Nach dem geschichtlichen Exkurs im letzten Heft, welcher uns zu den Schriften Kropotkins führte, widmen wir uns hier und jetzt wieder der Aktualität. Aber was könnte in diesen Tagen aktueller sein, als die systematische Gewalt von sogenannten „präzisen“ Bomben, die schicksalsgleich über dem irakischen Staatsgebiet niedergehen und das konkrete Leid so vieler Menschen heraufbeschwören, dass die Vorstellung eines zukünftigen, möglichen, größeren Leids dagegen verblasst. Streckt die Waffen, möchte man den irakischen Militärs zurufen, macht diesem Spuk ein Ende, und dabei erwische ich mich bei dem heimlichen Groll, dass sich die US-amerikanische Politik der Macht und des Geldes wieder einmal gegen einige Vernunft durchgesetzt hat. Doch soll trotz alledem der militärische Krieg nicht Thema des folgenden Artikels sein. Vielmehr rückt in den heutigen Tagen wieder verstärkt die politische Ordnung unserer Gesellschaft ins Zentrum der Kritik. Engagierte Friedensbewegte, ob Frau oder Mann, Kind oder Greis, kommen immer seltener um die Erkenntnis herum, wie Politik (Macht) und Ökonomie (Geld) sich in unserer Gesellschaft fatal verzahnen. „Heraus ihr Menschen in den Häusern, auf die Steige, auf die Straßen! Auf zum Ersten Mai!“ – die Maiparolen waren stets im doppelten Sinne hoffnungsvoll: Widerstand gegen die gegebene Ordnung ist nötig und andere Vergesellschaftungsformen sind möglich. In diesem Sinne …
Wenn mit dem Wonnemonat Mai die schönsten Frühjahrstage des Jahres näherrücken, die erste Maiwoche ins Blickfeld (außerparlamentarischer) politischer Aktivität gelangt, müssen sich heute Engagierte mit der rauhen Wirklichkeit konfrontieren. Sicher, der Erste Mai ist vielen als staatlicher Feiertag bekannt, doch schon bei der Frage nach den Gründen seines Bestehens (s. Artikel auf S. 1 bzw. S.6/7) wird bei einigen das Bewusstsein lückenreich. Ganz zu schweigen von solch sekundärem (weil nicht staatlicher Feiertag) Anlass wie der Befreiung vom deutschen Faschismus am 8. Mai (s. S. 8/9) oder gar einer Demonstration gegen spezifische Formen der Arbeit in Erfurt am 6. Mai (s. S45). Aber letztere sind ja auch nicht durch den Staat von der Arbeit befreit. Warum eigentlich nicht? Mensch kann halt nicht zu jedem Anlass feiern und nicht arbeiten. Aha! … So? … Aber warum nicht!? Gibt es keinen Zusammenhang zwischen dem Tag, der zum Widerstand gegen die Auswirkungen unserer kapitalisierenden Ökonomie aufruft, dem Tag, der an die faschistischen Schrecken – Auswüchse nationalsozialistischer Ökonomie erinnert, und einem Tag, der den Stigmatisierten unserer sozialen Hierarchien gewidmet ist? Und ist nicht die Erwerbslosigkeit ein Stigma unserer Gesellschaft; der faschistische Umschlag eine reale (weil geschichtlich belegte) Möglichkeit des Nationalstaates; ist es nicht die Organisierung der Arbeit, die unsere individuellen und kollektiven Geschichten wesentlich prägt?
Aber die Wirklichkeit ist hart. Massenhaft könnte man die Trauben nennen, die sich am letzten Apriltag vor dem Supermarkt ballen, um an das begehrte Grillmaterial heran zu kommen, kreativ die verschiedenen Pläne für den freien Tag, aktiv den Verdauungsspaziergang nach dem Mittagsschläfchen, mächtig die Kraft, die mensch aus so einem erholsamen Tag ziehen kann … aber die Aktionen am 1. Mai: Massenhaft? Aktiv? Kreativ?? Mächtig??? Nein. Und am 6. und 8.? Vergessen. Die Wirklichkeit ist gnadenlos. Die Zeit, in der die Maikundgebungen die tiefen Gräben zwischen Nord und Süd, Ost und West überflügelten und so manches schwache Herz erzittern ließen, sind längst vorbei. Und angesichts der Agitationen, der sich die Massen teilweise ausgesetzt sahen, angesichts der Vermarktung weltweit ist das vielleicht auch gut so. Also doch lieber das kühle Bierchen, das erste Bad im Freien, abends Zucchini oder Schwein auf dem Grill und natürlich ein paar liebe Leute, davon gibt es Menschseidank noch immer genug.
