Erneut forcieren Politik und Unternehmer die Forderung nach Einschränkung des Streikrechts
Ein Funke genügte, das PR-Feuerwerk zu zünden: Deutschland brauche eine Regulierung des Streikrechts, sonst sei die Wirtschaft den Splittergruppen einer neuen Arbeiteraristokratie hilflos ausgeliefert. So der Tenor der „Streik-Debatte“ im Frühjahr 2012. Anlass war ein Ausstand der Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) im Bereich der Vorfeldarbeiter auf dem größten deutschen Flughafen in Frankfurt/Main. Während die GdF, die erkennbar eine Eskalationstaktik verfolgte, den Streik bis Mitte Februar zunächst hinauszögerte und dann auf wenige Stunden beschränkte, forderte Hundt, der Chef des Bundes Deutscher Arbeitgeber (BDA) eine gesetzliche Regelung des Streikrechts. Der Lobbyist der Bosse schwadronierte von Missbrauch, Erpressungspotenzial und „großen volkswirtschaftlichen Schäden“. Diese Schallplatte spielte Hundt bereits 2010 zugunsten der sogenannten „Tarifeinheit“. Nach dem Motto „ein Betrieb, ein Tarif“ heißt das nämlich Friedenspflicht für alle (siehe Kasten). Die gemeinsame Kampagne von Unternehmerverband BDA und Zentralverband DGB für die gesetzliche Verankerung der Tarifeinheit ist im vergangenen Jahr am innergewerkschaftlichen Protest gescheitert. Dass nun jede Gelegenheit ergriffen wird, eine Einschränkung des Streikrechts und des gewerkschaftlichen Spielraums zu fordern, zeigt: Es handelt sich bei der Debatte nicht um ein Strohfeuer, sondern um einen Schwelbrand.
Das Graffiti der Bosse: der Teufel an der Wand
Zurück nach Frankfurt im Februar 2012. Da die Tarifrunde im Öffentlichen Dienst noch bevorstand, hielt es wohl auch die Vereinigung kommunaler Arbeitgeber (VkA) für geboten, mit zu zündeln: „zügellose Splittergewerkschaften“ müssten per Gesetz gebändigt werden. In der Tat hatten die Beschäftigten auf dem Frankfurter Vorfeld ihre Gewerkschaft frei gewählt und sich bewusst an die Spartengewerkschaft GdF gewandt, nachdem sie sich von ver.di nicht vertreten gefühlt hatten. Sie nutzen das hohe Gut der Koalitionsfreiheit. Aber als die GdF in ihrer kontrollierten Eskalation schließlich die Fluglotsen zum Solidarstreik aufrief, lief die Betreibergesellschaft Fraport zu Gericht. „So ein Streik ist für die Gewerkschaft nicht mehr anstrengend“, lamentiert Jens Bergmann, der Geschäftsführer der Deutschen Flugsicherung, Anfang Juni in der FAZ. Inzwischen reiche schon die „Androhung der Androhung“, um Forderungen durchzusetzen. Das deutsche Arbeitsrecht, ein Arbeiterparadies!
Tatsächlich erwirkte die Fraport zwei einstweilige Verfügungen, die sowohl den Kampf auf dem Vorfeld als auch den Unterstützungsstreik verboten. Am 21. März kam es schließlich zu einer Einigung, über die bisher immer noch keine Details vorliegen. Am selben Tag erklärte Wirtschaftsminister Rösler (FDP), „aufgrund der Ereignisse im letzten Monat“ seien die Arbeiten an einem Tarifeinheits-Gesetz wieder aufgenommen worden. Dass die Bundesregierung noch kein Gesetz präsentiert hat, ist sicherlich der komplizierten verfassungsrechtlichen Lage und dem Justizministerium geschuldet. Ob diese Hürden allerdings hoch genug sind, ist fraglich: Die SPD verkündet im Bundestag, „Tarifautonomie und Tarifeinheit gehören zusammen“ (H. Heil) und fordert, den Entwurf der Lobbyisten zur Gesetzesgrundlage zu machen. Auch für die CDU stellt die Tarifeinheit einen „hohen Wert“ (P. Weiß) dar: „im Interesse einer Befriedung der Tariflandschaft … und im Interesse einer verlässlichen Sozialpartnerschaft“.
