Archiv der Kategorie: Feierabend! #13

Viele hatten keine Wahl

Europa-, Landes- und Kommunalwahlen – Wahlbeteiligung sinkt kontinuierlich!

Was andere nur für ein Vermittlungsproblem halten, ist für die demokratische Verfasstheit der europäischen Nationen ein handfestes Problem. Franz Müntefering scheint nach monatelanger Analyse der drastischen WählerInnen­verluste der SPD am Montag nach der Europawahl und den Ergebnissen der Landes- und Kom­mu­nalwah­len ernüchtert. Die SPD hat ein Ver­­ständnis­prob­lem. Soll heißen zwischen Partei und Basis, zwischen Wählerin und Funktionär, zwischen Parteiprogramm und politischer Meinung geht nunmehr nicht nur ein Riß, sondern ein handfester Bruch. Der Niedergang der Sozialdemokratie an der Schwelle des 21. Jahrhunderts indes hat symbolischen Gehalt. Er steht stellvertretend für die sinkende Legitimität des Parlamentarismus im Allgemeinen. Die Entwicklung der Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament z.B. steht im umgekehrten Verhältnis zur Entwicklung der europäischen Institutionen und den politischen Spielräumen ihrer Macht und Machtausübung. Seit die Wahlen stattfinden, ging die Wahlbeteiligung in Ländern wie Deutschland (22,7)*, Frankreich (17,56), den Niederlanden (18,7), Spanien (22,96) oder Finnland (19,2) um ca. 20 Prozent zurück. In Portugal gar um 33,66 Prozent. Die neuen Beitrittsländer blieben, bis auf die kleinen Länder Zypern und Malta, alle unter 50 Prozent. Die Schlußlichter bilden Polen und die Slowakei, die mit 20,42 und 16,66 Prozent das Wahldesaster komplettieren. Macht Summa summarum einen europa­wei­ten Rückgang der Wahlbetei­ligung seit ihrer Veranstaltung um satte 17,5 Prozent auf nunmehr noch 45,5 Prozent. Mehr als die Hälfte aller wahlberechtigten Bürger also hat sich in der Wahl 2004 gegen die weitere Legitimierung des europäischen Parlamentarismus entschieden.

Ich prophezeie also – daß eine Unzahl von denen, die am 16ten zur Wahlurne laufen, am 17ten, wenn sie die Zeitungen lesen, sich dasselbe sagen, wie vor fünf Jahren: Alter Esel, du hättest ruhig zu Hause bleiben können! …“

Aber auch auf Landes- oder Kommunalebene sinkt die Beteiligung ständig. Bei den Stadtratswahlen in Leipzig sackten die Zahlen unter die 40 Prozentmarke auf 38,6. Von den 3 Prozent ungültigen Stimmen ganz abgesehen. Auch bei den Landeswahlen in Thüringen entschlossen sich mehr WählerIn­nen als sonst, der „Urne“ fernzubleiben. Nach 59,9 Prozent 1999 wählten diesmal nur noch 54 Prozent.

… Ich wäre auch ohne meine höchsteigene Bemühung fer­nerhin regiert und geschuh­riegelt und mißhandelt worden! Es wäre auch ohne mich ferner­hin jedes sachliche Bemühen um die Förderung der Kultur und das Wohlergehen der einzelnen untergegangen in dem lumpigen Streit herrschwütiger Parteien!“

Gustav Landauer, 1898

Bleibt nur die Hoffnung, daß all die Nicht­wählerInnen neben einem geruhsamen Sonntag noch genug Zeit finden werden, endlich auch an politischen Alternativen mitzuwirken. Denn eins scheint doch klar: Gegen Monarchie und Oligarchen, gegen Götter und die Diktatur, gegen Kapital und Lohnarbeit müssen doch bessere Kräuter als der Parlamentarismus gewachsen sein.

clov

* manche Wahlkreise blieben unter 25 Prozent!
Alle Zahlen aus Berechnungen der Collabora­tion EP – Eos Gallup Europe bzw. von den zuständigen Sta­tistik­ämtern.
Weitere Zahlen unter:
www.destatis.de oder
www.bundeswahlleiter.de

