Venezuela und die bolivarianische Revolution

Ein emanzipativer Prozess von unten?

Über die Veränderungen in Venezuela und die ausgerufene bolivarianische Revolution (1) wurde in verschiedensten Medien viel geschrieben und geurteilt. Erneut angeheizt wird die Debatte durch den unhaltbaren Pakt mit dem iranischen Präsidenten Ahmadinejad, der durch seine Ablehnung der US-amerika­nischen Politik, von Hugo Chávez als „Bruder im Kampf gegen die US- Hegemonie“ bezeichnet wird. Damit diskreditiert er nicht nur sich selbst als Politiker, der vorgibt auf der Seite der Unterdrückten zu kämpfen, sondern stellt auch die ohnehin heiß diskutierten politischen Prozesse in Venezuela in Frage. Der vene­zolanische Staat, der Emanzipation und Partizipation der mittellosen Bevölkerung fördern will, unterstützt zeitgleich eine Diktatur im Iran, welche sämtliche emanzipatorischen Bewegungen im eigenen Land unterdrückt und Minderheiten tagtäglich diskriminiert. Bei näherer Betrachtung der Prozesse im Landesinneren ist das nicht der einzige Widerspruch, in dem sich das neue Venezuela und die partizi­pative Demokratie bewegen. Inwiefern kann sie dem formulierten Anspruch der Eigenverantwortung seiner Bürger/innen gerecht werden? Dort ist die Rede vom Sozialismus des 21. Jahrhundert, doch wie wird dieser in der Spannbreite zwischen sozialstaatlichen Maßnahmen, einem kubanischem Sozialismus und einer Selbstorganisation der Bevölkerung definiert?

Vor einer genaueren Betrachtung der innenpolitischen Prozesse, um zu unter­suchen, inwiefern die Bevölkerung aktiv die neue Gesellschaft mitgestalten kann und wie diese neue Gesellschaft von der Bevölkerung definiert wird, sollte Eines gesagt sein: Der armen Bevölkerung geht es im Zuge der bolivar­ianischen Revolution wesentlich besser als noch vor fünf Jahren. Wenn wir diesen Fakt aus unserer Kritik ausklammern, gehen wir nicht nur an der Wirklichkeit der mittellosen Bevöl­kerung und an den Schwierigkeiten des statt­findenden Prozesses vorbei, wir stellen uns zudem auf ein theoretisches Fundament, das die Hand­lungs­motivation der Bevölkerung nicht versteht, sie aber belehren will. Deshalb wird hier der Versuch unternommen, unter Beachtung dieser Prämisse, progressive Kritik an bisher unterlassener, falscher oder inkonsequenter Politik in Venezuela zu üben.

Sozialismus des 21. Jahrhundert

Nachdem 2000 die neue Verfassung ratifiziert wurde, rief Chávez den Sozialismus des 21.Jh. in Venezuela aus. Seitdem ist der Terminus in aller Munde und verweist auf Veränderungen im sozialen und ökonomischen Bereich des Landes. Zum einen ist dabei von sogenannten Misiones (2) die Rede, die in den Gebieten Bildung, Gesundheit, Ernährung und Arbeit wesentlich zur Verbesserung der Situation der wirtschaftlich armen Bevölkerung beigetragen haben. So beträgt die Analphabetenquote heute zum Beispiel nur noch 3%. Finanziert werden die Misiones durch die Einnahmen des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA, der vor dem Putsch 2002 Geldumschlagplatz der Oligarchie Venezuelas war und von der Regierung Chávez umstrukturiert wurde. Die zweite Grundlage des Sozialismus des 21. Jahrhundert basiert auf ökonomischen Veränderungen, die Partizipation anregen und Privatisierungstendenzen entgegenwirken sollen und realisiert sich in Betriebskollektivierungen und -verstaat­lichungen sowie der Umverteilung des Landbesitzes. Es gibt kein festgeschriebenes Konzept dieses neuen Sozialismus, vielmehr bezeichnet er ein sich ent­wickeln­des Modell, welches von den Menschen selbst durch ihre Partizipation in den Betrieben, bei den Misiones, in autonomen regionalen Zirkeln (nude´s (3)) und neuen, selbstorganisierten Medien mit Leben gefüllt werden muss.