Unerheblich ist bei der ganzen Debatte offenbar, dass die diffusen Horrorszenarien, die seit der Abschaffung der Tarifeinheit durch das Bundesarbeitsgericht 2010 lautstark verbreitet werden, reine Fantasie geblieben sind: keine andauernde „Streikwelle“, kein Ins-Kraut-Schießen weiterer Spartengewerkschaften wie etwa der Feuerwehrleute, kein wirtschaftlicher Absturz, nichts. Die Streikaktivitäten erreichten dem WSI-Institut zufolge auch 2011 nicht das Vorkrisenniveau. Aber die Unternehmerverbände ficht das nicht an. In einer Münchner Erklärung erheben sie die Tarifeinheit neben Staatsschulden, Energiewende und Fachkräften zu einer von vier „Weichen für die Zukunft“.
Freiheit und Recht – immer umkämpft
Für emanzipatorische Bestrebungen ist das Streikrecht, sind seine Existenz und seine Wahrnehmung elementar. Dem dürfte auch der Jurist und ehemalige Vorsitzende der IG Medien (heute ver.di) Detlef Henschel zustimmen. Henschel betonte im Mai bei einer Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung über „Politische Streiks im Europa der Krise“ den grundlegend demokratischen Charakter dieser Aktionsform. Schließlich setze man damit ein kollektives Gegenrecht gegen die täglichen Einschränkungen durch abhängige Arbeit. Der Streik sei eine Grundlage für zivilgesellschaftliche Kompetenz und Kapazität. Etwas volkstümlicher fasste das Tom Adler, linker Metaller bei Daimler, mit Blick auf die jüngsten Warnstreiks der IG Metall: Sollte es zu Streiks kommen, wäre das „ein Szenario, das politisch hochinteressant wäre“, denn das seien immer Momente, in denen „die Köpfe aufgehen“. Man könnte ergänzend hinzufügen, dass ein solcher Ausbruch aus Alltag und Normalität durch den ökonomischen Hebel, den er kollektiv in Anschlag bringt, zu den schweren Geschützen im Arsenal emanzipatorischer Handlungsoptionen gehört.
Betroffen von den Bondage-Gelüsten der Bosse und von der Knebelung durch bestehendes Recht sind keineswegs nur die Spartengewerkschaften. Das hob Henschel bei der Tagung der Luxemburg-Stiftung hervor: Derzeit kämpfen insbesondere ver.di und die GEW für Beamten- und kirchliches Streikrecht. Die Vorgehensweise zur Änderung und Liberalisierung der herrschenden Rechtsprechung sei der kalkulierte Gesetzesverstoß durch die tatsächliche Streikpraxis. Das birgt durchaus Risiken: Zuletzt verneinte das Oberverwaltungsgericht NRW im März 2012 ein Streikrecht von Beamten. Insgesamt aber scheint sich der DGB nur aus taktischem Kalkül von der gemeinsamen Initiative mit den Bossen zurückgezogen zu haben. So warf DGB-Chef Sommer Anfang Mai in einem Interview abermals alles in einen Topf und erklärte als sei dies ein und dasselbe: „Auch die Tarifeinheit und die Tarifautonomie müssen wieder gestärkt werden. … Ich erwarte von der Politik, dass sie sich endlich dazu durchringt, die Arbeitswelt klaren Regeln zu unterwerfen.“ Anfang Juni immerhin gibt man sich zerknirscht. Auf einer Veranstaltung der neoliberalen Regulierer bezweifelte man, dass noch vor der nächsten Bundestagswahl ein entsprechendes Gesetz verabschiedet werde: Derzeit bestehe „kein politischer Wille, dies umzusetzen“.