Wahlen

www.VOTE.global

Meine lieben Damen und Herren, liebe Androgyne, liebe Geschlechtslose, liebe Zwitter. Endlich ist es wieder soweit. Der Vorhang öffnet sich … und hier stehe Ich. Ihr omnipräsenter, über die Grenzen aller Bunker und Festungen bekannter, Ihr Meister der Unterhaltung. Zusammen mit der weltumspannenden, erderschüttern­den Megashow „VOTE“ haben wir hier in den herrlich prachtvollen Hallen des Bunker 13 Quartier bezogen. Sie fragen sich sicher schon voller Erregung: Was?, was wird „VOTE“ heute wohl präsentieren? Und Ich sage Ihnen, Sie wissen es bereits. Jetzt kratzen Sie sich nicht am Speicherstecker. Ich sage es Ihnen ja schon. Es stehen die XIII. Wahlen der Europäischen Konföderation an. Ja! Ob Sie es glauben oder nicht. Die 9 ¾ Jahre sind schon wieder vorbei. Wie schnell die Zeit verfliegt, nicht wahr? Können Sie sich noch an damals erinnern? Alle fünf Jahre? Das kommt einem heute so lächerlich vor. Aber lassen Sie uns nach vorne schauen: „VOTE“ bietet ein nahezu erschöpfendes Programm. „VOTE“ wird Sie lückenlos aufklären. Fak­­ten, Hintergründe und Intrigen. Über die 22 Kandidaten und ihre Programme. Aus allen Monitoren wird es Schlag­lichter geben. „VOTE“ hilft Ihnen bei Ihrer Entscheidung. „VOTE“ wählt sogar für Sie. Und „VOTE“ hat auch etwas Neues! In einem simulierten Wahlgang können Nichtwahl­berech­tigte Ihre Stimme trotzdem abgeben! Ist das nicht phantastisch! Sie haben nicht nur die Wahl, Sie müssen einfach wählen.

„VOTE“ ist nicht irgendeine alternative Wahlshow, „VOTE“ ist die Alternative. Beginnen wir doch gleich mit einem Knaller. Begrüssen Sie mit mir den Männer­chor der Sektion der X. Internationale, präsentiert von der Partei für Soziale Gleichheit:

Drei ältere Männer treten ins Licht und tragen die Internationale in einem glänzend gearbeiteten dreistimmigen Kanon vor. Der Bunker tobt. Verneigung. Ab.

Ja. Wunderbar. Nicht? „Für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa.“ Ich persönlich … nein! Aber vielleicht finden Sie ja Gefallen an dem Gedanken. Wussten Sie eigentlich, dass die Maßnahmen zur Hebung der Wahlteilnahme endlich greifen. Unsere Analysten erwarten das Durchbrechen der 50%-Hürde schon in den nächsten zehn Jahren. Gerade im Osten soll ein ent­schei­dender Wi­der­­stand gebrochen wor­den sein und dann die Fortschritte im Büro­kra­tischen, im Erziehungswesen und in der vermittelnden Unterhaltung. Ich sa­ge Ihnen, Ich glau­be den Experten lang­sam. Bringen wir gleich die Tier­­schutz­partei zwi­­schen­­durch. Von ihr haben wir nur eine Annonce bekommen:

Suchen Tiere jeder Art. Raum ist vorhanden. Chiffre: ???

Naja, ich weiß nicht. Man darf die Welt auch nicht zu eng sehen. Tiere? Da gibt es doch Wichtigeres. Haben Sie eigentlich schon das Neueste aus Japonesien gehört. In einem der unterirdischen Labore soll es gelungen sein, Wachstumshormone von Eintagsfliegen in aufgetaute Dinosaurierzellen zu implantieren. Das Vieh hat wohl die ganze Einrichtung zerschlagen! … Doch zurück zu Europa. Jetzt halten Sie sich fest. Keine Partei kann soviel Wahlperioden auf sich vereinen. Rekordteilnehmer und mehrjähriger Regierungsverteidiger. Brutal und sanft, diese Partei kann einfach alles. Und hier ist sie, mein heimlicher Favorit, die Zentrumspartei:

Das Licht geht aus. Ein Spot tastet sich durch das Dunkel der Bühne. Plötzlich wird von oben ein riesiges Spruchband entrollt. Eine butterweiche Stimme liest aus dem Lautsprecher: Wir wollen die Monarchie zurück! Alle staunen. Der Meister der Unterhaltung kreischt vor Ergötzen. Das Licht geht wieder an…

Können Sie das glauben? Welche Provokation. Ich bin erschüttert. Überrascht. Ist das der Coup dieser Wahl? Ist das schon der Sieg? Wenden wir uns gleich dem Beitrag von einem der härtesten Konkurrenten zu. Hier ist sie, die Politparade der CDU:

Eine Polonaise immer kleiner werdender Funktionäre tritt von links auf die Bühne und zieht schweigend einen riesigen Mühlstein hinter sich her. Einzig der erste, größte, älteste hebt die rechte Hand zum geraden Gruß. Ab.

