Spanien: Eine andere Krise ist möglich

Die Eurozone kriselt weiter ungemütlich vor sich hin. Allem Zweckoptimismus der professionellen Gesund­beter_innen zum Trotz bleibt die Wachs­tums­perspektive trübe. Um den schwäch­eln­den Profiten auf die Sprünge zu helfen, mahnte die EZB in ihrem Monatsbericht vom August 2012 die „Notwendigkeit weiterer Struktur- und Haushaltsreformen“ an, also eine weitere Absenkung des Lebensstandards für weite Teile der Bevölkerung. So sei „eine weitere erhebliche Verringerung der Lohnstückkosten […] dringend geboten. Hierzu muss erstens der Lohnfindungsprozess flexibler gestaltet werden, etwa durch Lockerung der Kündigungsschutzbestimmungen, Beseitigung von Lohnindexierungssystemen und Senkung der Mindestlöhne. Zudem sollte es ermöglicht werden, Tarifverhandlungen auf Unternehmensebene zu führen.“ (1)

Freilich gibt die EZB nicht nur allgemeine Empfehlungen ab. Ende August veröffentlichte der britische Guardian (2) Auszüge aus einem Brief der „Troika“, welche sich aus der EZB, der Europäischen Kommission und dem IWF zusammensetzt. Das Schreiben richtete sich an die griechischen Ministerien für Arbeit und Finanzen und forderte eindeutige Maßnahmen ein: “Erhöhte Flexibilität der Arbeitszeiten; die Maximalzahl der Werktage sollte für alle Sektoren auf sechs Tage pro Woche erhöht werden“. Eine weitere Forderung war die „Festsetzung der minimalen täglichen Ruhezeit auf 11 Stunden“, was im Umkehrschluss eine Erhöhung der täglichen Arbeitszeit auf 13 Stunden zulassen würde.

Früher nannte man so was Klassenkampf – und wie man sieht, weiß zumindest die Kapitalseite ziemlich genau, wo dabei ihr Interesse liegt. Abseits der höheren Mathematik des Derivatenhandels gestaltet sich die kapitalistische Wirtschaft ziemlich simpel: In letzter Instanz dreht sich immer noch alles um die Abpressung von Mehrwert, also unbezahlter Arbeitszeit.

Ausschreitungen

Die spanische Regierung kann in dieser Hinsicht sehr mit sich zufrieden sein. Schließlich hat sie mit ihrer Ende März verabschiedeten Arbeitsrechtsreform die wichtigsten Forderungen der EZB schon vorab erfüllt, also Arbeitszeiten verlängert, Mindestlöhne gesenkt, den Kündigungsschutz faktisch abgeschafft und die betriebliche Mitbestimmung drastisch eingeschränkt.

Am 27. September präsentierte die Regierung nun ihren Haushaltsentwurf für das Jahr 2013. Und natürlich wurden auch für das kommende Jahr neue Einschnitte angekündigt – insgesamt sollen etwa 38 Mrd. Euro eingespart werden.

Natürlich geht das nicht ohne Protest ab. Schon am 15. September hatten hundert­tausende Menschen in der Hauptstadt demonstriert. Mit diesem „Marsch auf Madrid“ wollten die beiden größten spanischen Gewerkschaften, die CC.OO und die UGT (3) ihrer Forderung nach einem landesweiten Referendum über die Sparpolitik der Regierung Nachdruck verleihen.

Am 25. September dann wurde das Parlament in Madrid von tausenden Demons­trant_innen belagert. Der Aufruf zur friedlichen Blockade kam aus dem Umfeld der 15M-Bewegung (benannt nach den Platzbesetzungen, die ab dem 15. Mai 2011 begonnen hatten). Im weiteren Verlauf dieses Protests ging die Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas gegen die Menge vor. Mehr als 60 Menschen wurden verletzt.