So will ich Dir denn nicht von Massendemokratie, Großdemonstration, politischer Ökonomie, Streiks, Arbeit, Ohnmacht, dezentraler Aktion usw. sprechen, sondern von einem perfekten Maitag einem Tag, der politisch ist, weil das Problem der Arbeit jeden einzelnen von uns betrifft; einem Tag, der durch Abwechslung erholt, weil jeder einzelne auch ein bisschen müde vom Alltag ist; einem Tag, der Freude und Wissen stiftet, weil er die Begegnung mit dem Anderen ermöglicht. Von einem Tag also, an dem die Sonne strahlt, von einem lauen Abend und einer klaren Nacht möglich durch den Willen jedes einzelnen allein. Na ja, ich geb´ zu, das mit dem Wetter ist eine kleine Schwierigkeit, aber ich glaube fest daran, dass am ersten Mai in europäischen Breiten überdurchschnittlich gutes Wetter war und sein wird. Von einem solchen Tag will ich Dir erzählen.
Die Vorbereitung…
… ist natürlich um so fruchtbarer, je gründlicher sie erfolgt. Über die Jahre jedoch kannst Du mehr und mehr aus der eigenen Maierfahrung schöpfen. Mein Minimalvorschlag Zuerst, nichts anderes vornehmen! Ja nicht arbeiten! Weiterhin unentbehrlich sind natürlich einige liebe Menschen, nur mit ihnen kann der Tag gelingen. Keine Einzelgänge. Für den politischen Teil sollten auf jeden Fall auch Leute „von Arbeit“ einbezogen werden. Halt auch mal über persönliche Gräben springen! Im Vorfeld wird es nötig sein, sich mit den anderen Interessierten zu verständigen und konkrete Probleme am Arbeitsplatz zu sichten. Amtsträger der Gewerkschaften bieten meist einige erste Informationen und Kontakte. Hier allerdings nur vorsichtig verwickeln lassen, um Agitation zu vermeiden, lieber selbständig was machen. Hast Du Deine soziale Gruppe gefunden, mit der Du den ersten Maitag verbringen willst, könnt Ihr zu planen anfangen.
1. Die aktive Teilnahme an der nächsten erreichbaren Kundgebung [1];
2. Eure eigene Aktion, bei der Ihr über den Inhalt und die Form in Gänze bestimmen könnt;
3. Den Weg zum und das Picknick am nächsten Badesee (Pool?);
4. Ort und Versorgung für den Grillabend.
Zur Teilnahme an der Demonstration ist wesentlich nicht viel Vorbereitung erfordert, ein Transparent mit eigenem Inhalt (Kinder malen unheimlich gern!), bestenfalls ein paar Handzettel (evtl. mit konkreten Hinweisen, die Probleme des eigenen Arbeitsplatzes betreffend) und ein Proviantbeutel + ein bis zwei Wasserflaschen.
Für Eure eigene Aktion ist etwas mehr gefordert. Welche Themen wollt Ihr verbinden? Was erreichen? Wen ansprechen? Auch hier bietet sich eine Verbindung mit Eurem eigenen Arbeitsplatz an. Aber was machen? Der Phantasie sind eigentlich nur durch den Gesetzeshüter und Euch selbst Grenzen gesetzt. Die Leute in der Stadt oder im Dorf sind an Feiertagen meist in guter Stimmung und offen für kreative Ideen und Gedanken und je mehr Ihr seid, um so mehr Spaß ist garantiert.
