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Streikolympiade

Wie sich Athens ArbeiterInnen auf Olympia vorbereiteten

Und zwar vor allem durch Streiks: Die Fahrer des staatlichen Gesundheitswesens streikten neun Tage vor Beginn der Olympiade für höhere Löhne und forderten dieselbe Lohnerhöhung (bis zu 2500 Euro), die den Polizisten, Feuerwehrmännern und Militärs für die Zeit der olympischen Spiele versprochen wurde. Auch die Fahrer des öffentlichen Transportsystems und Ärzte haben einen Streik für einen Olympiabonus angedroht.

13000 Angestellte von Athener Hotels gingen am 4. August in einen 24-Stunden-Ausstand um höhere Löhne zu erkämpfen – ebenfalls 9 Tage vor Eröffnung der Spiele. Circa 100 Hotelangestellte demonstrierten außerdem im Zentrum von Athen.

Dieser Streik trifft die griechische Tourismusindustrie hart, die bereits 12-prozentige Rückgänge bei den Buchungen verkraften muss. Die Besucher bleiben eher weg, abgeschreckt von den hohen Kosten und Sicherheitsmaßnahmen. Die streikenden Arbeiter, aus Griechenland und anderen Nationen, verdienen ca. 500 Euro im Monat, genauso viel wie einige der teuersten Hotels am Tag nehmen. Sie verlangen eine Verdopplung ihres Gehaltes auf mindestens 1100 Euros. Die Hotelangestellten drohten bei Nichterfüllung ihrer Forderungen mit Aktionen während Olympia.

Längerfristiges Ziel der Proteste ist die Angleichung der Löhne an die Gehälter in anderen europäischen Staaten, sie liegen nach Angaben der Gewerkschaften bei den niedrigsten in Europa.

Die Regierung verweigert diese Zahlungen, da die Gesamtkosten für Olympia bereits astronomische 12 Milliarden Dollar ausmachen. Allein die Sicherheitskosten sind die höchsten in der olympischen Geschichte und Athen – die Stadt war schon im letzten Jahr pleite – gibt 1,2 Milliarden Dollar dafür aus. Dies entspricht dreimal den Kosten, die Sydney vor vier Jahren investierte.

Am Tragischsten scheinen die Vorbereitungen für Olympia für die Bauarbeiter gewesen zu sein. Auf den Baustellen für das Olympische Dorf und die Olympischen Sportstätten verloren mindestens dreizehn Arbeiter ihr Leben bei Arbeitsunfällen. (Offiziell bekannt sind für ganz Griechenland etwa 630 Todesfälle seit Beginn des Jahres 2000.) Im Vergleich dazu: Bei den Bauarbeiten für die Olympischen Spiele in Sydney verlor ein Arbeiter sein Leben.

Die Arbeiter kommen überwiegend aus Balkanstaaten, hauptsächlich Albanien, viele von ihnen arbeiten ohne Vertrag, Schwarzarbeit und keine Sozialversicherung sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Statt der Beiträge für die Sozialversicherung zahlen die Arbeitgeber im Falle eines Unfalles lieber Schweigegeld und Abfindungen an die betroffenen Arbeiter oder ihre Hinterbliebenen. Immer wieder kommt es zu Unfällen, weil grundlegendste Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten werden. Handschuhe, Helme und Sicherheitsschuhe sucht man auf vielen Baustellen vergebens. Dazu kommt, dass besonders im Zuge der Verspätungen bei der Fertigstellung der Bauwerke die Arbeitszeiten teilweise drastisch verlängert wurden. Anstelle von acht Stunden arbeiteten viele Arbeiter zwölf, teilweise bis zu sechzehn Stunden am Tag.

Trotzdem wehren sich die Arbeiter mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Seit Anfang des Jahres 2002 wurden die Olympischen Baustellen acht Mal bestreikt. Geändert hat sich dadurch allerdings nichts. Auch die griechischen Massenmedien ignorierten die Streiks weitgehend.

Nicht zu vergessen ist auch der Hungerstreik der Gefangenen im Koridallosgefängnis von Athen. Über sieben Tage lang hatten einige die Nahrungsaufnahme verweigert. Sie protestierten damit gegen die Entscheidung, ihnen ihren fünftägigen monatlichen Hafturlaub wegen der Olympischen Spiele zu verweigern.

hannah

Nachbarn

Zeiten des Kampfes

Martin Luther King, vielleicht noch Malcom X … viel mehr ist hierzulande über die damalige antirassistische Bewegung in den USA oft leider nicht bekannt. Mit der Übersetzung von Clayborne Carsons ‚Zeiten des Kampfes’ hat der Verlag Graswurzelrevolution jetzt den verdienstvollen Versuch unternommen, dies zu ändern und mit dem SNCC (sprich: Snick; Student Nonviolent Coordinating Committee) eine der bedeutendsten antirassistischen Organisationen der Südstaaten zu dieser Zeit stärker in das Blickfeld zu rücken. Carson, der als Untergrundjournalist selbst am Rande des SNCCs engagiert war, und mittlerweile an der Stanford University Geschichte lehrt und außerdem Martin Luther Kings Schriften herausgibt, stellt in seinem Werk ausführlich dessen Entwicklung dar, wobei er sich v.a. auf Dokumente des SNCCs und seiner AktivistInnen stützt. Zur Sprache kommen dabei die inhaltlichen Auseinandersetzungen im SNCC, Personen die für seine Entwicklung wichtig waren, die jeweilige Art der Organisation, die Projekte und die äußeren Umstände, wobei ob dieser Fülle an Themen und Informationen leider der rote Faden mitunter verloren geht.

Das SNCC entstand aus der Sit-In Bewegung gegen die Segregation (Rassentrennung) in den Südstaaten, welche am 1. Februar 1960 in Greensboro, North Carolina, ihren Anfang nahm. Dort blieben vier afroamerikanische Studenten nach ihren Einkauf bei Woolworth einfach an einer für Weiße reservierten Theke sitzen, an der sie nicht bedient wurden. Am nächsten Tag saßen dort dann bereits 30 schwarze StudentInnen, am folgenden Tag wurden alle 66 Plätze an der besagten Theke besetzt. Diese Aktionsform wurde schnell in anderen Städten übernommen und auf andere Ziele als Restaurants ausgeweitet. Mit der Gründung des SNCCs im April 1960 sollte dieser Protest auf eine dauerhafte Basis gestellt werden. Zu dieser Zeit war es eine Vernetzung der entstandenen lokalen Aktionsgruppen und inhaltlich hauptsächlich von gewaltfrei-idealistischen christlichen Strömungen geprägt.

Ab Anfang 1961 kam es dann zur ersten Wandlung des SNCCs, als es (schlecht) bezahlte hauptamtliche OrganisatorInnen anstellten, die lokale Bewegungen aufbauen oder unterstützen sollten. Auch die inhaltliche Schwerpunktsetzung verschob sich vom Kampf gegen die Segregation auf den Kampf um Bürgerrechte. Dieser drückte sich zum einen darin aus, dass durch gewaltfreie Aktionen rassistische Übergriffe ‚provoziert’ wurden, welche die Bundesregierung zum Eingreifen gegen die Institutionen der Südstaaten bringen sollte und zum anderen darin, dass AfroamerikanerInnen ermuntert wurden, sich in die Wahllisten einzutragen, damit sie rassistische Sheriffs, Abgeordnete etc. abwählen konnten. Inhaltliche Inspiration war zu dieser Zeit ein radikaler Humanismus, der sich u.a. auf Camus und Marx, aber v.a. auch auf die eigenen Erfahrungen in den Projekten stützte. Ab 1964 setzte dann ein erneuter Wandlungsprozess des SNCCs ein, in dessen Verlauf sich das SNCC de facto in eine kleine Organisation von KundgebungsrednerInnen verwandelte. In diese Zeit fallen die Hinwendung zum schwarzen Nationalismus (inkl. des Ausschlusses aller Weißen aus der Organisation), zum Versuch einer straffen Organisation sowie zu einem mit Gewaltankündigungen gespickten Verbalradikalismus, der seinen Ausdruck auch darin fand, dass 1969 das ‚Nonviolent’ im Organisationsnamen in ‚National’ geändert wurde. Interne Streitereien, Austritte und Ausschlüsse, aber auch die zunehmende Repression seitens des Staates und das steigende Misstrauen untereinander, ob der Unterwanderung des SNCCs durch Spitzel, trugen schließlich dazu bei, dass das SNCC in Bedeutungslosigkeit versank, so dass selbst das FBI 1973 die Überwachung der Organisation aufgab.

Auch wenn diese Entwicklung im Nachhinein sicher zu kritisieren ist, so finde ich es doch bedauerlich, dass der Autor am Ende des Buches angesichts ihrer in eine Idealisierung der Anfänge des SNCC verfällt – und das obwohl er selbst vorher die jeweiligen Gründe geschildert hat, weshalb ein Weitermachen wie bisher den AktivistInnen unmöglich war. Auch wenn dies kaum Aufgabe eines geschichtlichen Buches sein kann, wäre es angesichts dessen sinnvoller gewesen, nach alternativen Möglichkeiten der Weiterentwicklung zu suchen. Leider geht auch Lou Marin – der für den Verlag das Vorwort zur deutschen Ausgabe schrieb – nicht auf diese Problematik ein, obwohl er das Buch sogar als „Lehrstück“ für soziale Bewegungen betrachtet haben möchte. Stattdessen beschränkt er sich darauf, sämtliche Fehlentwicklungen als „Abwege“ zu denunzieren, denen er aber zugestehen muss, dass sie „verständlich“ sind, ohne zu berücksichtigen, dass dann auch mit der Ausgangslage etwas nicht gestimmt haben kann. Daran, dass ‚Zeiten des Kampfes’ für an der Geschichte des antirassistischen Kampfes und/oder der von sozialen Bewegungen (viele Themen und Probleme werden AktivistInnen sicher bekannt vorkommen) Interessierte mit Erkenntnisgewinn zu lesen sein dürfte, ändert dieses kleine Ärgernis aber selbstverständlich nichts.

j.e.mensch

Clayborne Carson: Zeiten des Kampfes. Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) und das Erwachen des afro-amerikanischen Widerstands in den sechziger Jahren. Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim, 2004.

Rezension

Albrecht Pallutke – Folge 2

Immer Ärger mit Olympia

Das regnet ja immer noch… Jetzt mach ich aber mal das Fenster zu – is ja arschkalt hier in der Küche. Dachte ja, daß langsam mal Frühling wird. Wie soll man denn da in Ruhe nachdenken…

Tja Herr Pallutke, Könn´ wer ma´ wieder nich schlafen? Is ja auch kein Wunder nach so nem Tag und der ganzen Aufregung. Na ja, was solls. Solange das hier nicht zur Gewohnheit wird. Aber ich sollte mir wirklich nicht so viel Sorgen machen. Der Junge ist schließlich alt genug und es ist auf alle Fälle gut, wenn er sich seine Gedanken macht. Es ist halt bloß… Nee, also so was macht man einfach nicht. Das gehört sich nicht. Auch wenn man so nen Dummejungenstreich nicht unbedingt als Raub oder so bezeichnen kann.

