Archiv der Kategorie: Feierabend! #13

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Meine lieben Damen und Herren, liebe Androgyne, liebe Geschlechtslose, liebe Zwitter. Endlich ist es wieder soweit. Der Vorhang öffnet sich … und hier stehe Ich. Ihr omnipräsenter, über die Grenzen aller Bunker und Festungen bekannter, Ihr Meister der Unterhaltung. Zusammen mit der weltumspannenden, erderschüttern­den Megashow „VOTE“ haben wir hier in den herrlich prachtvollen Hallen des Bunker 13 Quartier bezogen. Sie fragen sich sicher schon voller Erregung: Was?, was wird „VOTE“ heute wohl präsentieren? Und Ich sage Ihnen, Sie wissen es bereits. Jetzt kratzen Sie sich nicht am Speicherstecker. Ich sage es Ihnen ja schon. Es stehen die XIII. Wahlen der Europäischen Konföderation an. Ja! Ob Sie es glauben oder nicht. Die 9 ¾ Jahre sind schon wieder vorbei. Wie schnell die Zeit verfliegt, nicht wahr? Können Sie sich noch an damals erinnern? Alle fünf Jahre? Das kommt einem heute so lächerlich vor. Aber lassen Sie uns nach vorne schauen: „VOTE“ bietet ein nahezu erschöpfendes Programm. „VOTE“ wird Sie lückenlos aufklären. Fak­­ten, Hintergründe und Intrigen. Über die 22 Kandidaten und ihre Programme. Aus allen Monitoren wird es Schlag­lichter geben. „VOTE“ hilft Ihnen bei Ihrer Entscheidung. „VOTE“ wählt sogar für Sie. Und „VOTE“ hat auch etwas Neues! In einem simulierten Wahlgang können Nichtwahl­berech­tigte Ihre Stimme trotzdem abgeben! Ist das nicht phantastisch! Sie haben nicht nur die Wahl, Sie müssen einfach wählen.

„VOTE“ ist nicht irgendeine alternative Wahlshow, „VOTE“ ist die Alternative. Beginnen wir doch gleich mit einem Knaller. Begrüssen Sie mit mir den Männer­chor der Sektion der X. Internationale, präsentiert von der Partei für Soziale Gleichheit:

Drei ältere Männer treten ins Licht und tragen die Internationale in einem glänzend gearbeiteten dreistimmigen Kanon vor. Der Bunker tobt. Verneigung. Ab.

Ja. Wunderbar. Nicht? „Für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa.“ Ich persönlich … nein! Aber vielleicht finden Sie ja Gefallen an dem Gedanken. Wussten Sie eigentlich, dass die Maßnahmen zur Hebung der Wahlteilnahme endlich greifen. Unsere Analysten erwarten das Durchbrechen der 50%-Hürde schon in den nächsten zehn Jahren. Gerade im Osten soll ein ent­schei­dender Wi­der­­stand gebrochen wor­den sein und dann die Fortschritte im Büro­kra­tischen, im Erziehungswesen und in der vermittelnden Unterhaltung. Ich sa­ge Ihnen, Ich glau­be den Experten lang­sam. Bringen wir gleich die Tier­­schutz­partei zwi­­schen­­durch. Von ihr haben wir nur eine Annonce bekommen:

Suchen Tiere jeder Art. Raum ist vorhanden. Chiffre: ???

Naja, ich weiß nicht. Man darf die Welt auch nicht zu eng sehen. Tiere? Da gibt es doch Wichtigeres. Haben Sie eigentlich schon das Neueste aus Japonesien gehört. In einem der unterirdischen Labore soll es gelungen sein, Wachstumshormone von Eintagsfliegen in aufgetaute Dinosaurierzellen zu implantieren. Das Vieh hat wohl die ganze Einrichtung zerschlagen! … Doch zurück zu Europa. Jetzt halten Sie sich fest. Keine Partei kann soviel Wahlperioden auf sich vereinen. Rekordteilnehmer und mehrjähriger Regierungsverteidiger. Brutal und sanft, diese Partei kann einfach alles. Und hier ist sie, mein heimlicher Favorit, die Zentrumspartei:

Das Licht geht aus. Ein Spot tastet sich durch das Dunkel der Bühne. Plötzlich wird von oben ein riesiges Spruchband entrollt. Eine butterweiche Stimme liest aus dem Lautsprecher: Wir wollen die Monarchie zurück! Alle staunen. Der Meister der Unterhaltung kreischt vor Ergötzen. Das Licht geht wieder an…

Können Sie das glauben? Welche Provokation. Ich bin erschüttert. Überrascht. Ist das der Coup dieser Wahl? Ist das schon der Sieg? Wenden wir uns gleich dem Beitrag von einem der härtesten Konkurrenten zu. Hier ist sie, die Politparade der CDU:

Eine Polonaise immer kleiner werdender Funktionäre tritt von links auf die Bühne und zieht schweigend einen riesigen Mühlstein hinter sich her. Einzig der erste, größte, älteste hebt die rechte Hand zum geraden Gruß. Ab.

Das ist das neue Selbstbewusstsein der Christdemokraten? Diese symbolische Kraft. Diese Religionsmetapher. Einfach umwerfend. Die CDU hat wiedereinmal bewiesen, sie ist gleichwertig mit der Zentrumspartei. Na, haben Sie sich schon entschieden? Egal! Glauben Sie mir. Jeder Kandidat ist hier genauso gut wie der andere. Jedem können Sie Ihre Stimme geben. Jeder kann Sie vertreten. Aber nur zwei werden letztlich zugelassen. Was? Das haben Sie vergessen! Die Sperrklausel existiert doch schon seit den IX. offiziellen Europäischen Wahlen. Falls Sie sich nicht entscheiden können, vertrauen Sie Ihrem individuellen Prognose-Assistent gleich neben den Empfangskonsolen. Und jetzt kommen wir zu einem wirklich spektakulären Kandidaten. Diese Partei hat es wirklich geschafft, den Super-Gau vorherzusagen. Scha­de nur, dass ihr Ausstiegsprogramm zu langfristig angelegt war. Begrüßen Sie mit mir die alte und neue Koalition aus den GRÜNEN und der ödp:

Ein Redner tritt auf die Bühne und verliest die Bekanntmachung der neuen Koalition, die sich ab jetzt die LILANEN nennen wolle, da sich auch die Natur erheblich verändert hätte und man mit der Zeit gehen müsse. Danach folgt eine modernistische Performance einer handvoll in buntem Rausch grunzender Juppies, die mit der Zeit langweilen. Der Meister der Unterhaltung geht dazwischen und treibt sie von der Bühne.

Aber genug. Sehen Sie, unser Hilfspersonal beginnt gerade, den Beitrag der Partei Bibeltreuer Christen zu verteilen. Eine in Recycle-Leder eingebundene Bibel für jeden Besucher unserer Show. Ist das nicht wahrhaft mildtätig? Da machen wir doch hier vorn auf der Bühne gleich mit der Christlichen Mitte weiter. Bitte schön:

Ein Reigen hippiesker Gestalten mit einigen Trommeln und Gitarren taumelt auf die Bühne und bildet einen Sitzkreis. Während das musikalische Wirrwarr immer weiter harmonisiert, verwandeln sich jene in Mittelständige und Kleinfabrikanten (Reißen sich Toupets herunter, drehen die grauen Innenseiten ihrer Jacken nach außen etc.). Als die Musik wie ein Ton, ein Fanal, im Raum steht, gehen sie gesenkten Hauptes ab.

