Occupy in deutschen Landen

Ein Blick in und über den Tellerrand der Blockupy-Protesttage in Frankfurt  

Die Welt kennt eine neue Bewegung: Occupy. Angestoßen durch die Aufstände in Tunesien und anderen arabischen Staaten, emporgestiegen während der spanischen, griechischen und israelischen Sozialproteste 2011 und populär geworden durch die US-ameri­kanische Occupy-Wall-Street-Bewegung, ist Occupy zum Sammelbegriff für soziale Proteste und Bewegungen rund um den Globus geworden. Occupy wurde zum Label, es steht sowohl für die Besetzung öffentlicher Plätze in den verschiedensten Städten und Weltregionen, als auch für die Empörung verschiedenster Menschen. Sie prangern soziale Missstände an, wollen etwas in Politik und Wirtschaftsausrichtung grundlegend ändern. Sie werden laut. Auch in Deutschland – ein wenig.

Offenheit zeichnet die Bewegung aus – Vielfalt wird da zum Programm: Nicht nur die Ausgangslage und die darauf aufbauenden Protestausrichtungen sind in den jeweiligen Staaten sehr unterschiedlich. Auch auf lokaler Ebene zeichnet sich das Spektrum der Aktivist_innen vor allem durch seine Unterschiedlichkeit in Kritik und Utopie aus.

Diese Offenheit und Diversität ist auch ein Grund, weshalb viele politisch aktive Menschen hierzulande meist skeptisch reagieren, wenn vom deutschen Ableger der Occupy-Bewegung die Rede ist. Befremdlich wirkt es, wenn die deutschen Proteste mit den Revolutionen im arabischen Raum oder der US-amerikanischen Protestbewegung in Zusammenhang gebracht werden. Ist das hierzulande denn eine soziale Bewegung? Welche aktuellen Missstände werden wie thematisiert? Welchen Anspruch an gesellschaftliche Veränderung haben die? Und wer sind die überhaupt? An Skepsis und Vorurteilen mangelt es uns sicher allen nicht, beim Versuch, sich die Occupy-Proteste im deutschen Lande vorzustellen. Mitte Mai 2012 gab es die Gelegenheit einen direkten Einblick zu bekommen und die eigene Kurzschlüssigkeit kritisch zu hinterfragen – bei den Blockupy-Protesttagen in Frankfurt am Main.

Die Aktionsplanung zu den drei Protesttagen klang vielversprechend: Zurückeroberung des öffentlichen Raumes durch vielfache Camps und Platzbesetzungen. Einen Tag später die Blockade des Bankenviertels, bei der vor allem die europäische Zentralbank (EZB) bestreikt und blockiert werden sollte. Parallel sollte die Innenstadt mit politischen Inhalten und kreativen Aktionen „geflutet“ werden. Die Aktivist_innen waren angehalten sich anhand verschiedener Themenfelder zu organisieren: Ökologie, Militarisierung, Prekarisierung, Migration, Recht auf Stadt, Care-Work, Krieg und Krise, Rechtspopulismus und Soziale Revolution. Eine Großdemonstration am dritten Tag sollte dann die Aktionstage vorerst abschließen.

