Eine Anarchismuseinführung ihrer Zeit

Kaum ein Thema wird in der öffentlichen Debatte so verzerrt dargestellt wie der Anarchismus. Knappe und niedrig­schwellige Anarchismuseinführungen sind daher ein an Wichtigkeit nicht zu unterschätzender Beitrag, um diese schiefe Optik etwas zu berichtigen. Zahlreiche AnarchistInnen aus Geschichte und Gegenwart haben sich daran bereits versucht.

Auch die US-amerikanische Anarchistin Cindy Milstein, die u.a. beim Institute for Anarchist Studies aktiv ist, steuert mit ihrem Buch Der Anarchismus und seine Ideale nun einen derartigen Beitrag bei. Von anderen, viel gelesenen und geschätzten Anarchismuseinfüh­rungen wie Alexander Berkmans ABC des Anarchismus (erschienen 1929) oder Nicolas Walters About Anarchism (erschienen 1969) unterscheidet sich dieses Buch dadurch, dass es ganz dezidiert den Anspruch hat, eine Einführung auf dem Stand des 21. Jahrhunderts zu sein – also eine, wie es im Klappentext heißt, „Einführung in den Anarchismus, die unserer Zeit gerecht wird.“

Glücklicherweise verwechselt Milstein diesen Anspruch nicht mit einer „Vergesst die alten Männer mit den langen Bärten“-Attitüde, sondern stellt klar, dass wir „die Bedeutung des Anarchismus nur begreifen [können], wenn wir seine Vergangenheit verstehen.“ (S. 15) Und so bezieht sie sich in ihren Ausführungen immer wieder abwechselnd sowohl auf klassische Theorien und Texte des Anarchismus aus dem 19. Jahrhundert als auch auf aktuelle Beiträge und Debatten. Zur Frage des historischen Erbes des Anarchismus regt die Autorin weiter an, dass die „anarchistische Geschichte […] nicht nur studiert werden [soll], um die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden, sondern auch, um uns in Erinnerung zu rufen, wie viele Menschen bereits seit Langem die ‚Pfade in Utopia‘ wandern, von denen Martin Buber schrieb.“ (S. 15)

Das herausragendste Charakteristikum des Textes ist jedoch Milsteins Fokus auf die „Ethik des Anarchismus“, auf die „besonderes Gewicht“ (S. 8) gelegt werden soll – also auf „die Werte, die anarchistisches Handeln prägen und die dem Anarchismus einen besonderen Charakter verleihen.“ (S. 8). Sie schreibt hier metaphorisch von einem „gemeinsamen ethischen Kompass“ (S. 54), an dem sich Anarchist­Innen orientierten. Die „ethischen Werte“, die sie als zentral im Anarchismus betrachtet und die in einzelnen kurzen Kapiteln behandelt werden, lauten z.B. „Freiheit und Befreiung“, „Gleichheit und Ungleichheit“, „Gegenseitige Hilfe“, „Ökologie“, „Freiwillige Assoziation und Verantwortlichkeit“, etc. Für Milstein macht der Anarchismus „die Ethik zur wichtigsten Frage von allen“ (S. 56), was durchaus ein spannender Zugang ist. Ihre Ausführungen zu diversen Fragen anarchistischer Ethik sind anregend und gelungen. Das einzige, was hier jedoch etwas irritiert, ist die völlige Abwesenheit ausgerechnet der (ethisch höchst relevanten) Ge­walt­frage. Wenn man anarchistische Ethik schon so prominent platziert und anarchistische Werte wie „präfigu­rative Politik“ – also, dass es eine „ethische Entsprechung zwischen Mitteln und Zielen“ (S. 82) geben sollte – hervorhebt, verwundert es umso mehr, dass dieses Thema überhaupt gar nicht erst vorkommt (nur zweimal wird es indirekt gestreift, allerdings für mein Empfinden eher unglücklich, wenn im Kontext des Battle of Seattle der Schwarze Block positive Erwähnung findet und ein zweites Mal, etwas differenzierter, bei der Frage nach der „Vielfalt der Taktiken“).

Trotz dieses kleinen Einwandes wird das Buch jedoch dem, was es sich zur Aufgabe gemacht hat – nämlich eine Anarchis­museinführung für das 21. Jahrhundert zu sein – durchaus gerecht. Milsteins Reflexionen zu zahlreichen grundlegenden Themen des Anarchismus sind spannend und anregend. Sie schafft es sowohl historische mit aktuellen Beispielen, Ansätzen und Theorien zu verbinden, als auch die Heterogenität der anarchistischen Bewegung zu betonen, ohne dabei in die Beliebigkeit abzudriften. Zudem schafft das Buch etwas, was bei Einführungsbüchern beson­ders schwierig scheint: Es dürfte sowohl für EinsteigerInnen von Interesse sein, als auch für LeserInnen, die sich schon lange mit anarchistischer Theorie und Praxis auseinandersetzen.

Sebastian Kalicha

Cindy Milstein: Der Anarchismus und seine Ideale. Aus dem Amerikanischen von Gabriel Kuhn. Unrast Verlag, Münster 2013. 95 Seiten, 7,80 Euro, ISBN 978-3-89771-533-2.

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