„Für ein Europa nach Gottes Geboten.“ – Wie aufregend. Wie modern. Und im Vertrauen. Gegen kleine Parteispenden spricht man Sie sogar von Ihren Sünden frei. *Geräusche hinter dem Vorhang*

Was ist das? Kommen da schon? Hallo, kann mir mal jemand sagen …

Mit lautem Gebrüll stürzt eine Fraktion aus Freikorps der DP, BÜSOs und AUFBRUCH-Leuten auf die Bühne und jagt hinter der Solistin der FRAUEN hinter­her. Eine Rotte REPUBLIKANER und NPD-Anhängerinnen springt von ihren Sitzen im Publikum auf und brüllt bierlallend: Schützt die Frau! Schützt die Frau! Während von der anderen Seite sechs Schwangere der FAMILIEN-Partei sechs in ihren Stühlen wütende Rentner und Rentnerinnen der GRAUEN auffahren. Ein Spezialagent der DKP mit Spezialausbildung seilt sich im Tarnfleck von der Schein­wer­fer­traverse. Er springt auf die beleibte Frau zu und will sie mit einem Spezialgriff an der Hüfte packen und dann hinter die Rollstuhl­fahrerInnen-Phalanx schleudern. Die Frau jedoch bewegt sich keinen Millimeter. Während der Agent mit diversen anderen Griffen versucht, die massive Stellung doch noch auszuhebeln, merkt er nicht, wie zwei Kader der PDS direkt neben ihn beamen. Er wird überwältigt und re­nationalisiert. Die Szene beruhigt sich gerade, als eine Schar junger pausbackiger Rotzlöffel lauthals trällernd auf die Bühne tritt. „GEGEN ZUWANDERUNG INS ‚SOZIALE NETZ’“ singen sie und die AKTION UNABHÄNGIGE KANDIDATEN gibt, spontan berührt, jeden Anspruch auf Wahlteilnahme auf. Chaotische Bilder spielen sich jetzt ab. Der ganze Bunker brodelt. Plötzlich knallen Schüsse. Rotuniformierte mit blauen Helmen von der SPD laufen überall auf und gehen zwischen die Men­schen­trauben. Aus einem der Hauptlaut­sprecher tönt die greise Stimme eines Regie­rungs­funktionärs, der sich niemals die Haare färbt: „Hier spricht die durch Wahlen legitimierte Regierung der Bunkerverwaltung. Halten Sie Ordnung. Den Anweisungen der Exekutivkräfte ist Folge zu leisten. Dies ist ein friedenssichernder Einsatz. Verhalten Sie sich ruhig.“ Nachdem die Ordnung wieder hergestellt scheint, wird ein Pult auf die Bühne getragen und ein aalglatter Typ im Nadelstreifenanzug beginnt eine Predigt auf den freien Markt und über diverse Einschnitte bei der Wasserversorgung, den Ausgangszeiten und der Lebensmittelverteilung. Auf seinem Revers blinkt ein schmales, gelbes Schild mit drei Buchstaben: FDP. Die Versammlung zerstreut sich. Als der Meister der Unterhaltung schließlich alleine bleibt, putzt er sich die letzte Frustträne vom Gesicht und moderiert, trotzig aber durch und durch Profi, „VOTE“ noch ab.

Wieder ist ein unvergleichlicher Wahl­abend zu Ende gegangen. Wen interessieren schon die Kandidaten?! Wen die Ergebnisse bei soviel Unterhaltung auf höchstem Niveau! „VOTE“ meldet sich bald wieder. Aus den Bunkersystemen Amerikas oder den Festungen des Russischen Reichs. „VOTE“ kennt keine Grenzen. Und eins ist sicher. Sie werden es sehen!

Was bleibt also nach dem ganzen Chaos? Die Europäer haben letztlich den gleichen Bunkerkoller wie wir alle, nicht wahr?

Der Meister der Unterhaltung geht melancholisch singend und leicht irr ab:

Bunker-Koller jeah-jeah Bun­ker­­koller jeah, jippie, jippie jeah … BUUUNKER­KOOOLLER …! …! … !!!“

clov

Wahlen

Ein regnerischer heißer Mai

Die Revolte von Melfi und die Mobilisierung bei der Alitalia

Wir haben Arbeiterkämpfe in fortgeschrittenen Gebieten und in zurückgebliebenen Gebieten erlebt: Das Interessante dabei ist, dass die Arbeiterkämpfe in fortgeschrittenen und in zurückgebliebenen Gebieten sich sehr oft gleichen, d.h. dass sie eben tendenziell – und sei es auch nur über gewerkschaftliche Inhalte – das Gesamtverhältnis zwischen Arbeiterklasse und Kapital sichtbar machen.“

(Raniero Panzieri “Lotte operaie nello sviluppo capitalistico”, März 1962)

In den letzten Jahren wurde viel geschrieben zum Ende der alten Arbeiterklasse, Ende der Zentralität des Großbetriebs, Dezentralisierung der Produktion, Auslagerungen, Veränderungen im Arbeitsrecht usw.. Als roter Faden zog sich durch diese, mittlerweile Allgemeingut gewordenen, Überlegungen die Überzeugung, auch der Arbeitskampf bzw. der Klassenkampf sei überholt. In der “postindustriellen” Produktion habe sich die Arbeiterklasse aufgelöst und könne höchstens noch als Verbund von Interessengruppen im “Ver­teilungs­konflikt” agieren.

Man könnte das Thema abhaken mit dem alten Witz von dem Arbeiter, dem jemand erzählt, der Klassenkampf sei vorbei, und der antwortet: “Habt ihr auch den Unternehmern Bescheid gesagt?”

Die soziale Frage wird natürlich nicht in den Medien gelöst. Darüber hinaus sollten wir aber daran erinnern, dass die Bewegung der ArbeiterInnen keine mechanische Antwort auf den Druck auf sie durch Staat und Kapital ist, sondern das Ergebnis einer individuellen und kollektiven Verarbeitung der proletarischen Erfahrung, bei der die ArbeiterInnen die Umbrüche der Gegenwart (teilweise echte Para­digmenwechsel hinsichtlich Produktion und Gesellschaft) zu den Erfahrungen der Vergangenheit in Beziehung setzen.

In Melfi (Basilikata) fand seit zehn Jahren der erste große Kampf von Industrie­arbeiter­Innen in Italien statt, der nicht nur auf Entlassungen oder den allgemeinen Sozialabbau reagierte. Sata (so heißt das Fiat-Werk in Melfi) wurde bei seiner Einweihung vor zehn Jahren als post­fordis­tische Modellfabrik vorgestelltt. Noch vor der Einstellung der ersten ArbeiterInnen wurde ein Tarifvertrag “auf der grünen Wiese” abgeschlossen, von einer Gewerkschaft, die sozialpartner­schaft­lich zu nennen noch eine Beschönigung wäre. Es gab massive staatliche Subventionen, eine „toyotistische“ Arbeitsorganisation, die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in 21 Zulieferbetrieben in unmittelbarer Nachbarschaft usw.. Melfi sollte Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen im ganzen Fiat-Konzern ausüben (tatsächlich waren schon vor der „Melfisierung Fiats“ die einzelnen Standorte systematisch gegeneinander ausgespielt worden).

Melfi startete von Anfang an mit einer sehr hohen Fluktuation. Die Disziplin wurde mit drakonischen Strafen durchgesetzt. Die ArbeiterInnen (darunter auch zehn Prozent Frauen, eine absolute Neuheit im Fiat-Konzern) verdienten weniger als in anderen Fiat-Werken und hatten deutlich brutalere Schichten, um das Werk 6 mal 24 Stunden am Laufen zu halten. Mitte April 2004 traten die ArbeiterInnen in Streik gegen diese Bedingungen. Nach zehn Tagen Streik hatte Fiat Produktionseinbußen von 16 300 Fahrzeugen (allein in Melfi werden am Tag bis zu 1200 Fiat Punto und Lancia Y montiert und Bleche für andere Fiat-Werke hergestellt), und 95% der italienischen Autoproduktion stand still. Am 26. April griffen die Bullen sehr hart die Streikposten an. Es gab mehrere Schwerverletzte. Daraufhin rief die FIOM* zu einem landesweiten Generalstreik am 28. April auf, der massenhaft befolgt wurde.

Kämpfe, die von zugespitzten Punkten des gesellschaftlichen Widerspruchs ausgehen, bekommen meist eine rasante Dynamik. So auch in Melfi: Sehr schnell haben die ArbeiterInnen zwei präzise Ziele auf die Tagesordnung gesetzt. Die Angleichung der Löhne an die der anderen Arbeiter­Innen im Konzern und die Überwindung einer mörderischen Arbeitsorganisation.

Sie haben außerordentlich hart und entschlossen gekämpft und damit faktisch den Betriebsrat (in dem FIM*, UILM* und FISMIC* die Mehrheit haben) ausgehebelt, der die bisherige Passivität der Belegschaft recht gut widerspiegelte. Aber sie haben nicht nur die Gewerkschaft in Frage gestellt, sondern auch die Anfälligkeit der Just-in-Time-Arbeitsorganisation für sich ausgenutzt. Da die „integrierte Fabrik“ keine Puffer hat, ist sie darauf angewiesen, dass der Produktionszyklus, an dem verschiedene Werke und Unternehmen beteiligt sind, wie am Schnürchen funktioniert. Die ArbeiterInnen haben den Zersetzungsprozess der alten fordis­tischen Fabrik, mit dem ihre Verhand­lungsmacht geschwächt werden sollte, gegen die Unternehmer gewendet und klargemacht, dass auch in der postfordis­tischen Fabrik gekämpft werden kann.

