Schlagwort-Archive: Unter der Lupe

Einblicke

Über die Anfänge alternativer Projekte in Connewitz

 

Das Zoro ist wohl das bekannteste Projekt auf dem Grundstück der Bornaischen Str. 54 (BS-54) mitten im südlichen Leipziger Stadtteil Connewitz und im Herbst 1991 war dieses Hinterhaus der Ort an dem alles begann. Heute ist es eins unter mehreren Vereinen, selbstorganisierten und -verwalteten Projekten der BS-54, deren Zukunft am 18. Januar 06 im Stadtrat mal wieder zur Diskussion stand, wie auf der ersten Seite berichtet wurde.

Wir haben bereits in den FA!-Ausgaben #9 und #10 eine zweiteiligen „Connewitz- Story“ über Hausbesetzungen in Leipzig veröffentlicht. Das Thema Hausbesetzung soll an dieser Stelle ergänzt werden mit dem Schwerpunkt auf den Geschehnissen um das Zoro. Die Aufarbeitung beginnt in der Wendezeit und ihre Hoch- und Tiefpunkte fallen mit den Meilensteinen in der Geschichte der Hausbesetzungen der 90er und der kommunalen Politik zusammen. Nach dem Stadtratsbeschluss vom August 1996 wurde es ruhiger auf dem Gelände. Die Aufarbeitung der Jahre zwischen 1997 und 2005 soll hier jedoch nicht die Aufgabe sein, sondern wird unter anderen Schwerpunkten in einer späteren Ausgabe erfolgen. Weiterhin versteht sich dieser Artikel als Fortsetzung unserer Reihe über Selbstorganisation in Theorie und Praxis, welche in der FA! # 18 („Hand in Hand – Zur Selbstorganisation“) begonnen und in der # 20 („Gieszer 16 – Leben, Lieben, Lachen, Selbermachen“) weitergeführt wurde.

I. Rechtsfreier Raum

„Hausbesetzer gestalten Alt-Connewitz zu Leipzigs Montmartre“ (1) hieß es in der LVZ am 24./25. März 1990. Die „Heldenstadt Leipzig“ fand kein Ende sich selbst zu loben und auch Hausbesetzungen wurden wohl als Teil der „friedlichen Revolution“ gefeiert. Die Hausbesetzer warteten jedoch nicht darauf, dass ein neuer Staat ihnen Handlungsanleitungen gibt, sondern waren bereit, Verantwortung für ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Freier Raum wurde ohne zu fragen benutzt, um eigene Vorstellungen zu leben. Die Stadt und auch die ansässige Bevölkerung in Connewitz begrüßten diese Eigeninitiative der Besetzer. Es entstanden Projekte alternativer Lebensformen, kulturelle Projekte und organisierte Antifa-Strukturen.

Im Gegensatz zu diesen gewaltfreien Bewegungen konnten nach der Wiedervereinigung bundesweit vermehrt Ausdrücke eines erstarkten Nationalismus wahrgenommen werden, welcher fanatische Ausdrücke in Pogromen gegen Ausländer fand – erinnert sei an Hoyerswerda 1991, Rostock und Mölln 1992, Solingen 1993. Doch das neue Deutschland schwelgte weiter im nationalistischen Größenwahn. Auch Connewitz wurde Anfang der 90er von Neonazis nicht verschont. Gewalttätige Übergriffe auf Hausbesetzer und ihren Häusern wurde täglich erwartet. Man begann den Widerstand gegen diese rechten Angriffe zu organisieren: Steine und andere Wurfgeschosse wurden auf Dächern deponiert, man wachte abwechselnd über die Nacht, bewegte sich nur in Gruppen durch Connewitz, kommuniziert wurde teilweise über Funk und wenn ein Angriff kam, wurde zurückgeschlagen. Es erscheint als Moment des Zusammenhaltens, der seine Basis fand in der Existenz einer gemeinsamen Angst von rechtsextremen Banden gejagt zu werden.

In dieser Alarmstimmung wurde zum Jahreswechsel 1991/92 das Mittel- und Hinterhaus des seit Sommer 1991 leerstehende RFT-Fabrikgebäudes (Radio- und Fernsehtechnik) auf der BS-54 besetzt. In das als Zoro bekannt gewordene Hinterhaus zogen Künstler ein und es wurden Ateliers und Veranstaltungsräume ausgebaut. Am 21. April 1992 konnte dann das erste Konzert als Prozesskosten-Benefizparty im Zoro stattfinden.

Die städtische Politik übte sich in Toleranz gegenüber den Hausbesetzern des Zoro. Blieb ihnen wohl auch keine andere Wahl. Die Stadt Leipzig begrüßte die Verantwortungsübernahme für den Erhalt der Räume in den vom Zerfall bedrohten Altbauhäusern, war sie doch damit beschäftigt, die neuen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Strukturen aufzubauen.

Im Oktober 1992 wurde der Verein Atelierhaus Zoro e.V. gegründet, worin man eher einer Forderung der Stadt folgte, deren Planung vorsah, die Gebäude vom Jugendamt mieten zu lassen, um sie dann in Untervermietung dem Zoro zur Verfügung zu stellen.1993 gründete sich dann auch der Verein Kreatives Schaffen e.V., welcher solche Verträge mit dem Jugendamt einging. Dies war im Zoro nicht der Fall. Verhandlungen mit der Stadt waren unerwünscht und man fühlte sich eher dazu gedrängt, Verträge einzugehen, deren Konditionen im Grunde unakzeptierbar waren.

II. „Leipziger Linie“

Im FA! #10 wurde im zweite Teil der „Connewitz-Story“ die historische Nacht vom 27. zum 28. November 1992 bereits behandelt. Deshalb hier nur ein kurzer Abriss: Jugendliche lassen ihren Frust an Autoscheiben aus, Anwohner rufen die Polizei, eine Polizistin schießt einem 17- jährigen in die Hüfte, Gewalt gerät außer Kontrolle, Straßenschlacht, Barrikaden und Autos brennen, Wasserwerfer, Tränengas, das Zoro wird von der Polizei gestürmt, Personenkontrollen und Festnahmen. Wie konnten Einsatzwagen der Polizei Chemnitz so schnell einsatzbereit in Leipzig sein? Geplante Aktion oder zufällige Verkettung von Umständen?

Kurz nach dieser „Krawallnacht“ wurde die Maßnahme „Leipziger Linie“ erlassen und von Oberbürgermeister Lehmann-Grube verkündet. Zukünftig sollte es zu keiner neuen Partnerschaft von Seiten der Stadt mit Hausbesetzern kommen und Neubesetzungen sollten nun innerhalb von 24h geräumt werden. Es war eine zweideutige Politik. Auf der einen Seite war es eine repressive Strategie gegen die Hausbesetzerbewegung und andererseits die Fortführung von Gespräche und Verhandlungen mit dieser. Von der bürgerlichen Seite unterstützt, wurden Hausbesetzungen nun kriminalisiert und nur noch als „Verschandelung, Ruhestörung, Sachbeschädigung“ definiert. Gegner der Bewegung waren nun die Staatsgewalt, der 1993 gegründete Bürgerverein und weiterhin die anhaltenden rechtsextremen Aggressionen. Die Hausbesetzerbewegung schien ihrem Ende nahe, einerseits durch die ablehnende Stimmung der ansässigen Bürger und den Ressentiments der Stadt aufgrund der Zunahme der Kriminalität im Viertel.

1993 heißt es dann: „Zukunft des Zoro ungewiß – Anwohner fordern Schließung. Stadt: Bis Ende August muß Konzeption her“. (2) Die Toleranz fand nun auch gegenüber dem Zoro ein Ende. Wohnungsamtleiter Holger Tschense und das Ordnungs- und Gewerbeamt wollten bis Ende August ein Konzept über die Form der Betreibung des Zoros vorgelegt bekommen. Die Unterstützung des Zoros von Seiten des Jugendamts war aber sicher, da die unkommerziellen Angebote (im Gegensatz zu den staatlichen) von Jugendlichen hier auch angenommen wurden. Streetworker, Vertreter der Stadt und Mitglieder des Atelierhaus Zoro e.V. setzten sich dazu zusammen und die Stadt sprach sich für den Erhalt aus, wenn dieser privat gesichert werden kann. Im Oktober 1993 hieß es dann auch, dass die CDU mal wieder gegen das Zoro mobilisiert. Es ging um die Behauptung, dass ein illegales Projekt nicht als förderungswürdig anzusehen sei, außerdem habe die „linksorientierte Szene“ bereits einen illegalen Treffpunkt, das Conne Island, und das Zoro sei sowieso nur ein Ort „von dem Belästigung, Ruhestörung und Bedrohungen ausgehen“. Diese Meinung war wohl dem Bürgerverein zu verdanken, dessen Ziel es war, “law and order” im Viertel herzustellen, auch wenn dieses durch Bildung einer Bürgerwehr selbst in die Hand genommen werden müsste. Gesetz und Ordnung seien durch die als „Chaoten“ wahrgenommenen Besetzern und einer untätigen Stadtverwaltung gefährdeter denn je. Doch am 18.10.93 heißt es in der LVZ: „Mietvertrag unterschrieben. Umstrittener Szene- Treff ‚Zoro’ bleibt“. Stadtrat Wolfgang Tiefensee hat den von der LWB angebotenen Mietvertrag akzeptiert und dem Zoro konnten somit Untermietverträge vorlegt werden. Wobei es aber auch blieb, da diese vom Zoro nie unterschrieben wurden.

III. Konzepte

Von März bis Juni 1992 wurde ein Café eröffnet und ein zweites Mal von Juli 1993 bis April 1994. Doch es wurde eher als Treffpunkt genutzt , um sich dem Alkohol hinzugeben, was den Lärmpegel immer öfters aufs Äußerste strapazierte. Im April 1994 schloss die Zoro-Crew das Café von selbst. (3) Man wollte nicht riskieren, geräumt zu werden. Ein Beschluss des Regierungspräsidiums wurde ihnen dann doch vorgelegt, welcher die nun schon seit Jahren laufenden nächtlichen Konzerte verbot. (3) Das Zoro legte Widerspruch ein und man war froh, dass sich die Mühlen der Verwaltung langsam drehten und dass letztendlich eine Entscheidung doch nie zustande kam. Dies war vor allem den zahlreichen Demonstrationen und solidarischen Aktionen, besonders 1995, zu verdanken, die den Erhalt alternativer Projekte in Connewitz laut forderten.

Im Beschluß des Stadtrats („Konzept zur Unterstützung alternativer Projekte in Connewitz“) vom 21.8.1996 heißt es, dass die Stadt Leipzig „alternative Jugend-, Kultur und Wohnprojekte“ erhalten und entwickeln will. Der Fortbestand des Zoros wurde damit vertraglich festgehalten und ihr Kauf durch die Stadt und die anschließende Überlassung an die Alternative Wohngenossenschaft e.G. in Erbpacht (4) beschlossen. Diese politische Vereinbarung zur Übertragung der Grundstücke an die AWC wurde nie eingehalten. Die Stadt entzog sich ihrer Verantwortung mit der Begründung, dass der Ankauf durch eine „Verfügungssperre“ nie erfolgen konnte. Nachdem zu Zonenzeiten die Bürger in der DDR enteignet wurden, wird vermutet, dass der damalige Eigentümer der BS-54 in die BRD floh. Nach der Wende hat dieser sein Recht auf Rückgabe (Restitution) nie in Anspruch genommen, womit die Verfügungsgewalt der Stadt über das Grundstück nie ganz geklärt war. Die Stadt legte damals Widerspruch gegen die Rückübertragung ein, welcher später jedoch stillschweigend wieder zurückgezogen wurde. Auch das Zoro bemühte sich den Alteigentümer ausfindig zu machen. Ohne Erfolg. Später erfuhr man, dass es eine Erbengemeinschaft mit Eigentumsanspruch gibt, die ihr „Recht“ nie einklagten und wohl kein Interesse an diesem Grundstück hatten.

Am 01.12.1997 wurden dann mit der LWB direkte Mietverträge geschlossen, deren Konditionen bis November 2005 aktuell waren.

droff

(1) Montmartre, ein Künstlerviertel in Paris
(2) LVZ vom 24. August 1992
(3) Jedoch fand 1994 auch zum ersten Mal das Zoro-Festival statt.
(4) Erbpacht – 1918 erlassenes Gesetz, um Bodenspekulation zu unterdrücken. Der Grundeigentümer tritt für die Dauer des Pachtvertrages die Eigentumsrechte größtenteils an den Pächter ab, deshalb sehr seltene Rechtsform.

droff

Leben, Lieben, Lachen, Selbermachen

Zur Frage der Selbstorganisierung des Projekts Gieszerstraße 16

Die Anfänge: Hausbesetzung als künstlerisches Mittel

Am 19. April 1997 besetzte eine Gruppe junger Menschen eine seit 6 Jahren leerstehende Villa in der Karl-Heine-Straße 4. Sie initiierten dies künstlerisch als ein Hochzeitsschauspiel zwischen ihnen als Bräutigam Arthur und der Villa Karla als Braut. Damit wollten sie ausdrücken, dass die Verbindungen zwischen Kunst und Wohnen mit Spaß an Verantwortung und Selbstorganisation sich nicht widersprechen. Karla bekam von ihrem Bräutigam Hände, Lippen, Herz, Adern, ein Antlitz aus Pappmachee, ein Hirn aus Watte und ein Lie­bes­ver­sprechen. Ihr gemeinsames Leben sollte auf Geben und Nehmen, Glück und Harmonie basieren. Kar­la gab Arthur den Raum, sich selbst zu realisieren und im Gegenzug wollte Arthur stets für Karla da sein, um sie vor Verwahrlosung und Verfall zu retten.

Dieser Ehe hat jedoch der Münchener Hausbesitzer und die sogenannte „Leip­ziger Linie“ der Stadt widersprochen, die nicht mehr sahen als eine illegale Hausbesetzung, welche unter keinen und sei es noch so gut gemeinten Umständen geduldet werden kann. Es kam zur Räumung von Karla durch ein riesiges Polizeiaufgebot. Die Scheidung war vollzogen, jedoch die Liebe blieb erhalten, sowie die Feststellung, dass für selbstorganisierte und -verwaltete Wohnfläche, Kunst und Projekte Raum gebraucht wird. Die hausbesetzenden KünstlerInnen trugen ihren Protest in die Öffentlichkeit. Zum Beispiel wurde vorübergehend das Gewandhaus mit Ketten versperrt, um in der Trauer einer verlorenen Liebe nicht alleine zu sein. Bis zu Konzertbeginn wurden die Karten­besitzerInnen mit kostenloser Straßen­kunst, Gauklern, Gesang, Bongo-Rhyth­men, Transparenten und Informationen abgelenkt. 1997 bis 1998 wurde weiterhin die heimlose Kunst mit vielen anderen kreativen Aktionen auf die Straßen der Innenstadt gebracht. Dieser Protest blieb nicht ohne Auswirkungen – der damalige Jugendamtschef Wolfgang Tiefensee räumte ein, dass die Stadt Leipzig zu Gesprächen über Ausweichprojekte bereit wäre.

Ein langjährig leerstehendes Industriegelände in der Gießerstr. 16 in Leipzig-Plagwitz wurde bald selbst gefunden und eine neue Liebe begann. Die Stadt Leipzig als Eigentümer war zu Gesprächen bereit und es kam zu Verhandlungen. Die ehemaligen hausbe­setzenden Künstler wurden zu Ini­tiatoren des Pro­jekts G16. Im April 1999 erhielten sie als Verein „Stadtteilförderung, Wohnen und Kultur e.V.“ einen einjährigen Besitz-Überlassungs­vertrag für dieses 3600 qm große Gelände mit alten Fabrikgebäuden, die teilweise unter Denkmalschutz stehen. Nachdem der Vertrag im April 2000 auslief, sprach das Grundstücks-Verkehrsamt eine weiter­führende Duldung aus und die Nutzung des Geländes für selbstorga­nisierte Wohn-, Kultur, und Werk­stattprojekte konnte weitergehen. Die Organisierung als e.V. war und ist eine vorteilhafte Voraussetzung für Verhandlungen und juristisches Instru­ment, um mit der Öffentlichkeit Kontakt zu halten. Nach innen fungiert sie jedoch nicht als direkter Vorstand, da angestrebt wird, Entscheidungen im Konsens zu treffen. Die Sanierung der Gebäude und der Erhalt der Projekte wurde ernst genommen. Dafür sind in der Ver­gangenheit Fördermittel von Bund und Europäischer Union beantragt und für einzelne Projekte auch bereitgestellt worden. Verhandlungen über den Besitzstatus mit der Stadt sind seit den Anfängen eines der größten Probleme des Projekts, welches bisher glücklicherweise noch immer geduldet wird. Wer heute 190.000 Euro der Stadt Leipzig für dieses Gewerbegrundstück bietet, kann morgen schon der neue Eigentümer sein. Die Zukunft bleibt also ungewiss.

