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Eduard Bernstein vs. Rosa Luxemburg

Zum Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie

Der Streit um die revisionistischen und letztlich national-(republikanischen) Strömungen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei in Deutschland, wie ihn Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg um die Jahrhundertwende in idealtypischer Weise austragen, ist nicht nur exemplarisch für viele politischen Auseinandersetzungen dieser Zeit, er ist ein Zeichen des allgemein vertieften politischen Bewußtseins damals.

Die sozialdemokratische Politik erweist sich als durch ihre eigene Geschichte unbelehrbar, wenn sie wie zum Beginn des letzten Jahrhunderts heute wieder auf die Nationalisierung politischen Be­wußtseins als Krisenbewältigung setzt und damit das Erstarken der neuen Rech­ten fördert. Der Revisionismus bzw. die Revision der sozialrevolutionären Perspektive erscheint aus dieser Sicht als ent­schei­dender Indikator der falschen Politik sozialdemokratischer bzw. sozialistischer Bewegung. Insoweit beweist sich auch erneut die Bedeutung und Aktualität des Marxschen Denkens und seiner politischen Kritik.

Die sozialdemokratische Frage nämlich, wie die sozialen Ungleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft, der Antagonismus der Klassen, aufgelöst werden könnte: durch Reform oder Revolution, verweist dabei auf eine spezifisch moderne Verfassung (Form) politischer Macht: den repräsentativen Parlamentarismus, der gegenüber dem Konstitutionalismus und Mo­narchismus mit der Moderne immer mehr an Bedeutung gewann. Um es mit Rosa Luxemburgs Worten auszudrücken, „… indem ihr [der Sozialdemokratie] der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung der Zweck ist.“, ist die sozialdemokratische Politik als außerparlamentarische noch greifbar und in der Lage sozialpolitische Akteure auch jenseits des Nationalstaates vorzustellen. Durch den sich ausbreitenden Revisionismus jedoch, der in engem Zusammenhang mit dem sich verstärkenden Nationalismus in allen modernen Industriestaaten steht, beschränkt sich die sozialdemokratische Vorstellung politischer Macht und Machtübernahme bald auf die Frak­tions­arbeit im nationalen Mehrparteiensystem, damit aber auch gleichzeitig die Organisierung der proletarischen Klasse auf nationale und nationalistische Parteikultur. Der politische Arm, die Partei, das Mittel der sozialistischen Bewegung degenerierte unter diesem Einfluß zum Selbstzweck auf nationalem Niveau. Demzufolge stimmte die SPD 1914 für die Kriegskredite und damit für den wahnwitzigen Überfallkrieg des deutsch-preußischen Junkertums, in manchen deutschen Geschichtsbüchern mystifizierend unter „Schliefenplan“ bekannt, und wurde so zum Mitverantwortlichen des Ersten Weltkrieges. Dabei hätte auf den ersten Blick ein Generalstreik der damals massenhaft organisierten und politisierten deutschen Arbeiterschaft den Kriegsausbruch noch verhindern können. Auf den zweiten Blick wird allerdings klar, dass die sozialdemokratische Bewegung (ihr proletarisches Bewusstsein) bzw. die von den parlamentarischen Sozialdemokraten Mobi­lisier­baren schon soweit vom Nationalismus durchdrungen waren, dass sie ihre Ängste im Nationalstolz erstickten und kriegsbejubelnd in den Tod zogen. Auch als Folge des Revisionismus und seiner agitatorischen Wirkung.

Die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft nähern sich der sozialistischen immer mehr, ihre politischen und rechtlichen Verhältnisse dagegen errichten zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft eine immer höhere Wand. Diese Wand wird durch die Entwicklung der Sozialreformen wie der Demokratie nicht durchlöchert, sondern umgekehrt fester und höher gemacht. Wodurch sie also niedergerissen werden kann, ist einzig der Hammerschlag der Revolution, d.h. die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.“ Rosa Luxemburg, 1899 [1]

Was Rosa Luxemburg 1899 auf Grundlage des (theoretischen Teils) des Erfurter Programms von 1891 [3] noch gegen Bernstein verteidigt, die politische Machtübernahme und soziale Umwälzung durch die organisierte Arbeiterschaft, wobei die Übernahme des nationalen Staatsapparats als ein bloßes Mittel unter mehreren erscheint, ist sie 1914 reine Makulatur. Und es fragt sich warum Luxemburg und andere sich überhaupt damals dem Fraktionszwang unterwarfen und erst später aus der SPD austraten.[4] Als Scheidemann dann nach Kriegsende 1918 schnell die Deutsche Republik und ihren neuen Kanzler Ebert ausrufen lässt, hat sich die neuformierte SPD endgültig klar gegen jede sozialrevolutionäre These, gegen jedwede Bewegung dieser Art positioniert, den Revisionismus vollzogen und auf den Nationalismus durchs Parlament eingestellt – ein erster, kräftiger Selbst­erhaltungsreflex der parteiinternen Institutionen.