Aber der Reihe nach. Rita und ich sitzen gestern in der Küche. Was willste auch machen bei dem Wetter? Den ganzen Winter freut man sich auf den Mai und dann so´n Reinfall! Müssig rumsitzen is nich so mein Ding. Tagsüber in die Kneipe auch nicht – das fehlte noch. Natürlich – klar helf ich Rita beim Gemüseschnippeln. Frauensache – so´n Quatsch. Das Unangenehme ist eher der ganze Text, den ich mir dabei anhören muß, von wegen „Albrecht haste noch ma´überlegt wegen heiraten?…nach der langen Zeit…“. Bei dem Thema bin ich echt überfordert. Ich sage immer, jetzt sind wir fast 20 Jahre zusammen, ohne diesen blöden Firlefanz, da brauchen wir das für die restlichen 40 Jahre – die wir hoffentlich noch zusammen sind – auch nicht mehr. Naja, da gibt’s halt schon Momente, wo ich doch lieber im Elly´s Bier Pub sitzen würde – und wenn´s nur bei ner Cola wäre.

Natürlich sind wir nicht verheiratet. Heutzutage ist das ja ganz normal – damals haben wirs einfach glattweg vergessen. Mußte ja alles ganz fix gehen, als Rita damals von Köthen nach Leipzig kam. Wegen der Liebe und so. Wohnste erst mal bei mir, hab ich damals gesagt und den Kleinen bringste auch gleich mit, wenn du das Sorgerecht erst mal hast. Später haben wir uns dann noch ´ne größere Wohnung hier in Stötteritz gesucht, weil das auch näher am Garten ist und seitdem sind die Jahre nur so verflogen.

Plötzlich flog die Tür auf. Olaf platzte rein – total durchnässt und modderbespritzt. War mir aber nur recht in dem Moment, weil Rita erst mal wieder weg vom Thema war. Ich war auch schon dabei mich in Richtung Wohnzimmer zu trollen, als ich gerade noch so mitkriege, warum der Junge so strahlt und was er da triumphierend in die Luft reckt. Mhm, denk ich, so was haste zum letzten Mal beim Betriebssportfest gesehen. Schon ne Weile her. (Albrecht, du mußt mal wieder was für die Linie tun – wenn nur das Wetter bald mal besser wird). Aber was will der Bengel mit nem Staffelstab?

Nachdem ich erst mal Interesse gezeigt habe, kann er sich dann auch kaum mehr halten und es platzt förmlich aus ihm heraus: „Ja, ihr kennt doch diese Bekloppten, die jetzt diesen Dauerstaffellauf für Olympia machen. Das hat mittlerweile Ausmaße angenommen, kann ich euch sagen! Wir dachten, kann ja nicht schaden, da auch mal ´n kritisches Zeichen dagegen zu setzen, oder so.. Na, jedenfalls haben wir uns heute in ner relativ günstigen Ecke auf die Lauer gelegt und „Schwups!“ war´n wir mit dem Stab auf und davon.“

Klang auf den ersten Hör ja ganz witzig die Geschichte, vor allem wie die Jungs beim Wegrennen den bestohlenen Läufer noch als engstirnigen Lokalpatrioten und Event-Ossi beschimpft haben und der dann völlig überraschend loszubayern anfing: „Joah, Kruuzefix! Ihr Sauu-Buam – ihr dreckarden! Doah bin i extra hia von Räingschburg* umme käma, um die deitsche Olympia-B´werbung zu untastütz´n und eh amoal woas für´n Osten zu dan und etz so a Dreck!“ Natürlich musste ich mir das Lachen verkneifen, weil ich mir diese Szene nur allzu deutlich vorstellen konnte. Gleichzeitig hab ich mir aber auch Vorwürfe gemacht, weil ich immer mit meiner Meinung so herumposaune, eben halt auch wenn der Junge mit dabeisitzt. Auf der anderen Seite – wir sind zwar immer noch im Osten, aber langsam sollten wir uns mal dran gewöhnen, daß auch wir jetzt Meinungsfreiheit haben. Gerade bei den Älteren sind noch viele dran gewöhnt, sich alles vorsetzen zu lassen. Wie zum Beispiel diesen Olympiakram. Und dann aber kräftig auf „die da oben“ schimpfen, wenns wieder schief geht – als ob sie keinen eigenen Kopf zum Denken und Handeln hätten. Nee, man kann dem Jungen und seinen Freunden im Grunde keinen Vorwurf machen.

Naja, zum Glück ist der ganze Wahnsinn jetzt vorbei. Was das noch geworden wäre. Von Tag zu Tag verrückter haben die sich aufgeführt, wegen ihrem blöden Olympiakäse. Dazu noch ne Anti-Olympia-Demo und dann natürlich die entsprechende Menschenkette gegen die Olympiagegner… Gar nicht auszudenken, wenn am 18. Mai wirklich Leipzig die Kandidatur gekriegt hätte.

Was? Nee, nee mir is nich zu kalt – ich komm ja schon, Rita. Na ja, mir friert schon ganz schön der Arsch – ich geh mal lieber wieder ins Bett…

lydia

* Regensburg

Früh um 5 in Stötteritz

…und wofür war der ganze Zirkus?

Ein Bericht über die Ereignisse um das Europäische Wirtschaftsforum vom 28.- 30. April in Warschau

 

Das EWF-Treffen ist ein europäischer Ableger des jährlich in Davos stattfindenden Weltwirtschaftsforums. Nachdem es in Dublin aufgrund akuter Protest-Gefahr nicht stattfinden konnte, bewarb sich Warschau um das prestigeträchtige Event, um seinen EU-Beitritt gebührend feiern zu können. Dabei wurde speziell auf eine schwache, örtliche KritikerInnenszene verwiesen, der es wohl kaum gelänge, eine ausreichende Mobilisierung zur Behinderung des Gipfel hinzukriegen bzw. daß man der Sache schon Herr würde.

Mißtrauische und neugierige Blicke in der U-Bahn. Diese Mischung aus abgetragener, meist dunkler Kleidung, vielleicht noch ein paar Piercings und eine exotische Frisur, machen es klar: dies ist kein(e) normale(r) Warschau-TouristIn. Wahrscheinlich ist dies jemand von diesen „Globalisierungsgegnern“, über welche schon seit Wochen so viel geredet und gewarnt wird. Als klar wurde, daß Polen auch in dieser Hinsicht langsam in Europa angekommen ist, und daß auf alle Fälle auch ungeladene KritikerInnen anreisen würden, wurde in den polnischen Medien eine massive Hetzkampagne gegen die „Antyglobalisci“ losgetreten. Wochenlang vorher wurden die Bilder von Genua und Göteborg hervorgekramt und als Horrorszenario für Warschau reproduziert. Daß letztendlich nichts außer einem weniger beachteten Gegengipfel mit einer großen kapitalismuskritischen Demo in Partystimmung passierte, hat der polnischen Regierung einmal mehr einen großen Imageverlust in der eigenen Bevölkerung eingebracht.

Nachdem sich Warschau so sehr um die Austragung des EWF gerissen hatte, mußte man nun zeigen, daß man die Sache auch im Griff hat. Eine von einem globalisierungskritischen Mob verwüstete Innenstadt konnte man sich auf keinen Fall leisten. Also ging man lieber auf Nummer ganz-ganz-sicher. Als der 28. April und der Beginn des Forums immer näher rückten, wurden auch im Straßenbild von Warschau die Auswirkungen der seit Wochen geschürten Panik spürbar. Immer mehr Banken, Restaurants, Geschäfte und sogar die kleinen Kioske und Arbeiter-Kantinen verbarrikadierten ihre Scheiben. Schulen und Universitäten blieben geschlossen und den EinwohnerInnen Warschaus wurde geraten, für den Zeitraum des EWF möglichst die Stadt zu verlassen. Nach und nach verschwand die Innenstadt hinter Spanplatten, Fangnetzen und Metallzäunen. Neben ständig steigender Polizeipräsenz, wurden vermehrt Personenkontrollen durchgeführt und „einschlägig bekannte Personen“ belästigt. In einem Vorort von Warschau wurde eine linke Wohngemeinschaft, welche TeilnehmerInnen aus anderen Städten beherbergte, durchsucht und die darin befindlichen Personen mit Handfesseln auf dem Boden abgelegt, bedroht und mißhandelt. Auch an den Grenzen wies man vermehrt Leute zurück. Einige ältere Leute meinten, das Ganze erinnere sie stark an die Zeit des Ausnahmezustandes Anfang der 80er.

Das Hauptinteresse der Medien lag natürlich auf der am 29.04. stattfindenden Demonstration, durch die verbarrikadierte Innenstadt. Die OrganisatorInnen der Demo waren die polnischen AnarchistInnen. Es wurde jedoch sehr darauf geachtet verschiedene Bevölkerungsgruppen zu involvieren. Neben Arbeitslosen und Bauern im allgemeinen, gehörten dazu die Bieda Szyby-Bergleute aus Schlesien (siehe FA!#12) und Leute vom Kabelwerk Ozarow (siehe FA!#4 2003), sowie der bei solchen Veranstaltungen unvermeidliche Mix aus verschiedensten links orientierten oder auch nur angehauchten GlobalisierungskritikerInnen. Auf der Route, welche überraschend nah an der, für die Öffentlichkeit gesperrten, Roten Zone vorbeiführte, wirkte alles wie ausgestorben. Die vereinzelten mutigen Cafés, welche sich nicht eingeigelt hatten, machten Rekordumsätze und schauten etwas verdattert die nach der Toilette fragenden DemonstrantInnen an. Als dann klar war, daß auch die Demo nicht die erhofften Gewaltbilder bringen würde, zog sich ein Großteil der JournalistInnen zurück und bei einer anschließenden Pressekonferenz waren nur eine handvoll Interessierte anwesend.

Die Angaben, wie viele Leute teilnahmen, gehen weit auseinander. Die staatliche Seite, welche sonst immer dazu neigt, die Beteiligung bei solchen Protesten herunterzuspielen, sah sich diesmal genötigt zur Rechtfertigung ihres Sicherheitsaufwandes ins Gegenteil zu verfallen und gab die Beteiligung mit annähernd 10.000 an. Die Hälfte war sicher realistischer.

Am Tag nach der Demonstration war die Stimmung deutlich entspannter. Das EWF war zwar noch nicht vorbei, aber da die Voraussagen für die Demo nicht eintrafen, glaubte niemand mehr so richtig, daß hier noch irgend etwas passieren würde. Die ersten Läden nahmen ihre Spanplatten herunter und in den um ihre Gewaltbilder betrogenen Zeitungen wurde die erste Empörung über die enormen Kosten laut, die „dieser Zirkus“ gekostet hat. In der Walpurgisnacht des 30. 04. gab es dann ein etwas müdes „In-die-EU-Reinfeiern“, welches akustisch gestört wurde, als Präsident Kwasniewski sich in einer euphorischen Rede zum Beitritt übte.

