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Anarchismus zwischen den Stühlen

Errico Malatestas anarchistische Interventionen

Als „hochangesehener Querkopf der anarchistischen Bewegung“ wird Errico Malatesta im Klappentext des neuen, von Philippe Kellermann zusammengestellten, eingeleiteten und informativ kommentierten, Malatesta-Sammelbands„Anarchistische Interventionen“ bezeichnet. Die Bezeichnung trifft es recht gut, wie in diesem Buch, das repräsentative Artikel aus Malatestas Gesamtwerk von 1892 bis 1931 versammelt, deutlich wird.

Warum aber ein Querkopf? Generell wird Malatesta als von Bakunin beeinflusst und zunehmend dem anarchokommunistischen Spektrum nahestehend beschrieben. Ein Querkopf war er u.a. deshalb, weil er sich dennoch nie wirklich einer einzigen anarchistischen Richtung in die Arme warf, sondern sich eher immer zwischen vielen anarchistischen Stühlen bewegte. Er bezog sich auf Unterstützenswertes aus unterschiedlichen Traditionen, kritisierte aber ebenso unaufhörlich diese oder jene Szene, wenn ihm etwas zuwiderlief.

Ein gutes Beispiel ist hier die Frage der Organisation und des (Anarcho-)Syndikalismus. Für Malatesta waren zwei Dinge klar: der Anarchismus muss einerseits eine Massenbewegung und andererseits in der ArbeiterInnenklasse verankert sein. Er trat dafür ein, dass sich AnarchistInnen organisieren sollten und kritisierte anarchistische Tendenzen, die jeden Grad an Organisa­tion als autoritär und anarchismusfeindlich abtaten. Nun mag man bei solchen Vorlieben davon ausgehen, dass sich Malatesta vor allem in anarchosyndikalistischen oder plattformistisch-anarchokommunistischen Zusammenhängen wohl gefühlt hätte. Hat er auch. Dennoch trat er immer wieder als Kritiker beider Strömungen auf. Die (Anarcho-)SyndikalistInnen seiner Zeit kritisierte er dafür, dass sie sich selbst genügten, bei der Organisation und ihrem Engagement entlang gewerkschaftlicher Belangen (die für ihn potentiell reformistisch und nicht revolutionär waren) stehen blieben. Dies allein war ihm zu wenig und er forderte explizit anarchistische Organisation, die dann wiederum die Gewerkschaften beeinflussen sollten. „Klingt nach Plattformismus“(*), möchte man meinen. Doch dieser 1926 von russischen ExilanarchistInnen – unter ihnen Machno und Arschinoff – formulierte Organisationsentwurf, für den er durchaus gewisse Sympathien hatte, war ihm dann doch zu rigide und er befürchtete, wie viele andere AnarchistInnen seiner Zeit, eine „Bolschewisierung“ des Anarchismus.

Ein großer Verdienst Malatestas war seine Rolle als standhafter Kritiker der AnarchistInnen rund um Kropotkin, die sich während des Ersten Weltkriegs zu einer Pro-Kriegshaltung (auf Seiten der Entente) hinreißen ließen. Die beiden Texte „Anarchisten haben ihre Prinzipien vergessen“ (1914) und „Anarchisten als Regierungsbefürworter“ (1916) vermitteln einen guten Eindruck von diesem damals wütenden Grabenkampf in der anarchistischen Bewegung – auch wenn die Pro-Kriegsfraktion glücklicherweise eindeutig in der Minderheit war. Zum unvermeidbaren Zerwürfnis mit Kropotkin kam es dennoch. Eine schmerzliche Erfahrung für Malatesta.

Auch bezüglich der Gewaltfrage, die sich hieran anknüpft, lohnt es sich, bei Malatesta näher hinzusehen. Hier erscheint er zeitweise recht widersprüchlich. Einerseits wird man beim Lesen des Sammelbandes mit dem Gewaltkritiker Malatesta konfrontiert, der auf die schädlichen und antiemanzipatorischen Dynamiken von Gewaltanwendung hinweist, andererseits pochte er aber gleichzeitig beständig auf nichts weniger als den bewaffneten Aufstand der ArbeiterInnenklasse, auf eine Revolution, die auf ein militärisches Kräftemessen mit dem Staat hinausläuft. Dabei war er aber wiederum ein Gegner individueller Attentate und (terroristischer) Gewalttaten – der sog. „Propaganda der Tat“. Man sieht, der Mann lässt sich nicht so einfach in eine Schublade stecken.