Was bedeutet Selbstorga­nisation für die Gieszer 16? Ansprüche und Realität

Die G16 ist leider meist nur bekannt für ihre preisgünstigen abendlichen Kon­zertveranstaltungen, bil­ligen Getränke, großen Tanzflächen und erhöhten Sitzmöglichkeiten. Auf die Klobrillen sollte man sich zum späten Abend bzw. frühen Morgen aber nicht mehr setzen und festes Schuhwerk wäre auch angebracht. Das dämmrige, flackernde oder blitzend-grelle Licht lässt nicht immer zerschellte Bierflaschen erkennen. Der Kickertisch ist stets besetzt und das Warten auf die nächste Runde wird gerne durch das Schlürfen eines Cocktails verkürzt. Oft wird veganes Essen angeboten oder es gibt auch kleine Stände, wo Platten und CDs, Klamotten und Aufnäher erworben werden können. Doch welcheR abendliche BesucherIn denkt am nächsten Morgen daran, wer aufräumen wird oder fragt sich, ob es wohl einen Grund für die Veranstaltung gab? Wer schaut hinter die Kulissen?

Die G16 bezeichnet sich als „kulturelles Zentrum zur Förderung emanzipatorischer Gesellschaftskritik und Lebensart“. Es ist ihr Anspruch, Kunst und Kultur nicht kommerzialisieren zu wollen und ein selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Leben und Arbeiten umzusetzen. Die 14 BewohnerInnen und viele andere Nutzer­Innen organisieren und verwalten das Projekt in Eigeninitiative, freiwillig und unentgeldlich. Selbstorganisation heißt Verantwortung für­ein­ander und für das Projekt zu übernehmen und sich im Alltag zu unterstützen. Dies zielt auf ein praktisches Handeln mit möglichst weitgehender Eigen­ständigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Im Kapitalismus bedeutet Selbstorganisation, sich der Verwer­tungslogik zu entziehen und aus eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten heraus zu überleben und zu agieren. Die G16 finanziert sich hauptsächlich über Spenden und häuft Geld nur an, um hoffentlich in naher Zukunft das Gelände von der Stadt kaufen zu können. In bürgerlichen Kreisen wird Selbstorganisation auch oft verklärt als Selbstständigkeit verstanden. Ziel eines selbstorganisierten Projeks ist jedoch mehr Miteinander, gegen den gesellschaftlichen Mainstream der Isolation, Entfremdung, Diskriminierung, Rollenzuschreibung und Aus­grenzung. Entscheidungen werden in freien Vereinbarungen getroffen, die ohne strukturelle und personale Zwänge zustande kommen. Selbstorganisation heißt, dass Menschen zum Zwecke der gegenseitigen Unterstützung und gemeinsamen Nutzung von Ressourcen zusammenkommen.

Diese Ansprüche stehen leider noch zu oft im Gegensatz zur Realität. Schnell bleiben viele anfallende Aufgaben am und um das Projekt an wenigen Leuten hängen. Theoretisch kann sich jedeR mal als BaumeisterIn, ManagerIn, Werk­statt­betreiberIn, VeranstalterIn etc. ausprobieren. Auf ein Spezialistentum, wo die eine Seite keine Ahnung hat, was die andere tut und mensch nur gegenseitig die Produkte konsumiert, kann verzichtet werden. Viele Aufgaben, die Selbst­disziplin erfordern, müssen erledigt werden. Ob Dächer reparieren, Wände neu ziehen oder ver­putzen, Räume be­heiz­­­­­­bar machen, Holz sägen und hacken, Bürokram und Schrift­­­­­­ver­kehr, Müll re­cy­­celn, Aufräumen … technische und strukturelle Maßnahmen sind grundsätzlich nötig, um den langfristigen Erhalt des Projekts zu sichern. Es ist kein Widerspruch, daran auch Spaß haben zu können, da keiner allein dasteht und notwendige Aufgaben gemeinsam erledigt werden können. Jedoch sind dies alles zeitaufwendige Arbeiten und für Genuß und Kreativität bleibt weniger Zeit. Daraus entstehen Schwierigkeiten, wenn es für bestimmte, immer wieder anfallende Aufgaben keine(n) Freiwillige(n) gibt. Sachen bleiben liegen und werden, wenn diese nicht direkt im Blickfeld stehen, auch leider schnell vergessen. Dann hat es auch ein Prinzip wie die gegenseitige Unterstützung schwer, dieses Defizit auszugleichen. Es werden noch viele fleißige Hände und Ideen gebraucht, die dieses riesige Projekt unterstützen. Auf der anderen Seite entsteht damit auch wie­derum folgendes Problem: Der Weg zu einer Übereinkunft wird schwieriger, je mehr Menschen an einer Entscheidung und Lösungsfindung teilhaben und noch schwieriger, wenn diese nach dem Konsensprinzip getroffen werden. Das heißt nicht, dass es un­möglich wird. Funktionierende Kommunikations- und Informations­strukturen würden den Prozeß, einen Konsens zu finden, erheblich vereinfachen. Leider werden Diskussionen von Einigen nur als ärgerlich und aufwendig verstanden. Schnell fällt mensch zurück in das Gefühl der Gleichgültigkeit und Kommunikation wird zum Meckern über Andere, über den Dreck überall, das Fehlen von An­sprech­par­tnern und Öffentlichkeitsarbeit. Vorwürfe sind schnell formuliert und Aus­einan­dersetzungen werden noch zu oft durch Rückzug oder Resignation umgangen.

„Das Leben ist ein Jammertal.“ Schluß damit! Die G16 feiert Ende April 2006 mit dem legendären, alljährlichen Festival ihren achten Geburtstag und es werden noch viele folgen. Schon so einige Projekte und Ideen haben die G16 verlassen, dafür haben sich neue etabliert und es wird auch weiterhin ständig ein Kommen und Gehen geben. Früher oder später passiert es dann schon automatisch, dass mensch erkennt, dass er oder sie mehr Gefühl für den Umgang mit z.B. Holz hat und andere haben eher „zwei linke Hände“. Manche können stundenlang Bücher lesen, am Computer arbeiten, Texte verfassen und andere gehen zur Probe. Doch die Bewohner- und Nutzer­Innen verbindet die Sorge, um den Erhalt von Freiraum im G16 Projekt und den Wunsch nach Geselligkeit und individueller Entfaltung.

Darum gilt wie so oft: Lassen wir uns nicht organisieren, sondern organisieren wir uns gelassen!

droff

+ + + Vorhandene und geplante Strukturen des Projekts G16 + + +

Die Werkstätten sind eines der wichtigsten Projekte, dass die praktische Selbsthilfe ermöglichen soll: Menschen können bauen, produzieren oder sich handwerklich betätigen ohne sich in den Kreislauf aus Geldverdienen und Konsum begeben zu müssen. Geräte, die nur ein paar Mal im Jahr benutzt werden, stehen hier allen zu Verfügung. So entstehen Begegnungen und Auseinandersetzungen, durch welche ein verantwortlicher Umgang mit Geräten und Werkzeugen geübt werden kann, die nicht im Besitz des Einzelnen sind. Aufgrund des bevorstehenden Umzugs, ist die Holz- und Bastelwerkstatt momentan nur für kleine Arbeiten benutzbar. In absehbarer Zeit wird diese dann in der ehemaligen Ruhebar, vom Innenhof begehbar, wieder für alle regelmäßig geöffnet haben. Die Fahrradselbsthilfewerkstatt scheint gerade nicht gebraucht zu werden und wurde bis auf weiteres (jemand müsste sich ans Herz fassen und dafür Ver­antwortung übernehmen) geschlossen.

Das Atelier bietet Platz für Ausstellungen von Text und Bild oder die Arbeit daran für verschiedenste Personen, Gruppen, Initiativen und Vereine.

Der Sport- und Bewegungsraum wird bisher genutzt von Leuten, die Breakdance (Die. und Do. 16 bis 18 Uhr) und K-Fu (Die. bis Do. 18:30 bis 20:30 Uhr) trainieren. Bei Interesse am Breakdanceworkshop oder an K-Fu kontaktiert Jana über 0176-23176595 und/oder kommt in der Gieszer zu den jeweiligen Zeiten vorbei. Nachdem sich die Akrobatikgruppe fast vier Jahre in der G16 getroffen hat, zieht diese nun über den Winter in die Südvorstadt, wo sie ihren Workshop weiter­führt. Bei Interesse könnt ihr superstine@web.de kontaktieren.

Das Lesecafé soll nach der Sanierung im vorderen Gebäude als Teil eines Tages­cafés untergebracht sein, welches die gemeinsame Bibliothek der Be­wohner­Innen des Projektes beherbergen und der Öffentlichkeit als Leihbibliothek sowie als Buch- und Infoladen dienen. Jeden Sonntag Nachmittag soll es dann auch wieder Kaffee, Kuchen und Lesungen geben.

Die Elektronik- und Multimedia­werkstatt (http://mme.gieszer16.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/HomePage) ermöglicht elektronische Vernetzung und Informationsaustausch. Alle Interessierten können die zur Verfügung stehende Technik (PCs, Multimedia für Video- und Audioschnitte, Scanner, Digicam) nutzen, um eigene Ideen zu verwirklichen. Bei Interesse ist Dirk euer Ansprechpartner und Montags von 15 –19 Uhr in der Werkstatt im Vorderhaus neben dem Umsonstladen zu erreichen. Über das Leipziger-Freifunk Netzwerk bekommt auch die G16 einen Zugang zum world wide web. („freifunk.net ist eine nicht kommerzielle, für jeden offene Initiative zur Förderung freier (Funk) Netze im deutschsprachigen Raum. freifunk.net ist Teil einer internationalen Bewegung für freie, drahtlose Funknetze auf Basis der Wireless Local Area Networks (WLAN). Ziel aller freifunk.net Aktivitäten ist die Verbreitung freier Netzwerke und die Förderung der lokalen sozialen Vernetz­ung. Neben Aufklärungsarbeit und Sensibilisierung zum Thema Freie Netze sehen wir es als unsere Hauptaufgabe Anlauf- und Verteilstelle zu sein. Damit freie Netze entstehen, muss es einen Raum geben, wo sich Menschen treffen und austauschen können. Diesen wollen wir zur Verfügung stellen.“)

Die drei Musikproberäume, durch die Künstler in jahrerlanger Eigeninitiative aufgebaut, werden heute von ca. 50 MusikerInnen genutzt. An jedem ersten Sonntag im Monat findet das Proberaumplenum um 19 Uhr im Plaque, Industriestraße 97, statt.

Der Kostümverleih ist leider vorübergehend geschlossen. Nach der Neueröffnung stehen wieder allen die fast 200 Kostüme, die von Theatern und Oper gespendet wurden, zum Verleih bereit.

Der Recyclinghof ist von der Schraube bis zur Heizung mit Materialien aller Art gefüllt. Weil es entweder „modernen“ Standards nicht mehr genügt oder weil Ansprüche gestiegen sind, wird in der heutigen Wegwerfgesellschaft vieles vernichtet, was eigentlich noch eine längere Nutzungsdauer vor sich hätte. Schaut mal vorbei, ob auch für euch noch etwas zu gebrauchen ist.

Der erste richtige Umsonstladen in Leipzig wurde am 9. Oktober 2005 im Vorderhaus eröffnet. Alles, was nicht mehr gebraucht wird, aber noch funktioniert und weiterhin nutzbar ist, kann hierher gebracht werden, um von anderen dann wieder kostenlos mitgenommen zu wer­den, auch ohne etwas zu geben. Alles Weitere erfahrt ihr jeweils an jedem Montag und Donnerstag von 15 bis 20 Uhr vor Ort oder per Email: umladen@gmx.net oder schaut auf die Homepage: www.umsonstladen-leipzig.tk.

Die Veranstaltungsräume sollen meist unbekannten Gruppen, Bands und KünstlerInnen Auftrittsmöglichkeiten bieten. Die Räume stehen für alle, die Parties, Konzerte, Theaterauftritte, Performances, Lesungen und Vorträge etc. organisieren wollen, zur Verfügung. Die Kunst kann schön, hässlich, chancenlos, revoltierend, kritisch, politisch, tadelnd etc. sein. Zur Koordination der diversen Termine trifft sich eine VeranstalterInnengruppe jeden Dienstag um 20:30 Uhr im Büro im Vorderhaus, um selbst oder mit den jeweiligen VeranstalterInnen zusammen die Veranstaltungen durchzusprechen und umzusetzen. Bei Interesse kommt vorbei oder kontaktiert sie unter: v-gruppeG16@gmx.de.

Die privaten Wohnräume werden derzeit von 12 Erwachsenden, 2 Kindern und 10 Hunden genutzt, die Lust an einem selbstorganisierten Wohnprojekt haben. Derzeit und eigentlich immer aktuell ist das Bauen, Reparieren und Sanieren, wofür jederzeit noch fleißige Hände benötigt werden. Momentan wird an der Rekonstruktion des Daches, Ausbau des Backstage, der Wohnräume und am Umbau der ehemaligen Ruhebar zur Holzwerkstatt gearbeitet. Jeden Mittwoch um 20:30 Uhr findet das NutzerInnentreffen im Büro statt, welches Fragen, Probleme und Anliegen um das Projekt klärt und für alle offen ist.

 

Wächterhaus Merseburger 17

Freie Träume für off‘ne Räume

Nein, das Haus in der Merseburger Straße 17 in Plagwitz ist kein ge­wöhn­liches Wächterhaus, sagen die Nutze­rIn­nen selbstbewusst (1). Denn schon 2005 und unabhängig vom HausHalten e.V. waren drei von ihnen auf der Suche nach ei­nem geeigneten Objekt gewesen und hat­ten mehrere Hausbesitzer zwecks Nut­zung kontaktiert. Doch ohne den Wäch­ter­hausverein, geben sie zu, wären die Ver­hand­lungen viel schwieriger gewesen. So­wohl die NutzerInnen selbst als auch der HausHalten e.V. hätten auch lieber einen di­rekten Vertrag zwischen Vermieter und Nut­zerInnen gesehen, aber der Besitzer eben nicht. Er vertraute eher auf die dop­pel­te Vertragsstruktur, die der Verein zau­dernden Immobilienbesitzern anbietet (2). So konnte im September 2006 alles für sie­ben Jahre unterschrieben werden. Be­triebs- und Nebenkosten für den Vermie­ter und 15,- pro Monat und Person als För­dermitgliedsbeitrag an den Verein be­deu­tete ein ganzes Haus für die NutzerIn­nen. Das frischgebackene Hauskollektiv war glücklich. Dadurch dass man schon vor­her eine feste Gruppe gewesen war, ließ ihnen der Verein die sonst unübliche Frei­heit, selbst über die genaue Zusammenset­zung der NutzerInnen zu bestimmen und un­terstützte die notwendigsten Aufbau­maß­nahmen mit Material und Know How. Dementsprechend gab es auch von An­fang an einen festen Zusam­menhalt un­ter den neun BewohnerInnen im ganzen Haus und die späteren NutzerInnen wie der Tischtennisverein BumBum, die Näh­werkstatt Total Vernäht und ein kleines Hörspielstudio wurden per Unternut­zungs­verträge eingebunden und de facto im Stimmrecht gleichgestellt. Die Mit- und Selbstbestimmung bei der kollektiven Ver­wirklichung des Hausprojektes wird ernst genommen und jedeR ist bemüht, im Konsens zu entscheiden, Veto zu be­rück­sichtigen und nur im Ausnahmefall einen Mehrheitsbeschluss herbeizuführen.