Daß zeitgleich zum Europäischen Wirtschaftsforum ein Alternativgipfel stattfand, interessierte die Medien weniger. Trotz massiver organisatorischer Probleme – wie Verlust der Räumlichkeiten durch Druck der Polizei auf die Vermieter – konnte nach einem kurzfristigen Umzug in die Konferenz- und Hotelräume eines Hallenbades, das Treffen der Alterglobalisten (1) stattfinden. Viele Vorträge mußten zwar aufgrund der veränderten Situation gekürzt werden, im Großen und Ganzen wurde das Treffen jedoch als Erfolg eingeschätzt. Es wurden Themen wie die Auswirkungen von ungehemmter wirtschaftlicher Globalisierung auf z.B. jahrhundertelang gewachsene Strukturen, ethnische Minderheiten und Umwelt diskutiert und u.a. Strategien zur Selbstorganisation und alternative Globalisierungsmodelle erläutert. Als ein besonderer Erfolg wurde das große Interesse aus Teilen der Bevölkerung gewertet, die nicht unbedingt einer politischen Szene zugerechnet werden können.

Das EWF konnte nicht verhindert werden, allerdings ist es gelungen einen Gegenakzent zu setzen. Wie relevant dies für die kommenden Jahre sein wird, ist noch nicht klar. Interessant, wenn man bedenkt, daß das EWF nun jedes Jahr in Warschau stattfinden soll. Vielleicht werden es nächstes Mal die BürgerInnen von Warschau selbst sein, die diese Gelegenheit ein paar Worte mitzureden nutzen werden, wenn über ihre Zukunft entschieden werden soll.

 

lydia

(1) siehe nachfolgendes Interview

Hinter dem Vorhang

Zur Ignoranz gegenüber Osteuropa

Dieser Text wurde erstmals im Oktober 2003 in der Nummer 273 der iz3w (www.iz3w.org) – Zeitschrift zwischen Nord und Süd – aus Freiburg veröffentlicht. Mehr über die Osteuropa AG gibts auf www.nadir.org/nadir/initiativ/osteuropa/

Trotz der Überwindung des „Eisernen Vorhangs“ und der damit verbundenen Reisefreiheit und trotz der bevorstehenden Osterweiterung der Europäischen Union hält sich das Interesse an Osteuropa sehr in Grenzen. Es gibt zwar einen kulturellen Osteuropa-Hype: die Berliner Russendisko, kyrillische Schrift als Design-Schlager, Litauen auf der Buchmesse oder T.A.T.U. (das sind diese russischen Teenagerinnen) in der Hitparade. Leicht irritiert nehmen wir die Nonchalance zur Kenntnis, mit der heute CCCP-T-Shirts, Hammer und Sicheln und rote Sterne getragen werden, oft von Leuten, die sich vermutlich nicht als „Linke“ bezeichnen, aber auch von vielen „GenossInnen“. Ist das nun Abgeklärtheit, eine Provokation des real existierenden Kapitalismus oder einfach Trash-Pop, der inhaltlicher Auseinandersetzung nicht zugänglich ist?

Die Konfrontation mit den realen Ausformungen des osteuropäischen Kapitalismus ist dagegen nicht angesagt. Stattdessen gibt es in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung das untergründige Gefühl, mit der EU-Erweiterung werde eine osteuropäische (Migrations-)Flutwelle über „uns“ hinwegrollen. Überhaupt weisen Umfragen die Deutschen als große SkeptikerInnen in Bezug auf die EU-Erweiterung aus. Und zu Polen fällt den meisten immer noch vor allem Autoklau ein.

Osteuropa bleibt trotz oder wegen der Ostmode für die meisten in Deutschland ein Ort für Projektionen und Stereotype. Das gilt gerade auch für die (west-)deutsche Linke. Wenn sie Osteuropa überhaupt thematisiert, dann dient das zum großen Teil der eigenen Positionierung in hiesigen Diskursen und weniger der Auseinandersetzung damit, was eigentlich konkret vor sich geht und gegangen ist. Ein extremes Beispiel sind sicherlich zwei „Stalingrad-Partys“ im letzten Winter in Berlin, zu denen mit Spielzeugpanzern und peppigen Sätzen („Hoch die Tassen. Für tägliche Stalingrad-Effekte. Wodka kalt genießen und Na Sdorowje!“, so die Autonomen-Zeitschrift interim 565) mobilisiert wurde. Die OrganisatorInnen wollten wohl dem medialen Mainstream, der Stalingrad zuerst als Ort der Trauer um deutsche Soldaten darstellt, ein Bild von Stalingrad als Ort des Triumphes gegen den Terror des Nationalsozialismus entgegenstellen. Nur: Um der eigenen antinationalen Verortung, Abgrenzung und Aufwertung willen werden dabei gerade die Menschen missachtet, denen angeblich Dank erwiesen werden soll. Denn die sowjetischen SoldatInnen in Stalingrad hatten keine andere Wahl, als bei minus 40 Grad der deutschen Wehrmacht entgegenzutreten und um jedes Haus zu kämpfen.

Manche westeuropäische „Linke“ (1) versuchen noch immer, den Realsozialismus als ideologisches Gegenmodell zum Kapitalismus zu retten, auch jenseits der Befreiung vom Nationalsozialismus. Zwar gehen zum Glück heute nur noch sehr wenige so weit, die repressive Politik der osteuropäischen „sozialistischen“ Regimes schlichtweg zu leugnen. Problematisch finden wir aber auch, wenn die realsozialistischen Errungenschaften im sozialen Bereich, wie etwa die Eingliederung von Frauen ins Erwerbsleben, gegen die Repressionserfahrungen aufgerechnet werden. Sicherlich war einiges am Leben im Realsozialismus weniger existenzbedrohend und im positiven Sinne „gemütlicher“ als im Neoliberalismus der 90er Jahre. Das galt aber nicht für diejenigen, die nicht bereit waren, sich an vorgegebene Lebens- und Denkmuster der „kommunistischen“ Regimes anzupassen. Als Herrschaftssystem war der Realsozialismus im Großen und Ganzen allemal so hart wie kapitalistische Systeme.

Schwieriger noch ist es mit der Banalisierung der realsozialistischen Geschichte. Die Stilisierung von Staatsemblemen zum Pop-Symbol öffnet jedenfalls nicht gerade den Weg zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit dem, was da in so kurzer Zeit zu „harmloser“ Geschichte geworden ist und kommt damit der am weitesten verbreiteten Reaktion ziemlich nahe: der Ignoranz. Die bezieht sich einerseits auf den Realsozialismus: aus, vorbei, vergessen. Ehemalige DissidentInnen aus Osteuropa nehmen der Westlinken diese Verweigerung einer Auseinandersetzung zutiefst übel und haben den Eindruck, dass keine Lehren gezogen werden. Dies gilt gerade auch für die, die sich ihre linken Standpunkte bewahrt haben und weiterhin für soziale Gleichheit und gegen den Sozialdarwinismus des neoliberalen Durchmarschs eintreten (obwohl viele von ihnen individuell zu den „GewinnerInnen“ des Umbruchs gehören). Für jüngere osteuropäische AktivistInnen ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zwar weniger wichtig, eben weil sie vergangen ist und damit als gescheitert angesehen wird. Sie gehen aber ebenfalls davon aus, dass ein positiver Bezug auf den Realsozialismus nicht bündnisfähig ist.

Die Ignoranz bezieht sich auch auf das, was heute in Osteuropa vor sich geht. Jenseits der Stereotype von einerseits den blöden Ossis, die den Kapitalismus geschluckt haben und sich auch noch darüber freuen, und andererseits den Opfern, die vom Neoliberalismus geschunden werden, gibt es vor allem eins: inhaltliche Leerstellen. Dies ist weniger einer bewussten Entscheidung geschuldet, diese Region für weniger relevant oder weniger brennend zu halten, als vielmehr einer gewissen Hilflosigkeit. Die Zapatistas sind der Westlinken offenbar näher als polnische Gewerkschafter-Innen, die Distanz bei politischen und kulturellen Ausdrucksformen scheint manchmal größer zu sein als die etwa zu Lateinamerika. Die Auseinandersetzungen, die eine Zusammenarbeit von ost- und westeuropäischen Linken ermöglichen würden, werden deshalb oft gar nicht erst geführt: etwa um politische Begrifflichkeiten und inhaltliche Ziele, Politik- und Kommunikationsformen, Organisationsstrukturen, um westeuropäisches Dominanzverhalten und – angebliches – osteuropäisches „Noch-nicht-so-weit-Sein“. Die pauschalisierende Sicht auf „Osteuropa“ unterschlägt dabei häufig auch die weitreichenden regionalen Unterschiede mit ihren sehr unterschiedlichen Ausformungen linker Politik und Organisierung.

In den letzten Jahren gibt es allerdings auch Ansätze zukunftsträchtiger Ost-West-Kooperationen. So arbeiten AktivistInnen aus Ost- und Westeuropa gemeinsam zur „Festung Europa“ und der Verschiebung der EU-Außengrenzen nach Osten, etwa im Zusammenhang mit den No-Border-Camps in Polen, Rumänien und anderen ost- und westeuropäischen Ländern. Die Gipfel von IWF und Weltbank sowie der NATO in Prag führten in den vergangenen Jahren zu Gegenaktivitäten in der Tschechischen Republik, an denen sich auch AktivistInnen aus Westeuropa beteiligten, umgekehrt machten sich OsteuropäerInnen bei westeuropäischen Gipfeln bemerkbar. Beim Thema Geschlechterverhältnisse reichen die Beispiele vom Frauencomputercamp in Kroatien bis zu ost-west-übergreifend vorbereiteten Workshops zu feministischer und queerer Theorie und Praxis in Warschau. Doch angesichts schwieriger Kommunikationsprozesse, materiell wie ideell, bleiben Kontakte und vor allem Kooperationen weiter die Ausnahme im westlinken Politikbetrieb. Auch deshalb, weil Politikbereiche, die hier traditionell linkes Terrain sind, in Osteuropa eher von sich nicht unbedingt „links“ verortenden NGOs aufgegriffen werden, etwa im Gender- und im Ökobereich oder bei der Vergangenheitsaufarbeitung.

Trotz aller Schwierigkeiten halten wir die Auseinandersetzung mit Osteuropa für spannend wie notwendig, etwa bezüglich des Scheiterns des Realsozialismus. Sich auf die Position zurückzuziehen, dass die undogmatische Linke schon immer gegen ihn war, ist unbefriedigend. Immerhin sind an verschiedensten Stellen Reformversuche und unterschiedliche Formen kollektiver Vergesellschaftung entwickelt worden, die freilich immer wieder in Unterdrückungsverhältnissen endeten. Die Auseinandersetzung damit ist wichtig für die Arbeit an zukünftigen linken Projekten, die gesellschaftliche Hegemonie erlangen wollen. Der Zusammenbruch des Realsozialismus ist weiter lehrreich, um zu verstehen, auf welch tönernen Füßen nur auf Repression basierende, scheinbar so stabile Regimes mitunter stehen.

Tagespolitisch erforderlich ist eine Auseinandersetzung mit der Frage, welche Konsequenzen die Nachbarschaft zur EU-Metropolen-Region für Osteuropa hat: die neuen Ostgrenzen jenseits der Kandidatenländer, die Integration in die westeuropäische Wirtschaft mit der Ansiedlung von Billiglohn-Klitschen, aber auch High-Tech-Dependancen, die strukturelle Abhängigkeit von Entscheidungen der EU. Umgekehrt heißt das aber auch zu fragen: Welche Auswirkungen hat die Annäherung Osteuropas für Westeuropa? Was bedeutet es, wenn die EU, bisher ein Club überwiegend reicher Länder, mit der Erweiterung zu einem heterogenen Gebilde wird? Welche neuen Möglichkeiten öffnen sich da, die Menschen in den verschiedenen Ländern gegeneinander auszuspielen? Andererseits aber auch: Welche Chancen gibt es für neue Bündnisse gegen die gesamteuropäischen Herrschaftsstrukturen?