Die Tatsache, dass Malatesta eben jener „anarchistische Querkopf“ war, macht das Lesen dieses Sammelbandes so spannend, weil man ständig damit beschäftigt ist, seine eigenen Standpunkte einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Er setzt sich nicht einfach in ein gemachtes anarchistisches Nest, sondern wägt ab, prüft, reflektiert, stellt Fragen und gibt auch Antworten – die man dann selbst wiederum überdenken kann. Malatesta ist auch heute noch ein Anarchist, dessen Ideen nicht in die Mottenkiste, sondern wieder und immer wieder kritisch diskutiert gehören. „Anarchistische Interventionen“ ist eine ausgezeichnete Basis für diese Diskussion.

Sebastian Kalicha

Errico Malatesta: „Anarchistische Interventionen. Ausgewählte Schriften ( 1892 – 1931)“. Herausgegeben von Philippe Kellermann. Unrast Verlag, Münster 2014, 244 Seiten, 14,80 Euro. ISBN: 978-3-89771-921-7

(*) Plattformismus bezeichnet einen 1926 von russischen ExilanarchistInnen formulierten Organisationsentwurf. Er strebt gut durchorganisierte anarchistische Gruppen an, die auf einer gemeinsamen und verbindlichen politischen, anarchokommunistischen Basis aufbauen.

Obdachlosigkeit, soziale Ausgrenzung und rechte Gewalt

„Rechte TäterInnen praktizieren gegen obdachlose Menschen einen Sozialdarwinismus der Tat, der durch einen Sozialdarwinismus des Wortes vorbereitet wird“, heißt es im Klappentext des Buches Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus von Lucius Teidelbaum, das sich mit Obdachlosenfeindlichkeit im Kontext „sozialdarwinistischer Zustände“ (S. 15) beschäftigt. Infolge eines „weit verbreiteten Sozialdarwinismus“ käme es heute laut dem Autor zu einer „systematischen Ausgrenzung benachteiligter durch strukturell privilegierte Gruppen“. (S. 41) Mit dem Begriff Sozialdarwinismus meint der Autor in diesem Kontext „die Abwertung von Transferleistungs-Empfänger_innen und sozialen Randgruppen seitens breiter gesellschaftlicher Schichten“. (S.16) Dieser sog. latente Sozialdarwinismus führt in der Regel zu einem manifesten Sozialdarwinismus, der sich von ersterem dadurch unterscheidet, mit einer Aktivität verbunden zu sein wie beispielsweise Beschimpfung, physische Gewalt oder aber auch Repressalien von Seiten der Behörden.

Die offensichtlichste und schlimmste Facette dieser manifesten Ausformung sind offene Gewalt und Morde an Obdachlosen durch Rechtsradikale und Neonazis. Dieses Thema nimmt eine gesonderte Stellung im Buch ein. Obdachlose werden selten als eigene Kategorie gehandelt, wenn es um Opfer rechter Gewalt geht. Oft wird ein offensichtlicher rechtsradikaler/neonazistischer Hintergrund einschlägiger Taten ignoriert, relativiert oder unter den Tisch gekehrt. Gegen diesen Trend wendet sich das Buch mit voller Vehemenz. Bedrückende Schilderungen von Morden an Obdachlosen durch Neonazis sollen diese Opfer rechter Gewalt nicht in Vergessenheit geraten lassen und es verunmöglichen, diese Taten zu entpolitisieren. Wie es im Eingangszitat bereits angedeutet wird, hat dieser Sozialdarwinismus der Tat rechter GewalttäterInnen einen Sozialdarwinismus des Wortes als Basis – und diese Basis ist sehr viel breiter als einschlägige rechte Kreise. Der Autor sieht hier primär die „Ökonomisierung des gesellschaftlichen Lebens“ (S. 19) als Hauptproblem dieses Phänomens, denn die „Bewertung von Menschen nach (wirtschaftlicher) Leistung ist eine grundsätzlich sozialdarwinistische Position“. (S. 19) Diese Zustände sind hier laut Autor Teidelbaum der Grund für eine „Transformation von Ungleichheit in Ungleichwertigkeit“. (S. 22) Diese sog. Ideologie der Ungleichwertigkeit sei wiederum „ein wichtiges Wesensmerkmal der extremen Rechten“ (S. 22), womit sich der Kreis zwischen gesellschaftlich akzeptierter Ausgrenzung von „Randgruppen“ und rechter Gewalt wieder zu schließen beginnt.

