LEIPZIGER KAMERAS: Ihre Argumente – Unsere Antwort!

Wir nehmen das Ereignis am Connewitzer Kreuz in der Nacht von Freitag, 28. Janua­r, auf Samstag, 29. Januar, zum Anlass, erneut die Argumente der Verantwortlichen bei Stadt und Polizei für die Videoüberwachung öffentlicher Plätze zu überprüfen. Zur Erinnerung: im April 1996 warfen Sie eine wichtige Forderung der Bürgerrechtbewegung der achtziger Jahre über Bord: die Forderung nach Abschaffung der alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden Überwachung. Am Leipziger Innenstadtring, wo erst sechs Jahre zuvor die Kameras der Stasi abmontiert worden waren, stellten Sie in einem Pilotprojekt die deutschlandweit erste Videokamera zur Überwachung des öffentlichen Raums auf. Für diese bis dahin einmalige Grundrechtseinschränkung führen Sie abwechselnd die folgenden Argumente an: Videokameras dienen der Aufklärung von Straftaten, der Vermeidung von Straftaten und verbessern das Sicherheitsgefühl der BürgerInnen. Wir meinen, nach neun Jahren ist es Zeit Bilanz zu ziehen.

Aufklärung von Straftaten, Vermeidung von Straftaten

Am 9. Februar des vergangenen Jahres war in der Leipziger Volkszeitung zu lesen, dass bis dahin 44 Straftäter durch die Kameras überführt worden waren. Ehrlich gesagt bezweifeln wir, dass das bedeutet, dass alle 44 Personen von einem Gericht schuldig gesprochen wurden. Wie auch immer, 44 überführte Personen sind eine schmale Erfolgsbilanz für eine teure Maßnahme, wenn man bedenkt, dass eine Kamera jährlich etwa 10.000 Euro verbraucht. Sie wissen das. Schließlich hat Rolf Müller, Leiter der Polizeidirektion Leipzig, bei der Veranstaltung „Bitte lächeln. Pro & Contra Videoüberwachung“ im April 2004 gesagt, dass sich die Videoüberwachung zur Straftatenaufklärung nicht lohnt. Warum verwenden Sie dieses Argument dann weiter in der öffentlichen Diskussion? Schließlich hat der frühere sächsische Innenminister, Klaus Hardraht, schon im November 1999 auf eine kleine Anfrage der PDS im Landtag geantwortet: „Vorrangiger Zweck der Videoüberwachung ist nicht das Einleiten von Ermittlungsverfahren, sondern das Verhindern von Straftaten.“

Tatsächlich präsentiert Rolf Müller seit Jahren erstaunliche Zahlen. Je nach Deliktgruppe gehen diesen zufolge die Straftaten um 20 bis 60 Prozent durch die Videoüberwachung zurück. Leider können wir diesen Zahlenzauber nicht glauben. Denn die Zahlen wurden weder von einer unabhängigen Institution, noch nach den strengen Regeln empirischer und statistischer Untersuchungen erhoben. Den Tabellen fehlt beispielsweise ein angemessener Vergleichsbereich, in dem die Kriminalitätsentwicklung ohne Videoüberwachung gemessen wurde. Warum schauen Sie nicht einmal in die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik? Dann würden Sie nämlich sehen, dass in den neunziger Jahren die Anzahl der Straftaten, nach dem sie zu Beginn sehr hoch war, kontinuierlich gesunken ist. Warum sollte die Krimi­na­lität zum Beispiel vor dem Leipziger Hauptbahnhof nicht unabhängig von der Vi­deoüberwachung gesunken sein? Der Bundesverband deutscher Versicherer nimmt zum Beispiel an, dass die von Ihnen so gerne angeführten KfZ-Diebstahle Ende der neunziger deshalb rückläufig wa­ren, weil in Neuwagen serienmäßig eine Weg­fahrsperre eingebaut wurde. Von Vi­deoüberwachung keine Spur.

