Über das „Paulinum“, eine Glaswand und den Leipziger Kulturkampf
Die Debatte um den Universitätsneubau schien längst vorbei. Doch im August diesen Jahres loderte der Kulturkampf im Gewand des sogenannten Glaswandstreits von Leipzig wieder auf. Das Corpus Delicti ist eine Plexiglaswand im „Paulinum“, der zukünftigen Aula des Neubaus im Zentrum von Leipzig. Sie soll die spezielle Klimatisierung des Andachtsraums gewährleisten, wo Epitaphe (Grabdenkmal), die alte Kanzel und Altar stehen sollen. Aber Christian Wolff, Pfarrer der Thomaskirche, sieht darin ein weiteres Indiz für den Verfall des Abendlandes. Hierin äußere sich die „Angst vor einem kritisch-heiligen Geist, ohne den wir Menschen verrohen“(*).
Was will der da eigentlich? Wie kommt es zu solchen Auswüchsen christlichen Selbstbewusstseins? Was hat Plexiglas mit „ethischem Analphabetismus“ zu tun, was Wissenschaft mit Glaube? Und gibt es einen Zusammenhang zwischen der theologischen Fakultät und freier Wissenschaft?
Fangen wir am Anfang an. Am 30. Mai 1968 wurde die mittelalterliche Universitätskirche „St. Pauli“ auf Geheiß der DDR-Regierung gesprengt. Der sozialistische Staat hatte keinen Platz für eine zweite Weltanschauung neben der eigenen. Die Bürger der Stadt waren geschockt. Proteste gegen diesen staatlichen Machtbeweis führten zu Verhaftungen. Die Leitung der 1953 nach Karl Marx umbenannten Universität ging mit den Neubauplänen konform und stimmte letztendlich, ebenso wie die Stadtverordnetenversammlung Leipzigs der Sprengung zu.
Auf dem freigewordenen Gelände wurde von 1972 bis 1975 die neue Universität erbaut, deren moderne Architektur den Fortschritt des Sozialismus demonstrieren und den marxistisch-leninistischen Lehren würdige Räume bieten sollte. Ausdruck davon war das Marx-Relief an der Fassade, das mit dem Abriss des Hauptgebäudes 2006 zunächst eingelagert wurde und nach einigen Debatten auf dem Campus in der Jahnallee seinen Alterswohnsitz erhielt.
1989 leitete die sogenannte Friedliche Revolution den Umsturz des DDR-Systems ein. Die Demonstrationen in Leipzig, die u.a. von der Nikolaikirche ausgingen, setzten einen positiven Meilenstein in der Geschichte der Stadt. Die Universität erhielt einen ideologiefreien Namen, die alten Lehrkräfte wurden entlassen und das Pflichtfach Marxismus-Leninismus abgeschafft. Die Spuren der Zeit hatten sich jedoch in den Bau eingegraben: zerbrochene Bodenplatten auf dem Innenhof, die Taubenpopulation in den Zwischengängen, vergilbte Außenverkleidung… Bald machte man sich also Gedanken über einen Neubau des Innenstadtcampus. Die Leipziger Bürgerschaft nahm rege Anteil an der Diskussion darum, welche äußere Form der Bedeutung des Ortes gerecht würde.
Um die eigenen Interessen gegen den Planungsbeirat des Neubaus, also den Bauherrn, die Sächsische Staatsregierung, die Universität und die Stadt Leipzig zu vertreten, gründeten BürgerInnen 1992 den „Paulinerverein“. Sie forderten einen originalgetreuen Wiederaufbau der Universitätskirche „St. Pauli“. Denn nur so könne ein Zeichen gesetzt werden, das die Greueltat von 1968, wenn nicht ungeschehen macht, dann doch wenigstens zeigt, wer hier der Sieger der Geschichte ist.
Eine erste Ausschreibung führte nicht zum Erfolg. Der Entwurf des Architekturbüros „behet + bondzio/Münster“ erhielt im Mai 2002 lediglich den zweiten Platz, da die Jury der Meinung war, dass die Fassade, nicht der historischen Bedeutung des Ortes gerecht würde. Man wollte sowohl eine zeitgemäße Gestaltung, als auch angemessen an die Universitätskirche erinnern.
An diesem Punkt entflammte die schwelende Debatte um den Wiederaufbau erneut. Im Juli 2001 forderten 28 Nobelpreisträger und weitere Prominente aus aller Welt, die Rekonstruktion der alten Universitätskirche Sankt Pauli zur Voraussetzung für die zweite Ausschreibung zu machen. Die Kirchenbefürworter beschwerten sich über zu wenig Mitspracherecht und fanden dabei auch die Unterstützung des damaligen Wissenschaftsministers Matthias Rößler. Im zweiten Wettbewerb erhielt der Entwurf des Rotterdamer Büros „van Egeraat“ den Zuschlag für die Gebäude hin zum Augustusplatz, dessen Realisierung wir heute im Rohbau bereits erahnen können. Abgesehen von der üblichen Fehlplanung bezüglich Bauzeit und Kostenvoranschlag, schien alles in den vereinbarten Bahnen zu laufen.