Ganz so einfach darf man es sich bei rechter/neonazistischer Gewalt gegen Obdachlose jedoch auch nicht machen. Wie der Autor beschreibt, gibt es durchaus auch so etwas wie rechte Solidarität mit Obdachlosen. Freilich kommen hier nur die „einheimischen“ Obdachlosen in den fragwürdigen Genuss dessen. Rechte Parteien wie die NPD sowie diverse Neonazi-Gruppen distanzierten sich immer wieder öffentlich von Morden an Obdachlose durch klar dem rechten Spektrum zuordenbare TäterInnen. In Frankreich gibt es Suppenküchen Rechtsradikaler für Obdachlose – gekocht wird dort jedoch stets mit Schweinefleisch, um Muslime und Juden auszugrenzen. Dass die Gewalt gegen Obdachlose, von denen der Autor spricht, aber stets sozialdarwinistische, also letztendlich rechte Argumentions- und Legitimationsmuster zugrunde liegen, lässt sich auch dadurch nicht relativieren.

Aus anarchistischer Perspektive ist zudem positiv hervorzuheben, dass der Autor in seinem kurzen Abriss zu historischen Fragen der Obdachlosigkeit auch auf die Vagabund_innen-Bewegung rund um Gregor Gog eingeht. Die 1927 gegründete Bruderschaft der Vagabunden war klar anarchistisch und rüttelte durch Losungen wie „Generalstreik das Leben lang!“ auf. Sie optierte für „ein ganzes Leben“ im „gottverdammte[n] Dasein in der Gosse“ statt auch nur „einen einzigen Tag Bürger [zu] sein!“ (S. 32).

Dieses Buch ist ein wichtiger und einer der wenigen Beiträge, die Ausgrenzung von und Gewalt gegen Obdachlosen unter sozialdarwinistischen Vorzeichen beleuchtet, problematisiert und die konkreten Auswirkungen und Ursachen, die dies hat, benennt. Die relative Kürze der Ausführungen mindert hierbei nicht die Qualität des Inhalts. Der Autor schafft es sogar, historische Fragen unterzubringen, ohne dass es oberflächlich wirkt. Den Fokus auf diese Aspekte sozialer Ausgrenzung und rechter Gewalt zu legen und wie sie interagieren, ist vor allem in Krisenzeiten wie diesen, in denen das soziale Klima stetig rauer wird, äußerst wichtig.

Sebastian Kalicha

Lucius Teidelbaum: Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus. Unrast Verlag, Münster 2013. 80 Seiten, 7,80 Euro, ISBN: 978-3-89771-124-2

„‚Religion ist Scheiße‘-Rhetorik nervt“

Interview über Christlichen Anarchismus

FA!: Hallo, Sebastian Kalicha. Du hast ja Ende 2013 ein Buch zum Christlichen Anarchismus im Verlag Graswurzelrevolution herausgegeben. Was hat dich motiviert, ein derartiges Buchprojekt in Angriff zu nehmen?

SK: Ich komme aus der nicht-religiös anarchistischen Ecke und verstehe mich gleichzeitig als gewaltfreien Anarchisten. Durch meine Beschäftigung mit verschiedenen Traditionen des gewaltfreien Anarchismus stieß ich relativ früh notgedrungen auch auf Leo Tolstoi, der ja einer der bekanntesten gewaltfreien Anarchisten ist, dies dabei jedoch christlich begründet. Von da aus habe ich mich weiter und intensiver mit christlich-anarchistischen Theorien und Ideen – auch fernab von Tolstoi – beschäftigt und begann mich mehr und mehr dafür zu interessieren; wohlgemerkt ohne selbst gläubig zu sein. Gleichzeitig wurde mir auch schnell bewusst, dass christlich-anarchistische Literatur im deutschsprachigen Raum nur sehr spärlich gesät ist und man, will man sich näher in das Thema einlesen, relativ rasch auf fremdsprachige Bücher und Artikel angewiesen ist. Daher kam die Motivation, einen aktuellen Sammelband zum Thema für eine deutschsprachige LeserInnenschaft zusammenzustellen, um dieses Defizit zu beheben.

FA!: Wer sollte dein Buch lesen, und was kann der_die Leser_in inhaltlich von deinem Buch erwarten und erfahren?