Bankfurt blockieren

Ein breiter Zusammenschluss aus Gruppen und Aktivist_innen organisierte das Happening. Sie kamen aus der Occupy-Bewegung, Erwerbsloseninitiativen, Krisenbündnissen, Gewerkschaften, Attac, Studierendenorganisationen, linken Parteien sowie diversen Initiativen mit antirassistischer, antifaschistischer, migrantischer, umwelt- und friedenspolitischer Ausrichtung. Zentraler logistischer Angelpunkt für die Aktivitäten sollte v.a. das Occupy-Camp sein – ein seit Oktober 2011 bestehendes Zeltlager direkt vor der EZB. Die Stadt Frankfurt machte jedoch diesem Plan einen kräftigen Strich durch die Rechnung. Sie ließ nicht nur das Camp ein paar Tage vorher räumen (wenn auch die Besetzer_innen nach den Aktionstagen zurückkommen durften), sondern reagierte gleich mit einem umfassenden Verbot aller Aktivitäten rund um die Aktionstage. Obendrein wurde jede Menge Angst geschürt und Ablehnung von der Frankfurter Bevölkerung forciert. Die medial gemalten Horrorszenarien führten sogar so weit, dass einige Läden vorsorglich ihre Schaufensterware beiseite schafften. Obendrein wurden 15.000 Polizist_innen aus der ganzen Bundesrepublik geordert, um den sog. „Extremist­_innen“ aus ganz Europa das erwartete Steinewerfen zu versauern. Zwar wurde schlussendlich das Verbot der Großdemonstra­tion am dritten Tag zurückgenommen, dennoch waren die Ausgangsbedingungen für die Protesttage äußerst schwierig. Als Sammelort für die Aktivist_innen blieb fast nur der Unicampus in Bockenheim, und die Versuche, am ersten Tag weitere innenstadtnahe Plätze zu besetzen, scheiterten an rigorosen Kesselungen, Räumungen und Ingewahr­samnahmen (an allen drei Tagen wurden zusammen ca. 1500 Menschen für gewisse Zeit weggesperrt).

Auch lagen die Erwartungen bei der Zahl der aktiven Blockupierer höher, als die Realität zeigte. Während am ersten Tag mehrere hundert Menschen versuchten Plätze zu besetzen, wuchs die Anzahl am Bankenbesetzungstag auf ca. 2000 (einige Busse wurden von der Polizei an der Einfahrt in Frankfurt gehindert). Insgesamt viel zu wenig, um eine solche Blockade wirklich umsetzen zu können. So endete auch der zweite Tag für Hunderte mit Kesselungen und Gewahrsamnahmen. Allerdings gelang es ca. 50-200 Menschen für kurze Zeit vor der EZB-Absperrung auszuharren. Auch wenn die Aktion intern insgesamt als Erfolg gewertet wurde, da die EZB ja durch die Polizei schon abgesperrt war und im Bankenviertel auch ohne Blockade kein Normalzustand herrschte, scheiterte die eigentliche Besetzung. International und innerhalb der EZB hat sie wenig Aufsehen erregt.

Mehr Aufmerksamkeit gab es hingegen für jene Aktivist_innen, die im Zentrum inhaltliche Aktionen machten, zum Beispiel zum Thema Landraub im globalen Süden. Allerdings war die Innenstadt ob der angekündigten Proteste weitaus menschenleerer als an anderen Tagen (der Einzelhandel beklagte sich übrigens im Nachhinein über einen Umsatzverlust in Höhe von ca. 10 Millionen Euro). Von und für die Blockupierer und andere Interessierte wurden zudem einige inhaltliche Workshops und Veranstaltungen angeboten, auf denen sich bspw. mit verschiedenen sozialen Bewegungen in Europa, dem sog. Arabischen Frühling, der Schuldenproblematik und dem Fiskalpakt sowie der Occupy-Bewegung an und für sich auseinandergesetzt wurde. Auch die bekannten Gesellschaftskritiker und Buchautoren Michael Hardt („Empire“) und David Graeber („Inside Occupy“) füllten den Saal am Bockenheim-Campus und philosophierten über die systemische Krise und das Potential der neuen globalen sozialen Bewegung.

Insgesamt verdeutlichte die Staatsmacht in diesen ersten zwei Tagen vor allem eines: Ihren Willen, das reibungslose Funktionieren der Banken zu schützen. Die Blockupy-Organisator_innen hingegen verdeutlichten sowohl ihren inhaltlichen Anspruch und die Entschlossenheit, was das Blockadevorhaben betraf, als auch ihr Verständnis von Selbstorganisation und Basisdemokratie. Die Aktivist_innen wurden eingebunden, ohne auf starre Hierarchien und Organisationsdominanzen zu stoßen.

Ein rundes Bild der Protesttage lässt sich jedoch nur unter Einbeziehung des dritten Tages malen. Dieser wirft ein ganz anderes Licht, zumal die letztlich doch ge­nehmigte Demonstration ca. 25.000 Menschen aus ganz Europa anlockte.