Derweil die Parteiführung dann in den Zwanzigern die sogenannten „Weimarer Verhältnisse“ mit- und missgestaltet, brodelt der Nationalismus in den sozialdemokratisch beeinflussten Milieus weiter. Als die von der SPD geführte große Koalition 1930 unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929 zerbricht, wird vielen Sozialdemokraten erst langsam bewusst, welche tiefen Gräben mittlerweile zwischen Theorie, nationaler Parteipolitik und politischer Bewegung geraten waren. Die nationalsozialistischen und faschistischen Tendenzen hatten längst weite Teile des proletarischen und des bürgerlichen Bewusstseins erfasst. Die NSDAP sagte 1933, nachdem sie mit dem deutschen Parlament alle Macht des zentralisierten Staatsapparats in den Händen hielt, nicht einmal mehr danke und verbot die SPD stattdessen.

Freilich konnten weder Luxemburg noch Bernstein 1897/98/99 vorhersehen, wie sich die deutsche als Nationalgeschichte so eng geknüpft an die Sozialdemokratie entwickeln würde, auch wenn es in manchen ihrer vorgetragenen Passagen so anklingt als wüss­ten sie, wie sich die „Ge­schich­te“ als Gan­ze voll­zieht. Al­ler­­dings liegt hier auch der Kern der Debatte. Für beide gilt es ja, aus dem theoretischen Vorschein einer zukünftigen Wirklichkeit Schlüsse zu ziehen, die politisches Handeln anleiten. Sie operieren beide auf dem Feld der materialistischen Geschichts­auffassung, welches Marx aus der Taufe hob: Streitpunkt ist wesentlich die postulierte Notwendigkeit, mit der man von historisch-materialistischen Analysen auf zukünftige Entwicklungen schließen könne. Während Luxemburg das Marxsche Denken in kluger Weise aktualisiert, gedenkt Bernstein es an ent­schei­dender Stelle zu revidieren. Was im ersten Moment nur wie eine Ak­zent­ver­schiebung erscheint, hat jedoch, wie Luxemburg eindrücklich ausführt, Kon­se­quen­zen für die gesamte Denkfigur und trifft den Materialismus selbst tief ins Herz:

„Wer heute die materialistische Geschichts­theorie anwendet, ist verpflichtet, sie in ihrer ausgebildetsten und nicht in ihrer ursprünglichen Form anzuwenden, das heißt, er ist verpflichtet, neben der Entwicklung und dem Einfluß der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse den Rechts- und Moralbegriffen, den geschichtlichen und religiösen Traditionen jeder Epoche, den Einflüssen von geographischen und sonstigen Natureinflüssen, wozu denn auch die Natur des Menschen selbst und seiner geistigen Anlagen gehört, voll Rechnung zu tragen. Es ist das ganz besonders da im Auge zu behalten, wo es sich nicht mehr bloß um reine Erforschung früherer Geschichtsepochen, sondern schon um Projizierung kommender Entwicklungen handelt, wo die materialistische Geschichtsauffassung als Wegweiser für die Zukunft helfen soll.“ [5]

Damit stellt Bernstein die revolutionäre Rolle des proletarischen Bewusstseins innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich in Frage. Denn Marx war ja nicht aus auf die „reine Erforschung früherer Geschichtsepochen“ oder auf „Wegweiser für die Zukunft“, sondern wollte seine letztlich nur idealistisch entworfenen, empirisch und kritisch-historisch belegbaren und belegten Begrifflichkeiten in einer Geschichtsschreibung begründen. Daß die Orthodoxie in der Marx-Auslegung in diese eigentümliche Form des Materialismus einen Determinismus der Geschichte deutete, mag in dem bloß instrumentellen Gebrauch der Theorie, einer frühen Funktionärskrankheit begründet liegen. Bernsteins Revision der Bedeutung der Produktionsverhältnisse für die Entwicklung der materialistischen Geschichte der Gesellschaft jedenfalls, betrifft eben auch den dort verorteten Antagonismus der Klassenlagen im Produktionsprozeß, und relativiert diesen zugleich in seinen Folgen für die soziale Ungleichheit als sozialem Widerspruch zwischen Besitzenden und Besitzlosen., und zwar nicht nur allgemein in der Geschichte, sondern auch ganz konkret für das 19. Jahrhundert. Damit fällt aber der Optimismus, der Marxens Werk beseelt, aus dem Elend der kapitalistischen Lohnarbeit unter bürgerlichen Verhältnissen (des 19. Jahrhunderts) müsse sich notwendig ein (proletarisches) revolutionäres Bewusstsein entwickeln, dass die Verhältnisse schließlich umwälzt und die sozialen Ungleichheiten für immer beseitigt:

„Der durchgehende Grundgedanke des Manifestes: daß die ökonomische Produktion und die aus ihr mit Notwendigkeit folgende gesellschaftliche Gliederung einer jeden Geschichts­epoche die Grundlage bildet für die politische und intellektuelle Geschichte dieser Epoche […] daß dieser Kampf aber jetzt eine Stufe erreicht hat, wo die ausgebeutete und unterdrückte Klasse (das Proletariat) sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden Klasse (der Bourgeoisie) befreien kann, oh­ne zu­gleich die gan­ze Gesellschaft für immer von Aus­beutung, Unterdrückung und Klassenkämpfen zu befreien …“ [6]

Und es fragt sich, woraus Bernstein seinen eingangs zitierten Optimismus über­haupt noch bezieht. Und hier liegt einer der entscheidenden Unterschiede zwischen Luxemburgs und Bernsteins Ansichten und den sich daraus ergebenden verschiedenen Analysen und Ergebnissen, zu denen sie kommen. Während Bernstein die proletarische Bewegung im „Vorwärtsdrängen“ begriffen sieht, geht sie nach Luxemburg zurück:

„Faßt man größere Strecken der sozialen Entwicklung ins Auge, so kann man sich der Tatsache nicht verschließen, dass wir im großen und ganzen nicht Zeiten eines starken Aufschwunges, sondern des Niederganges der gewerkschaftlichen Bewegung entgegengehen.“ [7]

Gleiches gilt für die krisenhafte Ent­wicklung der Ökonomie: Während Luxemburg das Aufziehen größerer Krisen unter dem Banner der ersten Globalisierung ahnt, die Veränderung in der Entwicklung der nationalen Zollpolitik erklären kann und den sich überall durchsetzenden Militarismus in den Blick bekommt, so hat der Kapitalis­mus laut Bernstein lediglich seine Anpassungsfähigkeit bewiesen, durch Fabrikrechte und Arbeitsschutz, durchs Kreditwesen, durch die Anerkennung der politischen Arbeiterassoziationen, die ganze ökonomische Entwicklung wäre stabilisiert; die gesamte Gesellschaft sei nunmehr darin begriffen, sich zum So­zialismus zu entfalten. Bernsteins Opti­mis­mus ist schon ganz von jener Stellver­tre­­ter­men­talität, von dem nationalen Aber­­­glau­ben in die politische Allmacht des Parlamentarismus geprägt, der sich bei den Parteifunktionären selbstgefällig ausbreitet. Bernstein gehört so auch zu denjenigen, die sich mit gutem Recht im Stammbaum der Idee wiederfinden, die Fra­ge der sozialen Ungleichheit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft auf eine Frage der (gerechten) Güterverteilung zu reduzieren. Das, was Luxemburg den „subjektiven Faktor der sozialistischen Umwälzung“ nennt, die Tatsache, daß von einem Be­wußt­sein geleitete handlungsfähige Individuen letztlich diese sozialrevolutionäre Um­gestaltung der kapitalistischen Pro­duk­tionsverhältnisse vornehmen müssen, wenn die Ergebnisse auch ihren Interessen und Bedürfnissen entsprechen sollen, wird von der Bern­steinschen Position aus auf ein bloßes Legitimationsinstrument der parlamentarischen Parteien herabgestuft. Schon in diesem frühen Stadium zeigt sich das Auseinanderdriften von Basis und Partei, von sozialer Bewegung und politischer Entwicklung. Luxemburg ver­sucht diesen Bruch noch zu schließen, indem sie im gewerkschaftlichen (im gewissen Sinne tarifrechtlichen) und politischen (auch parlamentarischen) Kampf zwei Mit­tel zur Bildung des sozialrevolutionä­ren als proletarischen Bewusstseins sieht:

„Die große sozialistische Bedeutung des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes besteht darin, dass sie die Erkenntnis, das Bewusstsein der Arbeiterklasse sozialisieren.“ [8]

Allerdings müsste sich dann durch die unzähligen gewerkschaftlichen Kämpfe und das allmähliche Durchsetzen der SPD als parlamentarischer Kraft auch das proletarische Bewusstsein als revolutionäres schärfen, wohingegen sie hier eine rückläu­fige Tendenz beobachtet. Ein Fakt, der heu­te selbstverständlich geworden ist.