Die Sozialprogramme allein machen natürlich keine Revolution aus, zumal sie zwar von den Menschen getragen, jedoch vom Staat ins Leben gerufen und finanziert werden. Vielmehr könnte man das ganze auch als radikale sozialstaatliche Maßnahme betrachten, die weder den Kapitalismus direkt angreift, noch seine Wurzeln zerstört. Auch wenn die parallel existierenden alternativen Strukturen den Profit aus privatkapitalistischer Wirt­schafts­weise mindern, so fördern sie vornehmlich auch den Ruf nach einem starken Staat, der für soziale Maßnahmen zu sorgen hat und stärken den Präsidenten Chávez in seinem Amt. Dessen große Popularität erweckt den Eindruck, dass die Bevölkerung keine regierungsunabhängige Politik anstrebt, sondern sich vielmehr auf die Politik von Chávez verlässt, ja sogar blindlings folgt. Dem würde nicht einmal der Präsident selbst widersprechen wollen: „Ich bin weder Marxist, noch glaube ich an die proletarische Revolution. Denn ich sehe in keinem Lande der Welt die Arbeiter den Kampf gegen den Kapitalismus anführen“. (4) Dennoch spielt die Partizipation und Mitbestimmung der Bevölkerung eine entscheidende Rolle darin, ist sozusagen das Aushängeschild für das Neue am Sozialismus des 21.Jahrhundert. Die Beteiligung in den angesprochenen Bereichen ist tatsächlich sehr hoch, die Menschen füllen den bolivarianischen Prozess mit Leben, stehen mit Taten und Ideen dahinter und nutzen die neuen Möglichkeiten. Doch inwiefern emanzipieren sie sich dabei von ihrer Unterdrückung, ohne das Zepter im selben Zuge an einen neuen „Verantwortlichen“, diesmal den Staat abzugeben?

Partizipation, Selbstorganisation und Autonomie?

Im Zuge der Entwicklung einer neuen Verfassung wurde 1999 die partizipative Demokratie eingeläutet. Überall in Venezuela entstanden Zirkel von Menschen verschiedener Schichten, die gemeinsam ihre Forderungen und Wünsche dis­kutierten und einbrachten. In sieben Volksabstimmungen wurde dann die Verfassung im Jahr 2000 verabschiedet. Für viele Menschen ist sie Ausdruck ihrer Stimme, sie wissen, dass sie sich darauf berufen können, wenn es um die Verteidigung ihrer Rechte und Mitbestimmung geht. Zudem war sie der erste Schritt der neuen Regierung, die Mündigkeit und Teilnahme der Bevölkerung an der Entwicklung in Venezuela zu fördern. Wer aber glaubt, nun könnten die Menschen autonom ihre Rechte wahrnehmen, der hat die Rechnung ohne die staatliche Regulationshand ge­macht:

In der Verfassung fest­ge­schrie­ben ist bspw. die Be­strebung zur Kollektivierung von Betrieben, ein Wort bei denen un­dogmatisch linke Herzen höher schlagen und mensch den Duft von Autonomie der Arbeiter/innen und Selbstorga­nisation zu schnuppern glaubt. Tatsächlich werden Betriebe auch kollektiviert, allerdings handelt es sich dabei bisher weder um Schlüsselindustrien, wie das staatliche Erdölunternehmen PDVSA, noch um völlig unabhängige, neue Strukturen, die erkämpft werden. Vielmehr sind es brachliegende, ehemalige Betriebe, die kollektiviert werden, oder aber Unternehmen, die sonst Konkurs anmelden würden. Die Besitzverhältnisse werden dann zwischen Belegschaft, Unternehmensleitung und Staat anteilig der Neuinvestitionen zur Wiederaufnahme der Produktion ausgehandelt. Investiert der Staat viel Kapital, dann gehört ihm auch mehr vom Betrieb. Zwar vergrößert sich die Mitbestimmung in den Betrieben, Arbeitsbedingungen werden besser und das hat auch positive Auswirkungen auf die Arbeiter/innen anderer, privatkapitalistisch betriebener Unternehmen. Beispiele für besetzte Betriebe und vollständige Autonomie der Lohnabhängigen gibt es bisher allerdings kaum, zumindest nicht dokumentiert. Dass die Regierung Chávez ihre Bevölkerung dahingehend nicht frei agieren lässt, wird bisher eher fadenscheinig mit der Gefahr „von außen“, sprich kapitalistischen Interessen innerhalb und außerhalb Venezuelas begründet, die den gesamten bolivar­ianischen Prozess gefährden könnten.