Größe demonstrieren

Die Demonstration am Samstag wirkte wie eine kleinformatige Mischung aus Protestmärschen, die mensch vom G8-Gipfel in Rostock oder den ersten Berliner Hartz4-Protesten 2004 kennen mag. Die Veranstalter_innen zeigten sich zufrieden, dass so viele Menschen dem Aufruf folgten und – entgegen der medial verbreiteten Prognosen – vollkommen friedlich durch Innenstadt und Bankenviertel zogen. Die Assoziation mit vergangenen globalisierungskritischen und sozialen Protesten war vor allem auch dem extrem breiten Spektrum geschuldet, das sich in verschiedenen bunten Blöcken formierte. Während in den ersten zwei Tagen die Organisationszugehörigkeit der jeweiligen Aktivist_innen kaum erkennbar war, kam sie nun stärker zum Vorschein. Mit entsprechenden Fahnen, Plakaten, Transparenten, Lautis, Sprechchören und Flyermaterial machten die Gruppen auf sich aufmerksam und verbreiteten ihre Kritik an der Krisenpolitik und dem kapitalistischen System sowie ihre Utopie einer „besser“ organisierten Gesellschaft. Der gemeinsame Nenner Aller bestand in der Ablehnung der derzeitigen europäischen Finanzpolitik insbesondere des Fiskalpaktes (1). Die Politik der sog. Troika (2) wurde scharf kritisiert, da von dieser lediglich Banken und transnationale Unternehmen profitieren, während den Griechinnen und Griechen rigorose soziale Kürzungen aufgezwungen werden. Ein verbindendes Ziel bestand in der Demonstration von Solidarität mit den Sozialprotesten, die in Griechenland und in anderen Weltregionen stattfinden. Dabei wurde vielfach auch der hiesige Sozialabbau scharf kritisiert.

Ansonsten war die Diversität bei der inhaltlichen Problemanalyse, den Lösungsrezepten und den Vorstellungen einer „besseren“, „gerechteren“ oder „befreiten“ Gesellschaft so hoch wie das organisationale Spektrum breit war: Man konnte zahlreiche antikapitalistische (Splitter-)Gruppierungen entdecken, die wahlweise sozialistisch, kommunistisch, marxistisch-leninistisch-maoistisch oder anarchistisch orientiert waren, mal auf die LINKE Partei oder andere, sog. revolutionäre Parteien als Lösung setzten oder den Parlamentarismus ganz abschaffen wollten. Das gewerkschaftliche Spektrum erstreckte sich von der anarchosyndikalistischen FAU über ver.di, IG Metall bis hin zur IG BCE. Während erstere ihre hohe Mobilisierungsfähigkeit zu dieser Thematik durch einen eigenen Demoblock verdeutlichten, traten die DGB-Aktivist_innen eher durch vereinzelt auftauchende Fähnchen in Erscheinung. Darüber hinaus demonstrierten auch zahlreiche Gruppen, deren originäres politisches Handlungsfeld eher in anderen Themenfeldern liegt, wie bspw. Stuttgart-21-Gegner_innen, das Tierbefreiungs-Aktionsbündnis, das Befreiungstheologische Netzwerk und Friedensbewegte. Relativ großen Raum nahm neben Attac der selbsternannte „antikapitalistische Block“ ein, zu dem die Interventionistische Linke und Ums Ganze aufgerufen hatten. Hier war der Großteil der Leute eher „individuell“ unterwegs und machte v.a. mit inhaltlichen Plakaten, Sprechchören und Transparenten auf Themen aufmerksam. Auch der so genannte Schwarze Block fehlte nicht und wurde – zum Ärgernis aller Anwesenden – von hoch ausgerüsteten und behelmten Beamt_innen umrahmt und provoziert.