Die Geisterbahn geht weiter
Unterstützung im Kampf für die „halb tote Idee“ (Tagesspiegel) der Tarifeinheit erhielten ihre Anhänger derweil durch die Carl-F.-Weizsäcker-Stiftung. Mit Hilfe dreier Professoren legte die Stiftung im März einen weiteren Gesetzesentwurf vor, der das Streikrecht der Beschäftigten und Gewerkschaften ebenfalls einschränken und dabei bei den „Unternehmen der Daseinsvorsorge“ ansetzen will. Dass sich die „Daseinsvorsorge“ dabei vom Gesundheits- und Bildungswesen über Energieversorgung und Müllabfuhr bis hin zu Telekommunikation und Bargeldversorgung erstreckt, macht deutlich, dass es sich um einen Frontalangriff handelt, der keineswegs nur gegen Spartengewerkschaften gerichtet ist, sondern gegen starke Sektoren der Klasse, gegen potenzielle Speerspitzen der Gewerkschaftsbewegung. Die Professoren fordern eine Vorwarnfrist von vier Tagen, einen Mindestbetrieb im Streikfall sowie eine verpflichtende Teilnahme an einem staatlichen Schlichtungsverfahren. Berufsgewerkschaften müssten für mindestens 15% der Belegschaft eintreten, wenn sie streiken. Insbesondere die Warnfrist und den Mindestbetrieb haben die Herren wohl aus dem französischen Gesetzbuch abgeschrieben. Würde der Entwurf hierzulande Gesetz werden, würden die Rechte der Beschäftigten deutlich stärker beschnitten als jenseits den Rheins. Denn nach Auffassung deutscher Arbeitsgerichte ist das nicht verbriefte Streikrecht kein Grundrecht der ArbeiterInnen, sondern an Gewerkschaften gebunden. Bereits darin sieht etwa die FAU eine schwerwiegende Verletzung des Rechts auf Streik, das als „ein grundsätzliches Menschenrecht aufzufassen [ist], auch wenn es effektiv nur kollektiv ausgeübt werden kann“, wie es 2011 in einem Positionspapier hieß. In die gleiche Richtung zielt ein – nicht unumstrittener – Wiesbadener Appell mit seinem Plädoyer für ein „umfassendes Streikrecht“ und für den politischen Streik. Umstritten u. a. deshalb, weil der Aufruf mit dem Tenor, in der Bundesrepublik gelte „weltweit das rückständigste und restriktivste Streikrecht“, effekthascherisch ein allzu düsteres Bild von den tatsächlichen Rahmenbedingungen für ArbeiterInnenbewegungen zeichnet – und damit wie nebenbei die zurückhaltende Politik des DGB entschuldigt: Solange die Politik untätig bleibe, seien den Gewerkschaften die Hände gebunden. Soweit zum Hintergrund.
Unabhängig von der inhaltlichen Kritik des Aufrufs lässt die politische Großwetterlage jedoch nichts Gutes erwarten, sollte ein Streikrecht derzeit in Gesetzesform gegossen werden. Dies gilt auf Landesebene wie auf europäischer. So bedeutet der aktuelle Entwurf der sog. Monti-II-Verordnung über das „Recht auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit“ eine Einschränkung des Streikrechts. Ende Mai wurde der Entwurf der EU-Kommission, der eigentlich arbeitnehmerfeindliche Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes hatte korrigieren sollen, vorerst von zwölf Landesparlamenten formaljuristisch abgelehnt – der Bundestag war bezeichnender Weise nicht unter diesen kritischen Stimmen zu vernehmen. Es geht jedoch noch schlimmer: In der Türkei, die immerhin eine Beitrittspartnerschaft mit der EU verbindet, verabschiedete das Parlament Ende Mai ein Gesetz, so berichtet die taz, wonach Luftfahrt-Beschäftigten ein Streik ganz verboten werden soll, um „übergeordnete Interessen des Landes zu schützen“. Einig sind sich die Gegner und die Befürworter eines liberalen Streikrechts wohl in einer Grundannahme, die Detlef Henschel so formulierte: „Jeder Streik ist politischer Natur.“
(A.E.)
Weitere Infos: www.fau.org/streikrecht & www.direkteaktion.org & www.rosalux.de
Infokasten 1: Streikrecht und Tarifeinheit
In der Bundesrepublik ist Streikrecht Tarifrecht, denn eine Arbeitsniederlegung darf nur mit dem Ziel eines Tarifvertrags organisiert werden. Der „Grundsatz der Tarifeinheit“ besagte seit 1957, dass in einem Unternehmen nur ein Tarifvertrag gelten könne. Die vertragliche Friedenspflicht schränkte somit auch die Handlungsfreiheit anderer Gewerkschaften ein. Seit 2010 ist mit der juristischen Absicherung dieses Platzhirsch-Effektes vorbei (Bundesarbeitsgericht, Aktenzeichen: 10 AS 2/10).
Infokasten 2: Schadensersatz abgelehnt
Eine Schadensersatzklage im Nachgang eines Streiks der Gewerkschaft der Flugsicherung im April 2009 wies das Arbeitsgericht Frankfurt Ende März ab. Zur Begründung wies die Richterin auf die Bedeutung der Gewerkschaften in modernen Gesellschaften hin: Sollten Gewerkschaften durch zu hohe Haftungsrisiken zu sehr behindert werden, könne „eine Lähmung der Entwicklung des sozialen Lebens“ eintreten (Aktenzeichen: 10 Ca 3468/11).