Für den Badeausflug ist eigentlich nur Ort und Mobilität zu planen, der Einkauf kann mit dem Grilleinkauf verbunden werden und sollte am besten schon 2-3 Tage vor dem Feiertag erledigt sein, um sich nicht am Maivorabend völlig stressen zu lassen und am nächsten Morgen gar mit dem falschen Fuß aufzustehen. Beim Einkauf nicht das Frühstück am 1. Mai vergessen!!!
1. MAI – morgens
Relativ früh aufstehen und während des ausführlichen Frühstücks über konventionelle Medien [2] informieren. Wer schon zum Frühstück zusammen trifft, kann sich im gegenseitigen Austausch einstimmen. Pünktlich zur Demonstration aufbrechen, die Gewerkschaften warten nicht lang. Aktive und befriedigende Teilnahme bedeutet auf einer fremdbestimmte Demonstration vor allem, den eigenen Inhalt selbstbewusst zur Wirkung zu bringen. Sowohl das Aufnehmen von Informationen, das Gespräch mit Leuten (anderer Meinung, was äußerst häufig der Fall ist), als auch kreative Formen der Demonstration (Tanz, Musik, Theater etc.) tragen zum eigenen Wohlgefühl und auch zu dem Anderer bei, stärken zudem die Außenwirkung der Demonstration und vertiefen die eigenen Wissenspfründe. Das Publikum bei Maidemonstrationen ist oft bunt gemischt, von Kindern bis zu Greisen, so dass die Laufstrecken relativ kurz sind. Während der abschließenden Kundgebung kann man den Reden folgen, was nicht selten langweilig und die eigenen Vorurteile bestätigend ist (Vorsicht vor Wahlagitationen!!!), oder sich noch ein wenig im Meinungsbild umsehen, hier und da an einem Stand die Schriften sichten und ein zweites Frühstück einlegen.
1. MAI – mittags
Die Teilnahme an den Großkundgebungen ist m. E. gerade deshalb wichtig, weil sich mit ihrer medialen Repräsentation eine solidarische Funktion verbindet. In den sogenannten Peripheriestaaten und den Staaten der Dritten Welt stellt die Großdemonstration neben der Propaganda der Tat (militante bis paramilitärische Aktionen) oft die einzige Möglichkeit dar, politische Macht zu entfalten, um die eigenen Rechtsformen (Arbeitsrecht/Sozialrecht) weiterzuentwickeln. Die früher international, heute global genannte Verständigung darüber, dass jeder einzelne Mensch letztendlich zusammen mit vielen anderen in einem Boot sitzt; dass letztlich jeder aus den Fehlern des Andern zu lernen vermag [3]; dass politischer Reorganisierungsdruck im nationalen Rahmen heute undenkbar scheint, für diese Verständigung können die gemeinsamen Kundgebungen ein Funke sein [4].
Trotz alledem ist selbst die aktive Teilnahmen an solchen Großdemonstrationen nicht selten unbefriedigend, weil mensch sich fragt: Und nun? War das schon alles? Um dieses aufsteigende Gefühl der Ohnmacht beim zweiten Frühstück gleich wieder aus de Gliedern zu treiben, lautet meine Empfehlung für die frühen Mittagsstunden, bevor die Sonne die letzte Motivation ausdörrt: selbstbestimmte Aktion. Je konkreter desto besser. Das Sensibilisieren Deiner und Eure Mitmenschen für bestimmte Probleme und Zusammenhänge kann genauso fruchtbar sein wie konkretes Eingreifen [5]. Welcher konkrete Inhalt welcher Form bedarf, darüber müsst Ihr Euch in Eurer Gruppe selbst verständigen, schließlich müsst Ihr Euch auch zusammen klar sein, wie weit Ihr im einzelnen gehen wollt, zudem verfügt eben Ihr am Besten über den eigenen Inhalt. Lange Rede, kurzer Sinn: Geht nach den Kundgebungen nicht nach Hause, sondern macht was! Der 1. Mai ist schließlich ein politischer Tag, und jeder einzelne hat das Recht, seine Meinungen, Bedürfnisse und Interessen zur Geltung zu bringen. Erfolg (fruchtbares Gespräch, glückliche Verhandlungen, gelungene Aktion) und Spaß (mit lieben Freunden, Spiel u. Aufmerksamkeit) bei einer selbstbestimmten Aktion sind gutes Rüstzeug gegen Ohnmachtsgefühl und Pessimismus und stärken zudem die eigenen Resistenzen gegen den übermächtigen Alltag.