SK: Zuallererst hoffe ich, dass das Buch ein Beitrag ist, um den christlich-anarchistischen Diskurs zu verbreitern und zu intensivieren. Daher hoffe ich, dass der Sammelband für die kleine Gemeinde der christlichen AnarchistInnen im deutschsprachigen Raum von Interesse ist. Desweiteren gibt es eine Reihe progressiver christlicher Strömungen wie die Theologie der Befreiung, Religiöser Sozialismus, die christliche Friedensbewegung, etc., bei denen es bestimmte Überschneidungen zum christlichen Anarchismus gibt. Auch für VertreterInnen dieser Richtungen ist das Buch hoffentlich von Interesse. Es ist aber auch ein Buch, das sich sowohl an eine nicht-religiös anarchistische, als auch an eine nicht anarchistische, christlich-religiöse LeserInnenschaft bzw. an TheologInnen richtet. Bei beiden Lagern stößt man immer wieder auf Ablehnung oder Skepsis wenn der christliche Anarchismus zur Sprache kommt, was ich für bedauernswert halte. Es geht hier darum den christlichen Anarchismus wieder verstärkt ins Gespräch zu bringen, Vorurteile abzubauen, reflexartige Schnellschüsse zu vermeiden und Pauschalurteile durch differenzierte Betrachtungen zu ersetzen. Diese Berührungsängste zwischen Anarchismus und Christentum sind, wenn man sich der Thematik von einer bestimmten Richtung her nähert und die inhaltlichen Schnittmengen analysiert, meiner Ansicht nach unbegründet.
Inhaltlich ist der Sammelband als Einführung in den christlichen Anarchismus konzipiert. Er beinhaltet einen generellen Überblick über christlich-anarchistische Thematiken und eine Diskussion zum Verhältnis von Anarchismus und Christentum, Beiträge, die sich mit einer anarchistischen Lesart und Interpretation der Bibel beschäftigen, Reflexionen zu christlich-anarchistischem Aktivismus sowie Porträts bedeutender christlicher AnarchistInnen. Jacques Ellul, dessen Buch Anarchie et christianisme (Anarchie und Christentum) behandelt wird, ist einer davon. Weiterhin werden Dorothy Day und Ammon Hennacy von der Catholic-Worker-Bewegung vorgestellt. Peter Chelchicky, ein Frühreformator und „Ketzer“ der im Tschechien des 14./15. Jahrhunderts lebte, wird ebenfalls porträtiert und dessen christlich-anarchistische Dimension diskutiert.

FA!: Dieses Sammelwerk verdeutlicht ja vor allem, dass christlicher Glaube und Anarchismus nicht zwangsweise ein Gegensatz sind, sondern, dass es auch Anarchist_innen gab und gibt, die beides miteinander verbinden können. Wo siehst du die Schnittstellen zwischen christlichem Glauben und anarchistischem Denken? Was haben beide gemein?

SK: Ich kann das hier nur ansatzweise und stichwortartig erörtern und es gibt natürlich auch innerhalb der christlich-anarchistischen Bewegung immer wieder unterschiedliche Meinungen und Ansätze. Prägnant auf den Punkt gebracht würde ich sagen: Christliche AnarchistInnen gehen prinzipiell davon aus, dass das, was im Evangelium geschrieben steht und was uns von Leben und Wirken Jesu überliefert ist, unter den politischen Vorzeichen von heute am ehesten mit „Anarchismus“ beschrieben werden kann. Dabei finden wir laut christlichen AnarchistInnen im Evangelium alles, was auch den „klassischen“ Anarchismus ausmacht: eine Kritik und Ablehnung von Klassenstrukturen und unterdrückerischen Herrschaftsformen; eine egalitäre und inklusive Alternative dazu; eine Ablehnung von Gewalt, Zwang und Machtausübung; eine Anprangerung ungerechter und ausbeuterischer ökonomischer Verhältnisse und der Versuch diese zu überwinden. In diesem Sinne ist es nur konsequent und logisch, dass die erste Bewegung, die sich direkt auf all das berufen hat, in der Apostelgeschichte in einer Art beschrieben wird, die uns AnarchistInnen sehr bekannt vorkommen und sympathisch sein müsste: „Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte.“ (Apg 2,44-45) Und weiter zur Gütergemeinschaft in dieser sog. Urgemeinde: „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam.“ (Apg 4,32) Viele sehen also in diesem Idealzustand, das in der Bibel als „Reich Gottes“ bezeichnet wird, letztendlich eine Entsprechung zur „Anarchie“ von der die AnarchistInnen reden. In diesem Sinne meinte Nicolai Berdyaev bereits: „Das Reich Gottes ist die Anarchie.“