Das ist das neue Selbstbewusstsein der Christdemokraten? Diese symbolische Kraft. Diese Religionsmetapher. Einfach umwerfend. Die CDU hat wiedereinmal bewiesen, sie ist gleichwertig mit der Zentrumspartei. Na, haben Sie sich schon entschieden? Egal! Glauben Sie mir. Jeder Kandidat ist hier genauso gut wie der andere. Jedem können Sie Ihre Stimme geben. Jeder kann Sie vertreten. Aber nur zwei werden letztlich zugelassen. Was? Das haben Sie vergessen! Die Sperrklausel existiert doch schon seit den IX. offiziellen Europäischen Wahlen. Falls Sie sich nicht entscheiden können, vertrauen Sie Ihrem individuellen Prognose-Assistent gleich neben den Empfangskonsolen. Und jetzt kommen wir zu einem wirklich spektakulären Kandidaten. Diese Partei hat es wirklich geschafft, den Super-Gau vorherzusagen. Scha­de nur, dass ihr Ausstiegsprogramm zu langfristig angelegt war. Begrüßen Sie mit mir die alte und neue Koalition aus den GRÜNEN und der ödp:

Ein Redner tritt auf die Bühne und verliest die Bekanntmachung der neuen Koalition, die sich ab jetzt die LILANEN nennen wolle, da sich auch die Natur erheblich verändert hätte und man mit der Zeit gehen müsse. Danach folgt eine modernistische Performance einer handvoll in buntem Rausch grunzender Juppies, die mit der Zeit langweilen. Der Meister der Unterhaltung geht dazwischen und treibt sie von der Bühne.

Aber genug. Sehen Sie, unser Hilfspersonal beginnt gerade, den Beitrag der Partei Bibeltreuer Christen zu verteilen. Eine in Recycle-Leder eingebundene Bibel für jeden Besucher unserer Show. Ist das nicht wahrhaft mildtätig? Da machen wir doch hier vorn auf der Bühne gleich mit der Christlichen Mitte weiter. Bitte schön:

Ein Reigen hippiesker Gestalten mit einigen Trommeln und Gitarren taumelt auf die Bühne und bildet einen Sitzkreis. Während das musikalische Wirrwarr immer weiter harmonisiert, verwandeln sich jene in Mittelständige und Kleinfabrikanten (Reißen sich Toupets herunter, drehen die grauen Innenseiten ihrer Jacken nach außen etc.). Als die Musik wie ein Ton, ein Fanal, im Raum steht, gehen sie gesenkten Hauptes ab.

„Für ein Europa nach Gottes Geboten.“ – Wie aufregend. Wie modern. Und im Vertrauen. Gegen kleine Parteispenden spricht man Sie sogar von Ihren Sünden frei. *Geräusche hinter dem Vorhang*