Pathetische Aufrufe, Osteuropa weder links noch rechts liegen zu lassen, gibt es genug. Dem ist nur hinzuzufügen: wer es dennoch tut, verpasst einiges. Die mit der Beschäftigung mit Osteuropa notwendig verbundene Infragestellung vieler Wahrnehmungs- und Handlungsmuster der hiesigen Linken kann zur Weiterentwicklung der eigenen politischen Praxis – sei sie nun lokal oder global orientiert – nur nutzen.

Osteuropa-AG Berlin

(1) Der Begriff „Linke“ ist in diesem Kontext zwangsläufig missverständlich. Viele OsteuropäerInnen und insbesondere antiautoritäre AktivistInnen verstehen unter „links“ das, was für WesteuropäerInnen als „rechts“ gilt: autoritäre staatliche Herrschaft. Wir benutzen die Begriffe hier im westlichen Verständnis als im weitesten Sinne herrschaftskritisch, setzen sie jedoch kontextbezogen in Anführungszeichen.

Nachbarn

HEROIN-Dealer verpisst Euch?

Im Stadtteil Connewitz sind in den letzten Wochen massenhafte Plakate mit der Aufschrift „Heroin-DEALER verpisst euch!“ verklebt worden. Um mehr über die Hintergründe dieser Aktion zu erfahren, haben wir uns wieder einmal in den Dschungel des Bermudadreiecks gewagt. Als Erstes versuchte lydia mit den Urhebern der Plakataktion Kontakt aufzunehmen. Nach längerem Herumirren mit verbundenen Augen, findet sich lydia in einem tropfig-feuchten Keller wieder. Nebenan probt eine Punk-Band und an den Wänden sind Sprüche gegen´s „Scheißsystem“ gesprüht. Ihr gegenüber sitzt ein Typ, der sie mit einer Taschenlampe blendet, damit sie sein Gesicht nicht erkennt. …O.K., ganz so war es vielleicht doch nicht.

lydia: Es geht um die HEROIN-Dealer-Hass-Plakate. Wir glauben jemanden gefunden zu haben, der sich damit identifizieren kann…

Ralf: Nee, also ganz so ist das nicht… Ich hab damit eigentlich überhaupt nichts zu tun und billige die Aktion größtenteils auch nicht. Mir sind aber zumindest die Leute und die dahintersteckenden Intentionen bekannt. Fakt ist jedenfalls, in Connewitz – speziell im Bermudadreieck – gibt´s ein ziemliches Problem was Drogen betrifft. Es gibt im ersten Quartal 2004 schon den ersten Drogentoten. Der taucht allerdings in keiner offiziellen Drogenstatistik auf, weil er aufgrund seiner massiven Drogenprobleme Selbstmord begangen hat. Desweiteren ist bekannt, dass laut offiziellem Drogenbericht der Stadt Leipzig, das Einstiegsalter für Heroin bei ungefähr 13 Jahren liegt. Eine Tendenz, die auch in diesem Viertel zu beobachten ist. Auslöser dieser ganzen Geschichte war eigentlich, dass es seit diesem Jahr einen rapiden Anstieg an Einbrüchen gibt, wobei vermehrt und wiederholt alternative Projekte und Wohnungen betroffen sind. In sämtlichen bekannten Kneipen wurde eingebrochen, wobei teilweise von Beschaffungskriminalität ausgegangen wird; d.h. ein direkter Zusammenhang zwischen Konsum und Einbrüchen hergestellt werden kann. Außerdem wurde vermehrt versucht Falschgeld in Umlauf zu bringen.

lydia: Was stellt diesen Zusammenhang her – was deutet darauf hin?

Ralf: Zum einen, dass bei vielen von diesen Sachen, sei es jetzt Einbrüchen oder Falschgeld-in-Umlauf-bringen Leute verwickelt waren, die heroinabhängig sind.

lydia: Es wurden also auch schon Leute erwischt?

Ralf: Bei den Einbrüchen kam es teilweise später heraus. So Sachen wie mit Falschgeld bezahlen – das ist meist gleich aufgeflogen. Oft wurde halt auch versucht in Projekten damit zu bezahlen.

Es gab ja vor 3-4 Jahren schon mal den Versuch mit der Drogenproblematik konstruktiv umzugehen ….mit den Drugscouts und so, was aber im Endeffekt nicht wirklich was gebracht hat. Daraufhin ist dann halt diese Idee mit dieser Plakataktion entstanden. Die Intention der Aktion selber und auch des Plakates, das ja auch leicht missverständlich ist, wenn man die Hintergründe des ganzen nicht kennt, ist provokativer Natur. Es soll eine Diskussion losgetreten werden – was anscheinend auch gelungen ist. Außerdem bestand die Hoffnung die Folgen der Beschaffungskriminalität zu minimieren. Es sollen jetzt nicht Menschenjagden veranstaltet werden, oder so.

lydia: Es gab ja nun auch den Vorwurf, dass damit das Problem nicht direkt angegangen wird, sondern nur die Drogenproblematik aus dem eigenen gemütlichen Kuschelkiez verdrängen will.

Ralf: Bei Gesprächen mit den InitiatorInnen der Aktion wurde ja schon klar, dass die selbst heftigste Bauchschmerzen mit der Aktion haben. Speziell diese Reduzierung auf Dealer, was den Menschen hinter dem Dealer ja ausklammert. Dann diese Fixierung auf das Thema Heroin, wo man doch gleich noch Poster gegen „Sternie“-Dealer aufhängen könnte. Allerdings war man sich halt schon einig; man muss sich nichts vormachen – Genussfreiheit hin und her, wenn du heroinabhängig bist, dann bist du auch nicht mehr selbstbestimmt, sondern hängst an der Nadel. Außerdem wirkt das Ganze mit diesem „Verpisst Euch“ sehr aggressiv, aber es sollte halt auch, wie gesagt, provokativ sein. Man war sich aber trotzdem sogar mit den sogenannten „Hippierunden“ einig: Diskussionen und Konzepte um Drogenmündigkeit etc. bringen anscheinend nichts.

lydia: Was erhofft man sich damit loszutreten? Wie könnte das jetzt im Idealfall weitergehen?

Ralf: Der negativste Fall wären Gesprächsrunden oder Betroffenheitsflyer, die ideologisch vielleicht korrekt sind, aber keinerlei Praxisansätze beinhalten, wie sie z.B. vom Linxxnet (1) jetzt schon ausgehen. Was die sagen, ist ja alles schön und gut, aber das bringt uns hier nicht weiter.

Ideal wäre… ja, wenn irgendwas praktischer Natur entstehen würde. Sei es jetzt eine Anfrage über Abgeordnete oder Sozialarbeiter an Städtische Institutionen (Streetworker, Jugend- & Gesundheitsamt) Wie sehen die reellen Statistikzahlen für den Süden aus? Der offizielle Bericht ist oft geschönt. Wie viele User/Drogentote gibt es – was für Möglichkeiten und Hilfeangebote gibt es? Altersgruppen? Was für Drogen? Was gibt es für Hilfsangebote? Welche Ärzte substituieren (=Methadonvergabe). Was für Möglichkeiten gibt es das ins Viertel zu transportieren etc.

Das Plakat sollte auch eine Signalwirkung haben; an die KonsumentInnen, aber auch an „Verticker“ der Drogen: „Hier läuft etwas schief. Es ist Eure Entscheidung, was Ihr nehmt, dann müsst Ihr aber auch selbst mit den Begleitumständen klarkommen. Hilfe könnt Ihr jederzeit haben, aber keine Kohle. Uns ist eigentlich völlig egal, was Ihr Euch in den Arm jagt – solange ihr´s selbstbestimmt tut“. Aber anscheinend läuft hier irgendeine Schiene, die mit selbstbestimmt nichts mehr zu tun hat.

lydia: Ich bedanke mich fürs Gespräch.

Es lag natürlich nahe gleich im Anschluss jemand vom Linxxnet zum Thema zu befragen…

lydia: Ja, wie war das mit den Anti-Heroin-Dealer Plakaten? Ihr wart auf alle Fälle nicht so begeistert von der Aktion…

Jule: Ja also, mir sind im März diese Plakate ins Auge gefallen, ich war schockiert und hatte den Eindruck, dass hier irgendeine rechte Bürgerinitiative, die die farbigen Dealer mit Besen oder so aus dem Stadtteil jagen will, am Werk war. Ich habe zuerst vermutet, dass es aus irgendeiner Spießer- oder konservativen Ecke kommt. Mittlerweile weiß ich, dass die Sache von Leuten aus der sogenannten Alternativszene ausgegangen ist.

Ist gibt natürlich einen Hintergrund dazu. Das wahrscheinlich jemand, der einen Heroin-Todesfall hatte, seine persönliche Wut auslässt. Ich finde es aber problematisch, Dealer zu kriminalisieren, als Verantwortliche, für die Misslage im Stadtteil. Die Droge wird kriminalisiert. Es wird überhaupt nicht reflektiert, dass Heroin keine böse Droge an sich ist – dass das Problem eher darin liegt, dass Heroin illegalisiert ist, dass es keine Möglichkeiten der Qualitätsprüfung beim „Stoff“ gibt und dass es den KonsumentInnen beschissen geht. Ich fand es auf alle Fälle eine ziemlich gefährliche und wirre Aktion.

lydia: Von den InitiatorInnen wird es ja eher so dargestellt, dass sie keine andere Lösung mehr für das Problem gesehen haben, weil das Ganze, gerade auch in Bezug auf Beschaffungskriminalität, ziemlich grassiert hat.

Jule: Da stecke ich halt nicht so drin. Es geht ein Gerücht um, dass irgendwelche HeroinkonsumentInnen linke Projekte ausgeräumt hätten. Warum macht man dann eine Hatz auf vermeintliche Dealer? Danach stellt sich dann sofort die Frage: ist das Ganze auch rassistisch motiviert? Sind die vermeintlichen Dealer irgendwelche Farbigen im Stadtteil, zu denen die Junkies dann kommen? Das ist irgendwie alles offen und ich finde diese Kampagne bedient irgendwelche Vorurteile gegenüber HeroinkonsumentInnen und ist überhaupt kein Diskussionsangebot, wie das von Seiten der InitiatorInnen gern geschildert wird, sondern einfach nur ein Schüren von Vorurteilen. Es erklärt vor allem nichts – es ist vollkommen unklar. Einem Bürger der das auf der Straße liest, wird überhaupt nicht klar, was da passiert. Was ich wenigstens erwarte, ist eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema; eine Veranstaltung um zu informieren, was ist eigentlich los im Stadtteil?

lydia: Wie ist das jetzt bei Euch – habt Ihr irgendwelche Sachen initiiert, um dem entgegen zu wirken oder die Sache zu klären?