FA!: Ich habe den Eindruck, dass die theoretischen Ansätze und die (wenigen) Aktivist_innen, die sich als christliche Anarchist_innen verstehen, in der anarchistischen Szene wenig Bedeutung erfahren, mitunter sogar tabuisiert werden. Weil es viele Anarchist_innen gibt, die sagen, dass der Gottesglaube prinzipiell nicht mit der anarchistischen Idee vereinbar ist, fällt es gläubigen Politaktivist_innen entweder schwer sich als anarchistisch denkend zu beschreiben, oder sie verbergen weitestgehend ihren Glauben in ihrer politischen Aktivität. Woher kommt dieser weitverbreitete Gedanke an die Unvereinbarkeit? Und wo siehst du Grenzen zwischen christlichem Glauben und anarchistischem Denken?

SK: Woher dieser weitverbreitete Meinung nach Unvereinbarkeit zwischen Anarchismus und Christentum kommt ist für mich insofern eher schwer verständlich, da selbst in den anarchistischen „Klassikern“ von Kropotkin über Rocker und de Cleyre bis hin zu Bookchin und Woodcock ein sehr differenziertes Bild des Christentums aus anarchistischer Perspektive gezeichnet wird. Da wird natürlich einerseits von den unterdrückerischen und reaktionären Ausformungen dieser Religion (zumeist im Sinne der institutionalisierten Form dieser) geschrieben, die ja unleugbar existierten und auch weiter existieren. Diese Ausformungen werden auch von christlichen AnarchistInnen heftig kritisiert, weshalb es in dieser Frage ohnehin keinen Unterschied zu den nicht-religiösen AnarchistInnen gibt. Gleichzeitig wird aber auch stets betont, dass dies nur eine Seite der Medaille ist und dass es im Christentum, um es mit Kropotkin zu sagen, „ernstzunehmende anarchistische Elemente“ gibt. Es ist wichtig, dies zur Kenntnis zu nehmen. Diese anarchistischen Elemente finden aber leider eher wenig Beachtung und werden gerne im Zuge einer fundamentaloppositionellen Haltung gegenüber Religion schlicht ausgeblendet. Grenzen in dem Sinn wie ich sie verstehe sehe ich daher nicht wirklich. Ich würde sagen, dass es Sinn macht klarzustellen, dass die historischen und ideengeschichtlichen Wurzeln des Christentums und des Anarchismus natürlich andere sind und es von daher falsch wäre zu sagen, Anarchismus und Christentum seien im Grunde genommen das gleiche. Auch die Frage des Glaubens ist letztendlich eine, wo sich klarerweise Unterschiede auftun können. Das rechtfertigt meiner Ansicht nach aber nicht das Aufziehen von undurchlässigen Grenzen oder dergleichen. Wenn gläubige und nicht-gläubige AnarchistInnen in einen Diskurs treten, halte ich es vor allem für wichtig, dass das Ganze polemikfrei und mit gegenseitigem Respekt von statten geht. Reflexartige und polemische „Religion ist Scheiße“-Rhetorik geht mir eher auf die Nerven.

FA!: Was waren für dich persönlich in der Beschäftigung mit dem Thema die beeindruckendsten Erkenntnisse, die du mitgenommen hast?

SK: Als jemand, der klassisch katholisch sozialisiert wurde, ist eines der beeindruckendsten Dinge beim christlichen Anarchismus für mich die anarchistische Lesart und Interpretation der Bibel, die anarchistische Exegese, aber auch historische Fragen zu dieser Zeit, in der sich diese Geschichten, von denen wir in der Bibel lesen, abspielten. Dieser Zugang ist auch hilfreich, das Geschriebene anders einordnen zu können. Aber nicht einmal ein explizit anarchistischer Zugang ist notwendig, um das Offensichtliche feststellen zu können: Das Evangelium ist ein Text, der sich radikal auf die Seite der Marginalisierten, Armen, Ausgestoßenen und Subversiven stellt, die gegen die Mächtigen aufbegehrten und Ungerechtigkeiten anprangerten. Wenn das Ganze dann noch mit anarchistischen Theorien in Verbindung gebracht wird, ist es noch spannender. Das ist es, was den christlichen Anarchismus ausmacht und so beeindruckend für mich macht.