Zwei große WGs, eine Werkstatt und ein Studio – damit ist das an sich relativ kleine Haus zwar schon ziemlich voll, trotzdem will man in der Merseburger 17 in Zu­kunft noch stärker nach außen tre­ten und in den Parterre-Räumen regel­mäßig Kul­tur­veranstaltungen anbieten, die auch Men­schen ansprechen, die nicht unbe­dingt aus dem ‚üblichen Klüngel‘ stam­men. Eine offene Küche ist ebenfalls für je­de zweite Woche geplant. Zwar gibt es wei­terhin noch einen lauschigen und ge­räumigen Hinterhof, aber der kann auf­grund der schlechten Nachbarschaft nur sehr eingegrenzt genutzt werden. Neben of­fen ablehnenden Spießbürgern zählen da­zu auch eine Gruppe Faschisten, die nachts des öfteren Fahrräder vor dem Haus demolieren oder ihre widerlichen Pa­­ro­len brüllen. Abgesehen von solchen Prob­lemen in der konkreten Nachbar­schaft, sehen die NutzerInnen ihre Aus­strah­lung durchaus positiv, insbesondere auf ein jüngeres und mehr in der „Szene“ zwi­schen Schreibmaschinencafé und Zoll­schuppen verortetes Publikum.

Der Kontakt zu den anderen Wächter­häu­sern läuft zwar schleppend, aber gerade über die Projekte und Freunde ist man untereinander verbunden und tauscht auch schon mal Material oder Werkzeuge aus. Zudem hat der HausHalten e.V. aktuell eine neue Vernetzungsinitiative gestartet, um die internen HaussprecherInnen­struk­turen zu stärken und den Informa­tions- und Erfahrungsaustausch zwischen den Häusern zu erhöhen. Alles in allem scheint man in der Merseburger Straße 17 zufrieden mit dem Engagement des Vereins, geschätzt wird die Zuarbeit auf der einen und die gewährte Selbst­be­stim­mung auf der anderen Seite. Der Eigen­tümer vertraut langsam den regelmäßigen Zah­lungen und hält sich ansonsten zu­rück. Da er weder über das genügende Klein­geld verfügt noch das Haus verkaufen kann (3), geht das Hauskollektiv opti­mistisch von einer langfristigen Perspek­tive für das Projekt aus. Über die noch verbleibenden fünf Jahre des Nutzungs­ver­trages hinaus denkt jedoch kaum je­mand. Ge­rade wegen der durch den Arbeitsmarkt ge­forderten Flexibilität sind die meisten mit der Situation zufrieden, auf lange Sicht nicht wirklich zu wissen, wo und wie es für jedeN EinzelneN weitergeht und ob dies auch gleichzeitig eine Zukunft mit und in dem Haus in der Merseburger Straße 17 bedeutet.

Möglichkeiten, um in das Projekt hinein zu schnuppern, gibt es derzeit vor allen Din­gen über persönliche Kontakte und den regelmäßigen Sportlertreff des Tisch­tennisclubs jeden Freitag ab 21 Uhr. Wer Interesse am Kochen hat oder eine Veranstaltung organisieren will, kann sich auch per Mail (siehe unten) melden. Außerdem ist für nächstes Jahr ein großes Haus­fest geplant, für welches weiterhin noch Leute gesucht werden, die Lust oder/und kreatives Potential mitbringen.

bonz & clov

 

Kontakt über:

Merseburger17@web.de

 

(1) Vgl. hierzu FA! #29 „Ist Lindenau denn noch zu retten“

 

(2) Das Modell des Haushalten e.V. sieht eine Ge­stattungsvereinbarung „Haus“ zwischen dem Verein und dem Besitzer und eine Ge­stat­tungsvereinbarung „Raum“ zwischen den Nut­zerIn­nen und Haushalten vor, um die Interes­sen beider Parteien miteinander zu vermitteln. Diese Struktur wurde insbesondere für die Re­vi­talisierung von Häusern entwickelt und soll dann langfristig durch einen direkten Miet­vertrag ersetzt werden.

 

(3) Das Haus gehört eigentlich einer Erben­ge­meinschaft. Allerdings ist die andere Partei der­zeit nicht ermittelbar, weswegen dass Haus rein rechtlich nicht so einfach verkauft werden kann.

Wächterhäuser – Ist Lindenau denn noch zu retten?

Stadtentwicklung im Leipziger Westen zwischen Abriss und Hauserhalt, zwischen Erbwerbslosigkeit und Armut

Ausflug gen Westen

Fernab des städteplanerischen Größenwahns der Stadtoberen; weit weg vom Knirschen und Schieben jenes Ungetüms namens „Leonie“ (1), dass sich da mitten durch das Leipziger Herz frisst und nicht mehr als vergoldete Immobilien und feiste Investoren hinterlässt; gleich hinter der Elster, wo vom Auenwald her zum Leutzscher Holz hin ein frischer Atem die Stadt auf­stöh­­nen lässt, dicht gekauert in den Leip­ziger We­sten, liegt Lindenau; abgekoppelt von der Stadt­entwicklung und amtlicher Hafen & Hei­mat für viele aus dem Er­werbs­lo­sen­heer der ARGE zu Leipzig.

Die Rittersippe von und zu Lindenau würde sicher stau­nen, hätte sie vor Augen, welche Spuren die Industrialisierung an ihrem einst so be­schaulichen Bauern­dorf hinterlassen hat. Ja … ja hätte nicht ein gewisser Karl Hei­ne Mit­­te des 19. Jahrhunderts all sein Bemühen daran gesetzt, aus dem kleinen Dörfchen eine Fabrikhölle des aufstrebenden deut­­schen Junkerregimes zu machen, viel­leicht gäbe es dann ja gar kein architektonisches Substanzproblem in den gäh­nend kah­len Schluchten der Arbeiterviertel, kein darbendes Gewerbe, keine soziale Notlage, keinen so hohen Drogen-&-Al­ko­hol-Konsum … sondern eine Perspektive, beschaulich zwar, aber immerhin.

Denn mit der gescheiterten Leip­ziger Olympia-Bewerbung sind auch unter den Optimisten die letzten Hoff­nungs­laternen ausgegangen, dass der fette Speck von selbst zum armen Mäuschen kriecht und der Stadtteil sich wie von „un­sicht­barer Hand“ aus seinen Struktur­prob­le­men pellt. Die Industrie ist lange weg und wo keine Brachen und Ruinen gammeln, da strahlen frisch geweißte Häuser­wän­de vom schie­fen Schein notdürftiger Sanierung und ver­höhnen die „Moder­ni­sie­rung“. Die meisten Quartiere sind auf die Normen der Be­darfs­gemeinschaften zugeschnitten, „an­ge­­harzt“ sozusagen. Es fehlt überall an rege­ne­ra­tiven Flächen, Nutzräu­men und tagtäglich rollt die Blechlawine über den Westen Richtung Schkeuditz/Autobahn oder Halle. Die meisten Leute haben kein Geld in der Tasche und dement­spre­chend schlecht geht‘s dem Gewerbe. „Blau nach Linde­nau“, wie die Leipziger Ver­kehrs­be­triebe wer­ben, d.h. fern der sozialen Stigma­ti­sie­rung vor allen Dingen eines: Perspektiv­lo­sigkeit. Über­­all in Lindenau ist sie spürbar, diese re­­signierte Unruhe eines desillusio­nier­ten Klein­bürgertums, das den Dienst­­lei­stungs­zug des dritten Marktes verpasst hat und nun in der deindustria­li­sier­ten Sack­gasse fest­sitzt. Weder Arbeit noch ein schönes Le­ben und schon gar nicht bei­des zusammen, wie es sich der korpo­rier­te Freimaurer und Groß­grundbesitzer Heine mit seiner Westend-Baugesellschaft wohl erträumt hatte; nichts von dem, was vor 150 Jahren einem phantasiereichen bürgerlichem Bewusstsein noch möglich schien: rauchende Schlote, mit Maschinendampf und Heizöl vermischten Schweiß und den Dreck der Gossen als „blü­hende Landschaft“ vorzuschwärmen; nichts davon ist heute wirklich. Wie es der obe­ren Einkommensklasse an Visionen fehlt, so der unteren an Hoffnung und Mut. Und wo beides abhanden kömmt, da mangelt es der bürgerlichen Re­vo­lution eben an dem Zunder, der sie der­einst noch vorwärts trieb.

Häuser halten!?

Nun könnte man fragen, warum bauen wir Lindenau nicht zum Dorf zurück? Offensichtlich war dies ja auch ein Hintergedanke der Olympia-Planer, als sie im Rah­men der Leipziger Bewerbung weite Tei­le Lindenaus für das olympische Dorf vorsahen und tausende von modernen Apartment-Wohnungen entstehen lassen wollten. Die Antwort darauf ist ganz einfach: Es fehlt sowohl am Geld als auch am Bedarf und der Stadtteil schmachtet nun schon länger in der sogenannten „Ertragslücke“. Der nach ­wie vor hohe Leerstand in Leipzig drückt auf die Mietpreise und hält Immobilien-Spekulanten davon ab, hier in Wohn­­raum zu investieren. Andersherum sind die meisten Miet­parteien vordergründig nicht an einer qua­li­tativen Aufwertung ihrer Wohn­ver­hält­nis­se, sondern an möglichst nie­drigen Preisen interessiert, da die astronomisch gestie­ge­­nen Öl- und Gaspreise mittlerweile fast die Hälfte der fixen monatlichen Kosten bean­spru­chen. Von den schmalen Lohntüten, so­fern überhaupt vorhanden, der starken In­fla­tion und den gestiegenen Mobilitätskosten mal ganz abgesehen. Um quasi so­ vie­le Lücken in die Lin­de­nauer Ar­bei­tervier­tel zu reißen und diese zu renaturieren, dass man wieder von einem „Dorf“ reden könnte, steht weder genügend Geld noch Interesse interner wie externer Investoren zur Verfü­gung. Einzig blieben die hoch­verschuldeten staat­lichen Instanzen von Stadt, Land und Bund. Und die leisten sich wegen der akuten Schuldenlage eben nur prestigeträchtige Groß­projekte wie Autobahnen oder Flughäfen und den City-Tunnel bspw., bzw. finan­zieren ansonsten nur den lokalen und be­schränk­ten Abriss. Baugrundstücke sind ja auch was wert, wenn da nur die entspre­chen­de Nachfrage da wä­re. Es bleibt dabei: Auch unter staatlicher Ob­hut würde unser vor­ge­stell­tes Re-Design Lindenaus minde­stens auf hal­ber Strecke stagnieren und von dörflicher Be­schaulich­keit könnte man im Bild riesiger Betonflä­chen, dröger Werbeta­feln und ver­waister Ge­­wer­­be­viertel, kaum re­den.

Wenn also der sozialverträgliche Rückbau Lin­denaus ausfällt und eine Re-Industrialisierung sowieso unrealistisch ist, dann steht schließlich am Ende nur eine Pa­ro­le: Die Häuser halten! Für eine emanzipatorische Perspektive in Lindenau hieße das frei­lich vor allen Dingen: Häuser besetzen! Und sie der Spekulation entziehen, um Frei­räu­me aufzubauen, innerhalb derer sich der ‚ge­meine‘ Lindenauer in Solidarität und Zu­­sam­menarbeit, in antikapi­ta­listischen Prak­ti­­ken übt, die ihn letztlich be­fähigen, sich der na­tio­nalistischen Regression des Be­wusst­­seins und dem Stumpfsinn von Staat und Partei ent­gegen zu stellen. Und Freiräu­me sollen eben das ja sein: Orte, an denen das freie Denken von Alternativen und pro­gres­­sive soziale Experimente ihren Platz finden. Auf den Erfolg gibt es da­bei nie eine Ga­rantie, aber solche Entfaltungsräume sind schließ­lich die Bedingung der Möglich­keit emanzipatorischer Entwicklungen. Und das ganz im Sinne Rosa Luxemburgs etwa, die im Streik und der Gewerkschaft eben auch nur ein Mittel zur Sozialisation der Mas­sen sah, also die Freisetzung von der Arbeit und von der Isolation am Arbeitsplatz als Bedingung der Möglichkeit dafür annahm, eine emanzipatorische Entwicklung kollektiv voranzutreiben. Hier wie da geht es erstmal darum, gegenüber der kapi­ta­­li­stischen Konkurrenz und deren Lei­stungs­zwang einen Freiraum behaupten zu können, um über­haupt handlungsfähig zu werden.

Nun, zumindest der erste Teil dieser Bedingung ist ja in Lindenau erfüllt, die meisten EinwohnerInnen sind von der Arbeit „freigesetzt“. Doch leider fehlt es sowohl am nötigen Bewusstsein, bspw. über die gemeinsa­me soziale Lage, als auch an wirksamen Organisationen, um die freie Zeit durch die Eroberung von Freiräumen besser, und das heißt hier schon progressiv, zu nutzen. Die gesamte Leipziger Linke, über den palavernden Staats­sozialisten oder nationaltümelnden Gewerkschafter bis hin zum linksradika­len Krypto-Kom­munisten, alle sind da­bei, dieselben Fehler zu wiederholen, wie in Reud­­nitz und Schönefeld/Neu-Schönefeld, wo mittlerweile die Freien Kräfte und andere faschistische Kol­lek­tive die politische Rhyth­­mik der Viertel dominieren. Auch der Feierabend! selbst kann sich von dieser Kritik nicht ausnehmen, ist es doch in den letzten Jahren weder in Reud­nitz, noch in Neu-/Schönefeld, noch in Lindenau gelungen, wei­tere Verkaufsstel­len aufzubauen.

Nochmals muss also der Zoom der Lupe erhöht werden, um auf noch konkreterer Ebe­ne zu sehen, wo sich in Lindenau über­haupt ema­n­zipatorische Impulse und Freiräume bil­den. Und hier erst, wo nun schon wirklich kleine Brezeln gebacken und von ei­ner er­bau­lichen Perspektive wahrlich kaum noch ge­sprochen werden kann, rückt die Arbeit des HausHalten e.V. ins Zentrum der Be­trach­tung. Denn wer aufmerksam durch Lin­­de­nau und Plagwitz wandert, wird hier und da feststellen, dass an unsa­nierten Häusern ein großes gelbes Banner mit der Aufschrift prangt: Wächterhaus. Ganz der Paro­le vom „Häuser halten!“ verpflichtet, bemüht sich ein Verein von Architekten und Stadt­planern schon seit 2003/04 darum, vor al­len Dingen einige der stark gefährdeten Linde­nauer „Gründerhäuser“ vor dem Verfall zu retten.