Was ist das? Kommen da schon? Hallo, kann mir mal jemand sagen …

Mit lautem Gebrüll stürzt eine Fraktion aus Freikorps der DP, BÜSOs und AUFBRUCH-Leuten auf die Bühne und jagt hinter der Solistin der FRAUEN hinter­her. Eine Rotte REPUBLIKANER und NPD-Anhängerinnen springt von ihren Sitzen im Publikum auf und brüllt bierlallend: Schützt die Frau! Schützt die Frau! Während von der anderen Seite sechs Schwangere der FAMILIEN-Partei sechs in ihren Stühlen wütende Rentner und Rentnerinnen der GRAUEN auffahren. Ein Spezialagent der DKP mit Spezialausbildung seilt sich im Tarnfleck von der Schein­wer­fer­traverse. Er springt auf die beleibte Frau zu und will sie mit einem Spezialgriff an der Hüfte packen und dann hinter die Rollstuhl­fahrerInnen-Phalanx schleudern. Die Frau jedoch bewegt sich keinen Millimeter. Während der Agent mit diversen anderen Griffen versucht, die massive Stellung doch noch auszuhebeln, merkt er nicht, wie zwei Kader der PDS direkt neben ihn beamen. Er wird überwältigt und re­nationalisiert. Die Szene beruhigt sich gerade, als eine Schar junger pausbackiger Rotzlöffel lauthals trällernd auf die Bühne tritt. „GEGEN ZUWANDERUNG INS ‚SOZIALE NETZ’“ singen sie und die AKTION UNABHÄNGIGE KANDIDATEN gibt, spontan berührt, jeden Anspruch auf Wahlteilnahme auf. Chaotische Bilder spielen sich jetzt ab. Der ganze Bunker brodelt. Plötzlich knallen Schüsse. Rotuniformierte mit blauen Helmen von der SPD laufen überall auf und gehen zwischen die Men­schen­trauben. Aus einem der Hauptlaut­sprecher tönt die greise Stimme eines Regie­rungs­funktionärs, der sich niemals die Haare färbt: „Hier spricht die durch Wahlen legitimierte Regierung der Bunkerverwaltung. Halten Sie Ordnung. Den Anweisungen der Exekutivkräfte ist Folge zu leisten. Dies ist ein friedenssichernder Einsatz. Verhalten Sie sich ruhig.“ Nachdem die Ordnung wieder hergestellt scheint, wird ein Pult auf die Bühne getragen und ein aalglatter Typ im Nadelstreifenanzug beginnt eine Predigt auf den freien Markt und über diverse Einschnitte bei der Wasserversorgung, den Ausgangszeiten und der Lebensmittelverteilung. Auf seinem Revers blinkt ein schmales, gelbes Schild mit drei Buchstaben: FDP. Die Versammlung zerstreut sich. Als der Meister der Unterhaltung schließlich alleine bleibt, putzt er sich die letzte Frustträne vom Gesicht und moderiert, trotzig aber durch und durch Profi, „VOTE“ noch ab.

Wieder ist ein unvergleichlicher Wahl­abend zu Ende gegangen. Wen interessieren schon die Kandidaten?! Wen die Ergebnisse bei soviel Unterhaltung auf höchstem Niveau! „VOTE“ meldet sich bald wieder. Aus den Bunkersystemen Amerikas oder den Festungen des Russischen Reichs. „VOTE“ kennt keine Grenzen. Und eins ist sicher. Sie werden es sehen!

Was bleibt also nach dem ganzen Chaos? Die Europäer haben letztlich den gleichen Bunkerkoller wie wir alle, nicht wahr?

Der Meister der Unterhaltung geht melancholisch singend und leicht irr ab:

Bunker-Koller jeah-jeah Bun­ker­­koller jeah, jippie, jippie jeah … BUUUNKER­KOOOLLER …! …! … !!!“

clov

Wahlen

Ein regnerischer heißer Mai

Die Revolte von Melfi und die Mobilisierung bei der Alitalia

Wir haben Arbeiterkämpfe in fortgeschrittenen Gebieten und in zurückgebliebenen Gebieten erlebt: Das Interessante dabei ist, dass die Arbeiterkämpfe in fortgeschrittenen und in zurückgebliebenen Gebieten sich sehr oft gleichen, d.h. dass sie eben tendenziell – und sei es auch nur über gewerkschaftliche Inhalte – das Gesamtverhältnis zwischen Arbeiterklasse und Kapital sichtbar machen.“

(Raniero Panzieri “Lotte operaie nello sviluppo capitalistico”, März 1962)

In den letzten Jahren wurde viel geschrieben zum Ende der alten Arbeiterklasse, Ende der Zentralität des Großbetriebs, Dezentralisierung der Produktion, Auslagerungen, Veränderungen im Arbeitsrecht usw.. Als roter Faden zog sich durch diese, mittlerweile Allgemeingut gewordenen, Überlegungen die Überzeugung, auch der Arbeitskampf bzw. der Klassenkampf sei überholt. In der “postindustriellen” Produktion habe sich die Arbeiterklasse aufgelöst und könne höchstens noch als Verbund von Interessengruppen im “Ver­teilungs­konflikt” agieren.

Man könnte das Thema abhaken mit dem alten Witz von dem Arbeiter, dem jemand erzählt, der Klassenkampf sei vorbei, und der antwortet: “Habt ihr auch den Unternehmern Bescheid gesagt?”