Dem Streik bei Fiat in Melfi gingen im letzten Sommer Mobilisierungen gegen Atommülldeponien voraus: Große Menschenmassen hatten sich an Straßenblockaden beteiligt und ganz Lukanien blockiert. Dabei handelte es sich natürlich um eine klassenübergreifende Volksbewegung, aber sie zeigte sehr deutlich, dass man mit direkten Aktionen gesellschaftlich etwas durchsetzen kann. Bereits im Winter 2002/2003 waren in den Auseinandersetzungen um die Kurzarbeit bei Fiat Straßenblockaden zum Massenphänomen geworden. Auch wenn dieser Kampf mit einer klaren Niederlage zu Ende ging, hinterließ er ein eindeutiges Zeichen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Die wilden Streiks der Busfahrer und des Flug­hafenpersonals im Winter 2003/2004 stellten dann einen Quali­täts­sprung dar, weil sie von Blockaden von außen zu Aktionen im Produktionsprozess selbst übergingen.

Alitalia

Der Kampf gegen die Entlassungen bei der Alitalia war so gesehen “klassischer”, aber vor diesem Hintergrund nicht weniger interessant: Straßensperren, wilde Streiks, Druck von unten auf institutionelle Gewerkschaften, zunehmende Verwurzelung der Alternativgewerkschaften haben sich miteinander verflochten.

Zunächst haben Regierung und Unternehmen versucht, den Widerstand der Alitalia-ArbeiterInnen damit abzutun, diese hätten die objektiven wirtschaftlichen Notwendigkeiten »nicht begriffen«. Damit kamen sie aber nicht lange durch, und mußten über ernsthafte Dinge sprechen, nämlich darüber, dass auch die als überflüssig an den Rand Gedrängten das Recht auf ein Einkommen haben. Danach versuchte Alitalia die klassische “spalterische” Schiene: Ein Großteil des Unternehmens sollte an Zulieferfirmen ausgelagert werden – mit den üblichen Folgen für Löhne, Arbeitsbedingungen und Sicherheit der Jobs.

Auch bei diesem Kampf war am wichtigsten, dass die ArbeiterInnen selbst aktiv geworden sind und dabei Aktionsformen benutzt haben, die sich gerade verallgemeinern. Die ArbeiterInnen scheinen sehr gut begriffen zu haben, dass die Auseinandersetzung so geführt werden muss, dass man den Gegner hart trifft und gleichzeitig den Kampf öffentlich vermittelt, weil man sonst gar nichts erreicht.

Abschluß bei Melfi?

Nach 20 Tagen Kampf und etwa 35.000 nicht produzierten Autos (mehr als 1,5% der Fiat-Jahresproduktion) haben FIM*, FIOM*, UILM*, FISMIC* und UGL* eine Einigung mit Fiat erreicht, und der Arbeitskampf wurde zunächst beendet. In Rom wurden die Verhandlungen in der Schlussphase von den nationalen Vorständen der Gewerkschaften geführt, die damit wieder gemeinsam aufgetreten sind, nachdem das Tischtuch kurz vorher noch endgültig zerschnitten schien.

Wenn ein Abschluss aber sowohl von Gianni Alemanno von der postfaschis­tischen Regierungspartei Alleanza Nazio­nale, der das Abkommen als “großen Sieg der Arbeiter des Mezzogiorno” einschätzt, als auch von Rifondazione-Comunista-Chef Fausto Bertinotti begrüßt wird, dann ist er entweder wirklich gut, oder alle beteiligten Institutionen hatten ihn bitter nötig.

Kritik kam von Giorgio Santini, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft CISL*, die wie UIL* und FISMIC* gegen die Blockade von Sata war: “Es ist das eine, eine regierbare Fabrik zu haben, und etwas anderes, zu entdecken, dass die Fabrik unregierbar ist. (…) Ich fürchte, dass das Projekt Melfi jetzt auch von Fiat anders gesehen werden könnte.” (Corriere della Sera, 10. Mai 2004).

Der zwölfseitige Abschluss lässt sich ungefähr so zusammenfassen:

1. Ab Juli wird der sogenannte Doppel­klop­per, d.h. zwei Wochen Nachtschicht in Folge, abgeschafft. Es wird eine 6-Tage-Woche und eine 4-Tage-Woche mit zwei aufeinander folgenden Ruhetagen geben. Gleichzeitig wird die Arbeitszeit von 7:15 Stunden auf 7:30 Stunden verlängert. Die zusätzlichen 15 Minuten ergeben dann 7 zusätzliche arbeitsfreie Tage. Die Nacht­schicht­zulage wird bis Juli 2006 von 45 auf 60,5 Prozent (wie in den anderen Werken) erhöht.

Die ArbeiterInnen haben viel erreicht, aber Samstags- und Sonntagsarbeit und die nur 30-minütige Mittagspause bleiben.

2. Die Löhne der ArbeiterInnen in Melfi werden erst nach und nach an die der anderen Fiat-Beschäftigten angeglichen (die Hälfte der Angleichung kommt ab Juli 2004, ein weiteres Viertel im Juli 2005 und der Rest ab Juli 2006). Das hätte sofort geschehen müssen.

3. Ein weiterer Auslöser des Streiks war das harte Fabrikregime: Im Laufe von 10 Jahren hatte es 7.000 Disziplinarmaßnahmen (Suspendierungen und Lohnabzüge) gegeben. Nun wird eine “Versöhnungs- und Vorsorgekommission” eingerichtet, die die in den letzten 12 Monaten verhängten Sanktionen untersuchen soll.

Hier wird es wirklich heikel. Im Streik gab es nämlich extrem harte Auseinandersetzungen, und die Untersuchung der Disziplinarstrafen einer gemischten Kommission aus Unternehmern und Gewerkschaften zu überlassen, die zum großen Teil gegen den Kampf waren, ist letztlich selbstmörderisch. Dahinter steckt ganz klar der Versuch, die vom Kampf unter­grabene Macht der Unternehmer und Gewerkschaften wiederherzustellen, indem man auf Zeit spielt, auf den Rückgang der Mobilisierung setzt usw..

Wo stehen wir?

• Der Kampf von Melfi zeigt, dass eine starke und entschlossene Mobilisierung nötig ist, um etwas zu erreichen – und dass die ArbeiterInnen das vollkommen verstanden haben.

• Gerade die entschiedensten Feinde der Bewegung im Gewerkschaftslager haben den wesentlichen Punkt begriffen, wenn sie feststellen, dass die Fabrikdisziplin ernsthaft bedroht wurde und dass das bequeme Leben für die Abteilungsleiter und die Gewerkschaftsbürokraten zumindest vorläufig vorbei ist.

• Die ArbeiterInnen von Melfi haben alle wichtigen politischen und gesellschaftlichen Kräfte gezwungen, für oder gegen den Kampf Stellung zu nehmen. Sie haben im höchsten und wahrsten Sinne des Wortes »Politik gemacht«, nämlich die Fragen, die uns alle angehen, in den Mittelpunkt gestellt.

• Von diesen Überlegungen müssen wir ausgehen, wenn wir das Abkommen beurteilen wollen, mit dem der Kampf jetzt beendet werden soll. Es wäre falsch, jetzt nur zu sagen: »Naja, es hätte noch mehr herauskommen können, aber Fiat musste nachgeben, und das ist schon ein außerordentliches Ergebnis«. Für Millionen von ArbeiterInnen war dieser Kampf ein ganz klares Zeichen, das mehr wert ist als tausend Reden, nämlich die Offensichtlichkeit der Tatsache, dass man sich nur mit Stärke durchsetzt.

• Last but not least haben die Arbeiter­Innen in Melfi gezeigt, dass sie den ganzen Produktionszyklus mobilisieren, Fiat und Zulieferfirmen jenseits von Eigentums- und Beschäftigungsverhältnissen vereinheitlichen und durch das Lahmlegen der Produktion an den strategischen Punkten die Flaschenhälse des Zyklus selbst gegen die Unternehmer wenden können.

Die Rückkehr des Klassenkampfs

Wenn wir eine gesellschaftliche Klasse mit einem Konservativen wie Max Weber nicht als statisches Aggregat, sondern als eine Schicksalsgemeinschaft bzw. als menschliche Gruppe definieren, die aus Individuen besteht, die nicht ideologisch, sondern unmittelbar eine gemeinsame Zugehörigkeit empfinden, dann folgt daraus, dass das Selbstverständnis als Klasse ein Prozess, eine Errungenschaft, die Schaffung von sozialen Codices ist, die eben diese Gemeinschaft charakterisieren.

Dafür sind Kämpfe wesentlich, eben weil sie für die beteiligten Subjekte das Moment darstellen, in dem sie ihre Autonomie erproben und sich selbst als Subjekte und nicht nur als Rädchen der gesellschaftlichen Maschine wahrnehmen.

Es hat sich wieder herumgesprochen, daß diese Gesellschaft auf dem Konflikt basiert und dass man kämpfen muss um Verschlechterungen abzuwehren, oder – wie im Fall von Melfi – um etwas Besseres zu bekommen.