Das Wächterhaus – zwischen bloßem Substanzschutz und wirklicher Stadtentwicklung

Propagierte dieser gemäßigte und bürgerlich-liberale Verein einzig den Substanzschutz im Viertel und hätte neben völlig ab­strusen musealen Vorstellungen keinen Blick für die soziale Lage, es wäre müßig, sich mit sei­ner Arbeit näher auseinander zu setzen. Da das „Wächterhaus-Konzept“ des Haus­Halten e.V. aber vor allen Dingen auf ei­gen­lei­stende NutzerInnen, die sogenannten „Wäch­ter“ setzt, tritt der Verein gegenteilig sehr offensiv mit dem Anspruch auf, Stadt­­entwicklung nicht nur im rein archi­tek­­­tonisch substanziellen Sinne, sondern vor allem im sozialen Sinne zu betreiben. Gün­sti­ger Nutzraum soll die Attraktivität der an­gren­zenden Quartiere erhöhen, Kün­stle­rInnen, Gruppen und Projekte ins Viertel zie­­hen, ihnen Entfaltungsraum geben und so das soziale Leben bereichern, nicht weniger haben sich die Mitglieder des Vereins auf die Fahnen geschrieben. Der/Die politisch versierte Leser/in wird sich sofort fra­gen: „Lebensbereicherung“, steckt hinter dieser Phrase wirklich eine konkrete so­zial­­po­li­tische Qualität? Wird hier nicht der blo­­ße Substanzschutz blumenreich ausgeschmückt? Und wie soll das gehen, Stadt­ent­­­wicklung im sozialen Sinne, ohne eine po­­li­­tis­che Perspektive, die den engen Zwing­­­­kreis von Arbeit und Geld letztlich sprengt? Der Ver­ein stellt ja Boden- und Im­mo­bilien-Spe­ku­lationen keineswegs in Frage. Im Gegenteil: Sein Programm zielt gera­de darauf ab, zu­rück­gebliebene Immobi­­lien wieder in den Markt einzugliedern. Die Skep­sis gegenüber dem Anspruch des Haus­Halten e.V. wirk­liche Stadtentwicklung mit dem „Wäch­terhaus-Konzept“ zu betreiben, hat al­so genügend Anlass laut ausgesprochen zu wer­den. Um allerdings vom Zweifel zur ernst­­haften Kritik fortzuschreiten, müssen wir den Gegenstand auch auf seine Sach­hal­­tig­keit hin prüfen. Denn es kann ja sein, dass sich trotz der mangelhaften Ausrichtung des Vereins, hinter der hohlen Phrase von der Bereicherung des sozialen Lebens, auf der in­­­direkten Ebene, über die Potentiale des Wäch­terhaus-Konzeptes selbst, Freiräume bil­den, die emanzipative Prozesse fördern. Das ist die Spur, der wir im weiteren folgen wol­len, wenn wir das Konzept der Wächterhäuser hier näher untersuchen, Fragen an die Mitglieder des HausHalten e.V. stellen (siehe hier) und in den folgenden Heften Exkursionen in die Le­bens­realitäten der „Wäch­ter“ starten.

Im ersten Schritt ist deshalb zu prüfen, ob die Nutzung der Häuser ausgerichtet auf eine soziale Entwicklung der angrenzenden Quar­tiere überhaupt genügend Berücksichtigung im Gesamtkonzept des Vereines findet. Denn schließlich sollen die nutzenden Wächter ja die Träger und Protagonisten sol­cher positiven Prozesse sein. Welche Par­ti­zipations­mög­lichkeiten haben sie? Welche Geltung wird ihren Interessen zugestanden?

Des weiteren gilt es zu untersuchen, inwieweit der Verein seine Nutzungs­vorstel­lun­gen, von denen er sich ja eben jene se­gens­reiche Wir­kung auf die Entwicklung der Viertel ver­spricht, überhaupt absichert. Gibt es Nu­t­zungs­kriterien und ihre Kon­trol­­le? Oder regiert am Ende die Beliebig­keit? Und wie will man verhindern, dass der entstehende Raum der­art genutzt wird, dass gegenteilig sozial missgünstige Entwicklungen befördert werden?

Abschließend muss dann die wirkliche Praxis, die Realitäten der Nutzung im Zentrum der Analyse stehen. Wie gehen die „Wächter“ mit den an sie herangetragenen Nut­zungs­­vorstellungen um? Welche eigenen ha­ben sie? Gibt es da Widersprüche? Einen kommunikativen Raum der Klärung? Wie schätzen die NutzerInnen das Engagement des Vereins dahingehend ein?

Danach, so ist zu hoffen, hat sich ein facet­ten­reiches Bild für eine nüchterne Einschätzung der konkreten Möglichkeiten emanzi­pa­­tiver Prozesse innerhalb und um die Wäch­­­­ter­häuser verdichtet. Und der eine oder die andere Leser/in hat genug Hinweis und Aufklärung gefunden, um sich richtig ent­­­scheiden zu können, ob nun für oder ge­gen die Nutzungsangebote des HausHal­ten e.V..

HausHalten – Die Idee vom runden Tisch der Interessen

Die Grundidee zur Rettung substanzgefähr­deter Häuser, die der Verein Haus­Halten e.V. entwickelt hat, ist oft gelobt wor­den. Mi­ni­ster haben sich die Klinke in die Hand gegeben. Sie beruht wesentlich darauf, dass sie zwei Königskinder zueinander bringt, die sonst teils aus Mangel an Interesse, teils aus Un­fähigkeit einfach nicht zusammenfinden. Das eine scheue Kindchen heißt da eigentümlich Eigenthymia, das andre schüch­­tern und bieder Stadtverwalterine. Die Problemlage hat ihre Wurzel in der Eigentumspolitik der BRD während der An­nexion der Gebiete der Ex-DDR. Die staatssozialistischen Reformen hatten dort das private Eigentum am Wohn­raum größ­tenteils abgeschafft und zentrale Mietkar­telle unter staatlicher Kontrolle dominierten den Markt. Neben den Besitz­in­te­ressen enteigneter Eigentümer ging es bei der „Wen­de“ also vor allen Dingen um eine Öff­nung dieses Marktes, um das Freisetzen der kapi­ta­listischen Konkurrenz. Es war deshalb nicht vorrangig aus moralischen Beweggründen erforderlich, die Rechtsgeschichte der DDR zu negieren, sondern in erster Li­nie aus ökonomischen Kalkülen. Die juristische Grund­lage hierfür lieferte die Restitu­tionsgesetzgebung, die allgemein gesprochen Rück­forderungsansprüche bei widerrechtlichen Aneignungen regelt. Nachdem also der Bund per treuhänderischer Verwaltung die bestehenden Kartelle übernommen und sich die besten Rosinen zum Wei­terver­scher­beln angeeignet hatte, legte er die Ver­wal­tung in die Hände der Kommunen & Stadt­verwaltungen und stellte es seinen Bür­gern ansonsten frei, in den alten Papieren zu blät­tern und wenn entspre­chen­de Rechts­titel noch vorhanden, die Immobilien zurück in private Hand zu fordern. Es gibt sicher heute noch hier und da vergreisten Spätadel, der ohne es zu wissen, Grund und Boden im Osten besitzen (könn­te). Frei­­lich machte auch nicht jeder von seinen Ansprüchen Gebrauch und Fälle von un­­geklärten Rechtsfolgen, verschollenen Er­­bengemeinschaften und verschwundenen Pa­pieren gab es genug. Hier half das Konzept der kommunalen Woh­nungsbau­gesell­schaften aus, das sich in der BRD schon beim Ausstieg der Zentralge­werk­schaf­ten aus dem sozialen Wohnungsbau und der Über­­nahme vieler gewerkschaftlicher Wohn­-Immobilien bewährt hatte (2). In die­­sen lokalen Kartellen, oftmals hundert­pro­zentige Tochterunternehmen der kom­munalen Stadtverwaltungen, sammelte sich der Restbestand der unveräußerlichen Immobilien. Teils als reine Kredit-Ab­siche­­rung, teils als Instrument sozialpolitischer Pro­gramme oder auch über bloße Ver­kaufs­ge­­­win­ne waren diese Wohnungsbauge­sell­­schaf­­ten in den 90ern die Spina dorsalis, das Rückgrat der lokalen Stadtent­wicklun­gen unter kommunaler Verwaltung. Aller­dings befanden sich in diesem ausgesiebten „Rest“ auch kaum noch viele verwertbare Rosinen, so­ dass der Kostendruck durch abrissge­fähr­dete Häu­ser und Investi­tions­­ruinen von An­fang an ziemlich hoch war und immer noch wächst.

In diese Lage, von jedem Interesse entkop­pel­ter Immobilien, stößt nun die „Einzelfall-Tak­tik“ des Vereins Haushalten (3). Ein­zelne, aus dem Markt herausgefallene Im­mobilien sollen „aufgefangen“ und auf­ge­wertet werden. Schlech­terdings wird die Sub­­stanz des Hauses erhalten und die Unterhaltskosten in pri­vate Hand verlegt, be­sten­falls gewinnt die Im­mobilie wieder an Wert und lässt sich an den Kreis der üblichen Marktspekulation rück­koppeln. Der Ver­ein tritt dabei wesentlich als Dienstleister auf, der die Opportuni­tätskosten beider Parteien, also den Aufwand der Stadtverwaltung und den Widerstand des eigentlichen Besitzers, senkt, um beide Seiten und ihre un­terschiedlichen Inte­­ressen, die beiden Kö­nigskinder, an einen Tisch zu bekommen. Ei­nerseits bedient er die Interessen der kom­munalen Stadtver­wal­tung, die Erhal­tungs­kosten unrentabler Wohn­­immobilien loszu­wer­den bei gleichzeitiger Aussicht auf Stadt­er­neue­rung und einen permanenten An­­sprech­part­ner in Sachen Besitzpflichten, an­de­rerseits ködert er den investitionsscheuen Eigentümer mit hausei­genen Bau­gut­achten, Schät­zung & Planung und Fremd­­leistun­gen, um dessen Interesse auf hö­here Rendite am Objekt zu fördern.

Den Schlüsselfaktor der Strategie bildet da­bei die eigentliche Nutzung. Denn ohne „Wäch­­ter“, die ein verfallsbedrohtes Haus re­­­vitalisieren, heizen, lüften etc. pp., ist ein sol­­­ches Objekt kaum ohne weitere Groß-In­­­ve­stition im Wert zu steigern. Und gerade die hohen Investitionskosten halten ja vie­­le Besitzer davon ab, ihre Immobilien auf­zu­­werten bzw. zu „halten“. Der Verein re­kru­tiert deshalb NutzerInnen, Künstler­grup­­­pen, Vereine etc., die bereit sind, un­kom­for­tab­le Ver­hältnisse und hohe Eigen­lei­stun­gen in Kauf zu nehmen, um kurzfri­stig (in der Regel fünf Jahre) günstigen bis miet­freien Nutz­­raum (i.d.R. kein Wohnraum) in den quasi vor­übergehend vom Ver­ein verwalteten Häu­sern zu erhalten. Der HausHal­ten e.V. schließt hierzu Nutzungs­ver­träge ab, so­ge­­­­­nann­te Gestattungsver­ein­ba­rungen „Raum“, die den Nutzraum, die Zeit und die Art und Weise der Nutzung fest­stellen, den Nutzern grundversorgende In­standhal­tungs­­maßnah­men wie Elektro- und Wasser­an­schlüsse, Dach­sicherung und sa­nitäre Anlagen zusichern und gewisse Ent­schädigungen für Eigenleistungen bei vor­fristigen Ver­­­trags­kün­digungen regeln. Die Nut­zungs­ver­träge sind alle binnen drei Mo­naten kündbar, was einem herkömmlichen Miet­verhältnis entspricht. Der Haus­Halten e.V. kann des­halb als quasi besitzender Vermieter auftreten, da er gleichzeitig mit dem derzeitigen Verwalter bzw. rechtmä­ßi­gen Eigentümer des entsprechenden Objektes ei­ne sogenannte Ge­stattungsverein­ba­rung „Haus“ abschließt, in welcher dem Ver­ein Ver­wal­tungs­rechte übertragen werden und die Be­reiterklärung erfolgt, grund­ver­­sor­gen­de In­standsetzun­gen und erste Be­sitzpflichten hin­sichtlich der Verkehrs­si­cher­heit und Haf­tung der Immo­bi­lie zu über­nehmen. Durch diese doppelte Ver­trags­­struk­tur zwischen NutzerIn und Verein und zwi­schen Ver­ein und Eigentümer/Ver­walter, al­so ei­nerseits durch die Zusicherung über die Nut­ze­rInnen, monatliche Be­triebs­­kosten­ab­schlä­ge zu zahlen und ande­re­rseits durch die Versicherung des Besitzers, eine dies­­­be­zügliche Abrechnung auch in Gang zu setzen, etabliert der Verein so et­was wie ei­ne Vor­­form eines gewöhnlichen Miet­ver­hält­­nisses. Und von daher versteht sich auch das Ziel des Vereins, die Wächterhäuser wie­der zu „entlassen“. Gemeint ist da­mit näm­lich in erster Linie der Rückzug der vermittelnden Vertragsstruktur bei gleich­­zeitiger Etab­lie­rung eines direkten Miet­­vertra­ges zwischen den Parteien. Was na­­türlich im weiteren bedeutet, dass der Ei­gen­tümer be­­ginnt, seine wertgesteigerte Im­­mobilie bes­­ser zu pflegen und weiter zu in­vestieren (Hurra, hurra, der Markt ist wie­­der da!) und die Stadt­verwaltung bzw. Kom­mune sich da­rüber freuen kann, ein miss­liebiges Objekt aus dem Bestand losgeworden zu sein und gleichzeitig nun ein Ansprechpartner für Besitzpflich­ten und Kostenumlagen existiert.

Brosamen von der Herren Tische

Also rundherum ein Tisch, an dem alle Interessen gleichberechtigt zur Geltung gelangen? Ein Ideal-Modell um verfallsbedrohte Häu­ser zu halten und die maroden Arbei­ter­vier­tel wieder zu vitalisieren, mit emanzi­pa­to­rischen Impulsen gar zu beleben? Nein, denn insbesondere die direkten Interessen der Nut­zerInnen werden in dieser Interes­sens­run­de vorrangig vom Verein repräsentiert. Und hier liegt auch der Hase im Pfeffer. Genau be­se­hen wird nämlich die runde Interessenstafel hauptsächlich durch die substanzerhaltenden Kal­küle gestiftet. Der Ei­­gentümer hofft auf mehr Rendite, die Ver­waltung auf sinkende Ko­sten und ein gutes Stadtbild und der Ver­ein auf die Rettung architektonisch wert­voller Ge­bäude. Die Nutzung scheint letztlich nur Mit­tel zum Zweck, zweitrangig und be­liebig zu sein. Von einem umfassenden sozialpolitischen Plan, einer langfristigen Perspektive so­zia­ler Stadtentwicklung finden sich also wenig Spuren. Der Verein be­hält sich zwar vor, am konkreten Nutzungskonzept zu entscheiden, ob die jeweilige Nut­zung sinnvoll und pas­send zu seinen aktuellen Stadtent­wick­lungs-Vorstellungen ist. Letztlich aber ist da­von auszugehen, dass jede x-beliebige Nutzung in Kauf genommen wird, um ein leerstehendes Haus, bei dem die Verhand­lun­gsten­den­zen mit den anderen Parteien bereits positiv sind, mit „Wäch­tern“ zu besetzen. Es sticht da­bei der Wider­spruch besonders heraus, dass der Verein zwar über die konkrete Nutzung so­ziale Stadtent­wick­lung betreiben will, dafür aber keinerlei eindeutige Kriterien anzugeben weiß, was den Schluss nahelegt, dass er gar kei­ne spezifischen Vorstellungen progressiver sozia­ler Stadtentwicklung ausgebildet hat. Stadtentwicklung gilt allein dann schon als er­folg­­­reich, wenn die Immobilien an die freie Spe­­kulat­ion des Marktes angekoppelt sind und von privaten Investoren wieder markt­kon­­form betrieben werden. Dass damit auch das schnelle Aus alternativer Nutzun­gen droht, wie im Beispiel der Lower East Side in New York (3), verschweigt der Verein tunlichst, denn auf langfristige Perspekti­ven hat er es gar nicht abgesehen. Das Wäch­ter­haus-Konzept begnügt sich mit einer Ni­schen­politik, bei der letztlich vor allem die Ka­­pi­tal-Interessen von Eigentümer und Stadt­­verwaltung be­dient werden. Zwar stellt er auch An­sprech­partner für die Nutze­rIn­nen ab, aber ob auf dieser Kommunikationsebene Fragen der hausübergreifenden sozialen Stadtent­wick­lung überhaupt verhandelt wer­den, bleibt äußerst fraglich. Man kann so­gar da­von ausgehen, dass der Verein durch die kurz­fristige Projektanlage und dem Ziel der Mark­trückbindung, schließlich durch die Inte­ressensvertretung von Stadt und Be­sit­zer, progressive Vorstellungen über Nutzung und Wirkung der Wächterhäuser un­ter­bindet, insofern diese bei den NutzerIn­nen über­haupt vorhanden sind bzw. angesammelt werden. Aufwertung der Quartiere, d.h. für die Stadtplaner des HausHalten e.V. auch nicht viel mehr als Wertsteigerung der Immobilien. Noch dazu verhindert der Ver­ein über die Re-Aktivierung des rechtmä­ßi­gen Besitzers und die Etablierung gewöhnlicher Mietverhältnisse, dass solche Häuser anderweitig und langfristiger „besetzt“ und genutzt werden.