Die soziale Frage wird natürlich nicht in den Medien gelöst. Darüber hinaus sollten wir aber daran erinnern, dass die Bewegung der ArbeiterInnen keine mechanische Antwort auf den Druck auf sie durch Staat und Kapital ist, sondern das Ergebnis einer individuellen und kollektiven Verarbeitung der proletarischen Erfahrung, bei der die ArbeiterInnen die Umbrüche der Gegenwart (teilweise echte Para­digmenwechsel hinsichtlich Produktion und Gesellschaft) zu den Erfahrungen der Vergangenheit in Beziehung setzen.

In Melfi (Basilikata) fand seit zehn Jahren der erste große Kampf von Industrie­arbeiter­Innen in Italien statt, der nicht nur auf Entlassungen oder den allgemeinen Sozialabbau reagierte. Sata (so heißt das Fiat-Werk in Melfi) wurde bei seiner Einweihung vor zehn Jahren als post­fordis­tische Modellfabrik vorgestelltt. Noch vor der Einstellung der ersten ArbeiterInnen wurde ein Tarifvertrag “auf der grünen Wiese” abgeschlossen, von einer Gewerkschaft, die sozialpartner­schaft­lich zu nennen noch eine Beschönigung wäre. Es gab massive staatliche Subventionen, eine „toyotistische“ Arbeitsorganisation, die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in 21 Zulieferbetrieben in unmittelbarer Nachbarschaft usw.. Melfi sollte Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen im ganzen Fiat-Konzern ausüben (tatsächlich waren schon vor der „Melfisierung Fiats“ die einzelnen Standorte systematisch gegeneinander ausgespielt worden).

Melfi startete von Anfang an mit einer sehr hohen Fluktuation. Die Disziplin wurde mit drakonischen Strafen durchgesetzt. Die ArbeiterInnen (darunter auch zehn Prozent Frauen, eine absolute Neuheit im Fiat-Konzern) verdienten weniger als in anderen Fiat-Werken und hatten deutlich brutalere Schichten, um das Werk 6 mal 24 Stunden am Laufen zu halten. Mitte April 2004 traten die ArbeiterInnen in Streik gegen diese Bedingungen. Nach zehn Tagen Streik hatte Fiat Produktionseinbußen von 16 300 Fahrzeugen (allein in Melfi werden am Tag bis zu 1200 Fiat Punto und Lancia Y montiert und Bleche für andere Fiat-Werke hergestellt), und 95% der italienischen Autoproduktion stand still. Am 26. April griffen die Bullen sehr hart die Streikposten an. Es gab mehrere Schwerverletzte. Daraufhin rief die FIOM* zu einem landesweiten Generalstreik am 28. April auf, der massenhaft befolgt wurde.

Kämpfe, die von zugespitzten Punkten des gesellschaftlichen Widerspruchs ausgehen, bekommen meist eine rasante Dynamik. So auch in Melfi: Sehr schnell haben die ArbeiterInnen zwei präzise Ziele auf die Tagesordnung gesetzt. Die Angleichung der Löhne an die der anderen Arbeiter­Innen im Konzern und die Überwindung einer mörderischen Arbeitsorganisation.

Sie haben außerordentlich hart und entschlossen gekämpft und damit faktisch den Betriebsrat (in dem FIM*, UILM* und FISMIC* die Mehrheit haben) ausgehebelt, der die bisherige Passivität der Belegschaft recht gut widerspiegelte. Aber sie haben nicht nur die Gewerkschaft in Frage gestellt, sondern auch die Anfälligkeit der Just-in-Time-Arbeitsorganisation für sich ausgenutzt. Da die „integrierte Fabrik“ keine Puffer hat, ist sie darauf angewiesen, dass der Produktionszyklus, an dem verschiedene Werke und Unternehmen beteiligt sind, wie am Schnürchen funktioniert. Die ArbeiterInnen haben den Zersetzungsprozess der alten fordis­tischen Fabrik, mit dem ihre Verhand­lungsmacht geschwächt werden sollte, gegen die Unternehmer gewendet und klargemacht, dass auch in der postfordis­tischen Fabrik gekämpft werden kann.