Ähnlich wie die Kollektivierung wird auch die Landumverteilung „von oben“ gesteuert und bisher alles andere als radikal umgesetzt. Laut Verfassung steht den Familien für Ackerbau und Viehzucht Landbesitz zu; gibt es nun Familien oder Kollektive, die von diesem Recht Gebrauch machen möchten, dann werden ihnen vom Staat Flächen zugeteilt. Meist handelt es sich dabei aber um Gebiete, die dem Staat selbst gehören oder aber nachweislich brachliegende Ländereien von Großgrundbesitzern sind, die über viele Jahre nicht bewirtschaftet wurden. Landbesetzungen, wie sie von der MST (5) aus Brasilien bekannt sind und die auf die unhaltbare Situation aufmerksam machen, indem sie radikal enteignen, bleiben bisher aus. Denn: Vater Staat regelt das schon.

Wirklich unabhängig agieren bisher nicht einmal die neu gegründeten Gewerkschaften, denn die verschiedenen Gruppierungen und Strömungen ähneln eher einem zerstrittenen Haufen als einer Union. Nachdem die alten Gewerkschaften abdanken mussten, weil sie vor und während des Putsches die Oligarchie unterstützten, wird sich nun um Einfluss und Kompetenzen innerhalb der Neuen gestritten. In puncto Mitbestimmung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen haben sie bisher jedenfalls nichts erreicht. Was an Arbeitskonditionen verbessert wurde, ist gesetzlich durch die Regierung Chávez veranlasst. Innerhalb der venezolanischen Bevölkerung wird dementsprechend auch wenig über autonomes gewerkschaftliches Handeln nachgedacht, denn durch den Staat ist das nun scheinbar überflüssig geworden.

Doch gibt es auch Beispiele „wirklicher“ Selbst­organisation in Venezuela, die nicht staatlich kontrolliert oder reguliert wird, dennoch gewollt ist. Ein Beispiel dafür sind die regionalen Medien, die finanziell und ideologisch vom Staat unabhängig arbeiten und bei denen immer mehr Menschen aller Schichten für die Leute in ihren Barrios senden und berichten. Das nötige Handwerkszeug dafür eignen sie sich gegenseitig an – gesendet wird, was selbst interessiert.

Auch durch die entstehenden regionalen Zirkel (nude – Netzwerke) verschafft sich die Bevölkerung Gehör. Autonome, unabhängige Gruppen gründen sich, die politisch, kulturell oder bautechnisch Veränderungen in ihrem Umfeld anstreben. Wenn gewollt, dann kann bei bestimmten Projekten finanzielle Unterstützung vom Staat eingefordert werden, muss aber nicht.

Reiseziel: Unbekannt

Es scheint nun so, als können die Venezolaner/innen zwar am Prozess partizipieren; autonomes und selbstorganisiertes Handeln wird ihnen allerdings nur dann zugesprochen, wenn es für den Staat keine Gefahr darstellt und dessen Einfluss gestärkt bleibt. Es stellt sich hier schnell die Frage, ob es überhaupt ein staatliches Interesse an linker Kritik gibt: Innerhalb Venezuelas gibt es nur eine kleine Gruppe Anarchist/innen, die sich vornehmlich um die Zeitung liberario (6) sammelt und oftmals von den Chavistas (7) stark kritisiert wird, weil ihre Kritik der Opposition in die Hände spielen würde. Auch ist der Glaube an die Notwendigkeit einer starken Führerfigur ebenso weit verbreitet, wie die Forderung nach einem starken Sozialstaat, der die Belange der Bevölkerung regeln soll. Die Gefahr, die Macht in den Händen Weniger birgt, wird dabei gerne übersehen, solange man dem Präsidenten vertraut. Einzig auf ihn zu bauen, ist jedoch gefährlich, obgleich im Fall von Venezuela die eingeleiteten innenpolitischen Maßnahmen bisher vertrauenserweckend wirken. Der Bevölkerung Venezuelas bietet sich dennoch die Möglichkeit diese positiven Veränderungen zu nutzen, um dann einen Schritt weiter zu gehen. Denn das Handwerkszeug für eine autonome und eigenverantwortlich handelnde Bevölkerung erhalten sie gerade: Ernährung, Bildung und Organisationsmöglichkeiten auf regionaler, betrieblicher und medialer Ebene bieten den Rahmen für ein großes Potential. Von den Menschen dort genutzt, stellen sie eine Waffe gegen all diejenigen Bestrebungen dar, welche die venezolanische Bevölkerung wieder unmündig machen wollen. Wenn diese Waffe nun genutzt wird, eigen­ver­ant­wortlich und unabhängig von Chávez für eine Verbesserung der Lebensbedingungen zu kämpfen, dann ist das ein Schritt Richtung emanzipativer Gesellschaft. Daran scheidet sich auch der Weg, des Sozialismus im 21.Jahrhundert. Die Frage ist, inwiefern die Menschen in Venezuela bereit sind die gestellten Weichen zu nutzen.