Es bleibt also Alles in allem ein fades Bild zu­rück. Wenn die Wächterhäuser in Linde­nau und Plagwitz Freiräume eröffnen und em­an­­zipatorische Impulse in die angrenzenden Quartiere ausstrahlen, dann wohl haupt­­säch­lich durch die Eigeninitiative der dort an­ge­siedelten „Wächter“, sofern diese nicht vom Verein selbst ausgebremst werden. Das wird in den folgenden Heften noch genauer an den konkreten Projekten zu untersuchen sein. Und sicher, der entstandene Nutzraum und die, wenn auch kurze, Zeit der alternati­ven Nut­zung, befördern solche Möglichkeiten des sozialen Engagements. Den­noch sollte sich jedeR, der/die erwägt, in ein Wächterhaus zu ziehen, klar darüber sein, auf welcher Schmalspur der Verein HausHalten e.V. ei­gentlich plant. Die hohen Eigenleistungen wer­den zwar durch den günstigen Nutzungspreis ei­ni­germaßen ausgeglichen, aber lang­fri­stig ar­beitet mensch hier nur dem Besitzer in die Taschen. Und wenn diesem, der Stadt oder dem Verein die Nutzung nicht mehr passt, ja dann, flattert wohl ganz schnell die Kündigung ins Haus.

Auf dieser Grundlage sind die Wächterhäu­ser ganz sicher nicht der neue Rettungsanker Lindenaus, nicht mal ein Tropfen in die trockene Kehle. Denn solange die Priorität al­lein auf den Substanzschutz und die spe­ku­lative Verwertbarkeit der Häuser gelegt wird, solange fehlt eben eine handfeste und lang­fristig nachhaltige Per­spektive für die positive soziale Stadtent­wicklung in den Vierteln. Und um diese vor­an zu treiben, soll­te man in Zukunft nicht die Häuser „halten“, um sie dem Besitzer at­trak­tiv zu machen, son­dern jene enteignen, die ja offensichtlich kein Interesse mehr an ih­rem Besitz aufbringen, und die Häuser eben „besetzen“ und kol­lektivieren. Als neue Ba­stionen des sozialen Zusammenlebens könn­ten diese dann bspw. selbstverwaltete Ar­beitsbörsen, auto­no­me Mie­ter­kol­lek­tive oder Büros von unab­hängigen Stadt­teil­räten, Gewerk­schafts­syn­di­katen und anderen sozial aktiven Gruppen beherbergen, schließ­lich Raum für Fahr­ge­mein­schaften bis hin zur gemeinsamen Kin­­derbetreuung bieten; etwas an­de­res frei­lich als erlebnisorientierte Künst­lerInnen und kreative Individuen des verarmten Bil­dungs­bürgertums. Eine solche Perspektive blie­be sicher nicht im Kleinen stehen und nö­­tigt dem Standpunkt einiges an Idealismus ab. Aber ohne den, zumindest ohne den Mut und die Hoffnung der unteren Schichten, werden in Lindenau auch in Zukunft nur kleine Brezeln gebacken, Brosamen von der Herren Tische, die den Hunger und die Trostlosigkeit kaum stillen.

(clov)

 

(1) Der Leipziger City-Tunnel-Bohrer, den man extra für die unterirdischen Baumaßnahmen entwickelt hat, wurde auf den wenig phantasiereichen Namen „Leonie“ getauft. Das ganze Bauprojekt dürfte durch die anhaltenden Verzögerungen (3 Jahre +) mittlerweile schon ca. 1,5 Milliarden Eu­ro verschlungen haben. Allein der Eigenanteil von Stadt und Land ist im letzten Jahr von 500 Mil­lionen auf weit über 800 Millionen geklettert.

(2) Siehe hierzu auch FA!#25 „Neue Häuser“

(3) Freilich ist die Strategie nicht ganz neu. Schon in den 1980ern wurde bspw. genau mit die­sem Mo­dell (5-Jahres-Verträge mit kreativen Köp­fen, In­tellektuellen etc. pp.) die Lower East Side in New York entwickelt bzw. „gentrifiziert“. Mit der Fol­­ge, dass die meisten der Angeworbenen nach Ab­lauf der Verträge durch das teilweise bis auf über 500% gestiegene Mietniveau wieder ver­drängt wurden. Siehe hierzu auch das interes­san­te Interview in der aktuellen Direkten Aktion mit Prof. Dr. Neil Smith aus New York, der dort schon seit langem zu Gentrifizierungsfragen forscht: DA, Nr. 186, „Kapitaler Abschaum“, S. 6

„Vom Rand her schrumpfen“

Fritjof Mothes im Interview

Fritjof Mothes, geboren 1970, innerhalb des Vereins für Nutzerbetreuung und Eigentümerberatung zuständig, ist Stadt- und Regionalplaner, Mitherausgeber der „Leipziger Blätter“ und einer der Initiativgeber zur Gründung von HausHalten e.V. sowie Vorstandsmitglied.

FA!: Sie sind von Beruf Stadt- und Regionalplaner, wie kam es zur Idee, zum Verein HausHalten und wann?

Fritjof Mothes: Als Stadtplaner produziert man ja viel Papier, nur an der Umsetzung ha­­pert es meistens. Wir wollten 2003 mal pro­­bieren, ob man das Konzept der Stadt­teilplanung für den Leipziger Westen auch in die Tat umsetzen kann. Damals haben wir uns pro Haus nur eine Person vorgestellt, die dort lebt und arbeitet. Letzt­end­lich hat sich ein Team aus Beteiligten, welche sich aus diesen Zusammen­hängen kannte, zusammengefunden mit dem Ziel, ein praktisches Beispiel zu schaffen und zu sehen, ob das tragfähig ist.

FA!: In knapp 4 Jahren von einer lokalen Initiative zu einem staatlich gefördertem Kompetenzzentrum. Sind sie zufrieden mit den Fortschritten des Vereins? Werden ihnen Steine in den Weg gelegt?

FM: Wir sind von der Resonanz, vor allem von der Nachfrage, was Interessenten für die Nutzung der Gebäude betrifft, über­­rascht. Wir hatten schon Zweifel, ins­be­­­­­­­­son­­­dere als wir im letzten Jahr den Schritt in den Osten getan haben, wo wir mit der Ludwigstraße und der Eisenbahn­stra­­ße zwei Häuser haben, die sehr groß sind. Aber auch dort hatten wir nach we­nig­­­­­en Besichtigungen das Haus quasi voll. Nur manch­mal hatten wir Schwierigkeiten, die Eigentümer zu überzeugen, weil die sich unter dem Konzept nichts vor­stel­­l­­­­en konnten. Generell können wir uns über mangelnde Unterstützung nicht be­schwe­­r­­en. Problematisch ist eher, dass wir als kleiner Verein mit rund zehn Mitgliedern mit den Kapazitäten an die Grenzen stoßen.

FA!: Das Wächterhaus-Konzept ist eigentlich unabhängig vom Interesse der Stadt, be­vor­­zugt die Substanz an vorhandenen Grün­der­häusern zu erhalten. Warum also stehen ge­rade diese Häuser im Zentrum der Aktivi­tä­ten des Vereins und können Sie sich vorstellen, dass etwa auch Plattenbauten bspw. in Grünau als „Wächterhäuser“ fungieren?

FM: Grundsätzlich orientieren wir uns da­nach, dass wir bewusst nicht in Stadtteile wie Südvorstadt oder Connewitz gehen, die es auf dem Immobilienmarkt leich­ter ha­ben. Wir glauben, dass sich da auch nor­male Investoren zur Genüge finden. Wir ge­hen ganz bewusst in die Stadtteile, wo wir Probleme sehen, wie bei­spiels­­­weise im Leip­ziger Osten und Westen. Man kon­nte vor einigen Jahren nicht sagen, dass Lin­denau jetzt der hippeste Stadt­teil ist. Wir hatten Anfangs in einem Haus in der Dem­meringstraße auch durch­aus eine hohe Fluktuation, weil Bewohn­er wieder zu­­rück nach Connewitz ge­zogen sind, da ihnen der Stadtteil nicht kre­ativ und hip ge­­nug war, das hat sich mitt­ler­weile geän­dert. Wir glauben, dass das durchaus ein Bau­stein ist, dass Wächter­häuser sich in­zwi­schen dort auch konzentrieren. Mitt­ler­­weile gibt es dort meh­re­re, die sich gegen­­seitig befruchten und Ge­gen­den, die vor­her eben nicht so ange­sagt waren, mit in den Fokus rücken. Zur Aus­wahl der Ge­bäu­de kann ich nur sagen: Unser Hauptziel ist es, die his­torisch­en, das Stadtbild prä­­gen­den Gebäude zu hal­ten und für Leip­­zig über die Zeit zu ret­ten. Wir gehen ganz bewusst nicht nach Grün­au, weil wir der Überzeugung sind, dass wir es dort mit einem erheblichen Leer­stand zu tun ha­ben und natürlich auch sehen, dass es Ge­­biete und Wohnungs­­­­überhänge geben wird, die abgebaut wer­den müssen. Und da sagen wir: den his­torischen, urbanen Kern zu behalten ist wich­tig. Das heißt auch, dass wenn man schon schrumpft, man vom Rand her schrumpft.

FA!: Es ist aber vorstellbar, dass der Verein etwa in Reudnitz oder Neustadt/Schönefeld Häuser übernimmt?

FM: Wir sind da dran und wenn sich Partner finden, sowohl auf Eigentümerseite als auch bei den Nutzern, dann werden wir das auch angehen. Uns ist es allerdings wichtig, besonders die den Stadtteil prägenden Gebäude anzugehen und das sind vor allem die Eckgebäude an den Haupt­ver­kehrsstraßen. Ich glaube, das kann man ja an der allgemeinen Sanierungsent­wick­lung sehen, dass sich die ruhigen Seitenstraßen oft von ganz alleine entwickeln, aber sich an den Hauptverkehrsstraßen, die das Bild der Stadt ganz besonders prägen, die Probleme konzentrieren. Das ist unser Hauptbetätigungsfeld. Da befinden wir uns übrigens vollkommen im Einklang mit den Stadtentwicklungszielen der Stadt Leipzig. Da arbeiten wir eigentlich Hand in Hand und haben auch keine gegen­sätzlichen Auffassungen.

FA!: Der Verein bildet ja einen runden Tisch der Interessen. Neben denen des Eigentümers und der Stadt sollen auch die NutzerInnen-Interessen eine Rolle spielen. Wie deckt sich die Arbeit im Verein mit ihren Idealvorstel­lungen von Stadtentwicklung insbesondere in Bezug auf die soziale Entwicklung von Quartier und Milieu?

FM: Unser Ansatz verfolgt mehrere As­pek­­­te, das ist zum Ersten der bereits er­wähn­­­te Substanzerhalt. Der Zweite ist, dass dort Stadtteile belebt werden sollen. Aber wir wollen auch ganz bewusst jene un­­ter­stützen, die es auf dem klassischen Markt schwer haben. Das bedeutet ei­ner­seits, Räumlichkeiten zu bieten für Kreative, Künstler, für soziale Initiativen, die oft auch am Anfang stehen. Manche haben vor ihrem Einzug nur auf dem Papier ex­­istiert, weil sie sagten: „Wir können nicht arbeiten, wenn wir keine Räume haben.“ Wir bieten zu sehr günstigen Kon­­­ditionen die Räume, aber auch Zeit – aufgrund dessen weil es nicht so teuer ist – zu probieren und sich zu entwickeln. Das Andere, was uns auch sehr wichtig ist, ist für Existenzgründer Möglichkeiten zu bieten. Wir haben mehrere kleine Büros, zum Beispiel ein Grafikbüro, oder eine Sei­fen­siederei, die es sich überhaupt nicht hät­ten erlauben können, sich eine klassische Einheit irgendwo auf dem regulären Markt zu mieten, aber sich jetzt ausprobie­ren können und vielleicht irgendwann so­weit entwickeln, dass sie damit auch Geld verdienen können und sich in den normalen Wirtschaftskreislauf einbringen.

FA!: Wenn sich nun viele soziale Vereine für ein leerstehendes Ladenlokal bewerben würden, wie würden sie entscheiden, wem sie den Vorzug geben?

FM: Wir machen mehrere Besichtigungen und meistens fügt es sich dann, dass sich im Prinzip so ein oder zwei be­son­ders sinnvolle für den Laden zusamm­en­finden. Dann sehen wir, was uns auch im Zusammenspiel mit den anderen Nut­zern am sinnvollsten erscheint und dann ver­suchen wir auch relativ schnell, die Nut­­zer im Haus gemeinsam entscheiden zu lassen, was dort sinnvoll ist. Weil die Nut­­z­ungen sich ja auch vertragen müssen, also wenn auch mal wo länger Musik ge­spielt wird, passt das nicht, wenn da­run­­ter etwa ein Yogakurs gemacht wird. Das ist immer ein sehr diffiziler, spannender und einzelfallbezogener Prozess.

FA!: Inwieweit hilft und berät der Verein bei der Planung und Finanzierung der NutzerInnen-Interessen?

FM: Im Grundsatz sind die Leute für ihr Kon­zept selbst zuständig, wir hoffen – und das hat bisher auch immer geklappt – dass es innerhalb des Hauses eine Mischung gibt und die sich gegenseitig helfen können. Zum Beispiel funktioniert in­zwi­sch­en auch die Kommunikation zwischen den Wäch­terhäusern ganz gut. Das betrifft nicht nur Nutzerkonzepte, sondern auch bau­liche Sachen, weil am Anfang der Ausbau dominiert – die Häuser sind ja teil­weise in nicht gerade berauschendem Zustand. Wir sehen es aber nicht so sehr als unsere Aufgabe an, dort inhaltliche Unter­stützung zu geben, das ist in anderen Städten ganz anders. Wie jetzt in Halle oder auch in Chemnitz, wo ein Verein die Wäch­terhäuser etablieren will. Dort will der Verein die Kreativen auch in den in­halt­lichen Konzepten unterstützen, das ist hier in Leipzig nicht so sehr das Thema.

FA!: Welche Erfahrungen haben Sie mit der Inte­gration der Nutzungsinitiativen der „Wäch­ter“ mit ihrer nach­bar­schaft­lichen Um­gebung/ihrem Milieu?

FM: Unterschiedlich. Ich habe den Eindruck im Gespräch mit den Nutzern, dass die Akzeptanz steigt und man sich auch damit auseinandersetzt, was hier im Stadtteil passiert. Ich glaube, dass es wichtig ist, für eine gewisse Offenheit einzustehen, das ist der positive Aspekt. Auf der an­deren Seite ist es aber auch so – und da­für gibt es auch ein, zwei Beispiele – dass wenn Abends mal Party ist und das nicht unbedingt Konzept des Ladens war, dass sich Leute gestört fühlen, wenn da Leute auf der Straße stehen mit ’ner Bierflasche und drinnen Musik kommt. Da gibt’s dann auch mal Nachbar­schaftskon­flikte, wo wir dann wieder dran sind und gucken müssen, das im Zaum zu halten, zu vermitteln und die Nutzer aufzufordern, sich an die Regeln zu halten. Man kann eben nicht bis 24 Uhr Techno spielen, wenn ein anderes Konzept eigentlich vereinbart war.

FA!: Ziel des Vereins ist es ja, irgendwann aus der Betreuung der Wächterhäuser auszu­stei­gen, sie sozusagen in die „Selbstbestimmung“ zu entlassen. Bisher ist das nur mit dem Wäch­terhaus in der Kuhturmstraße gelung­en. Was waren hier die besonderen Umstände, die dies er­mög­lichten? Und werden bald weitere „Wächterhäuser“ diesem Beispiel folgen?