Cosimo Scarinzii

(Der Artikel ist ein gekürzter Vorabdruck aus Wildcat Nr.70.)

Aus dem Institutionenzoo:

FIOM: Metallarbeitergewerkschaft der CGIL

FIM: Metallarbeitergewerkschaft der CISL

UILM: Metallarbeitergewerkschaft der UIL

CGIL: linker, d.h. Rifondazione und DS nahestehender Gewerkschaftsverband

CISL: katholischer Gewerkschaftsverband

UIL: rechtssozialdemokratischer Gewerkschaftsverband

FISMIC: klassische »gelbe« Betriebsgewerkschaft bei Fiat

UGL: Den Postfaschisten (Alleanza Nazionale) nahestehender Gewerkschaftsverband

Chronologie

18. April Zuerst streiken einige Zulieferbetriebe und dann sämtliche Auto­mobil­betriebe in San Nicola di Melfi, wo sich Fiats wichtigstes Werk in Italien befindet. Die wichtigsten 3 Ziele sind: Lohnerhöhungen (in Melfi wird 15 bis 20 Prozent weniger gezahlt als in anderen Fiat-Werken), weniger schwere Arbeitsorganisation, Strafsystem. Vor allem die FIOM, aber auch Slai Cobas, UGL und Cisal unterstützen den Streik. Die Mehr­heits­ge­werk­schaften (UILM, FIM und FISMIC) sind dagegen.

In den nächsten Tagen verschärft sich der Ton von Fiat und den geschäftsleitungsfreundlichen Gewerkschaften gegen die Streikposten, die angeblich die Arbeitswilligen am Betreten des Betriebs hindern.

24. April Kundgebung vor der Fiat Sata in Melfi. Die ArbeiterInnen vergewissern sich, dass die Streikposten stehen.

26. April Die Polizei greift die Streikposten an. Mehrere ArbeiterInnen werden verletzt. Regierungsvertreter sprechen der Polizei ihre Unterstützung aus. Zum ersten Mal seit etlichen Jahren gibt es eine direkte Auseinandersetzung zwischen Arbeiter­Innen und Polizei. CISL, UIL und FISMIC kritisieren die Polizei wegen “Exzessen”, vor allem aber die Streikenden.

28. April Italienweiter vierstündiger Streik (in der Basilicata acht Stunden) der MetallarbeiterInnen gegen die Polizeiübergriffe. Riesige Beteiligung von Arbei­ter­­Innen an der Demo in Melfi.

29. April Die FIOM reagiert auf den Druck und sagt zu, die Streikposten abzuziehen und sie in eine ständige Versammlung der streikenden ArbeiterInnen umzuwandeln. Hierbei geht es ganz klar um ein formelles Zugeständnis an FIM, UILM und FISMIC, denn die Arbei­ter­­Innen versperren den Streikbrecherbussen, die im übrigen halb leer sind, weiter den Weg.

4. Mai Demo in Rom. Aufgerufen haben die ständigen Versammlungen mit Unterstützung der FIOM. Interessant ist, wie drei Strukturen nebeneinander bestehen: die RSU, die überhaupt keine Rolle spielt, die Delegierten der Kampfkoordination, die zwar den Arbeitskampf führt, aber organisatorisch schwach ist, die FIOM, die der Bewegung freie Bahn lässt, aber Verhandlungen und Organisation in der Hand behält. (Für die FIOM war der Kampf in Melfi auch aus innerorga­nisa­torischen Gründen sehr wichtig: der FIOM-­Kongress steht vor der Tür und die CGIL unterstützt die rechte Minderheit in der FIOM.)

9. Mai Die Einigung wird unterschrieben, und zwar von einer provisorisch wiedervereinigten Gewerkschaftsfront. Die Slai Cobas, die einzige in Melfi wahrnehmbare alternative Gruppe, wird dabei natürlich ausgegrenzt.

Nachbarn

Khanyisa erhellt die Townships

Die Situation in Südafrika bleibt gespannt – Apartheid-Gesetze sollen deckeln

Am 23. März meldet Anarchist Black Cross (ABC) South Africa, dass am Sonntag (21.3.) in Johannesburg 52 Demon­stran­tIn­nen verhaftet wurden, darunter sechs Kinder, als sie gegen die Privatisierung der Wasserversorgung protestierten. Die Polizei hatte die Demo des Anti-Privati­sie­rungs-Forums (APF) im Vorfeld ver­boten und war mit Schockgranaten gegen die Versammlung vorgegangen. Die Inhaftierten – denen auch Fingerabdrücke abgenommen wurden – kamen nach 14 Stunden wieder auf freien Fuß, hatten sich aber tags darauf vor einem Gericht zu verantworten. Es drohten ihnen, bzw. dem APF, je 5.000 Rand (655 Euro) Geldstrafe und die Anwaltskosten. Dabei liegt das durchschnittliche monatliche Einkommen in Soweto/Johannesburg bei 1.500 Rand (196 Euro). Deshalb wurde die Demon­stration durchgeführt, weil das Geld oft nicht für Nahrungsmittel, Wasser und Strom reicht. Anfang Mai wurden die Anklagen gegen die 52 dann fallen gelassen. Sie erfüllten aber ihren Zweck als Teil der Einschüchterung seitens der Regierung und des ANC.

Die Privatisierung der Versorgung führt – durch die rigide Trockenlegung derer, die ihre Rechnung nicht bezahlen können – zu erhöhter Seuchengefahr in den schwar­zen Armenvierteln, Townships. Cholera bedroht die, die ohne Wasser sind. Die Privatisierung aller öffentlichen Unter­nehmen in Südafrika aber ist zentraler Punkt des ANC-Regierungsprogramms von 1996, „Growth, Employment and Redistribution“. Sie geht einher mit Lohnsenkungen, Kürzung öffentlicher Ausgaben, etc.

Gegen diese Politik regt sich seit Jahren Widerstand. Das Soweto Electricity Crisis Committee (SECC) organisiert Nachbar­schafts­­komitees, die im oft nächtlichen Notfall das Abstellen des Stroms ver­hindern. Denn die staatseigene Strom­ver­sorgung Eskom hatte 2001 angekündigt, „mindestens 75 Prozent der Einwohner von Soweto (Johannesburg) abzuklemmen“, um die Schuldnerliste zu verkleinern und so attraktiver zu werden für potentielle Käufer. 2001 wurden monatlich 20.000 Haushalte vom Netz genommen, weil sie nicht zahlen konnten – das sind mehr als neue hinzu kamen, während die ANC-Regierung sich brüstet, in Millionen schwarzer Haushalte Strom gebracht zu haben. Das SECC antwortet mit einem Aufruf zum Zah­lungs­boykott, dem 80 Prozent der Ein­wohnerInnen folgen. Außerdem führten die Militanten die Operation Khanyisa („Licht“) durch, d.h. sie stellen den Strom selbst wieder an und unterrichten Interessierte in dieser Tätig­keit. So kamen in Soweto binnen sechs Monaten 3.000 Haushalte wieder ans Netz. Und Eskom musste schließlich nachgeben: Zahlungsunfähigen wird der Strom nicht mehr gekappt. Dieser Erfolg ist das beste Argument für direkte Aktion, zu der man nun auch in Sachen Wohnung greift.

Probleme mit der Kredittilgung rufen immer wieder Räumkommandos auf den Plan. So kündigte Servcon, eine Partner­schaft zwischen der Regierung und dem Bankenrat, Mitte Mai an, binnen vier Wochen 6.000 Haushalte zu räumen – direkt vor dem Winter! Wenn es der Nachbarschaft nicht gelingt, insbesondere die Räumung Älterer zu verhindern, erwartet diese oft ein elender Tod – die staatlich zugewiesenen Unterkünfte werden als Hundehüten bezeichnet, kalt und ohne Sanitäranlagen. Daher fand am 13. Mai eine Demo zum Parlament und zur neuen Wohnungsministerin Sisulu statt, um sie auf die Krise in Khayelitsha (Kapstadt) aufmerksam zu machen. Es beteiligten sich auch Mitglieder der Zabalaza Anarchist Com­munist Federation. Und die Position ist klar: die Häuser sind bereits mehr als abgezahlt! Durch Verhaftungen, haben einige ihren Job verloren! Alte starben in zugewiesenen Hundehütten! Die De­mon­­stration forderte ein Ende der Repression und der Prozesse. Bisher verweigert aber auch die neue Regierung jeden Dialog. Vielmehr werden weiterhin legale und „illegale“ Demos zerschlagen, Teil­neh­merIn­nen verhaftet und zu Geldstrafen verurteilt … und weiterhin werden Häuser unter Polizeischutz geräumt oder gar planiert! Regie­rungs­funktionäre und Intellektuelle faseln derweil davon, die Einstellung der Menschen zu Rechnungen zu ändern – die selben Worte wie vor hundert Jahren, als die UreinwohnerInnen die koloniale Hüttensteuer nicht bezahlen wollten.