Neben der „Grup­­pen­­­zu­ge­hö­rig­keit“ spie­gel­­­ten v.a. Sprech­­chöre und unzählige Flyer das breite und zum Teil widersprüchliche Spektrum wider. Während dem Großteil der Protestierenden wohl die Ablehnung gegenüber dem kapitalistischem Wirtschaftssystem als Ganzes unterstellt werden kann, gab es auch Flugschriften, die lediglich die Bändigung des sog. „Raubtiers“ – sprich die entkoppelte Finanz- und Spekulationswelt – mittels staatlicher Regelungen forderten, um zu einer sozialeren Marktwirtschaft zurückzukehren. Einigkeit hingegen bestand darin, dass die Proteste nicht von Rechten vereinnahmt werden dürfen – dementsprechend häufig wurde auch in Flyern auf die Gefahr einer Verkürzung der Kapitalismuskritik auf die „Gier“ einzelner Unternehmer aufmerksam gemacht. Statt zu personifizieren und damit die Tür für Verschwörungstheorien, nationalem Ausschluss von Menschen und Antisemitismus zu öffnen, wurde auf vielen Flyern das Wirtschaftssystem in seiner Funktion kritisiert.

Noch deutlicher wurde das Spannungsfeld der Positionen, wenn es um die Problematisierung der Rolle der politischen Akteure bzw. das parlamentarische Politiksystem in der Krise ging. Nahezu alle Facetten waren vertreten: angefangen von der Meinung, dass lediglich die „falschen Köpfe“ an der Macht seien, weil sie sich von den Banken bevormunden ließen, bis hin zu anarchistischen Positionen, in denen der Parlamentarismus als Herrschaftssystem für die Ausbeutungsverhältnisse mitverantwortlich gemacht und abgelehnt wird. Dem entgegengesetzt wird eine gesellschaftliche Organisation, die auf direkte politische Partizipation und Mitbestimmung setzt. Wie sehr das nationalstaatliche Konstrukt als solches kritisch betrachtet wurde, verdeutlichten die Demon­strant­_innen z.B. indem sie wahlweise ein Hoch auf die antinationale oder internationale Solidarität im Chor skandierten.

Eine Besonderheit der Demonstration war die hohe Präsenz von Menschen aus anderen vorwiegend europäischen Ländern und die explizite Verortung in einen globalen (Occupy-) Protestzusammenhang. Zudem zeichnete die Demo die Verbindung und Gleichzeitigkeit von globalen und lokalen Themen aus – im Unterschied zu bekannten globalisierungskritischen Protesten.

Da das hohe Polizeiaufgebot, die umfassenden juristischen Verbote und die negative Stimmungsmache so unverhältnismäßig zu den friedlich verlaufenden Protesttagen stand, musste die Stadt Frankfurt im Nachhinein einiges an Kritik einstecken. Dies könnte vielleicht künftige Aktionstage in Frankfurt zumindest logistisch erleichtern.

Teil einer globalen sozialen Bewegung?

Soweit so gut. Doch was verdeutlichen die Blockupy-Protesttage für den Stand der deutschen Occupy-Bewegung? Kann mensch hier von einer neuen sozialen Bewegung sprechen? In welchem Verhältnis steht sie zu den globalen Protesten?