FM: Grundsätzlich ist es so, dass wir eine Art Durchlauferhitzer sind. Unser Ziel ist es, eben nicht unendlich viele Wächterhäu­ser zu haben, sondern es geht darum, die Nut­zergemeinschaften so zu bilden, dass sie irgendwann in die Selbständigkeit ent­lassen werden können. Dass das bei der Kuh­turm­straße gut funktioniert hat, liegt da­ran, dass es in diesem Haus nur wenige Nut­zer gibt, so drei oder vier an der Zahl, die sich unter­einander sehr gut kennen, und auf der anderen Seite haben wir eine Ei­gen­tümerin, die selbst Leipzigerin ist, mit der wir sehr gut zusammenarbeiten und eng verbunden sind, also eine Ver­trau­ensbasis da ist. Bei den anderen Häusern ist es grundsätzlich ein bisschen kompli­­­zierter, weil es einfach sehr viel mehr Nutzer gibt und das Verfah­ren ja so ist, dass wir als Verein mit dem Haus­ei­gen­­tümer eine ‚Gestattungsverein­ba­rung Haus’ auf der einen Seite treffen und auf der anderen mehrere ‚Ge­stat­tungs­­ver­ein­ba­r­ungen Raum’ mit den Nut­zern. Wenn nun die Nutzer eines Hauses sich zu einer Ge­mein­schaft zusammen­schlie­ßen und statt mehrerer nur noch einen Vertrag mit uns haben als Zwischenstufe und dann die­ser eine Vertrag mit dem Eigentümer di­rekt zusammengeführt wird, da können wir uns dann herausziehen. Und das ist na­tür­lich in einem Haus, wo es zehn verschie­dene Nutzer gibt, sehr viel kom­pli­zierter als in einem kleinen Haus wie in der Kuhturmstraße. Wir haben jetzt auch zwei Häuser, wo wir uns vor­stellen können, dass das sehr bald der Fall sein wird. Man darf aber auch nicht ver­gessen, dass die Eigentümer auch froh sind, einen seriösen „Puffer“ zwischen den Nutzern und sich selbst zu haben.

FA!: Hoffen sie denn, dass sich der Verein durch positive Entwicklung eines Tages selber überflüssig machen könnte?

FM: Ja, wir sehen das Projekt ‚Wächterhäuser’ bewusst als temporär. Wir glauben oder erhoffen, dass wenn man sich die Sanierungsentwicklung in Leipzig anschaut und auch die weniger wertvollen Häuser, die diese extremen Probleme haben, dass man uns in zehn Jahren nicht mehr braucht, weil dann dieses Problem der geflickten Häuser hoffentlich weitgehend befriedigt ist. Wir sind gerade dabei – das wird unser Schwerpunkt in nächster Zeit sein – dieses Modell in andere Städte zu exportieren; der andere Schwerpunkt ist es, das Modell weiter zu entwickeln, uns zu überlegen, ob es nicht auch andere Varianten des Hauserhaltes gibt. Da werden wir schauen, ob es gerade für Kleinstädte, wo die Probleme ja noch viel, viel größer sind als in Leipzig, noch weitere Modelle gibt und uns dann darauf konzentrieren in Zukunft.

FA!: Vielen Dank für das Interview.

bonz

Zschocher 23

Wächterhäuser im Portrait

Das Projekt des HausHalten e.V. (vorge­stellt in FA! #29) mausert sich zum Exportschlager: Das Bundesministe­rium für Verkehr, Bau und Stadtentwick­lung hat beschlossen, den Verein bis Sep­tember mit 135.000 Euro zu fördern. Mit dem Geld soll vorrangig die Renovierung der Lützner Straße 39, wo der Verein offiziell seit einigen Monaten seinen Sitz hat, voran­getrieben sowie ein „Bildungs- und Kom­petenzzentrum“ eingerichtet wer­den. Außerdem sollen damit Vorträge, eine In­ter­netpräsenz und Infobroschüren fi­nan­ziert werden, um das Modell wei­teren Städ­ten mit hohem Leerstand schmack­­haft zu machen. Auf Minister­ebe­ne scheint mensch also durchaus vom Kon­zept des kleinen Vereins überzeugt zu sein.

Für HausHalten ist dieser Erfolg offen­sichtlich auch ein Ansporn, das Erfolgs­re­zept, mit dem beinahe vier Jahre gut gefahren wurde, zu erweitern und bau­tech­nisch Neu(brach-)land zu betreten. Das seit diesem Juni zwölfte Grün­derzeithaus ist nicht nur an der Kreuzung Zscho­chersche und Karl-Heine-Straße und so­mit an der Schnittstelle zweier Haupt­ver­kehrsadern gelegen, sondern zugleich wird erst­mals ein Objekt aus dem Bestand der Leipziger Wohnungs- und Bau­gesellschaft (LWB) der Obhut des Vereins überlassen. Auch in anderer Hinsicht kann die Im­mo­bilie des größ­ten lokalen Woh­nungs­­an­bieters mit Be­son­der­heiten auf­war­ten: Rekrutierten sich die Nutzer_in­nen, von HausHalten nur „Wächter“ ge­nannt, bisher fast aus­schließ­lich aus Ver­eins­­mit­glieder_innen, die dem experi­men­tieren und verwirklichen außergewöhn­li­cher unkommerzieller Ideen behaftet waren, schreibt der Eigentümer LWB nun ei­ne explizit gewerbliche Nutzung seiner Räum­­lichkeiten vor. Nach ersten Be­ob­ach­­tung­en hat HausHalten bei der Aus­wahl der Nutzer_innen aber wohl sehr ge­nau darauf geachtet, keine direkte Kon­kur­­renz zu den Anrainerläden entstehen zu lassen. Jedoch drängt sich der Eindruck auf, als wolle die LWB über eine kostenlose Re­novierung des jahrelang leer stehenden Hauses hinaus vor allem eine Feldstudie be­treiben, ob dieses Objekt in naher Zu­kunft wieder marktfähig werden könnte. Direkt gegen­über, auf der anderen Seite der Karl-Heine-Straße ist eine Brach­flä­che, dort stand bis 2005 noch ein ähn­liches, denkmalgeschütztes Gründerzeit­haus, welches die LWB kurzerhand räu­men und abreißen ließ, weil es unrentabel war. Die Wächter_innen fungieren also als Ver­suchs­kaninchen, in ihren Gestattungs­ver­ein­barungen (in denen die Nutzungs­rechte für fünf Jahre vom Vermittler Haus­Halten übertragen werden) ist eine Klausel enthalten, welche der LWB erlaubt, die Vereinbarungen mit dem Ver­ein schon nach 24 Monaten aufzukün­di­gen. Miet­ver­t­räge im juristischen Sinne gibt es näm­lich nicht, die experimentier­freudigen jun­gen Nutzer_innen müssten sich also im schlimm­sten Fall kurzfristig andere Domi­zi­le suchen. Im Folgenden werden die Kon­zepte der neuen Be­wohner_in­nen der Zschocherschen Straße 23 vor­gestellt und wie sie den teils stark verkommenen Raum aufwerten.

Veganes und Indisches

Im Erdgeschoss bemühen sich Franzi, Christoph, Markus und Adel, das Chaos bis Mitte Oktober in einen Imbiss zu ver­wandeln, der außer dem üblichen Spä­ti­sor­timent auch vegane und vegeta­rische Speisen zum kleinen Preis anbieten wird. Die stark heruntergekommenen 120 Qua­d­rat­­meter können sie nutzen, weil die ur­sprünglich vorgesehenen Personen kurz­fri­stig abgesprungen sind. Sie suchen die Ei­­gen­verantwortung, ein Einkommen oh­ne Chefs, wollen der alternativen Szene im Leipziger Westen einen Anlaufpunkt ge­ben und eine Lücke im Angebot der preis­günstigen und gesunden Ernährung ab­seits von VoKüs schließen. Der Ent­wick­­lung des Stadtteils sehen sie freudig ent­­gegen; weil die Südvorstadt überlaufen und teuer ist, wird sich die Jugend wohl auch in Zukunft mehr gen Westen orien­tie­­ren. Noch vor der eigentlichen Eröff­nung ist geplant, die Räumlichkeiten mit Le­sungen und Konzerten zu bespielen, In­ter­­essierte sind aufgerufen, sich zu mel­den.

Nebenan werden Dana und Tom den La­den Akash eröffnen, der Waren des täg­lichen Bedarfs, hauptsächlich aus Indien, vertreiben wird. Das Paar betreibt schon seit längerem einen Internetversand unter selben Namen (www.akash.de), hat mehre­re Jahre in Indien gelebt und, weil der Platz in den heimischen Wänden knapp wurde, im Wächterhaus eine ihrer Ansicht nach ideale Möglichkeit gefun­den, ihre Waren auch ohne großes finan­zielles Risiko einem größeren Kundenkreis bekannt zu machen. Sie schätzen die an­ste­henden Renovierungsarbeiten der 70 Quadratmeter als gering ein, am 13. Sep­tem­ber soll die Eröffnung sein und das vor­handene Angebot im Quartier ergän­zen. Eine echte Alternative zur Karl-Lieb­knecht-Straße entstehe hier, vor allem die Karl-Heine-Straße sei dabei, der Lebens­ader der Südvorstadt den Rang abzulau­fen, ist Tom überzeugt. Und das deshalb, weil die Strukturen hier noch nicht so gefestigt seien und viel Raum für Krea­tivität böten. Wer glaubt, sich in die Innengestaltung des Ladens sinnvoll einbringen zu können oder eigene Pro­dukte über Akash vertrei­ben möchte, kann sich gerne melden.

Räucherwerk und Möbel

Im 1. Obergeschoß ist Anja gerade dabei, auf 120 Quadratmetern ihren lang geheg­ten Traum vom eigenen Laden zu verwirk­lichen, welcher aber nicht nur ein Laden sein soll, sondern auch ein Ort der Begeg­nung. Sie freut sich über die logistische Unterstützung des Vereins und lobt den Zusammenhalt der Hausgemeinschaft. Neben einer Werkstatt und einem Ver­kaufs­­raum für ihre Gewürze, Räucherwerk und selbstgezogenen Kerzen (die auch bei Akash erhältlich sein werden) soll später eine Töpferin das Angebot ergänzen. Au­ßer­dem sucht sie noch Leute, die sich in das Gesamtkonzept einbringen und den künf­tigen Seminarraum mit Leben erfül­len wollen. Sie könne sich sehr gut Hand­werkskurse oder etwa Schulungen zur gewaltfreien Kommunikation vorstellen. Ihr Nachbar auf der Etage ist Jörg, ein Mö­bel­bauer, der dort seine Designerstücke fertigen und präsentieren will.

HGB-Etage

Das Stockwerk darüber ist in die Hände von Andi, Markus, Florian, Kathe und Marian gelegt worden, allesamt Stu­den­t_in­nen der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB). Sie freuen sich über den relativ günstigen Arbeitsraum und die Nähe zur künstlerischen Szene im Wes­twerk und der Spinnerei. Ihre 210 Quadratme­ter ste­hen bereits jetzt weit­gehend zur Nut­zung bereit, ob sie in den Räumen jemals eine Ausstellung ma­chen werden, ist un­klar. Ein Erlöse ver­spre­chendes Mo­dell ha­ben sie nicht, dafür Arbeitsraum, der sie wenig kostet und schnell verfügbar ist, weil ihre Ansprüche ge­ring sind. Auch sie sehen noch ein enor­mes Entwick­lungs­po­ten­zial im Revier, ihre Freude wird lediglich da­durch getrübt, dass die LWB sich viel Zeit lasse, den Stroman­schluss zu verlegen.

Yoga und Kunst

Im dritten OG wer­keln momentan Manuela und Claudia auf 80 Quadrat­me­tern, um ab September dort Kurse für Ashtanga Yoga anbieten zu können. Sie schildern es als besondere Art der Bewe­gungs­meditation, eine dynamische Art der Körper- und Geistarbeit – aber nicht zu eso­terisch – für die es bislang in Leipzig kei­ne Schule gebe, die Anfängerkurse an­bie­tet. Ihr Ziel ist, den Raum auch an­de­ren zu überlassen, damit diese dort Kur­se anbieten können, zum Beispiel für Medi­tation, Yoga oder Reiki. Darüber hinaus sind wöchentliche Treffen angedacht, um einen Treffpunkt für Gleichgesinnte zu bieten. Ihre Nach­barn werden drei Künst­ler werden, die dort ihre Ateliers einrich­ten wollen, aber bislang noch nicht in Er­scheinung getreten sind. Ob jene dann auch ein Gewinn schöpfendes Ge­schäfts­modell vorweisen können war daher noch nicht in Erfah­rung zu bringen. Auf die ersten Erlebnisse der Wächter_innen sowie Reaktionen von Seiten der LWB darf mensch gespannt sein.

(bonz)

Hintergründe aus FA! #29

Wie im letzten Heft bereits vorgestellt, in­teres­siert uns am Wächterhaus-Konzept des HausHalten e.V. am meisten, inwie­weit das Ganze im Sinne sozialer Stadt­ent­wicklung in die Pflicht genommen wer­den kann. Anlass hierzu gibt der Ver­ein selbst, der sich dieses entwick­lungs­po­litische Ziel ja setzt und sich dadurch auch profiliert. Als Zwischenergebnis muss­ten wir jedoch feststellen, dass der HausHalten e.V. neben der Höhertaxie­rung des Verkehrswerts der Häuser keine we­sentlich soziale Perspektive aufweist und zudem kaum Kriterien anzugeben weiß, nach denen eine solche positive Ent­wicklung projektiert und schließ­lich auch for­ciert werden könnte. Deswei­te­ren wurde deut­lich erkennbar, dass die Interessen derjenigen, die man ja als Protago­nisten einer ge­wünsch­­ten Entwicklung be­trach­ten muss, näm­lich die WächterIn­nen zuallererst selbst, im Konzept des Vereins am wenigsten zur Geltung kommen. Am runden Tisch sitzen letzt­lich nur das Ka­­pi­­talinter­esse des eigentlichen Besitzers, neben den In­ter­essen der Stadt Kosten zu sen­ken und den Eigeninteressen des Vereins. Bedenkt man dabei, dass über die Er­he­bung von Neben­kosten und den an den Verein zu entrichtenden Mitgliedsbei­trag die Nutzung nur noch halb so „günstig“ ist, hohe Eigenleistungen zu er­brin­gen sind und quasi kein Mietrecht in Anspruch genommen werden kann, dann wirkt der glänzende Vorschein des Kon­zeptes doch schon reich­lich fade. Denn es dürfte klar sein, dass eine „klassische Gen­tri­fi­zierung“ – indem hö­here Mieten ein­fach „soziale Probleme“ in an­dere Stadt­teile verdrängen – keine nachhaltig so­ziale Entwicklung darstellt.

Trotz dieser Kritik an dem Modell „Wäch­ter­haus“ scheint es uns jedoch nicht müßig, die Praxis vor Ort, die Erfahrungen und das Enga­ge­ment der WächterInnen näher unter die Lu­pe zu nehmen. Denn fernab der mangelnden Zie­le des Vereins ist es ja möglich, dass von den Nutze­rInnen und ihren Projekten selbst po­sitive Impulse ausgehen, die man im Sinne so­zialer Stadtentwicklung verstehen könnte.

Diese Spurensuche führte uns aus aktuel­lem Anlass zuerst in die Zschochersche Straße 23, wo in diesen Tagen munter gewerkelt wird, um das neuste Wächterhaus schnellstens bezugfertig zu machen.

Fünf Jahre um – und nun?

Das Gründerzeithaus in der Lützner Straße 30 ist gleich in mehrfacher Hin­sicht interessant: Einerseits, weil es das erste Projekt war, dem sich der Verein HausHalten widmete. Es ist andererseits aber auch das erste Wächterhaus, das der Verein wieder aufgeben muss, mit der Konse­quenz, dass die bisherigen Nutzer­Innen ih­re Räumlichkeiten verlassen müssen. Desweiteren konnten die „Wächter“ zu keinem Zeitpunkt die komplette Fläche nutzen, sondern teilten sie mit Anderen, die nie dem Projekt angehört haben.