Allem Anschein nach musste die Polizei durch agents provocateurs bei der Eskalation selbst ein wenig nachhelfen. Ein Video (4) zeigt den Beginn der Auseinandersetzungen: Etwa zwanzig Vermummte mit schwarzen und roten Fahnen liefern sich ein provokatives Hin und Her mit den Polizisten und schlagen schließlich mit ihren Fahnenstangen in deren Richtung. Die Polizei knüppelt in die Menge und verhaftet anscheinend zwei Vermummte. Drei Minuten später tauchen die beiden wieder auf dem Video auf, wie sie zusammen mit den Polizisten einen Demonstranten zur Seite schleifen. Was tut man nicht alles, um die gewünschten Medienbilder zu produzieren…

Am Folgetag gab es eine Spontankund­gebung, bei der sich etwa 10.000 Menschen zusammenfanden, um gegen die Polizeigewalt und für die Freilassung der Verhafteten zu demonstrieren. Eben­falls am 26. September fand im Baskenland und in der Provinz Navarra ein eintägiger Generalstreik statt. Dieser wurde von den linksnationalistischen Gewerkschaften LAB und ELA zusammen mit der anarchosyndikalistischen CNT und der CGT und anderen Basisgewerk­schaften organisiert. In gut zwei Dritteln der Industrieunternehmen wurde die Produktion durch den Streik ganz oder teilweise lahmgelegt. Beim öffentlichen Dienst, der Verwaltung und im Transportgewerbe sah es ähnlich aus.

Aneingungen

Ob es den Basisbewegungen gelingt, der staatlich forcierten Verarmungspolitik etwas Wirksames entgegenzusetzen, bleibt abzuwarten. Neuen Schwung brachten in den letzten Monaten vor allem die Kämpfe der Bergarbeiter_innen in Asturien und anderen Regionen, die landesweit große Aufmerksamkeit und Sympathien auf sich zogen. Die Arbeiter_innen waren Ende Mai in den Streik getreten, um gegen die angekündigte Kürzung der Subventionen für den Bergbau zu protestieren.

Drei Schächte wurden 50 Tage lang besetzt gehalten. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, blockierten die Arbeiter_innen Autobahnen und Schienenwege und lieferten sich Scharmützel mit der anrückenden Guardia Civil, wobei sie Zwillen und Feuerwerkskörper einsetzten.

Am 18. Juni gab es in den Bergbaugebieten einen Generalstreik, der von weiten Teilen der Bevölkerung unterstützt wurde. Vier Tage später dann begann ein Protestmarsch von etwa 400 Bergarbeiter_innen nach Madrid. Am 10. Juli wurden sie dort von einer großen Menge empfangen. Eine Demonstration am nächsten Tag brachte zehntausende Menschen auf die Straße. Ende Juli wurde der Streik vorerst beendet, für den Herbst sind aber weitere Aktionen angekündigt.

Aber auch in anderen Regionen regt sich was: Am 4. März 2012 besetzten etwa 500 arbeitslose Landarbeiter_innen die Finca Somontes in Andalusien (Region Córdo­ba). Die Finca, ein ca. 300 Hektar umfassendes Areal, das vor der Besetzung lange Zeit ungenutzt brachlag, ist Eigentum der andalusischen Regionalregierung. Drei Wochen später wurde das Gelände durch Polizei und Guardia Civil geräumt, in der folgenden Nacht jedoch umgehend von neuem besetzt.

Am 24. Juli folgte die Besetzung von Las Turquillas, einem 1200 Hektar großen Landstück in der Nähe von Sevilla. Das Gelände gehört dem spanischen Militär. Auch hier, wie auch bei der Finca Somon­tes, sollen die okkupierten Flächen für genossenschaftlich betriebene Landwirtschaft nutzbar gemacht werden (5).

Alle diese Besetzungen wurden von der andalusischen Gewerkschaft SAT (6) getragen, die auch anderweitig auf sich aufmerksam machte: So führten Anfang August arbeitslose Feldarbeiter_innen und Gewerkschaftsaktivist_innen in zwei Supermärkten „Enteignungsaktionen“ durch. Im einen Fall scheiterte das Unterfangen zwar an der Polizei, welche die Eingänge des Supermarkts blockierte. Andernorts gelang es den Aktivist_innen, etwa 20 Einkaufswägen mit Lebensmitteln, Milch, Zucker, Nudeln und Reis, zu füllen und damit den Markt zu verlassen. Die Waren wurden später an Wohltätigkeitsorgani­sationen zur Verteilung übergeben. Die betroffenen Märkte gehörten zu den Großhandelsketten Mercadona bzw. Carrefour – diesen wird von der SAT vorgeworfen, sie würden durch billige Importgüter die heimische Landwirtschaft ruinieren.