Jule: Unsere erste spontane Reaktion, war eine Überplakataktion mit Sprüchen wie „Mach meinen Dealer nicht an“ oder „Gegen Verschwörungstheorien“. Wir wollen aber auf alle Fälle auch sachkundige Hilfe, wie die Drugscouts (2) heranholen, um sobald wie möglich eine Veranstaltung zum Thema zu machen und nicht bloß abstrakt zu thematisieren. Das conne island ist ebenfalls schon auf eine Sozialarbeiterin zugegangen um zu fragen, wie man vermitteln kann in diesem Konflikt, weil sie selbst nicht wissen, wie man damit umgeht.

Es war vielleicht nicht so gut erst mal auf der selben Ebene zu reagieren, aber es ist auf alle Fälle geplant das Problem konstruktiver anzugehen.

lydia: Ich bedanke mich fürs Gespräch.

(1) siehe: www.linxxnet.de
(2) siehe: www.drugscouts.de

Lokales

Sackgasse Sozialdemokratie!?

Ein guter Sozialist, man glaubt es nicht, ist der, der mit dem Staate bricht!

Diese Widersprüche, in die sich die alte Garde der Parlamentssozialisten unaufhörlich verwickelt, in Verbindung mit dem Drängen der jüngeren Generation, ohne Rücksicht auf das revolutionäre Mäntelchen Opportunitätspolitik sans phrase zu treiben, zeigt mir, wie die Krise in der Sozialdemokratie enden wird: mit dem Siege der Nationalsozialen und schrankenlosen Kompromißler über die hin- und herschwankenden Altmarxisten, die schon immer Opportunisten waren, aber es weder sich noch den Massen eingestehen wollten. Und das wird gut sein. Es gibt eine offene und eine schleichende Lüge. Ich ziehe die offene vor.“ (Gustav Landauer, Die Krise in der revolutionären Bewegung, in: Sozialist, 18. Juni 1898)

Sag mir, wo Du stehst?

Da geht doch was!? Die soziale Frage kehrt nach Deutschland zurück und erregt die Gemüter. Und mit ihr kommen auch die Ideologien wieder. Wer sind diese MontagsdemonstriererInnen, die doch nicht nur montags auf den Straßen waren? Protestler, Revanchisten, enttäuschte GewerkschaftlerInnen, Ostlerinnen oder Nationalisten, Politikverdrossene, Arbeiter, Arbeitslose oder Revolutionäre? Sind sie, weil sie die soziale Frage stellen, schon Sozialisten? Weil sie oft national argumentieren, gleich National-Sozialisten? Oder sind es alles SozialdemokratInnen, weil sie gegen eine staatliche Lösung und für eine staatliche Lösung der sozialen Frage eintreten? Ein Defizit wird sehr schnell deutlich: Wer wo steht und warum, weiß kaum jemand. Es gibt ein riesiges Problem in der politischen Bildung. Sowohl was die Auseinandersetzung mit Geschichte als auch ihre Aktualität betrifft. Daß faschistische Gruppierungen hier und da – unbemerkt und unerkannt, mit Zustimmung und Applaus – mitlaufen, ist schlichtweg unerträglich!

Der Fall: SPD!

Im Zentrum der vielerorts auf den Straßen geäußerten Kritik steht die Reform der sozialen Sicherungssysteme durch die regierende sozialdemokratische Partei. Und hier beginnen die Widersprüche. Nach der Logik der parlamentarischen Demokratie, die sich im Wahlverhalten der gutbürgerlichen Positionen wiederfindet, darf mensch ja kein böses Wort über den allgemeinen Verfall der Sozialdemokratie verlieren, insoweit er/sie zumindest an einer positiven Lösung der sozialen Frage interessiert ist. Das mache nur den politischen Gegner stark. Die Christlich-Konservativen. Und mit deren Wiederübernahme der Macht im deutschen Staat droht die aktuell sozialdemokratische Reform zum Quadrat. Wirklich wollen kann das nur der wahre Besitzstandswahrer, die konservative Haltung eben. Klassisch parlamentarisches Dilemma. Wer dabei insgeheim an eine alternative Partei denkt, in Form einer „neuen“ SPD, an die PSG (Partei für Soziale Gleichheit) oder an die PDS gar, gibt sich Illusionen hin. Neue Parteien haben’s schwer und außerdem steht hinter dem „neu“ meist nur allzu Bekanntes. Der Aufstieg der Grünen Partei zeigt lediglich, der Weg zur Macht dauert mehr als ein Jahrzehnt und die programmatischen Kosten sind enorm. Darüber hinaus genügt ein Blick in die Parlamente anderer Staaten, um festzustellen, dass die Entwicklung des modernen Staates überall eng verknüpft ist mit der Geschichte und Institutionalisierung zweier großer Parteiorganisationen, so eng dass sich mensch zuweilen an die DDR-Verhältnisse erinnert fühlt: Kein höherer Beamter ohne das entsprechende Parteibuch.

Neben dem gespürten Unbehagen ist es aber die eigene Widersprüchlichkeit, die die Leute auf die Straße treibt: Sie ziehen gegen ihre einzige parlamentarische Alternative zu Felde, die zugleich auch ihre einzige politische ist und bleibt.

Der gegenwärtige Niedergang der SPD als ein Zeichen für eine grundsätzliche politische Veränderung in Deutschland? Werden wir Zeugen des historischen Niedergangs der Sozialdemokratie? Darin läge ja auch eine große Chance, die politisch erstarrten Verhältnisse in der Nachkriegs-BRD umzustülpen bzw. für die Ex-DDR’lerInnen, in ihr politisch anzukommen (1). Angesichts der bitteren Erkenntnis jedoch, dass viele Menschen den radikalen Schluß nicht wagen, sondern die Wahl verweigern ohne Perspektive, oder einfach politisch zu anderen sozialdemokratischen Parteien oder nationalistischen flüchten – die PDS ist derzeit zweite Kraft im Osten – wohl eher nicht. Die SPD wird sich wieder stabilisieren. Mit böser Zunge könnte man gar behaupten, mit der Sozialreform bereitet die SPD zielgerichtet ihr Comeback in der Oppositionsrolle vor. Was bleibt? Die immergleiche Wiederkehr ein und desselben Widerspruchs.

Der Verfall der Sozialdemokratie.

Die Regierungsübernahme durch die SPD seit 1998 ist ein Lehrstück in Sachen sozialistischer Geschichte in Deutschland, insofern SozialistInnen mit den Liberalen und Konservativen um die Plätze im Parlament buhlten. Kündigungsschutz, Kinderbetreuung und Rente, 8-Stunden-Tag, Soziales Netz und Organisierung in den Betrieben und Unternehmen – Ziele, für die Menschen sich in Arbeitskämpfen aufgerieben haben, gar getötet wurden – der parlamentarische Arm der gewerkschaftlichen Organisationen wendet sich gegen seine Geschichte. Konnte mensch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch den Glauben hegen, die sozialistische Parlamenterei (Sozialdemokratie) würde mit den kleinen Schritten der rechtsstaatlichen Untermauerung des eigenen Programms den Weg zu einer sozialen Gesellschaft ebnen, zeigt sie heute selbst: Recht wird im Staate gemacht, nicht errungen, und kann deshalb auch jederzeit wieder revidiert werden. Mit dem Erschlaffen der Arbeitskämpfe, mit dem Verlust der revolutionären Perspektive innerhalb der gewerkschaftlichen Bewegung, woran die Sozialdemokratie einen gehörigen Anteil hat, kehren die Gespenster des 19. Jahrhunderts zurück. Dabei ist nicht die Farce gemeint, dass selbsternannte Sozialisten heute tönen, die Ursache der sozialen Probleme liege in der Faulheit Bedürftiger begründet, sondern eben jene Tragödie der sozialistischen Idee, ihre Verwirklichung im Ausbau des modernen Staatsapparats zu suchen. Die ProtagonistInnen eines ähnlichen Dramas lassen sich im übrigen in den Führungsebenen der Kommunistischen Parteien, in den Staatsgeschichten des gesamten „Ostblocks“ finden.

Das Dogma vom modernisierbaren Staat

Durch das offensichtliche Scheitern des sozialdemokratischen Projekts im Ganzen – fernab der, nur dem Namen nach, sozialistischen Parteien – wird eines deutlich: Einer der Geburtsfehler der sozialdemokratischen Idee liegt in dem Glauben begründet, den im frühen 19. Jahrhundert von der Aristokratie beherrschten Beamtenstab durch parlamentarische Kontrolle zu übernehmen, auszubauen und so die durch die Industrialisierung verschärften sozialen Widersprüche aufzuheben. Dabei haben Delegierte und Funktionäre nicht nur die Eigendynamik der einzelnen Institutionen unterschätzt, sondern auch die in sich konservativ, teils auch revanchistische Bürokratie. Jeder künftige Sozialismus, sollte er Gehalt haben, wird an der Aufarbeitung dieser Geschichte nicht vorbeikommen. Das Dogma der Sozialdemokratie, die Religion des Staates, ist zu hinterfragen! Wie sollen gesellschaftliche bzw. gesellige Formationen verfasst sein, so dass solidarisches Handeln, gegenseitige Hilfe und menschliches Miteinander ohne Konkurrenz, Selektion und Ausgrenzung fernab von Burgfrieden und Waffenstillständen möglich werden? Staatlich?

Die Strategie der Machtübernahme

Reduziert man diese Frage auf die reine Machtübernahme eines überkommenen Staatsapparats – und eben das haben Delegierte und Funktionäre oft gemacht – manövriert man sich quasi automatisch in die Zwangslage à la Schröder, keine Alternative mehr zu haben. Von der Spitze der Gewaltenmonopole aus, ist man versucht, sie auch für die eigenen Ziele einzusetzen. Das Zauberwort ist dabei die Reform. Man reformiert den Apparat, führt neue Regeln und Gesetze ein, auch gegen viele Widerstände und am Ende hat man nur den Status quo erhalten. Der moderne Staat dagegen reproduziert sich selbst, man wird abgewählt und der politische Gegner versucht sich in dem gleichen Spiel. Die Arbeitslosigkeit, die Staatsverschuldung und die Unsicherheiten wachsen weiter, die parlamentarische Initiative vermag kaum Einfluß zu nehmen. Und der gutgläubig sozialdemokratische Parlamentarier ist dabei zum Handlanger einer auf Selbsterhaltung fixierten Institution degradiert, deren Reproduktion durch den Ausbau der Monopole immer behebiger verläuft. Persönlicher Ausstieg bedeutet hier nicht mehr oder besser so viel wie die programmierte politische Rente. Derweil sind Staatsautoritäten und das staatliche Gewaltenmonopol im Laufe eines parlamentarischen Lebens ein wenig zugewachsen – na und? Vielleicht bringt‘s ja was … später …

Wie modern ein Staat heute ist …

…läßt sich am Gewaltenmonopol zeigen: Die Monopolisierung der exekutiven Gewalt in staatlicher Hand, ein Relikt der Monarchie, hat die Räuber und Banditen aus den kontrollierten Territorien an die Peripherie verdrängt. Geraubt und gemordet wird aber immer noch allüberall, jetzt nur organisiert und systematisch. Die Wilderer sind weitestgehend verschwunden, stattdessen betreiben Unternehmen staatlich gesegneten Raubbau zu Land, im Wasser und in der Luft; auch die Heere von Staatsbeamten unter Waffen: Armeen, Geheimdienste, Grenzschützer, Zöllner, PolizistInnen, staatliche Sicherheitsdienste wecken kaum ein Gefühl von Sicherheit, außer direkt in den Zentren der Macht.