Zunächst muss unterschieden werden, zwischen den Blockupy-Protesttagen, die als Mobilisierungskampagne angelegt waren, und der „Occupy-Bewegung“, die in Deutschland v.a. durch Demonstrationen in verschiedenen Städten am 15. Oktober 2011 und dabei entstandene Protestcamps auf öffentlichen Plätzen in Erscheinung trat. Zwar nimmt die Blockupy-Kampagne ausdrücklich Bezug zur Bewegung und das Occupy-Camp in Frankfurt war maßgeblich in die Organisation eingebunden. Während das eine jedoch als punktuelle Kampagne erscheint, haben die Occupierer deutschlandweit den Anspruch, durch dauerhafte Präsenz im öffentlichen Raum auf die soziale Ungleichheit aufmerksam zu machen. Dabei versteht sich die Bewegung als offen – offen für alle Menschen und offen für verschiedene Vorstellungen, wie der Reichtum der Gesellschaft gerecht verteilt werden könnte. Die 99%, für die die Occupierer (medienwirksam) stehen wollen, bezeichnen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die weitgehend leer ausgeht bei der Verteilung des Kuchens. Gemein ist den Occupy-Aktivist_innen, dass sie sich basisdemokratisch organisieren, echte politische Partizipation und Teilhabe fordern und den Neoliberalismus bzw. Finanzkapitalismus als ungerecht kritisieren. Statt dessen stehen sie für eine „ethische Wende“, die den Menschen und die Natur in den Mittelpunkt rückt. Ein festes politisches Programm vertreten sie nicht. Ebenso wenig stellen sie eine feste Organisation dar, starre Hierarchien werden abgelehnt. Allerdings haben die einzelnen Aktivist_innen ihre jeweiligen politischen Visionen und auf lokaler Ebene wird oft bündnisorientiert zusammengearbeitet. Auf der organisatorischen Ebene zeichnen sich die Occupierer und Campierer v.a. durch partizipative Kommunikationsstruk­turen aus: Entscheidungen werden konsensorientiert in öffentlichen Versammlungen getroffen, die in Anlehnung an die spanischen Sozialproteste Asamblea genannt werden. Miteinander gehört zur Occupy-Identität, auch in der Kommunikationspraxis (siehe Artikel S.18f). Neu ist vor allem die Verortung als globale Bewegung und die fortwährende Bezugnahme und So­li­­da­ri­täts­bekundungen zu weltweit stattfindenden Sozialprotesten. Die mediale Vernetzung, u.a. über soziale Netzwerke ist auch ein wesentliches Kennzeichen dieser neuen Bewegung.

Die deutsche Occupy-Bewegung teilt all diese Ansprüche und in sechs Städten gab (und z.T. gibt) es öffentliche Protestcamps – wie bspw. in Frankfurt seit dem 15. Oktober 2011 vor der EZB. Dort gab es vor allem vor den kalten Wintertagen auch wöchentliche Diskussionsveranstaltungen, um mit möglichst vielen Menschen aus der Bevölkerung in Kontakt zu kommen. Zwar hat sich die Außenwirkung des Zeltlagers im Laufe der Zeit vom Protestcharakter zum Campcharakter gewandelt und inhaltliche Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen mitwirkenden Gruppen trugen zu Spaltungen bei. Dennoch haben die Blockupy-Protesttage bei vielen dort wieder für Motivation gesorgt, die lokalen sozialen Kämpfe mit neuem Schwung anzugehen.