Als sich die Politik des ANC also direkt auswirkte, begannen sich neue, lokal verwurzelte Bewegungen – freilich defensiv – mit konkreten, aber partikularen Forderungen zu konstituieren. Anders als etwa bei Parteien oder Gewerkschaften ist die Massenmobilisierung die Stärke dieser Bewegungen, die nicht natürliches Ergeb­nis der Armut oder der Marginalisierung, sondern eine direkte Antwort auf die Politik des Staates sind. Bemerkenswert ist, dass nicht der einzelne Arbeiter, sondern die Familie die soziale Mobilisierung trägt. Das bedeutet allerdings auch, dass viele AktivistInnen schlechteste Arbeits­bedin­gungen hinnehmen – sie suchen ja den Ausgleich zumindest des Lohns in kosten­loser Grundversorgung. So ist von einer radikalen Gewerkschaftsbewegung in Südafrika noch nichts zu vernehmen.

A.E.

Nachbarn

Editorial FA! #13

Äh ja, hallo! Endlich kann man sich wieder ungezwungen bewegen gehen! Wochenlang haben wir uns nicht einmal mehr getraut einem öffentlichen Verkehrsmittel nachzusprinten, geschweige denn, die tollen pinkenen Trainingsjacken mit der springenden Gazelle aus dem Spind zu holen und uns zur gemeinsamen Aktivität zu verabreden. Und das alles aus Angst, eventuell zur Pro-Olympia-Sekte gezählt zu werden, die ja bis vor einem Monat noch jede pulssteigernde Aktivität mit ihrem Makel belegt hat.

Daß wir dieses Mal noch mehr Beiträge aus dem wilden Osten auffahren, liegt nicht daran, daß unsere Schreiberlinge letztes Mal massenhaft den Endredaxtermin verschlumpft haben. Zu vielen Themen kommen jetzt die Nachbereitungen, wie zum Beispiel zu den Ereignissen um den EWF-Gipfel in Warschau (siehe S. 10-13). Wieder einmal haben wir einen Anlaß gefunden, unsere verzichtbarsten Leute, wenigstens für eine Weile, dorthin abzustellen. Vor Ort trafen sie, neben extremen Trinkgewohnheiten und ungewohnten Sprachbarrieren, u. a. auf die schlesischen „Bieda Szyby“ („bjeda schübie“)-Bergarbeiter (siehe FA!#12). Ein Interview mit ihnen konnte leider, aufgrund der eben aufgeführten Extreme & Umstände, nicht rechtzeitig geführt werden, ist aber heftigst in Vorbereitung. Daß das Einholen weiterer Infos zum Thema „Kohlenspechte“ durchaus Sinn macht, beweist ein kritischer LeserInnenbrief (siehe S. 28). Mißverständnisse dieser Art werden sich wohl nie ganz ausschließen lassen, erst recht dann, wenn wir sogenannte Fremdtexte, wie den der Osteuropa-AG (siehe S. 14) abdrucken, die wir in der Kernaussage gut&wichtig finden, manchmal aber Details beinhalten können, mit denen wir nicht 100% übereinstimmen.

Wahlen kommen und gehen. Auch im Super-Wahljahr unsere Meinung dazu: Wer wählt ist selber Schuld – das gilt auch für die Vereinigten Staaten von Europa. Wer sich trotzdem immer noch ins Schwanken bringen lässt, dem/der seien nachträglich die Artikel auf Seite 1 und ab Seite 16 zur Linderung empfohlen.

Obwohl das Heft wieder dick wie selten ist, fallen diesmal verschiedene unserer Traditions-Rubriken aus: Wer braucht zur Zeit unsere Theorie(n), wenn doch eh alle praktisch unterwegs sind? Wer hat – nach mehrtägigen Odysseen auf deutschen Autobahnen & zähen Bakshish-Verhandlungen mit bulgarischen Grenzern – noch Nerven mit den Großstadtindianern zu fiebern? Und wer braucht letztendlich eine Rezension, wenn die empfohlene Lektüre im, eher auf großformatig bilddominiertes Souvenir-Gut ausgerichteten, Strand-Kiosk in Baabe eh erst ein mehrtägiges Bestellungsprozedere durchlaufen müßte? Wir halten lieber die Augen nach dem Eismann (siehe wichtiger Auftritt S. 3) offen und sehen das Ganze als Chance in uns zu gehen, oder als Gelegenheit gewissen Leuten mal konsequent solidarisch die Beine hochzulegen.

Verkaufsstelle des 1½monats ist diesmal Klee-Naturkost. Leider verzich­tete das Verkaufspersonal auf die Chance, durch uns vielleicht einmal fürs Schrot&Korn-Titelbild entdeckt zu werden. Stattdessen setzte sich ein sympathischer Stammkunde spontan mit seiner Freude über das derzeit außergewöhnliche Südfrüchte-Angebot in Ostdeutschland in Szene.

Na denn…

Eure Feierabend!-Redax

Die Ausweitung der Kampfzone

Das „vereinigte Europa“ macht sich heut­zu­tage nicht nur in mehr oder weniger gla­mourö­sen Feierstunden und Sonn­tags­­­reden bemerkbar, sondern auch im sozia­len Bereich. Nachdem mit Beginn dieses­ Jahres die Sozialhilfe in der Slowakei um die Hälfte gekürzt wurde, kam es im Südwesten des Landes zu Plünderungen, worauf­hin die Re­­gie­­rung sogar die Armee einsetzte. Die „Aus­­­­schrei­tungen“ wurden vor allem von Roma getragen, es beteiligten sich aber auch andere Erwerbslose daran – denn die Kürzung betrifft alle Be­dürf­­tigen. Es handelt sich dabei also um soziale, nicht um „ethnische“ Konflikte, wie es hier­zulande in den Medien geheißen hatte.

Nicht nur im Bereich der Erwerbslosen gehen europäische Regierungen in die selbe Richtung, sondern auch in der Bildungs­branche. Daher gründeten am 3. März 2004 Studierende der größten Uni des Landes, der Comenius-Universität in Bratislava, ein Studentisches Streikkomitee (SVS). Das Streik­komitee definiert sich als apolitische Gruppierung. Die Treffen, die ein- bis zweimal wöchentlich stattfinden, sind öffentlich und versammeln durchschnittlich 20 bis 30 Leute. Ein Großteil der Entschei­dungen wird im Konsens getroffen, nachdem gleich­berechtigt über Ziele und Aktivitäten diskutiert wurde.

Auf diese Weise kam am 5. Mai die größte Studierendendemonstration seit 1989 zustande. An dem Zug durch das Stadtzentrum nahmen mehr als 1.000 Studis, Arbei­terIn­nen und Rent­nerIn­­nen teil. Dieses Spektrum verdeutlicht die umfassende Be­deu­tung des Bildungswesens – das SVS legt Wert darauf, dass seine Aktivität nicht nur den gegenwärtig Studierenden zugute kommt, sondern auch der Gesellschaft all­ge­mein. Das SVS mobilisiert nun mit Info­ständen in Bratislava für einen Studi-Streik im Oktober, verteilt 20.000 Flugblätter und plant die Ausweitung der Aktivitäten auf andere Städte (z.B. Kosice) – obwohl die Beteiligung mit Semesterende nun abnimmt. Außerdem gibt es Gespräche mit der Bildungsgewerkschaft, die der Regierung mit Streik droht.

Wie bei den Protesten 2000/2001 beteili­gen sich auch in diesen Tagen Anarchisten an der sozialen Bewegung. Die Forderungen des SVS beziehen sich auf Gebühren­­freiheit des Studiums – Ende August könnte im Parlament ein Gesetz verabschiedet werden, das Studiengebühren vorsieht– , die Steigerung des Bildungs­etats (bis 2006 auf 1,33 Prozent des Bruttosozialprodukts) und der finan­ziel­len Unterstützung Studierender, sowie die Bewertung des Studiums durch unabhängige Agenturen und durch Studie­rende selbst. An diesem Forderungskatalog ist erkennbar, dass das SVS keineswegs homogen ist und noch am Anfang seiner Aktivität steht. Klar wird dabei die Notwendigkeit grenzüberschreitender Dis­kus­sion. Denn die geforderte Be­wer­tung des Studiums führt hierzu­lande zu er­höh­tem Druck auf die Universitäten, dient als Rechtfertigung von Um­struk­turie­rungen und Kürzungen und tritt den Studierenden selbst letztlich als Sachzwang entgegen – die Hoffnung einer weiter­gehenden Einflussnahme auf die Ge­staltung der Uni erfüllte sich nicht.