Ebenso düster ist die Monopolisierung der legislativen Gewalt einzuschätzen. Ehemals dem Gutdünken der Landesfürsten ausgesetzt, wird heute jede bedarfsgerechte Vereinbarung zwischen parlamentarischen Kompromißlern und findigen Winkeladvokaten zerrieben. Recht hat mensch nicht im modernen Staat, Recht kann mensch bekommen … vielleicht, wenn alles gut läuft – na ja es kostet auch … ein wenig. Anstelle der Gleichzeitigkeit mehrerer Rechtsquellen, welche sogar das alte Rom noch kannte, ist das Monopol der judikativen Gewalt im Staatsalphabet getreten, in der Verfassung, deren Ausbuchstabierung größtenteils die Verwaltungsgerichte übernommen haben. Selbst die sogenannte vierte Gewalt, die öffentliche, in die die aufgeklärten Geister der frühen Moderne so viele Hoffnungen setzten, ist im modernen Staat zu riesigen Medienkartellen degeneriert, denen politische Bildung dasselbe wie Staatsbürgerkunde bedeutet. Und nicht selten werden sie dabei von Parteien kontrolliert und gelenkt (2).

Machen wir uns nichts vor, staatskritische und antistaatliche Äußerungen werden nach wie vor verfolgt und bestraft. Es gibt keine Gewaltenteilung, weil der moderne Staat selbst die Klammer und das Monopol über diese drei bzw. vier Gewalten darstellt. Er selbst ist an und für sich totalitär, weil er nur die Unterordnung duldet. Die Rede vom totalitären Staat ist Tautologie, ein Satz ohne Erkenntnisgewinn! Vielmehr sind moderne Staaten bei der Frage der Gewalten nur nach Art und Grad der Repression zu unterscheiden.

Kein bißchen Nationalgefühl!

Dies alles wäre zu ertragen und eben nach der Strategie der Sozialdemokratie vorerst zu übernehmen, trüge die staatliche Lösung die revolutionäre Perspektive in sich, jene durch die Industrialisierung ausgelösten sozialen Widersprüche aufzuheben, letztlich den dringlichen Austritt aus der Arbeitsgesellschaft, der Gesellschaft durch Arbeit, wirklich zu bewerkstelligen. Stattdessen bleibt er darauf festgelegt, ist an und in sich reaktionär. Seine Schlagseite ist der Nationalismus. Die parlamentarische Debatte hat noch jede Idealistin eingeschmolzen. Das Gewaltenmonopol ist vom Staat nicht zu zersetzen, Selbstzerstörung ist eben nicht sein Programm. Soweit zum ehemals ‚real existierenden Sozialismus‘, der nicht durch seine Eigenbewegung, sondern durch den Druck von Außen zerbrach. Im Gegenteil politische Handlungsfähigkeit bewahrt der moderne Staat nur durch Ausbau seiner Monopole. Die Richtung ist dabei die falsche. Statt zu schrumpfen und die Freiheit der Menschen Stück für Stück auch freizugeben, wie der Liberalismus suggeriert, wächst er immer weiter aus. Der moderne Staat bleibt Schicksal, oberster Richter, Gott des eingebürgerten Menschen zugleich. Schlimmer noch: Im europäischen Projekt sieht dieser sich sogar dem doppelten Zugriff ausgesetzt! Weit und breit ist von der Selbstbestimmung der Geschichte durch die, die sie betrifft, nichts zu sehen. Die großen politischen Versprechungen, die die Adepten des modernen Staatsprojekts seit seiner Gründerzeit immer wieder gemacht haben, sie bleiben alle uneingelöst. Seine fortgeschrittene Reform dagegen dreht das Zahnrad der Geschichte langsam aber deutlich spürbar zurück! Die Vision des modernen Staats schließlich ist die totale Kontrolle in allen Lebensbereichen, das Ende jedes Freiheitsstrebens. In Deutschland frei nach dem Motto: Ich bin nur Deutscher, sonst nichts!

Macht Schluß!

Es ist dies die unheilbare Kinderkrankheit der Sozialdemokratie, sich seit je her in dem Aberglauben an eine staatliche (Auf)Lösung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu ergehen. Statt die Selbstbestimmung des Menschen zu fördern, seinen Austritt aus der Lohnsklaverei, statt ihre selbstorganisierenden Impulse zu schützen und zu unterstützen, anstatt ihn und sie zur eigenen Freiheit zuzurüsten, hat die Sozialdemokratie jedeN EinzelneN immer fester ans moderne Staatsprojekt gekettet, jeden Ausweg noch verstellt. Seit dem Kriegzuspruch der SPD 1914, seit dem feigen Mord an Liebknecht und Luxemburg, ist der moderne Staat die einzige Wirklichkeit der deutschen SozialdemokratInnen geworden. Spätestens seitdem haben sich Generationen von SozialistInnen in Ost und West einspannen lassen, Hand in Hand mit den Liberalen, Konservativen, mit den Repräsentanten des Kapitals, die Zersetzung der gewerkschaftlichen Bewegung – ob nun sozialistisch, kommunistisch oder anarchistisch – voranzutreiben und Stück für Stück gar zu vollenden. Die Widersprüchlichkeiten der Geschichte geben genug Anlaß, über den Fortgang der sozialen Frage weiter nachzudenken. Daß jenseits des modernen Staatsprojekts nur Barbarei noch lauert, jene alte Lüge, um den Adel zu vereinen und dabei auf die Monarchen einzuschwören, die Unwahrheit dieser These endlich zu erweisen, dafür liegt die Geschichte vor und nicht hinter jedem und jeder Einzelnen. Packt sie an, gestaltet sie, und lasst Euch nicht durchs nationale Gift betäuben!!!

clov

(1) Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit Ankommen ist hier nicht gemeint, dass die PDS als Delegation Ostdeutschlands ins Parlament einziehen sollte sondern in einem ganz anderen Sinn, daß endlich ein Austausch darüber möglich wird, was in der Geschichte der sozialistischen Bewegung auf beiden Seiten der Mauer gedacht und letztlich auch gemacht wurde. Unerlässlich dafür ist sicherlich auch die Abkehr von der SED-Nachfolgepartei.
(2) Die SPD selbst ist im letzten Jahrzehnt zu einem der größten Medienunternehmen Deutschlands geworden.

Theorie & Praxis

Aufruf zur 3. Europäische Konferenz des Peoples´ Global Action (PGA)-Netzwerks

Belgrad 23.-29. Juli 2004

Was ist Peoples´ Global Action?

PGA ist ein globales Netzwerk lokaler Kämpfe, dass auf eine dauerhafte politische, soziale, grenzenlose und basisdemokratische Alternative zum Kapitalismus hinarbeitet. Es richtet sich gegen alle unterdrückerischen Systeme, weit weg von der Logik von Parteien und Staaten (staatlich orientierten Gewerkschaften, NGOs usw.). PGA ist Werkzeug zur Koordination, keine Organisation. PGA hat keine Mitglieder und ist keine juristische Person, keine Organisation, keine Person repräsentiert PGA alleine.

Ziel des PGA-Austausches und des PGA-Netzwerks ist es, verschiedene lokale Gruppen zu verbinden, die mit folgenden Grundsätzen übereinstimmen: Eine klare Ablehnung von Kapitalismus, Imperialismus und Feudalismus; und aller Handelsabkommen, Institutionen und Regierungen; die Ablehnung aller Formen und Systeme von Herrschaft und Diskriminierung; die Bejahung der Direkten Aktion und zivilem Ungehorsam und des Aufbaus von lokalen Alternativen zum Kapitalismus; Dezentralisierung und Autonomie.

Warum in Belgrad?

* um in Zeiten militärischer Interventionen und wachsendem Militarismus eine alternative europäische Konferenz radikaler politischer Netzwerke zu organisieren.

* aufgrund der derzeit in Ost-Europa stattfindenden politischen Kämpfe. PGA-orientierte osteuropäische Gruppen sind bisher kaum vernetzt. Es ist an der Zeit, „Gipfel-Hopping“ hinter uns zu lassen und globale Vernetzung und lokale Kämpfe zu verbinden.

Ex-Jugoslawien ist heute ein Land mit 250.000 Kriegstoten (von 1991 bis heute), eineinhalb Millionen Menschen sind im Inneren des Landes umgesiedelt und können nicht zurückkehren, ihre Rückkehr bleibt politisch unmöglich. Die Zahl von EmigrantInnen ist annähernd genauso hoch und steigt immer weiter. Jeden Tag bereiten sich Menschen vor, die Grenze der „neuen Berliner Mauer“ in die Schengen-Staaten zu überwinden, die das (neue) „römische Imperium“ von der neuen „barbarischen Bedrohung“ trennt. Die Zahl der Verschwundenen verändert sich täglich durch die Aushebung von Massengräbern und die Überreste von unidentifizierten Opfern in Leichensäcken, die von einer Verwaltung an die nächste geschoben werden, um ihre „Fälle abgeschlossen“ zu bekommen (Tuzla).

Die wichtigsten Nachrichten sind nicht auf den Titelseiten der Zeitungen zu finden, sondern stehen versteckt zwischen „Sport“ und „Feuilleton“ bei den Kleinanzeigen: legale und illegale Visa, Menschenhandel, Arbeitslose, die jeden verfügbaren Job akzeptieren, Leiharbeit, genauso wie Angebote menschlicher Organe (oftmals bieten Unsichtbare ihre Nieren zum Verkauf an, um z.B. die Ausbildung ihrer Kinder zu sichern) – ein Wirtschaftszweig, der in Jugoslawien noch verboten ist.

Der Kapitalismus hat „Frieden“ gebracht. Die westlichen Medien und die internationale Gemeinschaft haben selbstverständlich großen Aufwand betrieben, das liberal-kapitalistische Modell zu präsentieren – und während dessen fanden der große Raub des öffentlichen Eigentums, die Privatisierung und die Anhäufung von Vermögen statt. Der Umsturz Slodoban Milosevics, als „dem letzten Kommunisten des Jahrhunderts“ ist verbunden mit der Einführung der liberalen Demokratie, eben mit dem Abwurf von Bomben.

Bürgerkrieg, militärische Aggression (des eigenen Militärs im eigenen Land), Embargo, NATO-Aggression und -Besatzung, Parlamentarismus, tobender Kapitalismus, Ethno-Faschismus, völlige Armut der Bevölkerung (der schlimmste Alttraum seit dem Zweiten Weltkrieg) sind nur einige Gründe, warum sich die Menschen in Jugoslawien vom Rest der „normalen Welt“ missverstanden fühlen, der nicht die Erfahrung von Bürgerkrieg und vom restlichen aufgelisteten politischen Unsinn der letzten 10 Jahre teilt.

Wir finden es extrem wichtig, direkte Demokratie und Selbstorganisation als legitimen Widerstand und mögliche „alternative Wege und Richtungen“ darzustellen, um der Bevölkerung eine Idee davon zu geben, dass hinter der Propaganda noch andere Seiten des Kapitalismus lauern. Unser Land steht zum Verkauf und wir sehen der massenhaften Deregulierung von Arbeitsrechten entgegensehen, was paradoxerweise die Menschen in westeuropäischen Staaten genauso beunruhigen müsste.