Während die anarchosyndikalistische Gewerkschaft CNT sich offiziell mit der SAT solidarisch erklärt, gab es auch aus linken Kreisen vereinzelte Kritik an den Aktionen. In der Tat ist schwer zu entscheiden, wo hier die Selbstermächtigung aufhört und das mediale Spektakel anfängt. So waren die „Enteignungen“ per Pressemitteilung angekündigt, und ohnehin nur als symbolischer Appell an den Staat gedacht, wie ein SAT-Aktivist in einem Interview (7) erklärt: „Wir haben die Lebensmittel aus den Supermärkten geholt und unter den Erwerbslosen verteilt, um Druck auf die Regierung auszuüben. Sie muss sicherstellen, dass die Grundbedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung befriedigt werden.“ Letztlich sollen also nicht die Proleten und Proletinnen selber handeln, sondern die Regierung.

Vor allem entzündet sich die Kritik aber an der Person von Juan Manuel Sanchez Gordillo. Dieser sitzt als Mitglied der kleinen, trotzkistisch geprägten Partei Izquier­da Unida (Vereinigte Linke) im andalu­sischen Regionalparlament. Zudem ist er seit 33 Jahren Bürgermeister von Marina­leda, einer Ortschaft bei Sevilla. Bei den beiden Supermarkt-Enteignungen spielte er eine zentrale Rolle und leitete die Aktionen mit einem Megaphon. Dadurch hat Gordillo es mittlerweile zu landesweiter Berühmtheit gebracht, in den Medien wird er als „der spanische Robin Hood“ bzw. „der andalusische Revolutionär“ präsentiert.

Wobei auch Gordillo selbst sich nur zu gerne in die Pose des aufrechten Einzelkämpfers wirft: Mitte August besuchte er auf einem Fußmarsch quer durch Anda­lusien verschiedene Städte, um Gespräche mit den Bürgermeistern zu führen und seine Amtskollegen zum Boykott der Sparmaßnahmen aufzurufen (8).

Medientauglich ist so ein personalisierter Protest allemal – nur sollte mensch lieber nicht warten, bis ein Chef in Chefgesprächen die Sache richtet. Trotz allem Aktionismus und aller verbalen Radikalität, könnten sich Politiker_innen wie Gordillo und linke Gewerkschaften wie die SAT bald als Hemmschuh für eine wirkliche Bewegung erweisen. Trotz der wachsenden Unzufriedenheit mit den Verhältnissen wird es wohl noch eine Weile dauern, bis die Menschen in Spanien ihr Interesse ebenso nachdrücklich vertreten, wie es die Kapitalseite bereits tut.

justus

(1) EZB-Monatsbericht August 2012, S. 65-66. Zu finden unter www.bundesbank.de/Navigation/DE/Veroeffentlichungen/EZB_Monatsberichte/ezb_monatsberichte.html
(2) www.guardian.co.uk/business/2012/sep/04/eurozone-six-day-week-greece
(3) Die UGT (Unión General de Trabajadores – Allgemeine Arbeiterunion) wurde 1888 gegründet. Sie steht traditionell der Sozialistischen Partei nahe. Die CC.OO (Comisiones Obreras – Abeiterkommissionen), in den 1960er Jahren gegründet, war Anfangs eng mit der Kommunistischen Partei verbunden. Seit den 70er Jahren hat sie sich zur stärksten Gewerkschaft in Spanien entwickelt und organisiert heute gut eine Million Mitglieder.
(4) youtu.be/FYGnbG9QcCY – Unter youtu.be/zrO_t3vHovQ ist dieselbe Szene in Nahaufnahme zu finden.
(5) observers.france24.com/content/20120810-spain-andalusia-las-turquillas-farmers-fight-occupy-military-land-fight-begin-farm-collective
(6) Die SAT, im September 2007 gegründet, ist eine Nachfolgeorganisation der andalu­sischen Landarbeiter_innen-Gewerkschaft Sindicato de Obreros de Campo (SOC), welche 1977 nach dem Ende des Franco-Regimes entstand. Neben der Vertretung der Landar­beiter_innen ist sie in den letzten Jahren auch im Dienstleistungssektor aktiv geworden.
(7) jungle-world.com/artikel/2012/34/46112.html
(8) www.huffingtonpost.com/2012/08/15/juan-manuel-sanchez-gordillo-spanish-mayor-steals-food_n_1778253.html

Soziale Bewegung

Schreibe einen Kommentar