Im Vergleich zu anderen Weltregionen fallen die Proteste hierzulande jedoch recht klein aus. So waren die größten Demonstrationen, die zwischen 100.000 und 500.000 Menschen anzogen, in Madrid, Barcelona, Rom und Valencia. An der Demo in Oakland (USA) nahmen ca. 50.000 Menschen teil, glatt doppelt so viele wie Mitte Mai in Frankfurt. Unter diesem Licht betrachtet bewegt sich relativ wenig in Deutschland. Zwar kann man von einer Bewegung sprechen, da noch keine Institutionalisierungen stattfinden, allerdings erscheint die Anzahl, Entschlossenheit und Ausdauer der Aktivist_innen hierzulande derzeit nicht ausreichend, um sie als neue soziale Bewegung zu bezeichnen. Dazu fehlt es vor allem an einem gemeinsamen Bezugspunkt, um den sich die Menschen der verschiedensten Lebens- und Einkommenswelten sammeln und gemeinsam kämpfen können. Notwendig wäre eine konkrete inhaltliche Basis, was für Veränderungen angestrebt werden und wie eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus funktionieren sollte. Eine auf Ausdauer ausgerichtete Bewegung benötigt einen gemeinsamen „politischen Korridor“ (3) der zu einem Ak­tions­konsens führt und dennoch viel Raum für eine Vielfalt an Positionen lässt. Zudem würde ein aktueller Anlass, wie er bspw. bei den extremen Sozialkürzungen in Griechenland und Spanien besteht, die Formierung einer solchen sozialen Bewegung begünstigen. Diese Art der Kürzungen sind in Deutschland allerdings schon vor 10 Jahren mit der Agenda 2010 und den Hartz4-Gesetzen beschlossen wurden. Leider reichte schon damals die Empörung hunderttausender Menschen nicht aus, um die Reformen zu kippen. Die sozial prekären Biographien werden sich selbst überlassen, Probleme sind individualisiert. Außenpolitisch wird den Deutschen zudem medial suggeriert, ihre Steuergelder würden massenhaft in die Taschen „fauler Griechen“ fließen. Demzufolge hält sich auch die Empörung über den geplanten Fiskalpakt in Grenzen. All das sind schlechte Ausgangsbedingungen für einen Protest, der einerseits eigene soziale Missstände und andererseits auch die problematische Rolle der deutschen Wirtschaft als Krisengewinner anprangern will. Es scheint, als komme die Bewegung in Deutschland aus der Tradition der globalisierungskritischen Bewegung, die unter dem Occupy-Label nun versucht auch deutsche soziale Missstände thematisch zu integrieren und die Menschen inhaltlich gegen den Kapitalismus zu radikalisieren. Zu kämpfen hat sie dabei zudem mit Spaltungstendenzen zwischen „Bürger_innen“, wahlweise „Arbeiter_innen“ und „Linken“. Die Gräben wirken zu groß, um über symbolische Großdemonstrationen hinaus (wie sie in Frankfurt stattfanden) gemeinsam gegen herrschende Verhältnisse aktiv zu werden. Dieses altbekannte Problem haben überhaupt nur die „echten“ neuen sozialen Bewegungen überwinden können – in Deutschland z.B. die Anti-Atomkraft-Bewegung. Diese zeichnet sich außerdem durch vielfältige Aktivitäten verbunden mit einem langem Atem aus.

Aktivitäten sollten dabei auch über die symbolische Wirkung hinaus gehen, um wirklich zu bewegen – z.B. durch gemeinsame Streiks. Den sich als Occupy-Bewegung verstehenden Aktivist­_innen in Deutschland mangelt es sicher nicht an Willen und Plänen, ihre Bewegung zu einer neuen sozialen Bewegung werden zu lassen. Die Protestcamps, die regelmäßigen Demos und Veranstaltungen, die Offenheit gegenüber allen Bevölkerungsgruppen und der Versuch der direkten Aktion mittels einer Blockade der EZB sind Beispiele dieser Bestrebungen. Ihr Erfolg jedoch wird davon abhängen, wie viele Menschen bereit sind, mit ebenso großer Entschlusskraft auf diesen Zug aufzuspringen. Im Moment scheint diese Bereitschaft zu wachsen – auch wenn sie im internationalen Vergleich betrachtet relativ gering ist. Nimmt man hingegen Occupy in seinem Anspruch ernst, eine globale soziale Bewegung zu sein, dann erscheinen die Proteste hierzulande als Teil eines großen Ganzen. Unter dieser veränderten territorialen Brille ist Occupy gleichwohl eine soziale Bewegung – schließlich ist die Anti-Atomkraft-Bewegung in Bayern auch nicht so stark wie im Wendland. Vielmehr noch ist sie eine neue globale soziale Bewegung, und der Anteil in Deutschland ist durchaus wichtig, gerade weil hier auch die Profiteure des globalen Kapitalismus sitzen.

Wer nicht kämpft, hat schon verloren

Auch wenn die deutsche Occupy-Bewegung im Vergleich zu anderen Weltregionen noch nicht so recht in Schwung gekommen ist, so hat sie dennoch Potential, im Rahmen einer neuen transnationalen Bewegung in die Geschichte einzugehen. Dafür jedoch bedarf es hier einerseits mehr Partizipation und Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen und andererseits einer gemeinsamen politischen Agenda. Die Offenheit der Bewegung ist dafür Hindernis und Chance zugleich. Sie sollte nicht als Beliebigkeit oder Profillosigkeit vorschnell abgetan werden. Denn sie ist Programm, um eine kritische Mehrheit der Menschen darunter zu vereinen. Dieser Mehrheit dann einen gemeinsamen politischen Rahmen zu geben und konkrete Inhalte festzulegen für die langfristig zusammen gekämpft wird, wäre der zweite notwendige Schritt (3).