Dem Streik bei Fiat in Melfi gingen im letzten Sommer Mobilisierungen gegen Atommülldeponien voraus: Große Menschenmassen hatten sich an Straßenblockaden beteiligt und ganz Lukanien blockiert. Dabei handelte es sich natürlich um eine klassenübergreifende Volksbewegung, aber sie zeigte sehr deutlich, dass man mit direkten Aktionen gesellschaftlich etwas durchsetzen kann. Bereits im Winter 2002/2003 waren in den Auseinandersetzungen um die Kurzarbeit bei Fiat Straßenblockaden zum Massenphänomen geworden. Auch wenn dieser Kampf mit einer klaren Niederlage zu Ende ging, hinterließ er ein eindeutiges Zeichen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Die wilden Streiks der Busfahrer und des Flug­hafenpersonals im Winter 2003/2004 stellten dann einen Quali­täts­sprung dar, weil sie von Blockaden von außen zu Aktionen im Produktionsprozess selbst übergingen.

Alitalia

Der Kampf gegen die Entlassungen bei der Alitalia war so gesehen “klassischer”, aber vor diesem Hintergrund nicht weniger interessant: Straßensperren, wilde Streiks, Druck von unten auf institutionelle Gewerkschaften, zunehmende Verwurzelung der Alternativgewerkschaften haben sich miteinander verflochten.

Zunächst haben Regierung und Unternehmen versucht, den Widerstand der Alitalia-ArbeiterInnen damit abzutun, diese hätten die objektiven wirtschaftlichen Notwendigkeiten »nicht begriffen«. Damit kamen sie aber nicht lange durch, und mußten über ernsthafte Dinge sprechen, nämlich darüber, dass auch die als überflüssig an den Rand Gedrängten das Recht auf ein Einkommen haben. Danach versuchte Alitalia die klassische “spalterische” Schiene: Ein Großteil des Unternehmens sollte an Zulieferfirmen ausgelagert werden – mit den üblichen Folgen für Löhne, Arbeitsbedingungen und Sicherheit der Jobs.

Auch bei diesem Kampf war am wichtigsten, dass die ArbeiterInnen selbst aktiv geworden sind und dabei Aktionsformen benutzt haben, die sich gerade verallgemeinern. Die ArbeiterInnen scheinen sehr gut begriffen zu haben, dass die Auseinandersetzung so geführt werden muss, dass man den Gegner hart trifft und gleichzeitig den Kampf öffentlich vermittelt, weil man sonst gar nichts erreicht.

Abschluß bei Melfi?

Nach 20 Tagen Kampf und etwa 35.000 nicht produzierten Autos (mehr als 1,5% der Fiat-Jahresproduktion) haben FIM*, FIOM*, UILM*, FISMIC* und UGL* eine Einigung mit Fiat erreicht, und der Arbeitskampf wurde zunächst beendet. In Rom wurden die Verhandlungen in der Schlussphase von den nationalen Vorständen der Gewerkschaften geführt, die damit wieder gemeinsam aufgetreten sind, nachdem das Tischtuch kurz vorher noch endgültig zerschnitten schien.

Wenn ein Abschluss aber sowohl von Gianni Alemanno von der postfaschis­tischen Regierungspartei Alleanza Nazio­nale, der das Abkommen als “großen Sieg der Arbeiter des Mezzogiorno” einschätzt, als auch von Rifondazione-Comunista-Chef Fausto Bertinotti begrüßt wird, dann ist er entweder wirklich gut, oder alle beteiligten Institutionen hatten ihn bitter nötig.

Kritik kam von Giorgio Santini, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft CISL*, die wie UIL* und FISMIC* gegen die Blockade von Sata war: “Es ist das eine, eine regierbare Fabrik zu haben, und etwas anderes, zu entdecken, dass die Fabrik unregierbar ist. (…) Ich fürchte, dass das Projekt Melfi jetzt auch von Fiat anders gesehen werden könnte.” (Corriere della Sera, 10. Mai 2004).

Der zwölfseitige Abschluss lässt sich ungefähr so zusammenfassen:

1. Ab Juli wird der sogenannte Doppel­klop­per, d.h. zwei Wochen Nachtschicht in Folge, abgeschafft. Es wird eine 6-Tage-Woche und eine 4-Tage-Woche mit zwei aufeinander folgenden Ruhetagen geben. Gleichzeitig wird die Arbeitszeit von 7:15 Stunden auf 7:30 Stunden verlängert. Die zusätzlichen 15 Minuten ergeben dann 7 zusätzliche arbeitsfreie Tage. Die Nacht­schicht­zulage wird bis Juli 2006 von 45 auf 60,5 Prozent (wie in den anderen Werken) erhöht.