Aber mal von Anfang an: Der Haus­Halten e.V., im Oktober 2004 erst gegründet, suchte in Lindenau ein verfallenes Gebäude, das durch Inanspruchnahme von Fördermitteln und durch Eigenleistungen aufgewertet und nach dem Modell des Vereins (siehe FA! #29) nutzbar zu machen wäre. Schnell war ein Eigentümer gefunden, der sich über die kostenfreie Aufwertung seiner Immobilie freute. Allerdings stand das Haus an der stark befahrenen Bundesstraße nicht komplett leer: ein Pärchen bewohnte und bewohnt noch die erste Etage. Diesen ist es zu verdanken, dass zum Beispiel noch alle Öfen im Haus vorhanden sind und das Haus nicht als wilde Müllkippe zweckentfremdet wurde. Es mag dies einer der Gründe sein, warum der Eigentümer, ein Westdeutscher, welcher Mitte der 90er Jahre die­ses Haus erworben hatte, keine Ein­wän­de gegen eine Wohnnutzung erhob. Schließlich flossen einige tausend Euro Sicherungsgelder des Amtes für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung in die Immobilie, der Hausschwamm wurde vernichtet, die bröckelnde Fassade gesichert sowie das Dach abgedichtet.

Im Januar 2005 begannen die künftigen NutzerInnen mit der Instandsetzung und schon drei Monate später, als es Strom und ein Außenklo, aber noch kein fließend Wasser auf allen Etagen gab, zogen sie ein. Sie wurden von der Tatsache überzeugt, dass sie hier Freiräume geboten bekamen, um Neues auszuprobieren und das zu einem fairen Preis, denn die gegenwärtig neun „Wächter“ bezahlen außer den Nebenkosten gemeinsam 180 Euro Förder­bei­trag pro Monat an den Verein, also 20 Euro pro Kopf. Die NutzerInnen verteilen sich auf zwei WGs mit je drei Bewoh­nerInnen und drei Personen, die im Erdgeschoss eine Holzwerkstatt betreiben. Die WGs werden seit zwei Jahren ausschließlich von StudentInnen der Hochschule für Grafik und Buchkunst betrieben, nachdem es zuvor häufiger Stress unter den NutzerInnen gab. „Anfangs wohnte im zweiten Stock ein sehr engagiertes Pärchen, das offen war für alles und jeden, was aber zu sehr häufigen Mieterwechseln geführt hat, weil viele von denen nicht be­reit waren, Verantwortung für den Zustand des Hauses zu übernehmen“ erzählt eine Bewohnerin. Ein weiterer Streitpunkt war auch das Konzept für die Nutzung des Ladens im Erdgeschoß. Der trug anfangs keinen Namen, wurde später Kulturplatt­form Purpur getauft und heißt seit zwei Jahren Projekt- und Hörgalerie AundV.

Be­trie­ben wird der Laden von allen neun NutzerInnen gemeinsam. Auf den monatlichen Plena werden die Entscheidungen generell im Konsens gefällt, was wohl u.a. auf die Nichtexistenz eines stichhaltigen Konzeptes zurückzuführen ist. Außer reinen Party/Disco-Veranstaltungen ist prinzipiell vieles mög­lich und auch schon ver­wirklicht worden. Eine Einschränkung ist jedoch da­durch gegeben, dass die gesamte Front des Ladens fast nur aus großflächigen Schaufenstern besteht und da­durch der Lärmpegel niedrig gehalten wer­den muss. In der Regel gibt es eine Veran­staltung pro Monat, der Raum kann also auch von anderen Gruppen oder Einzelpersonen genutzt werden, wie zum Beispiel vom Projekt HOT SPOTS::DER STADTENTWICKLUNG des Institutes für Stadtentwicklung und Bauwirtschaft der Universität Leipzig, das dort regelmäßig jeden Monat im Semester eine Veranstaltung abhält. Wer Interesse hat, den Raum für eine Ausstellung, Performance, Installation, Theater, Filmvorführung oder ähnliches zu nutzen, kann sich jederzeit gerne unter kontakt@aundv.org melden.

Wie bereits angesprochen, wird das jedoch nur noch in diesem Jahr möglich sein, denn der Eigentümer ist äußerst unkoope­rativ und war zu keinem Zeitpunkt bereit, mit den NutzerInnen des Wächterhauses direkten Kontakt zu halten. Anders als bei dem Haus in der Kuhturmstraße 4, aus dem sich der HausHalten e.V. bereits 2007 zurückziehen konnte, weil die Nut­zerInnen ihre Mietverträge direkt mit der Ei­gen­tümerin abgeschlossen hatten, ist in dem nur 100 Meter entfernten Gebäude in der Lützner Straße, wel­ches das AundV beherbergt, ein Ende der Nutzung absehbar. Wenn im Januar 2010 der Vertrag ausläuft, möchte der Eigentümer das komplette Objekt verkaufen. Ob dies gelingt, ist allerdings zweifelhaft: zwar gibt es heute viel mehr Projekträume und StudentInnen in Lindenau als noch vor vier Jahren, dennoch ist die Mietaufwertung nicht beson­ders vorangeschritten, weil es in Leipzig ge­nerell an Kapital fehlt, oder genauer an gut­situierten EinwohnerInnen, die in der Lage wären, höhere Mieten zu zahlen bzw. in Gewerbe zu investieren. Somit liegt eine „echte“ Aufwertung des Kiezes noch in weiter Ferne. In diesem Sinne betrachten die Leute vom Wächterhaus in der Lützner 30 ihr Projekt eher als tempo­räre „Aufhübschung“ des Viertels zur Si­che­rung der Bausubstanz vor weiterem Verfall und sehen sich nicht als Prota­go­nistInnen einer sozialen und nachhaltigen Stadtentwicklung.

(bonz)

Im Osten was Neues. Im Westen aber auch!

Wächterhaus-Portrait Ludwigstr. 99

Es ist schon etwas außergewöhnlich, wie das Haus in der Ludwigstraße zu seinen neuen Bewohner_innen gekommen ist: Über einen Artikel auf dem angeblichen Nachrichtenportal Spiegel On­line erfuhr eine Familie in der Schweiz Ende 2006 von der Existenz des HausHal­ten e.V. Weil die Familie selbst über ein seit fünf Jahren leer stehen­des Haus im Osten Leipzigs verfügte, das ihr in langen Verhandlungen mit der Leip­ziger Wohnungs- und Baugesellschaft mbH rück­über­tragen wurde, nahm sie daraufhin Kontakt mit dem Verein auf. So zumindest die Dar­stellung auf den Internetseiten des Wäch­ter­hausvereins, obwohl die jetzigen Nutze­r_in­­nen des Hauses von vier Parteien, die das Haus besitzen, sprechen. Es wurde sich geeinigt und so konnte im Mai 2007 der Verein HausHalten mit der Suche nach Interessent_innen und Ende August die auserkorenen Nutzer_innen mit den Renovie­rungsarbeiten beginnen.

Daran beteiligten sich auch die Eigen­tü­mer­familien, denn zwei der insgesamt 15 Wohnungen im Haus unterliegen nicht dem Vertrag mit HausHalten, sondern wer­den von den Schweizer_innen als „Ferienwohnungen“ genutzt, so jedenfalls der Eindruck der an­de­ren Hausnutzer_innen. Von den ver­blie­benen 13 Einheiten fungieren alle bis auf eine als Wohnraum, teil­weise zugleich als Foto­studio und Probe­raum für Musiker. Lediglich eine Erdge­schoß­wohnung fand keine Interessent_in­nen. Dort wird momentan ein Gemein­schafts­raum urbar gemacht, in dem künftig nach den Vorstellungen der Nutze­r_in­nen auch eine VoKü und Film­aben­de veranstaltet werden können. Das müs­se sich al­ler­dings noch entwickeln, heißt es. An­regungen hierzu wird hoffentlich das an­­ste­hende Fest anlässlich der offiziellen Haus­­eröffnung am 15. August geben, wo sich auch die Bewohner_innen des be­nach­barten Wäch­terhauses in der Eisen­bahn­straße 109 ein­bringen werden. Im neuen Ob­jekt selbst gab es bereits eine Klang­in­stallation von einer Weimarer Studentin und mehrere Film­aben­de im geräumigen Innenhof.

Die Nutzer_innen selbst bezeichnen sich als aus­gesprochen gute Hausgemeinschaft, die sich momentan über nichts beschweren könne. Sie sind allerdings auch nur lo­se organisiert, halten regelmäßige Plena allein deshalb ab, um die wichtigsten Dinge zu besprechen, wie den Kontakt zu Eigentümern, Verein und der Presse. Ein in­halt­licher roter Faden, was die Außenwir­kung betrifft, ist noch nicht aufgegriffen worden, zu sehr ist mensch mit der Reno­vierung beschäftigt ge­wesen. Dies­be­züglich wird vor allem der gute Kontakt zu und die enge Kooperation mit den Ei­gentümer_innen als großer Glücks­fall an­ge­sehen. Als Beispiel werden vor allem die Vielzahl an Gestaltungsmög­lichkeiten innerhalb der eigenen Wohnungen angegeben. Die einzigen Stimmungs­dämp­fer sind das man­gelnde kulturelle Angebot im Stadtteil Neustadt-Neuschönefeld, wo auch schon mal eine Scheibe zu Bruch geht oder ein vor der Tür abgestelltes Fahrrad geklaut wird. Doch da­mit muss sowie­so überall in der Stadt gerechnet werden. Auch wenn derzeit noch fast alle Häuser in der Nachbarschaft leer stehen, so glauben die Nutzer_innen doch, auch einen Anstieg der Stu­dent_in­nen­zahl im Viertel zu beobachten. Dem ist ohne Zweifel so, gibt es seit einigen Monaten doch durchaus neue Hausprojekte in diesem von der alternativen Szene aufgegebenen, ja teil­wei­se verpönten Kiez (siehe hierzu auch den Artikel auf Seite 6f). Erwähnenswert ist noch, dass HausHalten im Rahmen ihrer „meh­rere Wächterhäu­ser in unmittelbarer Nähe befruchten sich gegenseitig“-Stra­­tegie schon drei neue Häuser im Angebot hat, für die mensch sich derzeit noch bewerben kann.

Neben dem Fast-Nachbarhaus Ludwigstraße 95, welches die beiden erwähnten Neu­schöne­felder Standorte unterstützen soll, kommt mit dem ehemaligen Fernsprechamt in der Shadowstraße 10 (Neu­lin­de­nau) ein Projekt in unmittelbarer Nä­he des Vereinssitzes und des unabhängigen Haus­projektes Casablanca hinzu. Dadurch be­herbergt das Gebiet um den Lindenauer Markt bald schon das fünfte Wächterhaus im Radius von 100 Metern. Als mutigen Schritt könnte mensch den Sprung nach Kleinzschocher bezeichnen, wo mit dem Pro­jekt Ruststraße 17 ein neuer Stadtteil für die Milieuaufwertung erschlossen wird. Der Ver­ein startet durch, könnte mensch denken, doch ist vor allem nach der Bekanntga­be der drei neuen Projekte überdeutlich geworden, dass sich der HausHalten e.V. von einem seiner erklärten Hauptziele offensichtlich verabschiedet hat. Im Interview mit dem Feier­abend! in der Ausgabe #29 erklärte der Vorsitzende Mothes noch: „Uns ist es aller­dings wichtig, besonders die den Stadtteil prä­­genden Gebäude anzugehen und das sind vor allem die Eckgebäude an den Hauptverkehrsstraßen.“ Die Realität zeigt, dass es jetzt eben auch ohne Ecken und Verkehrsadern funk­tionieren soll, also auf Masse statt Klasse gesetzt wird. Auch ist schwer vorstellbar, dass der Verein künfti­gen Hauswächter_innen wie­der die Wohn­nutzung der von ihnen re­no­vierten Räum­lichkeiten vertraglich untersagen kann oder will, wie dies in einigen der bestehenden Häuser der Fall ist. Das Konzept der Wächterhäuser hat in den letzten Mo­naten also einen grundlegenden Wandel er­fahren. Der Feierabend! wird am Ball bleiben, um die Entwicklung weiterhin kritisch zu beäugen. Am Rande erreichte uns noch die Meldung, dass am 9.Juni das erste Wäch­terhaus in Görlitz eröffnet wurde und am 24. und 25. September der Verein erstmals ei­ne „Wächterhaustagung“ in seinen Räumlichkeiten in der Lützner Straße 39 abhalten will.

(bonz)

„Wir brauchen Nachwuchs“

Wächterhaus Triftstraße 19A in Halle

Der Export vielversprechender Konzepte ist oftmals nur eine Frage der Zeit. So verhält es sich auch mit dem Wächterhauskonzept des Leipziger Haus­Halten e.V., welcher seit über 5 Jahren aktiv ist, mittlerweile 11 Häuser betreut und eines schon wieder „entlassen“ hat. Der im November 2006 im nahen Sachsen-Anhalt gegründete Haushalten Halle e.V. verfolgt die gleichen Ziele, er ist ebenfalls angetreten um die „von Verfall und Abriß bedrohten Häuser schützen“, wie es ihm der Leipziger Verein vortut. Nach einem halben Jahr Wächterhausinitiative war es im Juni 2007 auch in Halle soweit – das erste Wächterhaus konnte feierlich eingeweiht werden. Es handelt sich dabei um ein Gründerzeithaus in der Triftstraße, dessen günstige finanziellen Konditionen durch das Wächterkonzept das Interesse einer Gruppe Studierenden weckte, die dort mit dem eigens gegründeten Triftpunkt e.V. endlich einen Ort für die Verwirklichung ihrer zahlreichen kreativen Ideen gefunden haben. Während sich Haushalten Halle e.V. um neue Objekte bemüht, die trotz enormen Leerstands so einfach gar nicht aufzutreiben sind, hat sich in der Triftstraße in den vergangenen zwei Jahren einiges getan.

Raumtraum

Der bunte Strauß von Studierenden und jungen Künstler_innen, die sich im Triftpunkt e.V. zusammen schlossen, brachte allerlei Vorstellungen, Ideen und Enthusiasmus mit, wie das neue Haus genutzt werden könnte. Was alle einte, war der Anspruch sich selbst und Anderen offene Räume zur kreativen Nutzung zur Verfügung zu stellen: Raum, der unabhängig von den rar gesäten universitären Freiräumen besteht. Raum der von den Agierenden selbst verwaltet wird. Raum, der mit einem Café auch die Nachbarschaft einlädt. Also Raum, der all jene anzieht, die auf der Suche nach Freiraum sind, um dort ihre Ideen zu verwirklichen – nicht um zu wohnen.

So wurden nicht nur die Räumlichkeiten zum Kinosaal, einer Bar oder einem Treffpunkt umfunktioniert, sondern es gab auch jede Menge Aktivitäten, die der Triftpunkt organisierte, wie z.B. die erfolgreich verlaufene Veranstaltungsreihe „Why Democracy “ mit sieben Terminen, die weniger erfolgreiche Veranstaltungsreihe „Aus-Wahl 09“ ein Semester später, zahlreiche Ausstellungen, regelmäßige Film- und Tatort-Abende und auch jede Menge Feierei. Der Triftpunkt, der sich im politischen Selbstverständnis ausdrücklich „neutral“ verhalten möchte, stellte auch verschiedenen anderen Gruppen ihren Raum für ihre Veranstaltungen, Workshops und Seminare, Infoabende, Parties und Plena zur Verfügung.

Neben der organisierten Nutzung durch Triftpunkt e.V., gibt es inzwischen allerdings noch andere Gruppen und Personen, die im Wächterhaus aktiv sind: eine Künst­ler_in­nen­gruppe, welche die Gale­rieräume im Erdgeschoss für Ausstellungen nutzt, zwei Frauen, die Keramikgegen­stände herstellen, ein kommerzieller Mietkochservice und Atelier-Nutzer_innen im Obergeschoss. Was alle eint, ist aber lediglich ihr eigenständiger Nutzungsvertrag mit HausHalten.