Das „Paulinum“, die Aula der neuen Universität, sollte für eine Dreifachnutzung – akademisch, musikalisch, kirchlich – offen stehen. Doch an der Innengestaltung entbrannte im Spätsommer 2008 erneut eine Debatte. Die geplante Plexiglaswand, die der Klimatisierung des Andachtsraumes und damit dem Schutz der historischen Kulturgegenstände dienen soll, interpretiert Pfarrer Wolff als „antichristlichen Schutzwall“. Wie sonst ist es zu verstehen, wenn er in der Zeit schreibt: „1989 fiel in Berlin die Mauer. Doch in Leipzig wird ein neuer Schutzwall errichtet“(*). Ob da demnächst auch der Schießbefehl nachgereicht wird? Möglich wäre es, denn die Installation von Glaswänden, so Wolff, führt notwendig in die Barbarei: „Wer eine Trennung zwischen Glauben und Vernunft propagiert, sollte bedenken, dass die Zerstörung von Synagogen, Kirchen und Moscheen immer Ausdruck der Verkommenheit einer Gesellschaft ist. Das war 1938, das war 1968 so“. Als wäre das Dritte Reich ein Ausdruck übergroßer Vernunft gewesen…
Das heißt nichts anderes, als dass eine Universität, die einem Programm kritischen Denkens anstatt dem Wertekanons des christlichen Glaubens folgt, jeder menschenfeindlichen Ideologie die Tore öffnet. Da muss mensch sich doch fragen, wie die Menschheit die humanistische Aufklärung überleben konnte. Zudem zeugt die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Realsozialismus, die Wolff vornimmt, nicht eben von Sachkenntnis. Jedem Schüler der achten Klasse dürfte klar sein, dass es grundlegende Unterschiede zwischen den Ausprägungen von Zerstörung, Verfolgung und Wertvorstellungen gab.
Den Fakt, dass die Universität nicht gewillt war, eine Kopie der Universitätskirche „St. Pauli“ wieder zu errichten, versteht Wolff als Gutheißung der Sprengung von 1968. Von dieser unterstellten Geschichtsvergessenheit der Universität ausgehend, unternimmt er eine Attacke auf die Wissenschaft als Ganzes. Deren Meinungslosigkeit, bzw. Wertfreiheit, die fehlende Anbindung an die christliche Ethik, münde in einen Zustand des „ethischen Analphabetismus“.
Hier offenbart sich ein bedauerliches Verständnis von Wissenschaft, nach dem die Trennung von Glauben und Vernunft unmöglich ist, da nur deren Verbindung den ethisch-moralischen Unterbau für Bildung und Wissenschaft liefern könne. Denn, so Wolff, „worauf wir in der Bildung nicht verzichten können“, sei „die letzte Verantwortung vor Gott in der Offenheit des wissenschaftlichen Diskurses“.
Es lässt sich nur vermuten, dass dieses ideologische Gerangel seinen Ursprung in einem Ohnmachtgefühl hat, das aus der (durchaus berechtigten) Annahme resultiert, die eigenen Ansichten wären nicht genug in der Gesellschaft repräsentiert. Betrachtet man jedoch die Anzahl evangelischer Kirchen, speziell in der Innenstadt und den Anteil Gläubiger Christen an der Stadtbevölkerung, so läßt sich die Forderung, den Neubau als Kirche zu betiteln, nur als reine Gier verstehen. Allein im Zentrum gibt es bereits 7 und im gesamten Stadtgebiet 38. Im Vergleich dazu kann die katholische Kirche nur mit 9 aufwarten.
Der Pfarrer steht nicht allein mit seiner verkorksten Meinung da. Während er aus Glaubensgründen für den Wiederaufbau plädierte, meinen andere, es ihrer Geschichte schuldig zu sein, den Zustand vor 1968 wieder herzustellen. Der Trompeter Ludwig Güttler etwa verspricht sich vom Wiederaufbau eine Katharsis für die verletzten „Gefühle der Menschen, die seit der Sprengung der Leipziger Universitätskirche 1968 darunter litten“ (DDP-Meldung 07.10.08).
Auch die Theologische Fakultät gibt Wolff Deckung. Ihre studentische Sprecherin Tina Binder hält es für unmöglich, Glaube und Wissenschaft zu trennen. Mit Glaube ist speziell der christliche gemeint und die Offenheit reicht auch nur bis zur Überkonfessionalität. Man wäre bereit, auch der katholischen Gemeinde die Räume zu öffnen. Aber die interreligiöse Nutzung, die der StuRa für den Andachtsraum in der Aula angedacht hat, wird von ihr ausgeschlossen. Begründet wird dies mit der christlichen Tradition der alten Universitätskirche.
Am Reformationstag veranstalteten die GlaswandgegnerInnen eine Aktion, bei der sie ganz in der Tradition Luthers fünf Thesen an dem Bauzaun vor dem „Paulinum“ in Form eines überdimensionalen Transparentes befestigten: Die Aula soll zur Kirche werden, die Glaswand soll weg, damit Glaube und Wissenschaft sich begegnen können. Auch die Reden zum sogenannten Thesenanschlag brachten nichts Neues, Unmutsbekundungen wurden als Störaktion und Mißbrauch von freier Meinungsäußerung verstanden. Die Überzeugung, die richtige Meinung zu haben, ist an sich nicht verkehrt, wenn man denn in der Lage ist, sie vernünftig zu begründen. Bis dahin ist es aber bei diesen nostalgischen Geschichtsfans mit Sprengtrauma noch ein verdammt weiter Weg…
wanst
(*) Alle unmarkierten Zitate stammen aus Christian Wolff‘s Artikel „Wie die Leipziger Universität sich gegen Kirche und kritischen Geist sträubt“ in Die Zeit Nr. 42, 09.10.08.