Wächterhaus-Portrait Ludwigstr. 99
Es ist schon etwas außergewöhnlich, wie das Haus in der Ludwigstraße zu seinen neuen Bewohner_innen gekommen ist: Über einen Artikel auf dem angeblichen Nachrichtenportal Spiegel Online erfuhr eine Familie in der Schweiz Ende 2006 von der Existenz des HausHalten e.V. Weil die Familie selbst über ein seit fünf Jahren leer stehendes Haus im Osten Leipzigs verfügte, das ihr in langen Verhandlungen mit der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft mbH rückübertragen wurde, nahm sie daraufhin Kontakt mit dem Verein auf. So zumindest die Darstellung auf den Internetseiten des Wächterhausvereins, obwohl die jetzigen Nutzer_innen des Hauses von vier Parteien, die das Haus besitzen, sprechen. Es wurde sich geeinigt und so konnte im Mai 2007 der Verein HausHalten mit der Suche nach Interessent_innen und Ende August die auserkorenen Nutzer_innen mit den Renovierungsarbeiten beginnen.
Daran beteiligten sich auch die Eigentümerfamilien, denn zwei der insgesamt 15 Wohnungen im Haus unterliegen nicht dem Vertrag mit HausHalten, sondern werden von den Schweizer_innen als „Ferienwohnungen“ genutzt, so jedenfalls der Eindruck der anderen Hausnutzer_innen. Von den verbliebenen 13 Einheiten fungieren alle bis auf eine als Wohnraum, teilweise zugleich als Fotostudio und Proberaum für Musiker. Lediglich eine Erdgeschoßwohnung fand keine Interessent_innen. Dort wird momentan ein Gemeinschaftsraum urbar gemacht, in dem künftig nach den Vorstellungen der Nutzer_innen auch eine VoKü und Filmabende veranstaltet werden können. Das müsse sich allerdings noch entwickeln, heißt es. Anregungen hierzu wird hoffentlich das anstehende Fest anlässlich der offiziellen Hauseröffnung am 15. August geben, wo sich auch die Bewohner_innen des benachbarten Wächterhauses in der Eisenbahnstraße 109 einbringen werden. Im neuen Objekt selbst gab es bereits eine Klanginstallation von einer Weimarer Studentin und mehrere Filmabende im geräumigen Innenhof.
Die Nutzer_innen selbst bezeichnen sich als ausgesprochen gute Hausgemeinschaft, die sich momentan über nichts beschweren könne. Sie sind allerdings auch nur lose organisiert, halten regelmäßige Plena allein deshalb ab, um die wichtigsten Dinge zu besprechen, wie den Kontakt zu Eigentümern, Verein und der Presse. Ein inhaltlicher roter Faden, was die Außenwirkung betrifft, ist noch nicht aufgegriffen worden, zu sehr ist mensch mit der Renovierung beschäftigt gewesen. Diesbezüglich wird vor allem der gute Kontakt zu und die enge Kooperation mit den Eigentümer_innen als großer Glücksfall angesehen. Als Beispiel werden vor allem die Vielzahl an Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der eigenen Wohnungen angegeben. Die einzigen Stimmungsdämpfer sind das mangelnde kulturelle Angebot im Stadtteil Neustadt-Neuschönefeld, wo auch schon mal eine Scheibe zu Bruch geht oder ein vor der Tür abgestelltes Fahrrad geklaut wird. Doch damit muss sowieso überall in der Stadt gerechnet werden. Auch wenn derzeit noch fast alle Häuser in der Nachbarschaft leer stehen, so glauben die Nutzer_innen doch, auch einen Anstieg der Student_innenzahl im Viertel zu beobachten. Dem ist ohne Zweifel so, gibt es seit einigen Monaten doch durchaus neue Hausprojekte in diesem von der alternativen Szene aufgegebenen, ja teilweise verpönten Kiez (siehe hierzu auch den Artikel auf Seite 6f). Erwähnenswert ist noch, dass HausHalten im Rahmen ihrer „mehrere Wächterhäuser in unmittelbarer Nähe befruchten sich gegenseitig“-Strategie schon drei neue Häuser im Angebot hat, für die mensch sich derzeit noch bewerben kann.
Neben dem Fast-Nachbarhaus Ludwigstraße 95, welches die beiden erwähnten Neuschönefelder Standorte unterstützen soll, kommt mit dem ehemaligen Fernsprechamt in der Shadowstraße 10 (Neulindenau) ein Projekt in unmittelbarer Nähe des Vereinssitzes und des unabhängigen Hausprojektes Casablanca hinzu. Dadurch beherbergt das Gebiet um den Lindenauer Markt bald schon das fünfte Wächterhaus im Radius von 100 Metern. Als mutigen Schritt könnte mensch den Sprung nach Kleinzschocher bezeichnen, wo mit dem Projekt Ruststraße 17 ein neuer Stadtteil für die Milieuaufwertung erschlossen wird. Der Verein startet durch, könnte mensch denken, doch ist vor allem nach der Bekanntgabe der drei neuen Projekte überdeutlich geworden, dass sich der HausHalten e.V. von einem seiner erklärten Hauptziele offensichtlich verabschiedet hat. Im Interview mit dem Feierabend! in der Ausgabe #29 erklärte der Vorsitzende Mothes noch: „Uns ist es allerdings wichtig, besonders die den Stadtteil prägenden Gebäude anzugehen und das sind vor allem die Eckgebäude an den Hauptverkehrsstraßen.“ Die Realität zeigt, dass es jetzt eben auch ohne Ecken und Verkehrsadern funktionieren soll, also auf Masse statt Klasse gesetzt wird. Auch ist schwer vorstellbar, dass der Verein künftigen Hauswächter_innen wieder die Wohnnutzung der von ihnen renovierten Räumlichkeiten vertraglich untersagen kann oder will, wie dies in einigen der bestehenden Häuser der Fall ist. Das Konzept der Wächterhäuser hat in den letzten Monaten also einen grundlegenden Wandel erfahren. Der Feierabend! wird am Ball bleiben, um die Entwicklung weiterhin kritisch zu beäugen. Am Rande erreichte uns noch die Meldung, dass am 9.Juni das erste Wächterhaus in Görlitz eröffnet wurde und am 24. und 25. September der Verein erstmals eine „Wächterhaustagung“ in seinen Räumlichkeiten in der Lützner Straße 39 abhalten will.
(bonz)