A.E.

Nachbarn

Wie das Geld, so die Wahl

Freiheit ist relativ. Die relativ freieste Gesellschaft, die ich bisher erlebt habe, bestand zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990 in der Noch-DDR. Heute läßt es sich schwer vorstellen, daß führende Staatsmänner sich vor tausenden Menschen rechtfertigen und erklären müssen. Man erinnere sich an Kohl, der die Sonntagsdemo von Hunderttau­senden einfach weggewischt hat, oder an Schröder, der keinen Zweifel daran ließ mit der Polizei die Ordnung wiederherzustellen, als eine Benzinpreiserhöhung Tausende auf die Straße trieb. 1989 war die Bereitschaft unter den Leuten, sich aktiv in ihre eigenen Angelegenheiten einzumischen so stark wie nie zuvor und hat auch danach nie wieder auch nur annähernd dieses Niveau erreicht. Die Anzahl der Zeitungsprojekte explodierte, wie die der unkonventionellen, erfrischend (selbst-)kritischen Musikprojekte. Nie war es einfacher, mit Leuten, von denen man es vorher nie erwartet hätte, ernsthaft über gesellschaftliche Alternativen zu diskutieren. Nie gab es mehr Engagement. Dies alles erstarb mit der letzten Volkskammerwahl, der ersten „freien“. Von da ab übernahmen die Politprofis wieder das Kommando und die meisten Leute zogen sich ins Private zurück.

Nun war es wieder mal an der Zeit, die eigene Stimme den Politiker/innen zu geben, anstatt sie selbst zu erheben. So wie das Geld das Mittel der Ausbeutung ist, so sind Wahlen das Mittel der Entmündigung.

v.sc.d

Kommentar

Entschlossener als Andere

Im vergangenen Jahr sah sich die französi­sche Regierung, anders als die deutsche, mit einer breiten Streikbewegung kon­fron­tiert, die sich u.a. gegen die Reformen der Rente, des Bildungswesens und der Sozial­ver­sicherung der „Intermittents“ (unregelmäßig beschäftigte ArbeiterInnen der Kulturindustrie) richtete. Die An­gestellten der Bil­dungsbranche, vor allem LehrerIn­nen, gehör­ten zu den wichtigsten Teilen der Bewe­gung – ihr wichtigstes Druckmittel: Ausfall der Abiturprüfungen. Nach einer imposanten Medienkampagne über die „Ver­­ant­wortungslosigkeit“ der Streikenden, und auch aufgrund der Anwesenheit von „Ord­nungskräften“ konnten die Prüfungen durch­geführt werden. Dieser Niederlage ent­sprechend schwer waren Versuche nach den Sommer­ferien, den Protest wieder auf­zu­­nehmen. Im Schulwesen geht es vor allem um die Zahl der Hilfskräfte, sowie um die Verbesserung ihrer oft prekären Arbeits­si­tuation und um die Abwehr der so­ge­nann­ten „Dezentralisierung“: mit dem Über­­gang der Bildungshoheit an die Départements, so fürchten die LehrerIn­nen, wird einem Gefälle in Lern- und Arbeits­bedingungen Vorschub geleistet. In Lyon fanden sich die ehemals Streikenden nach den Sommerferien in einer über­gewerk­schaftlichen Runde zusammen. Die gewerkschaftsübergreifende Kooperation „Inter­syndicale“ will einen „kollektiven Kampf gegen die Prekarität fördern, der von den Prekären selbst geleitet […] und von unseren Gewerkschaften [CGT, CNT, SUD] mit den notwendigen Mitteln unter­stützt wird.“ Sie kritisieren nicht nur die soziale Unsicherheit in der Schule, sondern im gesamten öffentlichen Dienst – das Bil­dungs­wesen aber ist freilich ihr Schwerpunkt. Neben öffentlichen Ver­samm­lungen und Petitionen, kümmerten sie sich auch um einen Fragebogen der Prekären.

In dieser Situation riefen die großen Gewerk­schaften landesweit für den 25. Mai zu einem zweiten Streik- und Aktionstag auf – die erfolgreiche Mobilisierung vom 12. März sollte wiederholt werden, um zu zeigen „dass wir noch entschlossen sind“. Aber ein eintägiger Warnstreik wenige Wochen vor Ende des Schuljahres ist nicht mehr als ein gewerkschaftliches Lippen­bekennt­nis und kann kaum Druck auf die Regierung ausüben, die 2003 mehreren Streikwochen trotzte. So fand der Aufruf kaum Resonanz: es herrscht eine allgemeine Resignation. Die CNT beklagt in einer Erklärung, dass es Mitte März versäumt worden war, die Bewegung zu intensivieren. Dieser Wille, wie ihn KollegInnen in Versammlungen formu­lierten, gereichte nicht zur Tat.

A.E.

Nachbarn

Mörder zum Anfassen

Alle Jahre wieder ist die Bundeswehr mit ihrer Ausstellung „Heer on tour“ quer durch die Republik auf der Suche nach Rekruten und nach Akteptanz. So auch über Pfingsten auf dem Kleinmessegelände in Leipzig. Einige kriegskritische Menschen konnten bei diesem Spektakel natürlich wieder mal nicht zu Hause bleiben.

Streitkräfte zum Anfassen“ so lautet das Motto der Ausstellung. Nicht nur die Vorführungen des militärischen Großgerätes – wie Panzer und Hubschrauber in der Bewegung – sollen die Besucher in den Bann ziehen, sondern es wird auch durch ein vielfältiges Infor­mationsangebot ein tiefer Einblick in die Lebens- und Arbeitswelt der Soldaten gewährt werden.“ *

„Ach sooo aufgeräumt muss ein Spind sein? Tut das eigentlich weh, wenn man untern Leopard II kommt? Und wie viele Afghanen erledigt so ein Hubschrauber pro Minute?“ Fragen über Fragen.

Das Mitteilungsbedürfnis „unserer Jungs“ hat seine Gründe. Zwar bewerben sich massenhaft junge Arbeitslose beim Bund, nur die Qualität lässt zu wünschen übrig. Nazis und Hauptschüler reichen eben nicht aus, für den Aufbau einer High-Tech-Kolonialarmee im Dauer­einsatz.

Um für zukünftige Kriege aus den vollen schöpfen zu können, soll der Bewerberpool möglichst groß gehalten werden. Waffenbegeisterte Familienväter und nostalgische Weltkriegsveteranen stören natürlich auch nicht, sind sie es doch, die die Kontinuität des Militärischen in unserer Gesellschaft sicherstellen, aber eigentlich geht es um „die Jugend“:

Erfreulich (…) die zahlreichen Schulklassen, die sich vor Ort gezielt „rund um den Bund“ informieren. Die Ausstellung bietet Schulen einen besonderen Service an. Auf Wunsch werden Schulklassen kostenlos abgeholt und erhalten eine Führung…“ *

Logisch, Schulklassen sind ja traditionell wunderbar für alles zu mobilisieren, bloß raus aus der öden Schule.

Am Freitag, dem 27. Mai ist „Wan­dertag“. Grund genug für zig Lehr­kräfte, ihre Klassen zur Waffenschau der Armee zu fahren, die aus ersichtlichen Gründen alle sächsischen Schulen eingeladen hat. Bei den zum Ausstellungsbesuch Zwangs­verpflich­teten stellt sich allerdings bald eine gewisse Null-Bock-Stimmung ein. – Und darauf haben es die 14 gutgelaunten Aktivist­Innen abgesehen, die mit 1500 Flugblättern und Transparent auf der kleinen Messe eintreffen.

Der auf Wan­dertagen übliche antiautoritäre Reflex entlädt sich bei unserem Auftauchen in spontanem Antimilitarismus. Beim Aufspannen des Transpis und den ersten verteilten Flyern haben wir sofort einen Fanblock. Mittel- und Oberschüler­Innen lassen sich nicht lange überreden, die subversiven Schriften gegen Staat und Militär weiter zu verteilen. Oberfeldwebel Schmidt** ist der Ansicht, noch etwas retten zu können und versucht, mit uns über die Vorteile der Bundeswehr zu diskutieren. Nach einer vollen Blamage zieht er sich unter dem Gelächter der Anwesenden taktisch zurück.

Während die direkte Ju­gend­arbeit vor dem Tor das öffentliche Bild dominiert und die Wachsoldaten immer zerknirschter gucken, versuchen einige Leute drinnen, eine Bühne zu besetzen, was nach kurzem Tumult von den Feldjägern geklärt wird. Die sympathischen Jungs mit der weißen Schär­pe sind erwartungsgemäß wild darauf, ihr Gewaltmonopol anzuwenden.