Traumschaum

Die Wächterhaus-Nutzer_innen sind leider nicht so gut miteinander vernetzt. Regelmäßige Hausplena gab es zuletzt vor ungefähr zwei Jahren, als wichtige Standards wie Wasser und Elektroanschluss gemeinsam geklärt werden mussten. Inzwischen macht jede_r ihr_sein eigenes Ding, wobei der Triftpunkt nicht nur die aktivste Gruppe ist, sondern auch mit den wöchentlichen Tatort-Abenden und den regelmäßigen Plena am kontinuierlichsten arbeitet. Die Außenwahrnehmung des Hauses ist maßgeblich von Triftpunkt geprägt, von einer darüber hinaus gehenden Hausgemeinschaft kann mensch aber leider nicht sprechen. Dafür fehlt es an Kommunikation, Kontakt und der gemeinsamen Auseinandersetzung über geteilte Visionen bezüglich der Wächterhaus-Ausrichtung.

Aber auch intern herrscht Unzufriedenheit unter den Aktivist_innen von Triftpunkt. Irgendwie scheint in letzter Zeit die Luft raus zu sein, was sich an den seltener stattfindenden Veranstal­tun­­gen, den generell zurückgegangenen Besucher_innen-Zahlen dieser und dem gedrosselten Engagement der aktiv Beteiligten festmachen lässt. Knackpunkte dieser Entwicklung scheinen dabei auch Unstimmigkeiten zu sein, was die neutrale politische Positionierung und die Entscheidungsfindung bzw. Arbeitsweise von Triftpunkt betrifft. Denn der Verein ist sehr pragmatisch ausgerichtet, stimmt seine Entscheidungen nach Mehrheitsprinzip ab und entscheidet auch mal schnell über die Köpfe er anderen hinweg. Die scheinbar neutrale Ausrichtung spaltet ebenfalls die Aktivist_innen: Denn die einen schätzen die Heterogenität der Gruppe und die Vielfalt der unterschiedlichen Denkansätze und sind zudem froh, Veranstaltungen, Events und Kulturereignisse wie Ausstellungen realisieren zu können, ohne anstrengende Plena über die eigene politische Ausrichtung darin führen zu müssen. Andere hingegen empfinden die scheinbare Neutralität als Hemmschuh für mehr Bewegung nach Innen und Außen. Wenn bspw. innerhalb der Gruppe ernsthaft diskutiert wird, ob man Vattenfall als Sponsor einer Veranstaltung zulässt, so ist das gerade für Menschen mit bestimmten politischen Werten kaum nachvollziehbar und macht die Gruppe zudem unattraktiver. So könnte der Rückgang des Engagements alter und potentiell neuer Nutzer_innen auch damit zusammenhängen, dass der Verein kein eigenes politisches Profil besitzt, sondern fast jeder_m die Tür aufhält.

Schlussendlich könnte auch das Verhältnis zu HausHalten besser sein. Dort hat sich die Gruppe von Anfang an auf ein hierarchisches Mieter-Vermieter-Verhältnis eingestellt. Als dann noch der privatwirtschaftliche Mietkochservice (mit dem es auch jenseits seiner kommerziellen Orientierung Differenzen gibt) in das Haus einzog, manifestierte sich der Eindruck, keinerlei Mitspracherecht über die generelle Nutzung des Wächterhauses zu bekommen.

Schaum schlagen!

Doch allzu trübe Graumalerei scheint auch unangebracht. Zwar befindet sich der Triftpunkt personell in einer Umbruchphase und sucht engagierten Nachwuchs, allerdings kann ein positiv vollzogener Generationswechsel auch wieder neuen Schwung und Kreativität in die alten Gemäuer bringen. Die Bedingungen für frischen Wind sind sogar richtig günstig: Es gibt bereits ein Haus mit Raum, der nicht von festgefahrenen Strukturen oder dogmatischen Gruppenzusammenhängen geprägt ist, sondern wo Leute für kreative Köpfe offen sind. Die Frage allerdings bleibt, inwiefern die Gruppe dann eine gemeinsame Basis etabliert – sei es über ihren politischen Anspruch, gemeinsame Interessen oder einfach Sympathie. Daran nährt sich dann der lange Atem.

(momo)

Mehr Infos gibt es auf www.triftpunkt.de

Letztlich keine Handhabe

Wächterhaus Zschochersche Straße 59/61

Ärger im Kiez! Anfangs mit Lorbeeren und Lobeshymnen zuhauf behängt, sah sich der Verein HausHalten im vergangenen Winter plötzlich auch mit unschmeichelhafter Presse konfrontiert. Von genervten Anwohner_innen, Schlägereien und Konzerten, die von Polizeikräften beendet wurden, war die Rede oder vielmehr das Gerede, und immer ging es dabei um das Wächterhaus an der Ecke Zschochersche/Industriestraße in Plagwitz. Jedoch hat sich kaum jemand die Mühe gemacht, die Hintergründe zu beleuchten. Anlass genug für den Feierabend!, die Lupe auszupacken und den Gerüchten des Boulevards auf den Grund zu gehen.

 

Schon zu Beginn unserer Artikelreihe über die Leipziger Wächterhäuser hatten wir in der #29 auf die konzeptionellen Mängel und möglichen Schwachstellen des Konzeptes hingewiesen. So z.B. auf das Fehlen von konkreten Nutzungskriterien, durch die der Verein HausHalten den selbst gesteckten Anspruch der sozialen Stadtentwicklung auch ernsthaft einlösen könnte, oder die nachrangige Behandlung der Interessen der „WächterInnen“ und deren fehlende Mitbestimmungsmög­lichkeiten. Nichtsdestotrotz sehen wir nach wie vor auch die Chancen und Freiräume, die der HausHalten e.V. mit seinem Konzept für die Nutzer_innen eröffnet. Viele Aspekte rund um die Fragen und Probleme von Selbstorganisation lassen sich anhand der verschiedenen Hausprojekte beleuchten. Am hier vorliegenden Beispiel der Zschocherschen Straße 59/61 wollen wir deshalb rückblickend einige Konfliktlinien aufzeigen, die durch das Zusammenwürfeln verschiedener Nutzungsansätze leicht entstehen und von daher bei der Koordination eines kollektiven Hausprojektes nicht unterschätzt werden dürfen.

Einzigartige Mischung

Bei dem Objekt in der Zschocherschen Straße 59/61 handelt es sich in vielerlei Hinsicht um eine Ausnahme im Portfolio des Vereins, beherbergen die Häuser doch mit elipamanoke und Kultiviert Anders! zwei Vereine, die mittlerweile feste Größen im Kulturbetrieb des Leipziger Westens geworden sind. Das Projekt umfasst zwei Häuser. Das eine, direkt am Kanal, wird nur im Untergeschoß von eli­pa­ma­no­ke genutzt, da sich der Rest in einem baulich äußerst heruntergekommenen Zustand befindet. Der Höhenunterschied zwischen Kanal und Straße bedingt ein weiteres Kuriosum, nämlich dass der Keller gleich drei Etagen hat.

Über den beiden Vereinen im Erdgeschoss, die sich vor allem der Förderung und Vernetzung von jungen aufstrebenden Künstler_innen verschrieben haben, sind vier Wohnungen mit rund 220m². Die Bewohner_innen zahlen einen monatlichen Betrag, bei dem HausHalten aber nicht möchte, dass er Miete genannt wird, weil ihm kein Mietvertrag nach dem BGB zugrunde liegt, sondern lediglich eine Nutzungsvereinbarung. Das zweite Obergeschoss wird von Student_innen der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) vereinnahmt, die hier ihre Ateliers betreiben und in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen auch Rundgänge unter dem Motto „Tag des offenen Ateliers“ anbieten. Das Stockwerk darüber teilen sich eine psychologische Beratungsstelle und das Designatelier Scalare, das allerdings teilweise schon wieder ausgelagert wurde, weil den Betreiber_innen die verfügbare Fläche zu klein wurde und die erhofften Synergieeffekte ausblieben. Im vierten Stock hat erst im März das Atelier für Ausdrucksmalen wesensART eröffnet. Hier kann mensch es laut Eigenwerbung jeden Dienstag und Donnerstag ab 19 Uhr „mit einem großen weißen leeren Blatt aufnehmen“.

Bedenkt mensch, dass bei diesem Hausprojekt 2006 erstmals Räumlichkeiten nicht nur an Vereine und Künstler_innen, sondern auch an Einzelpersonen vergeben wurden, welche diese ausschließlich als Wohnraum nutzen, lässt sich schon erahnen, dass diese unterschiedlichen Nut­zungs­konzepte zu Reibungen führten. Doch die Probleme fangen nicht erst zwischen den „Wächter_innen“ an, sondern bereits an der Frage um Mit- und Selbstbestimmung gegenüber dem HausHalten e.V.. Im Sommer 2007 kam das Haus groß in die Medien, als die Minister für Bau und Stadtentwicklung sämtlicher EU-Mitgliedsstaaten zu Gast in Leipzig waren und bei dieser Gelegenheit auch das besagte Wächerhausmodell besichtigte. Allerdings nicht zur Freude Aller: Die meisten Nutzer_innen empfanden es als wenig prickelnd, dass ihnen diese Veranstaltung von HausHalten ungefragt „überge­stülpt“ wurde, ebenso wie die Preisübergabe anlässlich des Wettbewerbs „Deutsch­land – Land der Ideen“. Die Begründung des Vereins dazu lautete lediglich, dass dies das einzige Wächterhaus sei, in dem auch die dem Anlass entsprechenden Räumlichkeiten vorhanden seien.

Konfliktlösung?

Die fehlende Vermittlung zwischen den ver­schiedenen Nutzungsansätzen und der mangelnde Blick des Vereins auf Mit- und Selbst­bestimmung der NutzerInnen waren es dann auch, die die Lösung der auf­kommenden Probleme zusätzlich erschwerten. Ausgangspunkt von Spannungen im Haus war zum einen, dass sich die ursprünglich eingereichten Konzepte der Vereine Kultiviert Anders! und elipamanoke bei laufendem Betrieb schnell weiterentwickelt hatten. Konkret bedeutete dies, dass dort seit längerem schon regelmäßig Bands und DJs auftreten, teilweise auch bis weit nach Mitternacht. Dies führte dazu, dass sich die Anwohner_innen häufiger über Lärmbelästigung beschwerten. Als zusätzlich explosiv erwies sich jetzt die stark unterschiedliche Nutzung innerhalb des Hauses. Angesichts der Tatsache, dass kaum Maßnahmen zur Dämmung der entstehenden Schall- und Geruchsbelästigung (durch Zigaretten) bei den Veranstaltungsräumen getroffen wurden, sahen sich die Hausbewohner_innen mehrmals pro Woche mit den unangenehmen Folgen konfrontiert. Diese wurden an HausHalten herangetragen, der Verein beschränkte sich nach Gesprächen darauf, die betreffenden Vereine abzumahnen und mit Kündigung zu drohen, die im Falle des Kultiviert Anders! Ende letzten Jahres auch ausgesprochen wurde. An einer aktiven Vermittlung zwischen den Nut­zer_innen bestand vorerst wenig Interesse. Haus­Halten wollte zwar eine Einigung der Konfliktparteien untereinander erreichen, doch ohne die eigene Mitverantwortung an den Verhältnissen wirklich einzu­räumen.

Inzwischen wurde eine Vereinbarung erreicht. Viele Details sind allerdings nicht bekannt, da die beteiligten Parteien uns gegenüber verschiedene Angaben machten und die Verantwortlichen von Haus­Halten sich nicht öffentlich äußern, mit der Begründung, keine alten Wunden aufreißen zu wollen. Sie sehen es als Erfolg ihres Konzeptes, dass es seit mehreren Monaten keine Beschwerden mehr gab. Eine Konsequenz, die sie aus diesem Konflikt zogen, ist, jetzt verstärkt darauf zu achten, dass die in Frage kommenden Nutzer_innen sich untereinander kennen, bevor ihnen zugesagt wird. Überhaupt ist HausHalten bemüht, die Komplikationen herunterzuspielen – es wird darauf verwiesen, dass es bei 13 Häusern nur in diesem Wächterhaus Probleme unter den Nut­zer_innen gab. Nicht eingehen wollte man auf die traurige Tatsache, dass erst das „Quartiersmanagement Leipziger Westen“ als externer Vermittler einbezogen werden musste, um überhaupt alle Parteien an einen Tisch zu bekommen. Es wird schon als Erfolg angesehen, dass nun innerhalb der Hausgemeinschaft über die Intensität, Länge und Häufigkeit der Veranstaltungen ein Konsens gefunden wurde. Jedenfalls hat Kultiviert Anders! eingelenkt und macht nur noch einmal im Monat Veranstaltungen, die länger als 22 Uhr dauern. Zur Belohnung für ihr überarbeitetes Konzept haben sie jetzt einen neuen Nutzungsvertrag.

Alles in Butter? Denkste!

Seltsam nur, dass die Bewohner_innen aus dem ersten Stock dies erst durch uns erfahren haben. Eine Kommunikation unter den Nutzer_innen findet ihren Angaben nach nicht bzw. nur spärlich statt. Eine Bewohnerin ist kürzlich ausgezogen, weil sie den Lärm nicht mehr ertragen wollte, der Rest macht einen reichlich re­sig­nierten Eindruck. Zwei Jahre lang habe mensch sich erfolglos immer wieder über die Zumutungen Lärm und Qualm beschwert – auch seien wiederholt verantwortliche Personen der Vereine eli­pa­ma­no­ke und Kultiviert Anders! direkt angesprochen worden (etwa wegen Bauholz, das den Weg versperrte), jedoch wären keine erkennbaren Reaktionen erfolgt. Nicht gerade förderlich muss es gewesen sein, dass vergangenen August das Haus­pro­jekt als Ganzes in Frage stand und HausHalten sich der Vermittlerrolle im Kon­flikt entzog und allen Parteien mit Kündigung drohte. Wie blanker Hohn mutet es da an, dass die übrigen Nut­zer_innen zunächst zum neuen Nutzungs­kon­zept des Kultiviert Anders! befragt wurden, es jedoch zuerst am 30.10. und später erneut ablehnten, woraufhin sie vom HausHalten e.V. nicht weiter mit einbezogen wurden. Die Bewohner_innen haben zwar bemerkt, dass es in den letzten Wochen erkennbar weniger laut geworden ist, ärgern sich aber nach wie vor, dass es so lange dauert, ehe sich etwas ändert. Das hat auch Auswirkungen auf die Plenumskultur. Gab es ver­gangenes Jahr, als die Krise akut war, fast alle zwei Wochen Hausplena (bei denen in der Regel auch nur die selben drei oder vier Nut­zer_innen anwesend waren), so gibt es inzwischen gar keine mehr. JedeR kommt nach Bedarf zum Haussprecher, der die Rolle des Sprachrohrs gegenüber HausHalten einnimmt oder nutzt das schwarze Brett im Haus­flur. Dringende Punkte lägen momentan nicht vor – lapidarer Kommentar des Haussprechers: „Letztlich hast du ja eh keine Handhabe“. Ein Nutzer aus dem Erdgeschoss resümiert: „Am Anfang wurde viel versprochen, jetzt nach über zwei Jahren haben wir zwar viel Spielraum und Freiraum und müss­ten eigentlich Zimmerlautstärke ein­hal­ten, solange es aber die anwohnende Be­völkerung nicht stört, hat HausHalten kein Problem damit. Klar sind wir mal hier und dort ins Fettnäpfchen getreten und muss­ten die Fehler dann auch ausbaden, da hätten wir uns von HausHalten mehr Un­terstützung gewünscht. Wenn nach außen alles schön ist und die Weste rein bleibt für Haus­Halten, dann ist alles cool, aber sobald irgendwie ein kleines Problem auf­tauchte, wurde es doch sehr spitzfindig.“

Bleibt zu hoffen, dass demnächst die hausinterne Kommunikation wieder stärker in Gang kommt und die Vereine Kultiviert Anders! und elipamanoke, die das Bild der Wächterhäuser in der Öffentlichkeit zu einem wesentlichen Teil mitprägen, noch möglichst lange und ungestört ihren eigentlichen Kernzielen nachgehen können: Ein Forum für Kultur, Kunst und Medien zu schaffen, sowie jungen Kulturschaffenden und neuen Ideen einen Freiraum zu bieten, um eine soziale Stadtentwicklung im Viertel weiter voran zu treiben.

(bonz)

 

www.kultiviertanders.de

www.myspace.com/elipamanoke

www.haushalten.orgde/haushalten_chronik.asp