Dass es für tatsächliche Umbrüche gegen diese herrschenden Verhältnisse immer das Zusammenwirken einer sonst sehr gespaltenen Menschenmasse braucht, sowie Kräfte, die sowohl innerhalb etablierter Systemstrukturen als auch von außen gegen diese aktiv werden, ist nicht neu und hat die Geschichte auch schon etliche Male bewiesen. Ebenso lehrt uns die Geschichte, dass erst nach dem Durchbruch einer sozialen Bewegung absehbar wird, welche der Kräfte und Strömungen sich durchsetzen und was sich genau verändert. Aber impliziert das, dass sich das Engagement in sozialen Bewegungen von vornherein nicht lohnt, weil die Menschen in ihren Utopien so unterschiedlich sind? Wohl kaum – allerdings sollte es zu kritischer Achtsamkeit sensibilisieren, welche Kräfte versuchen sich an die Spitze etwaiger Bewegungen zu stellen. Allgemein gesprochen ist diese Kontroverse sogar äußerst fruchtbar, weil daraus Menschen erwachsen, die ihre eigenen Positionen kritisch reflektieren und weiterentwickeln. Eine wirklich herrschaftsfreie Gesellschaft kann nur aus einem Nährboden erwachsen, der von einer politischen Kontroverse zeugt, und in dem die politisch bewussten Menschen auch das Recht haben, sich in ihren Einstellungen zu unterscheiden. Eine „rebellierende Demokratie“ ist nicht homogen, wohl aber radikal gegen das staatliche Herrschaftssystem gerichtet (4). Die Occupy-Bewegung kann solch ein Nährboden sein und werden, sofern ihre Offenheit nicht für reformistische Schönheitskorrekturen ausgenutzt wird. Die wirkliche Herausforderung der Occupy-Bewegung besteht in ihrer glokalen Verortung – gleichwohl ist es auch ihre große Chance.

(momo)

(1) Im Fiskalpakt werden finanzpolitische Entscheidungen von Nationalstaaten an die EU-Ebene abgetreten. Damit einher geht v.a. eine Neuverschuldungsobergrenze, die an hohe Strafen gekoppelt wird und finanzschwache Ökonomien zu Sozialkürzungen verpflichtet. Der Fiskalpakt wird als Notwendigkeit argumentiert, um die europäische Staats­schuldenkrise in den Griff zu bekommen. Ausschlaggebend für diese Schuldenkrise waren v.a. die Rettungspakete an die Banken. Denn diese gerieten 2007 weltweit in Geldnot, als die Finanzspekulationsblase platzte. Die Immobilienkrise in den USA und die Spekulation mit schlecht gedeckten Krediten waren Auslöser der globalen Finanzkrise.

(2) Troika: Im Zusammenhang mit der Schuldenkrise wird das entscheidungsführende Dreiergespann, bestehend aus der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfond als Troika bezeichnet.

(3) Ein interessanter Aufruf zur „Wendlandisierung“ der antikapitalistischen Proteste in Frankfurt, verbunden mit Überlegungen zu inhaltlichen und organisatorischen Notwendigkeiten: antinazi.wordpress.com/2012/06/09/frankfurt-wendland-und-zuruck-ein-vorschlag-fur-blockupy-2-0/ .

(4) Prof. Miguel Abendsour philosophiert in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ 05/2012 über die ursprüngliche Bedeutung einer „rebellierenden Demokratie“. Diese wird von einer politischen Gemeinschaft getragen, die sich in all ihrer Heterogenität und Konfliktivität gegen die staatliche Herrschaft richtet. Sie steht als „beständiger Kampf für das Handeln und gegen das Herstellen“.

Schreibe einen Kommentar