Es ist höchste Zeit ist, dass die radikale Bewegung in Europa sich weniger auf die Orte gelegentlicher Siege konzentriert (Bolivien, Mexico, Argentinien, Brasilien…) und statt dessen zurückkehrt zum Ort der totalen Niederlage: Ex-Jugoslawien.

Wann und wo?

23.-29. Juli 2004 in Resnik, Rakovica, Industriegebiet rund um Belgrad, Ex-Jugoslawien.

Brauchen wir eure Beteiligung?

Oh ja! Wir können die Konferenz nicht alleine machen.

Wer sind „wir“?

Einberufender Gastgeber ist diesmal „Drugaciji Svet je Moguc!“ DSM! ist ein Kollektiv von Kollektiven, die sich unter dem Slogan „Drugaciji Svet je Moguc“ sammeln. Zusammen bemühen wir uns neue politische Räume zu eröffnen, die nicht an politische Parteien oder NGO`s angegliedert sind. Diese neuen Räume ziehen dem akzeptierten Rahmen von Mitbestimmung, wie Lobby-Arbeit oder Wahlen, direkte politische Aktion vor. Wir bestehen auf einen sozialen Dialog, der sich von dem, was uns die Regierung und das NGO-Umfeld anbietet, unterscheidet. Der horizontale, soziale Dialog, dessen Teil wir sein möchten, schließt sozial marginalisierte Gruppen mit ein, die systematisch daran gehindert werden, ihre grundlegenden Rechte wahrzunehmen.

Obwohl DSM! eine relativ junge Bewegung ist, hat sie es geschafft, eine bedeutende Anzahl von Menschen mit verschiedenen sozialen Hintergründen anzuziehen. Unsere Verschiedenheit sorgt für einen beständigen Strom von Ideen, die wir durch kurze und lang angesetzte Projekte und Aktivitäten zu verwirklichen begonnen haben. Unser Land war eine sehr lange Zeit in der Isolation und was die Menschen am meisten brauchen ist ein Weckruf.

Und das ist es, was wir tun und auch weiter tun wollen – indem wir Informationen liefern, direkte Aktionen machen und durch eine offene Herangehensweise, die unser Versuch sind, die Menschen zu überzeugen, mit uns eine neue Welt zu schaffen, anstatt sich um die Krümel zu streiten, die ihnen von der herrschenden Oligarchie hingeworfen werden.

DSM! schätzt die Rolle des Balkans als filternder Korridor und Hinterhof vor den Toren Schengen-Europas ein. Nach der letzten UNHCR-Statistik ist die Bevölkerung von Serbien und Montenegro weltweit auf Platz drei der Asylsuchenden. Aus diesem Grund ist der Ort der diesjährigen Konferenz ein adäquater Ort, die entscheidende Frage von Migration in Angriff zu nehmen, die ja für Ost und West wichtig ist.

Alles in allem hoffen wir, dass alle, die betroffen und interessiert sind, unseren Anreizen und positiven Plänen zur Aktion vertrauen können und sich einbringen, um eine erfolgreiche Konferenz in unserem Ex-Zukunfts-Land zu organisieren.

Mailt an: drugacijimejl(at)yahoo.com
weitere ausführlichere Informationen rund um PGA und die Konferenz in Belgrad unter: www.pgaconference.org

Soziale Bewegung

Der Kampf geht weiter…

… um Wohnraum und Arbeit in Rio de Janeiro

Im Dezember 2003 wurde im Hafenviertel von Rio de Janeiro, Brasilien, ein mehr als zehn Jahre leer stehendes Gebäude von einer Gruppe armer Familien besetzt, organisiert vom Comitê de Resistencia Popular. Das Gebäude wurde in der Zeit, als es noch „in Gebrauch“ war, als Einnahmequelle benutzt, indem es für verschiedene Zwecke vermietet wurde. Laut einiger Nachbarn/innen diente das Gebäude zuletzt als Garage für Privatfahrzeuge.

Weniger als eine Woche nach der Besetzung beantragte die Besitzerin des Gebäudes, die Irmandade de Santissimo Sacramento da Candelária (eine Bruderschaft der katholischen Kirche), die Rückgabe ihres Eigentums. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es sich um eine Bruderschaft handelt, die sagt, sie würde christliche Vorbilder predigen. Die Familien aber leisten mit Unterstützung von Organisationen aus der sozialen Basisbewegung (movimento popular) tapfer Widerstand im Kampf für ihr Recht auf Wohnraum und ein würdiges Lebens.

Die Situation der Familien, von denen viele aus allein stehenden Müttern, alten Menschen und Kindern bestehen, ist dieselbe wie die eines großen Teils der Bevölkerung des Bundesstaates und des gesamten Landes: Geschlagen durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Anstieg der Lebensunterhaltungskosten, wird ihnen das Recht auf Wohnraum und auf Arbeit verweigert. Und dafür wird sogar Polizeigewalt angewendet, wie sie eben in diesem Fall auch von der Bruderschaft beantragt wurde.

Wir wissen, dass dies das Ergebnis tief gehender sozialer Ungleichheit ist, die im Staat Rio de Janeiro als auch in ganz Brasilien vorherrscht. Die Familien, die heute das Gebäude besetzen, sind nicht schuld daran, arm geboren worden zu sein, keine Wohnung zu haben und, wie es oftmals vorkommt, Hunger zu leiden. Die Situation dieser Familien ist der hemmungslosen Ausbeutung ihrer Arbeit und ihrer Vorfahren seit 500 Jahren geschuldet. Enterbte Söhne und Töchter eines reichen Landes besitzen heute nur ihre Arbeitskraft, die von Mal zu Mal mehr entwertet wird.

Das Comitê de Resistencia Popular ist eine Organisation des armen Volkes. Es vereint die armen Bewohner/innen der Städte (Arbeiter/innen, Obdachlose, Arbeitslose, Straßenhändler/innen etc.). Ziel des Komitees ist es, für die Garantie und Ausweitung der Rechte des Volkes sowie der Eroberung der vollen Bürgerrechte zu kämpfen – beides wird dem Großteil der Bevölkerung verweigert. Das Comitê de Resistencia Popular gibt es, um an den Kämpfen des Volkes teilzunehmen und diese zu intensivieren. Es geht um den Kampf für Arbeit, Wohnung, Soziale Gerechtigkeit und Freiheit.

Bis heute ist bereits viel an dem Gebäude verändert worden. Als die Besetzer/innen es betraten, war es in einem sehr schlechten Zustand: dreckig, kaputt, ein wahrer Hort zur Vermehrung von Insekten. Heute bietet es Wohnraum für arme Familien und außerdem will das Comitê de Resistencia Popular den Raum für diverse andere Aktivitäten nutzen, die sich an die Einwohner/innen der näheren Umgebung wenden. So wollen die Familien unter anderem Raum für ein Projekt zur Alphabetisierung von Erwachsenen, für Vorbereitungskurse für die Uniaufnahmeprüfung sowie für Veranstaltungen und Versammlungen der Bewohner/innen der Umgebung und anderer Basisbewegungen zur Verfügung stellen.

Die Bruderschaft Irmandade de Santissimo Sacramento da Candelária, die eine Unmenge an Immobilien und Geschäften verwaltet, welche indirekt mit dem Erzbistum der katholischen Kirche von Rio de Janeiro verbunden sind, hat sich direkt an die Justiz gewendet, um mit diversen Rechtsanwälten/innen für ihr Recht auf Eigentum zu klagen. Die Familien wurden von Gewerkschaften, Basisbewegungen, Fachschaften, Schülervertretungen und Schüler- bzw. Studentenbewegungen unterstützt. Gegen die unmittelbare Räumung und gegen eine gewaltsame Aktion seitens der Polizei wurden bereits solidarische Öffentlichkeitsaktionen gegenüber der Kirche der Bruderschaft (Igreja Candelária) organisiert. Als verzweifelte Aktion am Vorabend einer Entscheidung seitens der Justiz im März, haben sich zwei Mitglieder des Comitê de Resistencia Popular und Bewohner des Gebäudes an die Kirche gekettet und dort einen viertägigen Hungerstreik durchgeführt. Dieser wurde nach einem teilweisen Sieg gegenüber der reaktionären Bruderschaft beendet. Die Entscheidung nämlich sah so aus: Die Familien sollten bis zum 14. April, Tag einer gerichtlichen Anhörung, nicht geräumt werden.

Während des Hungerstreiks der Genossin und des Genossen haben Student/innen und Gewerkschafter/innen und Mitglieder der Presse der Basisbewegungen das Büros des Erzbischofs von Rio de Janeiro besetzt: Damit sollte das Erzbistum aufgefordert werden, gegenüber der Bruderschaft zu intervenieren und sie dazu zu bringen, die juristische Vorgehensweise zu beenden und die Familien in dem Gebäude wohnen zu lassen. Bei dieser Gelegenheit wurde klar, dass das Erzbistum von Rio de Janeiro mit den konservativsten und reaktionärsten Sektoren der Gesellschaft verbunden ist – so steht es auf der Seite des Eigentums und nicht auf der des armen Volkes. Der Monsignore Abílio, der den Polizeieinsatz zur Räumung der Demonstranten/innen gefordert hatte, war im übrigen bereits in seiner Jugend Mitglied des „Kommando Jagd auf Kommunisten“ (Comando de Caça aos Comunistas) – eine Gruppe, die in der Zeit der Diktatur aktiv war. Heute ist er Teil der reaktionären Organisation, die sich „Tradition, Familie und Eigentum“ (Tradiçao, Família e Propiedade) nennt.

Genossinnen und Genossen, die Situation ist ernst. Es ist absolut nicht sicher, dass die Familien in dem Gebäude wohnen bleiben können – im Gegenteil. In diesem Sinne ruft das Comitê de Resistencia Popular alle Aktivisten/innen in allen Teilen der Welt auf, den Kampf auf das Recht auf Wohnraum und Arbeit dieser armen Familien zu unterstützen. Es ist notwendig, dass die Katholische Kirche unter Druck gesetzt wird, damit sie die Unterstützung, die sie der Bruderschaft bislang entgegen gebracht hat, zurückzieht. Es ist notwendig, dass Solidaritätsaktionen mit der Besetzung organisiert werden, denn letztlich kann nur der Kampf zum Sieg führen, so wie es bis zu diesem Zeitpunkt schon geschehen ist. Das Ziel bleibt weiterhin, die Kirche dazu zu bringen, eine günstige Position bezüglich der Rechte der Besetzer/innen einzunehmen.

Ebenso braucht der Kampf des Comitê de Resistencia Popular die Unterstützung aller Organisationen und Gruppen der Basisbewegung (movimento popular) sowie der Gesellschaft, um die Bruderschaft und das Erzbistum von Rio de Janeiro unter Druck zu setzen, da letztere bislang für eine gewaltsame Räumung der Familien eingetreten ist. Die Heuchelei des Kirchenklerus, der im Namen Gottes Geld verdient, steht die Solidarität von Gemeindemitgliedern gegenüber. Mehr als 600 Unterschriften zur Unterstützung des Comitês wurden in kleinen Kapellen und Kirchen gesammelt. Wir hoffen, dass die Situation noch stärker öffentlich bekannt wird. Wer kann, soll helfen, die Kirche (in Brasilien und anderswo) unter Druck zu setzen (per e-mail, Demonstrationen, Unterstützungsaktionen). Die Besetzer/innen haben versprochen, den Kampf so oder so fortzuführen und, wenn es nötig sein sollte, Widerstand zu leisten, um das Recht auf Wohnraum durchzusetzen. Sie haben versprochen, für einen Sieg im Kampf des Volkes (Luta Popular) zu kämpfen.