Zudem fehlt Ihrer Statistik ein Unter­suchungsgebiet, in das eventuell eine Verdrängung der Straftaten stattgefunden haben könnte. Wenn eine Straftat nicht in der Richard-Wagner-Straße stattfindet, sondern eben in der Eisenbahnstraße, würden auch Sie sicher nicht behaupten wollen, diese Straftat verhindert zu haben. Das kön­nen sie jedoch anhand Ihrer Zahlen nicht ausschließen! Schließlich hat Rolf Mül­ler bei der oben erwähnten Veranstaltung selbst zugegeben, dass er unsere Annahme teilt, dass die Delikte lediglich in and­ere Stadtgebiete verdrängt wurden. Zu­dem hat Rolf Müller gesagt, dass die Vi­deo­überwachung auf Gewaltkriminalität kei­nen Einfluss hat. Ihre Zahlen belegen also keinesfalls, den von Ihnen behaupteten präventiven Effekt der Vi­deoüberwachung.

An einer wirklichen wi­s­sen­­schaft­lichen Auf­ar­beitung des Nutzens der Videoüberwachung scheinen ja nicht nur Sie, sondern bisher niemand in Sachsen und der BRD in­ter­essiert zu sein. Schauen wir deshalb nach Großbritannien, wo Unmengen an staatlichen Mitteln in eine nahezu flächendeckende Videoüberwachung ge­flossen sind. Dort wurden mittlerweile auch Mittel in die wis­senschaftliche Kontrolle gesteckt. Im Jahr 2002 gab das britische Innenminister­ium eine Studie heraus, die die immense staatliche Förderung von Videoüber­wachung in ein nüchternes Licht rückt. Das Ergebnis der Studie war, dass der Effekt von Videoüberwachung nicht nachzu­weisen ist. Mal ergibt sich eine Reduzierung von Kriminalität, mal steigert sie sich so­gar. Im Durchschnitt ist der krimi­nalitätssenkende Effekt sehr gering, wenn nicht gleich Null. Die Verfasser der Studie fassen zusammen: „CCTV is most ef­fective in reducing vehicle crime in car parks, but had little or no effect in public transport and city centre settings”. Die Verbesserung der Straßenbeleuchtung beeinflusst die Kriminalitätsentwicklung nachhaltiger. Lesen Sie diese Studie und hören Sie dann auf zu argumentieren, dass Videoüber­wachung Straftaten verhindert.

Verbesserung des Sicherheitsgefühls

Zu Ihrem letzten Argument: Videokameras verbessern das Sicherheitsgefühl der Bür­gerInnen. Hier können wir auf eine Studie der Universität Leipzig zurückgreifen. Im Juni 2000 wurden 770 Leip­zi­gerInnen nach ihrer Einstellung zur Video­über­wachung befragt. 70 Prozent der Be­frag­ten fühlen sich sicher. Fast 80 Prozent be­fürworten mehr oder weniger die Vi­­deoüberwachung. Die Umfrage scheint Ihr letztes Argument zu bekräftigen. Jedoch wird das Bild widersprüchlich, wenn De­tailfragen gestellt werden. Knapp die Hälfte meint, dass weitere Kameras aufgestellt werden sollen. Wenn, dann fühlen sich die LeipzigerInnen in der Öf­fen­t­lich­keit durch Rechte, Hunde*, Jugendliche, Ausländer – also weniger durch konkrete Straftaten, sondern durch Randgruppen und sogenannte „Incivilities“ bedroht. An eine vermindernde Wirkung durch Vi­deoüberwachungen glauben die befragten PassantInnen bei Diebstahl, Handtaschenraub, Raub, Überfall und Drogendelikten. „Es scheint also ein Missverhältnis zwischen der Art der Bedrohung und dem erwarteten Sicherheitsgewinn in Bezug auf Videoüberwachung zu geben“, fasst die Studie zusammen. Deutlicher formuliert, bedeutet die­ses Ergebnis, dass das so genannte Sicher­heitsgefühl vermutlich nicht vom Ein­satz der Videoüberwachung herrührt. Und auch der Fakt, dass das zu Beginn der neun­ziger Jahre recht geringe Sicherheits­ge­fühl sich gehoben hat, liegt wohl eher an der Gewöhnung der Ostdeutschen an die neuen gesellschaftlichen Koordinaten als an Ihrer Videoüberwachung.