FA!: Was gibt es darüber hinaus für inhaltliche Aspekte beim Christlichen Anarchismus, die wichtig bei der Auseinandersetzung mit dem Thema sind und die nicht vergessen werden sollten?

SK: Ein Aspekt, der mir wichtig und interessant erscheint, ist die Frage zum christlich-anarchistischen Aktivismus. Wie können christliche AnarchistInnen aktiv werden, um gegen Ungerechtigkeiten anzukämpfen angesichts der bekannten Maxime: „Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ (Mt 5,39) Vor allem Tolstoi hatte diesen Aspekt stark betont und schrieb viel über Nicht-Widerstand in diesem Sinne. Gleichzeitig gibt es viele christliche AnarchistInnen, die sehr wohl für sich in Anspruch nehmen, aktiven gewaltfreien Widerstand zu leisten, ohne dabei unchristlich zu handeln. Christlich-anarchistische AktivistInnen gehören mitunter zu den mutigsten und radikalsten, die mir je begegnet sind. Die verschiedenen Interpretationen und Diskussionen zu diesem Thema sind sehr spannend.

FA!: Wie war eigentlich die bisherige Resonanz auf das Buch und/oder wie haben die Leute in deinen Lesungen und Veranstaltungen zu dem Thema reagiert?

SK: Die Resonanz war gut. Ich habe Lesungen sowohl in eher nicht-religös anarchistischen, als auch in eher christlich-theologischen Rahmenbedingungen gemacht und von beiden Seiten kamen überwiegend positive Rückmeldungen. Auch die Rezensionen waren gut bislang. Teils hatte ich bei Veranstaltungen auch das Gefühl, dass die anarchistische Szene weit weniger zu einer strikten Anti-Haltung was Religion anlangt tendiert, als ich das zuvor angenommen hatte. Das freut mich natürlich.

FA!: Vielen Dank für das Interview!

momo

Wider die Konsumgesellschaft – aber wie?

Die Konsumgesellschaft, als Kehrseite der kapitalistischen Produktion, ist von linker, emanzipatorischer Seite immer wieder kritisiert worden – sei es nun theoretisch aus einer generellen Kapitalismuskritik heraus, oder ganz konkret aufgrund ihrer zahlreichen und unleugbaren negativen Auswirkungen wie Umweltzerstörung, Ressourcenverschwendung, Menschenrechtsverletzungen, Armut, sozialer Ausgrenzung, etc. Peter Marwitz versucht in Überdruss im Überfluss. Vom Ende der Konsumgesellschaft einen knappen Überblick über die Probleme der Konsumgesellschaft zu bieten sowie mögliche Auswege aus dem Status quo zu diskutieren.

Begrüßenswert ist die vom Autor gleich zu Beginn getätigte Klarstellung, dass Konsumkritik „nur ein Teil einer grundsätzlichen Systemkritik sein kann“ und „veränderte Konsummuster“ nicht das „Allheilmittel“ sein könnten (S. 6). Im ersten Teil des Buches, das sich der Kritik des Bestehenden widmet, erfährt man viel über „grundlegende Probleme“ der Konsumgesellschaft. Konzernkritik wird behandelt, TheoretikerInnen der Konsumkritik werden vorgestellt und der Einfluss von Werbung diskutiert. Dass in dem kleinformatigen Büchlein von nicht mal 80 Seiten die Schilderungen teilweise sehr holzschnittartig daher kommen, ist ein Problem, dass sich schnell einmal bemerkbar macht. Wobei der inhaltliche Gehalt des Geschriebenen durchaus schwankt, trotz betonter Knappheit in den Ausführungen. So findet man teilweise sehr informative und pointierte Einblicke zu diversen Aspekten des Konsums. Andere Stellen sind dagegen erstaunlich oberflächlich, die gebotenen Argumente wenig stichhaltig. Stellenweise wirken sie wie bloße persönliche Meinungen, wie verschriftlichtes Brainstorming: „Shopping und Konsum hält uns von anderen, mitreißenden Aktivitäten ab“. (S. 29)