Um zu fordern, dass die Familien nicht geräumt werden und in dem Haus wohnen bleiben können, schreibt Protestbriefe an das Erzbistum:

Mitra Arquie-piscopal do Rio de Janeiro

Rua Benjamin Constant, nº 23

Gloria, Rio de Janeiro,

CEP: 20241-150, Brasil.

Telefon/Fax: 0055-21-2292-3132

Um eure Solidarität und Unterstützung für die Besetzung zu zeigen, tretet in Kontakt mit:

Comitê de Resistência Popular

Rua Pedro Alvares, nº 29,

Santo Cristo, Rio de Janeiro, Brasil

CEP: 20220-281 Tel: 0055-21-8834-8174

(September 2004)

Soziale Bewegung

Bordertour 04

Ein Kontakt- und Untersuchungsprojekt in Richtung Osteuropa

Bordertour 04 ist eine zweimonatige Reise vom Balkan ins Baltikum. In Zusammenarbeit mit lokalen Initiativen, Medien- und Kulturzentren, sollen die alten und neuen Grenzen des amtlichen Europa erkundet, umrundet und durchlöchert werden. Befindet sich jenseits der politischen Grenzen ein virtuelles Europa? Ein offenes Europa, dem es nicht länger um Ein- oder Ausschluss geht, sondern vielmehr um Kommunikations- und Bewegungsfreiheit?

Warschau: Angeblich lässt sich am alten Stadion, dem riesigen, täglichen Osteuropamarkt der polnischen Hauptstadt, nahezu alles kaufen, u.a. auch gefälschte Reisedokumente. Bei einer kurzen Stippvisite im Sommer letzten Jahres begegneten wir dort vor allem dem unbeschwerten Handel mit allen Varianten der Produktpiraterie, von den aktuellsten DVDs bis zu den modernsten Nike-Turnschuhen. Auffällig waren für uns insbesondere die zahlreichen Stände afrikanischer Verkäufer, die sich damit ihr Überleben organisieren bzw. das Geld verdienen, um den „nächsten Sprung“ zu finanzieren: weiter nach Westeuropa. Wir trafen welche, die hier schon einige Jahre festsaßen, ein anderer war sogar schon kurz in Deutschland, aber dann im Rahmen der sogenannten Sicheren Drittstaatenregelung von den deutschen Behörden nach Polen zurückgeschoben worden. Er wird es wieder versuchen, wie die Tausenden von TransitmigrantInnen, die nicht nur in Warschau auf ihre Chance warten …

Ushorod: Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Grenze von der Ukraine nach Ungarn oder in die Slowakei auch deswegen von den ukrainischen Grenzsoldaten so hermetisch abgeriegelt wird, um ihr Einkommen aufzubessern. Denn vom eigentlichen Gehalt läßt sich schlecht leben, die Bestechungsgelder der Schlepper sind ein notwendiger Nebenverdienst. Daran soll, im wahrsten Sinne des Wortes, niemand vorbeikommen. Doch die Verschärfung des Grenzregimes läuft in der Ukraine auf verschiedenen Ebenen. Eine EU-Mitgliedschaft steht zwar in weiter Ferne, doch der Druck der Schengenstandards wirkt bereits. Neue Auffang- und Abschiebelager für Flüchtlinge und MigrantInnen sind in den letzten Jahren nicht nur an den Außengrenzen der neuen Beitrittsländer errichtet worden, von Slowenien über Ungarn bis ins Baltikum. Die Situation in zwei militärisch abgeschirmten Lagern in der Nähe von Mukachevo, etwa 80 Kilometer von Ushorod entfernt, in denen bis zu 1000 Menschen unter übelsten Bedingungen gefangen gehalten werden, spricht Bände …

Arad: Seit vielen Jahren kommen Frauen aus dem rumänischen Arad als Saisonarbeiterinnen nach Deutschland. Sie arbeiten z.B. in der Spargel- oder Erdbeerernte für einen für hiesige Verhältnisse geringen Lohn. Doch zwei Monate dieser Plackerei bringen – auf die rumänische Situation bezogen – mehr als einen Jahresverdienst. Wenn er denn gezahlt wird! Im Sommer 2002 wurden 18 Frauen aus Arad von einem Bauern im hessischen Lampertsheim um ihren Lohn betrogen. Doch sie wehrten sich, mit Hilfe einer Unterstützungsinitiative auch juristisch, und konnten vor Gericht ihren Lohnanspruch erfolgreich geltend machen. Die Frauen sind zwischen 40 und 60 Jahre alt und tragen mit ihrer Resolutheit bestimmt nicht dazu bei, das verbreitete Bild der armen ausgebeuteten Opfer zu bestätigen. Gleichwohl war es eher einer Kette von Zufällen zu verdanken, die es den Frauen möglich machte, ihr hart verdientes Geld noch gerichtlich einzuklagen. Im Rahmen eines Videoprojektes haben wir einige der betroffenen Frauen interviewt und auch über ihre Motivationen und Abwägungen befragt, sich auf diese harte Arbeit im Westen einzulassen…

Warschau, Ushorod, Arad …, sicherlich drei der Stationen der für kommenden Sommer geplanten „bordertour“, die sich für voraussichtlich acht Wochen entlang der neuen EU-Außengrenzen bewegen wird. Wenn alles entsprechend bisheriger Vorüberlegungen klappt, wird die Tour Mitte Juli in Slowenien losgehen und bis Mitte September im Baltikum ankommen. Auf der Strecke liegen dann mit Ungarn, der Slowakei und Polen nicht nur weitere Beitrittsländer, die ja ab 1. Mai offiziell zum EU-und Schengenclub gehören. „Exkurse“ wird es auch nach Kroatien und Serbien (u.a. zur Ende Juli in Belgrad stattfindenden Konferenz von Peoples Global Action…) geben, oder eben auch nach Rumänien und in die Ukraine. Die konkrete Ausgestaltung der Tour hängt letztlich entscheidend davon ab, in welcher Form Leute und Initiativen vor Ort die Projektidee mitaufgreifen. In den letzten Jahren haben sich vor allem über das No-Border-Netzwerk (www.noborder.org) sowie die auch in Osteuropa organisierten Grenzcamps vielfältige Kontakte entwickelt. Zum zweiten sind es osteuropäische Medieninitiativen, die zunehmendes Interesse signalisieren, und das nicht zufällig.

„Freedom of movement – Freedom of communication“ – bereits im vergangenen Jahr haben wir als „temporäre Assoziation jeder mensch ist ein experte“ versucht, die Verbindung dieser beiden Slogans in den Mittelpunkt von Debatten und Mobilisierungen zu rücken. Und auch das aktuelle Tourprojekt zielt auf eine neue praktische Umsetzung dieser Doppelparole. Denn wir halten wenig davon, zum 100sten Male die Festung Europa, nun mit ihren erweiterten Festungsmauern, anzuklagen und die neue EU allein als erweiterte Billiglohnzone zu analysieren. Und damit dann wahlweise das Leiden der gestrandeten Flüchtlinge oder der überausgebeuteten ArbeitsmigrantInnen zu bejammern. Tatsache ist doch auch, dass seit vielen Jahren TransitmigrantInnen wie ArbeitsmigrantInnen beständig die Konstruktion von Schengeneuropa und dessen Ausbeutungsgefälle unterminieren und herausfordern. Die Autonomien der Migration konnten und können nicht gebrochen werden. Die sogenannte

Osterweiterung kann insofern auch als Reaktion darauf gelesen werden, dass die bisherigen Kontroll- und Steuerungsmechanismen nur unzureichend funktionierten. Die unmittelbare Einbeziehung in EU- und Schengenstandards als Versuch, den Durchgriff neu zu organisieren. Und ob bzw. inwieweit das hinhaut, ist doch eine mehr als offene Frage.

Jedenfalls stellen wir das Tourprojekt in diesen Kontext, ein (freilich bescheidener) Versuch, an der weiteren Unterminierung der konstruierten Grenzen Europas mitzuwirken. Die Tour wird dementsprechend weniger auf spektakuläre Protestformen setzen, als auf Kontakte und Untersuchungen auf der Alltagsebene. Im Gepäck haben wir nicht nur einen internetfähigen Kleinbus sowie Dokumentationstechnik. sondern auch diverses Ausstellungs- und Videomaterial für Workshops und kleinere Vorführungen.

Warschau, Ushorod, Arad…, einige thematische Schwerpunkte der Tour waren nicht zufällig in den genannten Beispielen angesprochen. Die Vorverlagerung des Grenzregimes aber vor allem die Art und Weise, wie (Transit-)MigratInnen damit umgehen, sich dennoch in ihren Netzwerken durchschlagen.  Die Ausbeutung in Niedriglohnsektoren, aber vor allem die Umgangsformen und Erfahrungssuche der osteuropäischen SaisonarbeiterInnen.

Erweiterte Ost-West wie auch Ost-Ost-Kontakte, Zugang zu Wissen über Asyl-, Heirats- oder Arbeitsmigration, Austausch über verschiedenste Erfahrungen der Saisonarbeit, Lohn- und Sozialstandards, die Zirkulation von Kampferfahrungen, individuellen wie auch kollektiven … all das interessiert uns, da haben wir viel zu lernen, gleichzeitig weiterzuvermitteln, zu kommunizieren, wenn es uns ernst ist mit Schritten in Richtung einer Globalisierung von unten. Der Bezug auf Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit halten wir in diesem Spannungsfeld jedenfalls für zentral, damit verwoben die Frage nach transnationalen Austausch- und Organisierungsformen. Und das Tourprojekt soll in dieser Richtung als weiterer Katalysator wirken.

Wir hoffen, dass sich weitere Interessierte für diesen Ansatz vor allem in Ost-, aber auch in Westeuropa finden. Jetzt in den kommenden Wochen der Vorbereitung, aber auch dann unmittelbar in und während der Tour. Kaum jemand wird acht Wochen dabei sein, doch das Projekt soll so strukturiert sein, dass auch eine Beteiligung für eine oder zwei Wochen durchaus Sinn macht. In voraussichtlich fünf mehrtägigen „meetingpoints“ entlang der Route wird es Bilanz- und Vorbereitungstreffen für die nächsten Tourabschnitte geben, die einen Neueinstieg bzw. ein temporäres Assoziieren erleichtern sollen.

Doch wie erwähnt: die konkrete Umsetzung der Tourplanungen ist in vielerlei Hinsicht noch offen. Bei anstehenden Treffen Anfang Mai in Warschau und Novisad sowie auf der neueingerichteten Mailinglist wird das Projekt in den kommenden Wochen hoffentlich zunehmend Gestalt annehmen.

Wer Interesse an Mitarbeit und Beteiligung hat, kann sich über info@border04.org an uns wenden.

h. (everyone is an expert)

Soziale Bewegung