Die ArbeiterInnen haben viel erreicht, aber Samstags- und Sonntagsarbeit und die nur 30-minütige Mittagspause bleiben.

2. Die Löhne der ArbeiterInnen in Melfi werden erst nach und nach an die der anderen Fiat-Beschäftigten angeglichen (die Hälfte der Angleichung kommt ab Juli 2004, ein weiteres Viertel im Juli 2005 und der Rest ab Juli 2006). Das hätte sofort geschehen müssen.

3. Ein weiterer Auslöser des Streiks war das harte Fabrikregime: Im Laufe von 10 Jahren hatte es 7.000 Disziplinarmaßnahmen (Suspendierungen und Lohnabzüge) gegeben. Nun wird eine “Versöhnungs- und Vorsorgekommission” eingerichtet, die die in den letzten 12 Monaten verhängten Sanktionen untersuchen soll.

Hier wird es wirklich heikel. Im Streik gab es nämlich extrem harte Auseinandersetzungen, und die Untersuchung der Disziplinarstrafen einer gemischten Kommission aus Unternehmern und Gewerkschaften zu überlassen, die zum großen Teil gegen den Kampf waren, ist letztlich selbstmörderisch. Dahinter steckt ganz klar der Versuch, die vom Kampf unter­grabene Macht der Unternehmer und Gewerkschaften wiederherzustellen, indem man auf Zeit spielt, auf den Rückgang der Mobilisierung setzt usw..

Wo stehen wir?

• Der Kampf von Melfi zeigt, dass eine starke und entschlossene Mobilisierung nötig ist, um etwas zu erreichen – und dass die ArbeiterInnen das vollkommen verstanden haben.

• Gerade die entschiedensten Feinde der Bewegung im Gewerkschaftslager haben den wesentlichen Punkt begriffen, wenn sie feststellen, dass die Fabrikdisziplin ernsthaft bedroht wurde und dass das bequeme Leben für die Abteilungsleiter und die Gewerkschaftsbürokraten zumindest vorläufig vorbei ist.

• Die ArbeiterInnen von Melfi haben alle wichtigen politischen und gesellschaftlichen Kräfte gezwungen, für oder gegen den Kampf Stellung zu nehmen. Sie haben im höchsten und wahrsten Sinne des Wortes »Politik gemacht«, nämlich die Fragen, die uns alle angehen, in den Mittelpunkt gestellt.

• Von diesen Überlegungen müssen wir ausgehen, wenn wir das Abkommen beurteilen wollen, mit dem der Kampf jetzt beendet werden soll. Es wäre falsch, jetzt nur zu sagen: »Naja, es hätte noch mehr herauskommen können, aber Fiat musste nachgeben, und das ist schon ein außerordentliches Ergebnis«. Für Millionen von ArbeiterInnen war dieser Kampf ein ganz klares Zeichen, das mehr wert ist als tausend Reden, nämlich die Offensichtlichkeit der Tatsache, dass man sich nur mit Stärke durchsetzt.

• Last but not least haben die Arbeiter­Innen in Melfi gezeigt, dass sie den ganzen Produktionszyklus mobilisieren, Fiat und Zulieferfirmen jenseits von Eigentums- und Beschäftigungsverhältnissen vereinheitlichen und durch das Lahmlegen der Produktion an den strategischen Punkten die Flaschenhälse des Zyklus selbst gegen die Unternehmer wenden können.

Die Rückkehr des Klassenkampfs

Wenn wir eine gesellschaftliche Klasse mit einem Konservativen wie Max Weber nicht als statisches Aggregat, sondern als eine Schicksalsgemeinschaft bzw. als menschliche Gruppe definieren, die aus Individuen besteht, die nicht ideologisch, sondern unmittelbar eine gemeinsame Zugehörigkeit empfinden, dann folgt daraus, dass das Selbstverständnis als Klasse ein Prozess, eine Errungenschaft, die Schaffung von sozialen Codices ist, die eben diese Gemeinschaft charakterisieren.