Draußen, wo ein Schild vor „Schuss­waffengebrauch“ warnt, werden immer mehr Sprechchöre gerufen, der Eingangsbereich von uns und den Sympathi­santInnen belagert. „So kann das nicht weitergehen.“ denkt sich der überforderte Oberfeldwebel Schmidt und ruft die Freunde und Helfer in Grün-Weiß. Sichtlich begeistert über soviel Verstärkung müssen diese ihm erst mal erklären, dass das ja „nur die Linksradikalen“ seien, die „immer sowas machen“ und dass sie „da auch nicht viel in der Hand“ hätten. Die halbherzigen Platzverweise der genervten Beamten lassen sich einiger­maßen ignorieren und so sind nach drei Stunden alle Flyer verteilt. Den letzten Stapel nehmen einige Elft­klässler aus Pirna mit, die damit ihre schulinterne Debatte ankurbeln wollen.

Für uns geht es dann mit aufgekratzter Stimmung zum zweiten Frühstück. Inhaltlich radikale Einbrüche in den öffentlichen Diskurs können manchmal was sehr erfolgreiches sein.

Und nicht nur für uns: Sowohl für die SchülerInnen, die ihr Polit-Event hatten, als auch für die Beamten, die uns den halben Tag Eis essend bewachen durften. Am meisten aber wohl für den cleveren Eisverkäufer, der sich auch gleich auf die richtige Seite schlug: „Bundeswehr? Find isch ooch voll scheiße.“

soja

*www.deutschesheer.de
**Name von der Redaktion geändert

Lokales

Auftakt der „Freedom of Movement…“:

Aufruf zur Tour gegen Abschiebung und Ausgrenzung

Intro:

Jedes Jahr werden in Deutschland annähernd 50.000 Menschen durch den BGS abgeschoben. Die regressive Asylpolitik wird europaweit angeglichen. Europa ist schon jetzt eine Festung, deren Außengrenzen für Flüchtlinge immer schwerer zu überwinden sind. Menschen sterben beim Versuch, diese Grenzen zu überwinden und schaffen sie es doch, so droht ihnen in den Staaten der Europäischen Union und somit auch in der BRD, ein langjähriger Aufenthalt in Ungewissheit um die Zukunft, immer häufiger werden Flüchtlinge dazu in Abschiebelagern interniert.

Ursachen:

Die Wurzel dieses staatlichen Rassismus liegt in der kapitalistischen Verwertungslogik. Menschen werden in erster Linie nach ihrem kapitalistischen Nutzen beurteilt. Während z.B. hochqualifizierte IT-Spezia­list­Innen willkommen sind, sind nicht so gut ausgebildete Menschen in der Regel unerwünscht. Eine wesentliche Ursache für das Elend in den Heimatländern vieler Flüchtlinge stellen die Machenschaften der Industrienationen dar. Die Wirtschaftspolitik der führenden Wirtschaftsmächte ist es, welche Armut forciert. Und Armut ist es, welche als Krisenpotential Nummer Eins einen ganzen Rattenschwanz negativer Folgewirkungen hinter sich herzieht (Hunger, militärische Konflikte, mangelnde Bildung, Krankheiten, Vertreibung, etc.).

Globale Wirtschaftspolitik verläuft nach einseitigem Interesse. In Europa z.B. werden Agrarmärkte milliardenschwer subventioniert, damit diesbezügliche Produkte auf dem Weltmarkt einen Vorteil gegenüber Waren aus der „3. Welt“ haben. Gegenüber bestimmten Gütern (z.B. Textilien) werden von den Industrienationen so horrende Zölle erhoben, dass eine Einfuhr aus den „3. Welt-Ländern“ kaum möglich ist. Im Gegenzug jedoch werden Trikont­ländern­ harte Strafen und Kreditkürzungen angedroht, öffnen sie ihre Grenzen nicht für Waren bzw. Konzerne aus den Industrienationen.

Wenn Menschen unter diesen Zuständen leiden und ihr natürliches Recht in Anspruch nehmen und der Misere entfliehen wollen, sind die Außengrenzen Europas dicht. Ausbeutung ja, Einreise nein, lautet das Motto, und es ist Teil der ungerechten Weltwirtschaftsordnung. Stattdessen müssen globale Lebensbedingungen entwickelt werden, die einen gerecht verteilten Wohlstand überall auf der Welt schaffen. Nur dann wird es keine Grenzen mehr geben, die den reichen Teil der Welt gegen den armen Teil abschotten.

Es gibt keine Flucht aus wirtschaftlichen Gründen

Dass Menschen aus Gründen politischer oder religiöser Verfolgung bzw. aufgrund militärischer Konflikte fliehen, ist auf den ersten Blick auch nach deutschem Asylrecht selbstverständlich. Aber auch jede Flucht, die wegen fehlender Lebensperspektive aufgrund von Armut und Hunger geschieht, ist aus den vorgenannten Gründen politisch. Armut offenbart keine Perspektiven, Armut tötet, und doch werden diese Menschen abgewiesen, es wird das Scheinargument der Flucht aus „wirtschaftlichen Gründen“ geschaffen, mit dem die Flüchtlinge in Europa und somit auch in der BRD kein Recht auf Asyl erlangen.

Die Schwächsten der Schwachen werden als „Schmarotzer“ tituliert, welche unsere Gesellschaft ausnutzen wollen. Vor dem Hintergrund des tagtäglichen Gejammers über die Zukunfts- und Konkurrenzfähigkeit des Standorts Deutschland erscheint es vielen Menschen als ganz normal, ja sogar als positiv, wenn restriktive Regelungen für Menschen nicht-deutscher Herkunft verabschiedet werden. Diese Politik ist in hohem Maße rassistisch, sie entsolidarisiert die Menschen verschiedener Nationen. Sie führt dazu, dass Menschen ausländischer Herkunft als „gesellschaftsschädlich“ bezeichnet werden können, als Menschen, die den eigenen Wohlstand gefährden.

Situation

Nur die wenigsten Flüchtlinge erreichen überhaupt die Außengrenzen Europas. Die meisten Flüchtlinge weltweit bewegen sich in den armen Ländern der Welt. Es sind die ärmsten Länder, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Vor allem Frauen mit Kindern haben kaum eine Chance, die reichen Länder zu erreichen. Niemand begibt sich freiwillig auf die Flucht. Jedem Menschen fällt es schwer, die angestammte Heimat, die Familien, die eigene Kultur zu verlassen. Aber auch die wenigen, die es tatsächlich schaffen, die Außengrenzen Europas zu überwinden, haben es nicht leicht. Sie leiden unter staatlich unterstützter gesellschaftlicher Frem­den­feindlichkeit und haben, solange über ihren Asylantrag beschieden wird (was schon mal einige Jahre bis Jahrzehnte dauern kann), kein Recht auf Arbeit oder auf Bewegungsfreiheit. Durch die sogenannte Residenz­pflicht der BRD, welche einzigartig in Europa ist, müssen Flüchtlinge, deren Asylantrag läuft, eine Genehmigung beantragen, wenn sie ihren Landkreis verlassen wollen. Diese Genehmigung wird oftmals nicht erteilt. Wird gegen diese Residenzpflicht verstoßen, drohen Geld- oder Gefängnisstrafen, bis hin zur Ausweisung. Die Flüchtlinge hierzulande sehen sich rassistischen Verfolgungen der Behörden ausgesetzt. Die BRD wurde bereits mehrere Male vom Europarat und den Vereinten Nationen wegen Polizeibrutalität kritisiert. Rassistische Polizeigewalt ist hierzulande alles andere als eine Ausnahme. Die bekannten Übergriffe haben zu unterschiedlich schweren Verletzungen bis hin zu Todesfällen geführt. Am bekanntesten ist in der Öffentlichkeit der Fall von Aamir Ageeb, der bei seiner Abschiebung durch BGS-Beamte zu Tode kam.

Die materiellen Möglichkeiten der Flüchtlinge in der BRD sind minimal. Das den Flüchtlingen zur Verfügung stehende Geld liegt weit unter dem Sozialhilfesatz. Oftmals erfolgt eine Auszahlung sogar nur in Form von Gutscheinen oder Naturalien (bis auf ein sehr geringes „Taschengeld“), was den Flüchtlingen sogar die Autonomie nimmt, ihre Lebensmittel selber auszusuchen.

Sich einen Anwalt zu nehmen, ist aus Kostengründen für AsylbewerberInnen auf herkömmlichem Wege unmöglich, der dringend benötigte Rechtsbeistand kann somit in der Regel nicht erfolgen.