Der zweite Teil des Buches widmet sich Gegenstrategien und Auswegen. Auch hier ist die Grundintention sehr sympathisch. Marwitz betont, dass „die Probleme der Konsumgesellschaft nicht auf einer rein persönlichen Basis zu lösen sind“ (S. 65). Erstaunlich ist dann jedoch, dass man im gesamten Kapitel fast nur etwas über derartig individualisiertes Ausbrechen aus dem Kreislauf des Konsumismus erfährt. So z.B. eher allgemein über ethischen/politischen Konsum, etwas konkreter über Reparaturcafés, Vegetarismus und Veganismus, über Flohmärkte, Upcycling und Kleidertauschpartys ebenso wie über Tauschringe, Car-Sharing, Couchsurfing, Leihen, Containern etc. Bei seinem oben genannten, völlig richtigen Anspruch verwundert es, dass der Autor auf dieser individualisierten Ebene hängen bleibt. Phänomene wie Solidarische Ökonomie, Commons, Open Source, Parecon (Participatory economics) bleiben ebenso unerwähnt wie andere Ansätze, die individuelles Handeln mit einem fundamentalen Wandel in wirtschaftlichen, politischen und sozialen Belangen verknüpfen wollen. Und wenn der Autor die Macht des politischen/ethischen Konsums diskutiert, dann fällt auf, dass das wohl bekannteste und wirksamste Mittel des/der widerständischen KonsumentIn ebenfalls nicht substantiell behandelt wird: der Boykott.

Eine weitere Frage die sich stellt und in dem Buch glücklicherweise auch behandelt wird, ist, ob das positive Pendant zu Konsumkritik, der ethische/kritische/politische Konsum, als „erster Schritt in die richtige Richtung“ verstanden wird (also als notwendige und, ja, durchaus wichtige Symptombekämpfung, ohne aber die Grundlage des Problems aus den Augen zu verlieren), oder bloß tendenziell einkommensstarken Teilen der Bevölkerung dazu dient, sich vom schlechten Gewissen (so es da ist) freizukaufen und somit ein Phänomen der westlichen Wohlstandsgesellschaft und einer reichen „Oberschicht“ bleibt – eine Goodwill-Aktion der Wohlhabenden sozusagen, die sich mit der Hoffnung auf einen möglichen „Trickle-down-Effekt“ verknüpft. Wenn Konsumkritik und kritischer Konsum nicht mit einer generellen Kapitalismuskritik einhergehen, ist das Ganze, zumindest aus anarchistischer Perspektive betrachtet, nur begrenzt hilfreich (sicherlich aber nicht sinnlos!). Prinzipiell ist dem Autor aber zuzustimmen, wenn er schreibt: „[S]elbst wenn es kein ‚richtiges Einkaufen im falschen Wirtschaftssystem‘ gibt […], so gibt es dennoch ein ‚falsches Einkaufen‘.“ (S. 49)

An tiefgreifenden und umfassenden Lösungs- und Handlungsvorschlägen mangelt es diesem Buch etwas. Es kann aber auf einer individuellen Ebene durchaus die nötige Sensibilität für das Thema verstärken und die persönliche Kreativität anregen, wie man dem „Hamsterrad“ entkommen kann. Und die Hoffnung stirbt zuletzt, dass politischer/ethischer Konsum dem gedankenlosen Konsumismus im Kapitalismus die Stirn bieten und zu einem echten Wandel beitragen kann. Auch dafür ist Überdruss im Überfluss durchaus hilfreich.

(Sebastian Kalicha)

Peter Marwitz: Überdruss im Überfluss. Vom Ende der Konsumgesellschaft. Unrast Verlag, Münster 2013. 76 Seiten, 7,80 Euro, ISBN 978-3-89771-125-9.

Eine Anarchismuseinführung ihrer Zeit

Kaum ein Thema wird in der öffentlichen Debatte so verzerrt dargestellt wie der Anarchismus. Knappe und niedrig­schwellige Anarchismuseinführungen sind daher ein an Wichtigkeit nicht zu unterschätzender Beitrag, um diese schiefe Optik etwas zu berichtigen. Zahlreiche AnarchistInnen aus Geschichte und Gegenwart haben sich daran bereits versucht.