Dafür sind Kämpfe wesentlich, eben weil sie für die beteiligten Subjekte das Moment darstellen, in dem sie ihre Autonomie erproben und sich selbst als Subjekte und nicht nur als Rädchen der gesellschaftlichen Maschine wahrnehmen.

Es hat sich wieder herumgesprochen, daß diese Gesellschaft auf dem Konflikt basiert und dass man kämpfen muss um Verschlechterungen abzuwehren, oder – wie im Fall von Melfi – um etwas Besseres zu bekommen.

Cosimo Scarinzii

(Der Artikel ist ein gekürzter Vorabdruck aus Wildcat Nr.70.)

Aus dem Institutionenzoo:

FIOM: Metallarbeitergewerkschaft der CGIL

FIM: Metallarbeitergewerkschaft der CISL

UILM: Metallarbeitergewerkschaft der UIL

CGIL: linker, d.h. Rifondazione und DS nahestehender Gewerkschaftsverband

CISL: katholischer Gewerkschaftsverband

UIL: rechtssozialdemokratischer Gewerkschaftsverband

FISMIC: klassische »gelbe« Betriebsgewerkschaft bei Fiat

UGL: Den Postfaschisten (Alleanza Nazionale) nahestehender Gewerkschaftsverband

Chronologie

18. April Zuerst streiken einige Zulieferbetriebe und dann sämtliche Auto­mobil­betriebe in San Nicola di Melfi, wo sich Fiats wichtigstes Werk in Italien befindet. Die wichtigsten 3 Ziele sind: Lohnerhöhungen (in Melfi wird 15 bis 20 Prozent weniger gezahlt als in anderen Fiat-Werken), weniger schwere Arbeitsorganisation, Strafsystem. Vor allem die FIOM, aber auch Slai Cobas, UGL und Cisal unterstützen den Streik. Die Mehr­heits­ge­werk­schaften (UILM, FIM und FISMIC) sind dagegen.

In den nächsten Tagen verschärft sich der Ton von Fiat und den geschäftsleitungsfreundlichen Gewerkschaften gegen die Streikposten, die angeblich die Arbeitswilligen am Betreten des Betriebs hindern.

24. April Kundgebung vor der Fiat Sata in Melfi. Die ArbeiterInnen vergewissern sich, dass die Streikposten stehen.

26. April Die Polizei greift die Streikposten an. Mehrere ArbeiterInnen werden verletzt. Regierungsvertreter sprechen der Polizei ihre Unterstützung aus. Zum ersten Mal seit etlichen Jahren gibt es eine direkte Auseinandersetzung zwischen Arbeiter­Innen und Polizei. CISL, UIL und FISMIC kritisieren die Polizei wegen “Exzessen”, vor allem aber die Streikenden.

28. April Italienweiter vierstündiger Streik (in der Basilicata acht Stunden) der MetallarbeiterInnen gegen die Polizeiübergriffe. Riesige Beteiligung von Arbei­ter­­Innen an der Demo in Melfi.

29. April Die FIOM reagiert auf den Druck und sagt zu, die Streikposten abzuziehen und sie in eine ständige Versammlung der streikenden ArbeiterInnen umzuwandeln. Hierbei geht es ganz klar um ein formelles Zugeständnis an FIM, UILM und FISMIC, denn die Arbei­ter­­Innen versperren den Streikbrecherbussen, die im übrigen halb leer sind, weiter den Weg.

4. Mai Demo in Rom. Aufgerufen haben die ständigen Versammlungen mit Unterstützung der FIOM. Interessant ist, wie drei Strukturen nebeneinander bestehen: die RSU, die überhaupt keine Rolle spielt, die Delegierten der Kampfkoordination, die zwar den Arbeitskampf führt, aber organisatorisch schwach ist, die FIOM, die der Bewegung freie Bahn lässt, aber Verhandlungen und Organisation in der Hand behält. (Für die FIOM war der Kampf in Melfi auch aus innerorga­nisa­torischen Gründen sehr wichtig: der FIOM-­Kongress steht vor der Tür und die CGIL unterstützt die rechte Minderheit in der FIOM.)

9. Mai Die Einigung wird unterschrieben, und zwar von einer provisorisch wiedervereinigten Gewerkschaftsfront. Die Slai Cobas, die einzige in Melfi wahrnehmbare alternative Gruppe, wird dabei natürlich ausgegrenzt.

Nachbarn