1. MAI – nachmittags
Irgendwann ist dann aber auch der letzte Funke Aktivismus aufgebraucht Der Magen knurrt und die Beine werden schwer. Gut, dass das Picknick am Badesee geplant war. Richtig abkühlen, den Bauch vollschlagen und ein wenig ausruhen. Was gibt`s Schöneres, als wenn mensch dabei noch einmal die Ereignisse und Erlebnisse des langsam vergehenden Tages Revue passieren lassen kann, sich Freunde zum Austausch und zur Diskussion anbieten, die Ähnliches und Selbes erlebt haben. Jetzt noch in einem guten Buch geschmökert, das eine oder andere Flugblatt erschlossen, etwas Ballspiel oder einfach nur die Beine lang gemacht, und der Grillabend wird zum Sahnehäubchen des Tages.
1. MAI — abends
Wenn dann nachts die Feuer glühet, die Glut im Grill brütet – die wachsame Maisonne sich mit einen Zwinkern verabschiedet und die Nacht in all ihrer klaren Schwärze heraufzieht – wenn freundschaftliches Geplauder in unentwirrbaren Blasen über der abendlichen Stille liegt und sich die Gedanken in jener Unendlichkeit der Augenblicke spiegeln, warum sollten Pessimismus und Hoffnungslosigkeit dann noch Macht haben, warum sollten dann nicht Lösungen für Probleme gefunden werden, der Zusammenhang vom 1., 6. und 8. Mai plötzlich deutlich vor den Augen erscheinen, warum nicht die Kraft gewonnen sein, neue Möglichkeiten wirklich werden zu lassen. Warum, frage ich, sollte ein glücklich erlebter,weil erfolgreicher und fruchtbarer, Erster Mai nicht das ins Werk setzen, was kühne Träumer einst ersonnen; warum nicht zum kühnen Traume selbst beleben, Kräfte schenken, um dem Alltagsdruck ein Spänchen Freiheit abzutrotzen. Und ist es nicht jeder einzelne von uns, dem die Macht zukommen sollte, über die Notwendigkeiten des alltäglichen Lebens, seine Möglichkeiten zu erkennen und in die Tat umzusetzen? Deshalb sage ich Feierabend! In den Mai …
clov
P.S.: Eine gründliche Nachbereitung kann sehr zweckmäßig sein.
(1) In allen großen Städten veranstalten diese traditionell die Gewerkschaften, es gibt aber auch immer wieder Demonstrationen von Personen und Bündnissen.
(2) Alternative Medien bestechen selten durch Aktualität und sind zudem weniger greifbar.
(3) Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass niemandem gedient ist, wenn die Geschichte der Europäer oder das US-Modell nur nachgeahmt wird.
(4) Es steht zu erwarten, dass an diesem 1. Mai vielerorts auch Anti-Kriegs-Demonstrationen stattfinden. Da auch hier Solidarität und Verständigung nötig sind, bietet sich die Möglichkeit, die ohnehin nahe beieinander liegenden Themen der ökonomischen Organisierung und der militärischen Gewalt (politischen Macht) in einer machtvollen, weil globalen und dezentralen Demonstration zu verbinden. Bei alledem sei jedoch nicht vergessen, dass die mediale Repräsentation, direkte Kontakte und Aktionen nicht ersetzen kann.
(5) Z.B. den Boss beim Mittagsschlaf zur Rede stellen, Blockieren von Produktionsbetrieben (z.B. Rüstung), Kasernen oder öffentlichen Einrichtungen (auch Bahn etc.) usw., Streiks oder etwa Vernetzung mit anderen Gruppen und Assoziationen (auch der Mobilitätsvorteil der westlichen Hemisphäre sollte genutzt werden, um Maiaktionen an anderen Orten der Welt zu unterstützen).
Theorie & Praxis