Auch die US-amerikanische Anarchistin Cindy Milstein, die u.a. beim Institute for Anarchist Studies aktiv ist, steuert mit ihrem Buch Der Anarchismus und seine Ideale nun einen derartigen Beitrag bei. Von anderen, viel gelesenen und geschätzten Anarchismuseinfüh­rungen wie Alexander Berkmans ABC des Anarchismus (erschienen 1929) oder Nicolas Walters About Anarchism (erschienen 1969) unterscheidet sich dieses Buch dadurch, dass es ganz dezidiert den Anspruch hat, eine Einführung auf dem Stand des 21. Jahrhunderts zu sein – also eine, wie es im Klappentext heißt, „Einführung in den Anarchismus, die unserer Zeit gerecht wird.“

Glücklicherweise verwechselt Milstein diesen Anspruch nicht mit einer „Vergesst die alten Männer mit den langen Bärten“-Attitüde, sondern stellt klar, dass wir „die Bedeutung des Anarchismus nur begreifen [können], wenn wir seine Vergangenheit verstehen.“ (S. 15) Und so bezieht sie sich in ihren Ausführungen immer wieder abwechselnd sowohl auf klassische Theorien und Texte des Anarchismus aus dem 19. Jahrhundert als auch auf aktuelle Beiträge und Debatten. Zur Frage des historischen Erbes des Anarchismus regt die Autorin weiter an, dass die „anarchistische Geschichte […] nicht nur studiert werden [soll], um die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden, sondern auch, um uns in Erinnerung zu rufen, wie viele Menschen bereits seit Langem die ‚Pfade in Utopia‘ wandern, von denen Martin Buber schrieb.“ (S. 15)

Das herausragendste Charakteristikum des Textes ist jedoch Milsteins Fokus auf die „Ethik des Anarchismus“, auf die „besonderes Gewicht“ (S. 8) gelegt werden soll – also auf „die Werte, die anarchistisches Handeln prägen und die dem Anarchismus einen besonderen Charakter verleihen.“ (S. 8). Sie schreibt hier metaphorisch von einem „gemeinsamen ethischen Kompass“ (S. 54), an dem sich Anarchist­Innen orientierten. Die „ethischen Werte“, die sie als zentral im Anarchismus betrachtet und die in einzelnen kurzen Kapiteln behandelt werden, lauten z.B. „Freiheit und Befreiung“, „Gleichheit und Ungleichheit“, „Gegenseitige Hilfe“, „Ökologie“, „Freiwillige Assoziation und Verantwortlichkeit“, etc. Für Milstein macht der Anarchismus „die Ethik zur wichtigsten Frage von allen“ (S. 56), was durchaus ein spannender Zugang ist. Ihre Ausführungen zu diversen Fragen anarchistischer Ethik sind anregend und gelungen. Das einzige, was hier jedoch etwas irritiert, ist die völlige Abwesenheit ausgerechnet der (ethisch höchst relevanten) Ge­walt­frage. Wenn man anarchistische Ethik schon so prominent platziert und anarchistische Werte wie „präfigu­rative Politik“ – also, dass es eine „ethische Entsprechung zwischen Mitteln und Zielen“ (S. 82) geben sollte – hervorhebt, verwundert es umso mehr, dass dieses Thema überhaupt gar nicht erst vorkommt (nur zweimal wird es indirekt gestreift, allerdings für mein Empfinden eher unglücklich, wenn im Kontext des Battle of Seattle der Schwarze Block positive Erwähnung findet und ein zweites Mal, etwas differenzierter, bei der Frage nach der „Vielfalt der Taktiken“).

Trotz dieses kleinen Einwandes wird das Buch jedoch dem, was es sich zur Aufgabe gemacht hat – nämlich eine Anarchis­museinführung für das 21. Jahrhundert zu sein – durchaus gerecht. Milsteins Reflexionen zu zahlreichen grundlegenden Themen des Anarchismus sind spannend und anregend. Sie schafft es sowohl historische mit aktuellen Beispielen, Ansätzen und Theorien zu verbinden, als auch die Heterogenität der anarchistischen Bewegung zu betonen, ohne dabei in die Beliebigkeit abzudriften. Zudem schafft das Buch etwas, was bei Einführungsbüchern beson­ders schwierig scheint: Es dürfte sowohl für EinsteigerInnen von Interesse sein, als auch für LeserInnen, die sich schon lange mit anarchistischer Theorie und Praxis auseinandersetzen.

Sebastian Kalicha

Cindy Milstein: Der Anarchismus und seine Ideale. Aus dem Amerikanischen von Gabriel Kuhn. Unrast Verlag, Münster 2013. 95 Seiten, 7,80 Euro, ISBN 978-3-89771-533-2.

Rezension