Wir stellen fest, dass Ihre Argumente für eine Videoüberwachung des öffentlichen Raums nicht zu halten sind. Wir sehen Sie in der Beweisnot, wie Sie künftig die Grundrechteinschränkung an allen vier Kamerastandorten und die Kosten rechtfertigen wollen. Wir empfehlen Ihnen, bei den geplanten Kürzungen am Etat der Po­li­zei bei den Videoüberwachungskameras zu beginnen, anstatt zu behaupten, die Kameras würden zukünftig etwas bewirken, was sie bisher nicht bewirkt haben. Deshalb fordern wir Sie erneut auf, die polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Plätze in Leipzig einzustellen.

Initiative „Leipziger Kamera“

* Der hohe Anteil der Hunde wird mit einer Medienkampagne gegen Kampfhunde erklärt, die der Befragung vorausging. Die weiteren Befunde entsprächen auch anderen Studien.

Offener Brief der Initiative „Leipziger Kamera“ zur „erneuten“ Videoüberwachung am Connewitzer Kreuz an

…Herrn Holger Tschense (Bürgermeister und Beigeordneter für Umwelt, Ordnung und Sport der Stadt Leipzig) und

…Herrn Rolf Müller (Leitender Kriminaldirektor, Polizeidirektion Leipzig).

8. Februar 2005

Sehr geehrte Herren,

die Law-and-order-Hysterie, die von Ihnen nach den letzten Randalen am Connewitzer Kreuz verbreitet wurde, wirft bei uns einige Fragen auf und soll nicht unkommentiert bleiben. Herr Tschense sagte der Leipziger Volkszeitung: „Ab sofort wird dieser Kriminalitätsschwerpunkt dauerhaft videoüberwacht.“ Zudem erfahren die LeserInnen, dass das Connewitzer Kreuz bisher ausschließlich an Silvester mit einer mobilen Kamera überwacht wurde, die vor Silvester auf- und danach wieder abgebaut wurde (LVZ, 31. Januar).

Diese Aussage von Herrn Tschense bezweifeln wir. Denn wer Augen im Kopf hat, kann das ganze Jahr über auf dem Dach des Hauses Karl-Liebknecht-Straße 152 eine Kamera sehen. Zudem weisen Schilder darauf hin, dass der Platz videoüberwacht wird. Bereits am 14. Mai 2003 war in der LVZ zu lesen, dass die Kamera wieder aufgestellt wird und am 9. Februar 2004, dass sie seit Juni 2003 in Betrieb ist und ihren Zweck erfüllt.

Demnach wird das Connewitzer Kreuz seit eineinhalb Jahren dauerhaft videoüberwacht. Dass es trotzdem zu den Randalen kam – wohlgemerkt innerhalb eines bereits videoüberwachten Bereichs (zumindest jedoch als videoüberwacht ausgewiesenen) – zeigt, dass eine Kamera ein solches Ereignis nicht verhindern kann! Stattdessen schränkt die Videoüberwachung die Grundrechte aller NutzerInnen des Connewitzer Kreuzes ein, verbreitet ein Klima der Überwachung und Kontrolle und verursacht jährliche Kosten in Höhe von 10.000 Euro.

Was soll also diese Fehlinformation? Wir meinen, dass Sie mit Ihrer Ankündigung, das Connewitzer Kreuz durch Videoüberwachung sicherer machen zu wollen, das Scheitern Ihrer Law-and-order-Politik vertuschen wollen. Indem Sie der Öffentlichkeit dreist erneut Videoüberwachung als Mittel der Sicherheitspolitik präsentieren, obwohl sich in eben diesem – bereits videoüberwachten (!!!) – Bereich zeigte, dass sie wirkungslos ist. Dabei beweist dieses Ereignis einzig und allein, dass Videoüberwachung vollkommen überflüssig ist. Deshalb fordern wir Sie auf, diese Kamera und die drei anderen Überwachungskameras der Polizei in Leipzig abzuschalten.

Dass Sie die Beteiligten jetzt mit DNA-Analyse überführen wollen, zeigt unserer Meinung nach, dass Sie auf jeden populären Zug aufspringen, um sich als starke Männer im Kampf gegen das Verbrechen darzustellen. Mit Ihren markigen Sprüchen, Herr Tschense, wollen Sie wohl Ihr Profil als Law-and-order-Mann schärfen, um sich nachdrücklich für die Stelle des sächsischen Innenministers zu empfehlen. Den BewohnerInnen von Leipzig helfen Sie damit nicht.

Mit freundlichen Grüßen,

Initiative „Leipziger Kamera“

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