Die Unterkunftsmöglichkeiten in den Flüchtlingslagern sind katastrophal, nicht selten teilen sich sechs oder mehr Leute über Jahre ein Zimmer. Noch wird von der Möglichkeit der dezentralen Unterbringung von Flüchtlingen in den Städten und Gemeinden Gebrauch gemacht, allerdings immer weniger, obwohl diese Art der Unterbringung kostengünstiger ist, als der Betrieb von Lagern. In Niedersachsen z.B. ist angestrebt, Flüchtlinge nur noch in Lager unterzubringen. Und das hat einen politischen Hintergrund: Die Lager werden bewusst weit von der einheimischen Bevölkerung eingerichtet, ein Kontakt soll nicht stattfinden, Flüchtlinge sollen am Leben hier nicht teilhaben können. Und zu oft haben solche Kontakte zu Bleiberechtskampagnen geführt, denn auch hier gibt es immer noch genug Menschen, die, wenn sie erst mal die Geschichte der Flucht gehört haben, nicht einsehen können, warum ihre Nachbarn in Hunger, Folter oder Tod abgeschoben werden sollen.

Ja … und wenn dann, wie in den meisten Fällen üblich, negativ über den Asylantrag beschieden wird, droht die sofortige Zwangsausreise oder bis zu deren Vollstreckung die Haftunterbringung in einem Abschiebeknast. Diese „Sicherungshaft“ kann sich über ein halbes Jahr hinziehen. Der psychische Druck, welcher auf den Flüchtlingen lastet, ist enorm, drohen doch in ihren Heimatländern oftmals Folter, Tod oder Krieg, mit Sicherheit aber Perspektivlosigkeit. Die katastrophale menschenunwürdige Situation der Flüchtlinge führt immer wieder zu Suizidversuchen.

Aber nicht alle Flüchtlinge können trotz nicht gewährtem Asyl abgeschoben werden und müssen aus den verschiedensten Gründen „geduldet“ werden. Gerade diese Menschen sollen mehr und mehr in Deutschland und in ganz Europa in Abschiebelagern interniert werden. Damit schließt sich die Lücke im System von nicht gewährter Einreise und Abschiebung. In Deutschland erhalten diese Lager ihre gesetzliche Grundlage als sog. „Ausreiseeinrichtungen“ im neuen „Zuwanderungsgesetz“. Anders als in den Abschiebeknästen kann die Aufenthaltsdauer in den Lagern unbegrenzt sein. Die Flüchtlinge werden massiv unter Druck gesetzt, aktiv bei ihrer Deportation mitzuhelfen (z.B. durch Beschaffung von Ausreiseunterlagen). Tun sie das nicht, werden ihnen auch noch die letzten Rechte verweigert, sie haben nur noch die Wahl zwischen einem unbegrenzten Aufenthalt im Lager mit nur drei Mahlzeiten am Tag oder der Ausreise. Immer mehr Flüchtlinge begegnen dem, indem sie in die Illegalität untertauchen, was durchaus auch politisch gewollt ist.

Situation im Abschiebelager Bramsche-Hesepe

Das Abschiebelager in Bramsche-Hesepe ist, im westlichen Niedersachsen liegend, nicht nur ein Eckpfeiler dieser Politik, es hat darüber hinaus Modellcharakter für das, was an menschunwürdiger Unterbringung möglich ist. Die Situation in Bramsche-Hesepe ist, wie in vielen anderen Lagern auch, miserabel. Das Lager befindet sich gänzlich abgelegen von der einheimischen Bevölkerung, zu der ein Kontakt kaum möglich und nicht erwünscht ist. Auch die ca. 50 Kinder, die in dem Lager untergebracht sind, sollen das Lager noch nicht einmal für den Schulbesuch verlassen, dafür wurde nun eine Lagerschule eingerichtet. Die medizinische Versorgung der MigrantInnen ist mangelhaft. Die oftmals durch Folter und Krieg stark traumatisierten Flüchtlinge erhalten in der Regel keine psychologische Betreuung, und auch andere Facharztbesuche sind erst nach langen Auseinandersetzungen möglich.

Bei der Verpflegung wird kaum Rücksicht auf kulturelle Vorlieben bzw. Abneigungen genommen. Die Unterbringung ist katastrophal, ein 16 qm Zimmer müssen sich bis zu vier Personen oder ganze Familien teilen, eine Privatsphäre ist somit nicht möglich.

Eine Rechtsberatung sieht das Konzept des Lagers nicht vor. Stattdessen gibt es die sog. „Rückkehrberatung“. Entscheidend dabei ist, daß es sich bei den in Bramsche-Hesepe untergebrachten Flüchtlingen keineswegs um abgelehnte AsylbewerberInnen handelt, die „ausreisepflichtig“ sind. Fast alle Flüchtlinge haben erst kurz vor der Einweisung in das Lager ihren Asylantrag gestellt. Die Einweisung findet ausschließlich aufgrund der „Prognoseaussage des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge“ statt, die allein aufgrund der Herkunftsländer „keine Perspektive für einen dauerhaften Aufenthalt“ erkennt. Mit dieser Praxis wird selbst der letzte Rest des deutschen Asylrechts ausgehebelt, das immerhin nach seinem Text eine individuelle Prüfung der Asylgründe vorsieht.

Mit 550 Insassen als größtes Abschiebelager Europas ist dieses Lager ein zentraler Baustein in der rassistischen und repressiven Ausländerpolitik der BRD. Deshalb ist es besonders wichtig auch in der Abgelegenheit des ländlichen Raumes gegen diese Politik vorzugehen und sich zahlreich an der Auftaktdemonstration und den Camps – besonders auch in Bramsche-Hesepe – der „Anti-Lager-Action– Tour“ zu beteiligen.

Wir wenden uns entschieden gegen das Universum der Lager und Knäste in der BRD und in Europa, das Ausdruck einer Politik sozialer Ausgrenzung ist.

Abschaffung der rassistischen Sondergesetze, wie z.B. der Residenzpflicht!

Schließung der Lager und Abschiebeknäste und selbstbestimmte, menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge!

Uneingeschränktes Recht auf Asyl und Teilnahme am Leben in Deutschland, dazu gehört neben dem Recht auf Arbeit auch das Recht auf Bildung!

(…)

Für Freizügigkeit und Selbstbestimmung überall!

Hoch die internationale Solidarität!

Avanti! e.V. Osnabrück, Karawanegruppe Osnabrück, LiVe (Linkes Vechta) im Juni 2004

Daten: Widerstandscamp bei Bramsche-Hesepe im Rahmen der Anti-Lager-Action-Tour Bundesweite Auftaktdemo: 21.8.2004, 12.00 Uhr , Bahnhof Bramsche-Hesepe

Internet: www.camp-bramsche.de.vu

Bewegung

Ökomacht?

Wer sich am 7.6. gegen 18 Uhr der Nikolaikirche näherte, um an der geplanten Montagsdemonstration gegen Sozialabbau teilzunehmen, mag sich verwundert die Augen gerieben haben. Schließlich waren dort mit der SPD und den Grünen ausgerechnet jene zwei Parteien mit Ständen präsent, die als Bundesregierung den Abbau der sozialen Sicherungssysteme maßgeblich vorantreiben. Wie sich herausstellte, war jedoch gar nicht die Montagsdemonstration der Grund ihrer Anwesenheit. Vielmehr waren sie der Einladung eines Bündnisses gegen Genfood gefolgt, welches wohl maßgeblich vom Ökolöwen initiiert wurde – zumindest war der dritte Stand von diesem. Sein Redner wies dann per Megafon darauf hin, wie wichtig es doch wäre, sich an den kommenden Wahlen zu beteiligen. Gerade bei den Europawahlen gälte es, durch das Kreuz an der richtigen Stelle das alte Europa zu stärken, damit es dem Druck der USA, genmanipulierte Nahrungsmittel zu erlauben, widerstehen könne. Nun mag es gute Gründe geben, skeptisch gegenüber Genfood zu sein. Wer aber wie hier geschildert argumentiert, treibt den EU-Nationalismus, der sich wesentlich aus einer Abgrenzung zu den USA definiert, voran. So macht mensch sich zum nützlichen Idioten der europäischen Großmachtspolitik, die sich auf Grund der relativen militärischen Schwäche im Vergleich zu den USA noch auf deren moralischen Diskreditierung verlegen muss und sich deshalb offenbar nicht nur als Friedens-, sondern auch als Ökomacht darstellt. Übrigens: Die Montagsdemonstration wurde von Winfried Helbig, der sie für das Sozialforum Leipzig angemeldet hatte, abgesagt, weil er sich nicht in die Nähe von SPD und Grünen bringen lassen wollte … immerhin ein Lichtblick an diesem Abend.

j.e.mensch

Lokales