für Euch: Dem ‚Anderen‘ eins überbraten, bevor der anfängt?Das ist doch absurd.

Kalle: Der Kampf wurde schon längst begonnen, Finn. Gegen Arbeiterinnen, Kommunisten, gegen Schwarze und Jüdinnen, gegen Anarchisten, Frauen und Ausländer, gegen indigene Stämme, gegen Volksgruppen, Minderheiten und das ‚Abnorme‘. Wieviele wurden umgebracht, Finn, wieviele.

Moni: Ich denke auch, daß man hier Gewalt von Gewalt unterscheiden muß. Man darf solchen Ideen nie wieder eine Chance geben.

Schlumpf: Und die Menschen dahinter total verteufeln?

Boris: Nein. Natürlich nicht. Aber sie sind es schließlich, die für ihr Tun und Lassen in Verantwortung gesetzt werden müssen. Das heißt auch, sich an heißen Kartoffeln die Finger zu verbrennen.

Finn: Ich glaub‘ halt nicht, daß das große Lernerfolge zeitigt. Jeder hat doch viel mehr davon, wenn man ihm erklärt, warum es besser ist, heiße Kartoffeln nicht anzufassen.

Kalle: Gerade Leute, die für ihr offenes Ohr und ihr Verständnis berüchtigt sind? Ich weiß nicht.

Boris: Aber ganz unrecht hat Finn nicht. Das Gespräch abzubrechen, ist auch ein gewisses Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit. Im Gespräch hat man immer noch die besten Chancen, den ‚Anderen‘ abzubringen, vom Besseren zu überzeugen.

Schlumpf: Schließlich wollen wir es selber ja auch besser machen, als die. Politischer Widerstand bedeutet deshalb für mich auch in gewisser Form Gewaltlosigkeit gegen andere Körper und Geister. Ich will weder das Bewußtsein noch die Tatkraft eines anderen manipulieren, sondern ich will, daß er selbst weiterkommt.

Moni: Du hast ja recht, aber trotzdem müssen wir uns und Schwächere schützen und gerüstet sein, damit ihre Gewalttätigkeit wirkungslos bleibt. Das ist ja kein Spiel, irgendwann kann man einfach keinen Schritt mehr zurückgehen, dann bleibt nur noch, sich zur Wehr zu setzen.

Finn: Aber erst dann. Vorher steht die Kritik der Ideen und Mittel ihrer Umsetzung, der Widerstand gegen politische Wirkungsmacht und kulturelle Repression. Die Taktik des Ausweichens und Aussprechens. Gewalt resigniert am Menschen. Das sollte mensch auch niemandem vorleben und schon gar nicht kritiklos verherrlichen.

Kalle: Da sind wir uns doch einig, oder?

(Fortsetzung folgt.)

clov

…eine Geschichte

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