Ein Anzeichen für Emanzipation und selbstbestimmtes Denken wäre z.B. ein „Nein“ der Venezolaner/innen zur Kumpanei zwischen den Präsidenten Chávez und Ahmadinejad, die sich derzeitig nach dem Motto: „die Feinde meines Feindes sind meine Freunde“ verbrüdern. Denn die Politik, die im Iran betrieben wird, ist unvereinbar mit den Prinzipien einer befreiten Gesellschaft, so wie sie Venezuela für sich und andere Unterdrückte fordert. Dass dies bisher nicht geschah, liegt sicherlich auch an den Informationen, die der Bevölkerung medial verabreicht werden. Hier hat mensch die Wahl zwischen oppositionell (private Sender mit Hetzkampagnen gegen die Regierung), staatlich oder regional (autonom). Ein venezolanischer Freund und überzeugter Chavist meinte einmal, dass der bereits begonnene 4. Weltkrieg ein Medialer sei, der die Menschen je nach kapitalistischen Interessen manipuliert. Dementsprechend achtsam sollten er und seine Genoss/innen dann aber auch gegenüber den „vertrauenswürdigen“ und scheinbar „interessenlosen“ staatlichen Medien sein …

momo

(1) Der Name bolivarianische Revolution lässt sich auf den Nationalhelden Simón Bolívar zurückführen, der im 19.Jahrhundert in verschiedenen Ländern Lateinamerikas mehrere Befreiungskriege gegen die spanische Kolonialherrschaft führte und gewann. Er steht in Venezuela für Antiim­perialismus, progressive Sozialvorstellungen und ein vereintes Lateinamerika.
(2) misiones: Sozialprogramme, die zum einen Hunger und Armut lindern (barrio dentro: kostenlose medizinische Hilfe von kubanischen Ärzten in unmittelbarer Nähe, mercal: staatliche Märkte, die Lebensmittel bedeutend billiger anbieten als Supermärkte) und zum anderen Bildung von Alpha­betisierung bis Universitätsabschluss für jede/n zugänglich machen (mision robinson, rivas, sucre). Private Unis, Ärzte, Supermärkte existieren jedoch weiterhin parallel zu den neuen, alternativen Strukturen.
(3) nude: „Núcleos de Desarollo Endógeno“ – selbstorganisierte, lokale Netzwerke zur nachhaltigen Entwicklung.
(4) zitiert in Wildcat 72, „Umstrittene Spielräume“.
(5) MST: „Movimiento Sem Tierra“ – Landlosenbewegung in Brasilien.
(6) siehe auch: jungle world Nr.30, 26.07.2006 „Das ist unser Geld“.
(7) Anhänger/innen der Regierung von Chávez werden meist als Chavistas bezeichnet.

Geschichte Venezuelas innenpolitisch ab 1958:

+++1958: Beginn der Demokratie. Die zwei größten Parteien AD und COPEI teilen sich für Jahrzehnte die Macht +++ 1980er Jahre: stetiges sinken des Ölpreises, Korruption und fehlende Strategien manifestieren die wirtschaftliche Krise, die auf die Unterschichten abgewälzt wird. Soziale Bewegungen werden von Regierungsseite zunehmend unterdrückt +++ 1989: Caracazo – Aufstände und Plünderungen für mehrere Wochen in Caracas. In gewaltsamen Niederschlagungen seitens der Polizei, sterben ca. 1000-1500 Menschen. Beginn der bolivarianischen Bewegung, einer neuen Opposition von unten +++ 1992: gescheiterter militärischer Putschversuch, dessen Anführer Hugo Chávez Frías die Verantwortung dafür übernimmt und so zur Symbolfigur des Widerstandes wird +++ 1998: Chávez gewinnt überraschend mit 56,5% der Stimmen die Präsidentschaftswahlen +++ 1999/2000: Erarbeitung einer neuen Verfassung mit deren Verabschiedung der Beginn der bolivarianischen Revolution ausgerufen wird +++ 2001: Erste Sozialmaßnahmen (misiones): Bildungs- und Agrarreform +++ 2002: Putschversuch seitens der Opposition, weil das staatliche Erdölunternehmen PDVSA umstrukturiert werden soll. Der Putsch scheitert durch massive Initiative von Bevölkerung (Unterschicht) und Militär. +++ 2002/2003: Ein weiterer Umsturzversuch misslingt +++ 2003: Umstrukturierung des Erdölkonzerns und Ausweitung der misiones +++ 2004: Ein von der Opposition organisiertes Referendum bestätigt Chávez mit 58% der Stimmen im Amt+++

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