Die Luxemburgische Auffassung teilt wesentlich die Stärke der ökonomischen Analysen des historischen Materialismus und die Schwäche dessen politischer Implika­tionen. Sieht sie schon den Zusammenhang von Zollpolitik, Militarismus und ökonomischer Krise (als Krieg), doch knüpft sie dabei, wie auch Marx, allzu große Hoffnungen an die Organisationen und Bildung der arbeitenden Klasse. Daß der Glaube hierin dabei oftmals von dem Wahr­heitsanspruch der eigenen, materia­lis­tischen Geschichtsauffassung geleitet wurde, ist dem grundsätzlichen Ge­schichts­­optimismus der marxistischen Theorie zuzurechnen. Allerdings bleibt so die allgemein sich vollziehende Verbürgerlichung des proletarischen Bewusstseins und Milieus ein blinder Fleck und Luxemburg kann die kleinbürgerlichen Elemente in der deutschen sozialdemokratischen Partei [9] nicht mit einer allgemeinen Ver­bür­gerlichung des proletarischen Bewußt­seins in Verbindung setzen. Für Bernstein dagegen erscheint diese gerade­zu als Beweis des aufkommenden Sozialismus. Beide verkennen die Gefahr des sich be­reits formierenden Nationalismus. Aber in einem mag Bernstein doch Recht gehabt haben, der Sozialismus als na­tional­es Par­tei­programm setzte sich im deutschen Staat wirklich als Folge der Verbür­ger­lichung des proletarischen Bewusstseins durch: Er gipfelte im Nationalsozialismus.

Und ich sage noch einmal, daß wir der Zeit entgegengehen, wo die Arbeiterklasse, wie sie heute schon in den großen fortgeschrittenen Ländern die stärkste Klasse der Gesellschaft ist, die herrschende Klasse in dem Sinne sein wird, daß sie der Gesellschaft ihre Ideen, ihre Moralbegriffe, die aus ihrer Klassenlage hervorgegangenen Rechts- und Moralanschauungen aufprägen wird, daß vor der Wucht ihres Vorwärtsdrängens die ihr entgegenstehenden Mächte des Tages zusammenbrechen werden, daß sie auf die eine oder andere Weise die politische Macht im Staate werden, dem Staate ihren Geist einhauchen wird.“ Eduard Bernstein, 1896/97 [2]

In allem Beharren auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Ansichten (auf dem Wahr­heitsanspruch ihrer Rede) zeigt sich jedoch, wie sehr sich Bernstein und Luxemburg in Bezug auf den Gang der Geschichte irrten: Heute ist weder der Sozialismus in Sicht noch ein gereiftes sozial­revo­lutionäres proletarisches Sub­jekt der Geschichte erkennbar, welches diesen ins Werk setzen könnte. Stattdessen erleben wir den fortgesetzten Kapitalismus in den Formen der bürgerlichen Vergesellschaftung als ein ausgeklügeltes System von Kri­sen­bewältigungs­strategien, zu derem Repe­r­toire Nationalismus, Faschismus, imperialistische Stellvertreterkriege, Ras­sis­­mus, Repression und Kontrolle zählen.

„Solange die theoretische Erkenntnis bloß das Privilegium einer Handvoll ‚Akademiker’ in der Partei bleibt, droht ihr immer die Gefahr, auf Abwege zu geraten.“ [10]

clov

[1] Rosa Luxemburg, „Sozialreform oder Revolution?“, in: „Gesammelte Werke“, Bd.1, Erster Halbbd., Dietz Verlag, Berlin 1982, S.369-445 (400)
[2] Eduard Bernstein, „Texte zum Revisionismus“, Verlag Neue Gesellschaft, Bonn-Bad Godesberg, 1977, S. 89
[3] Das Erfurter Parteiprogramm der SPD von 1891 bestand wesentlich aus zwei Teilen: einem theoretischen und einem praktischen. Ersterer wurde von Karl Kautsky (1854 – 1938), und ging weit über die Parlaments-Meierei hinaus. Den zweiten verfaßte Bernstein und er stellte schon hier seinen Opportunismus unter Beweis.
[4] Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wandten sich schon Ende 1914 gegen die Fortführung des Krieges und bildeten 1916 die Gruppe Internationale, aus der später der Spartakusbund hervorging. Nach heftigen Flügelkämpfen innerhalb der Partei kam es 1917 zur weiteren Spaltung in Mehrheitssozial-demokratische Partei (MSPD) und Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD), die erst nach Kriegsende in der neuen Deutschen Republik aufgehoben wurde.
[5] Eduard Bernstein, „Texte zum Revisionismus“, Verlag Neue Gesellschaft, Bonn-Bad Godesberg, 1977, S. 109
[6] Karl Marx und Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“, Reclam, Ditzingen, 1997, S. 5
[7] Rosa Luxemburg, „Sozialreform oder Revolution?“, in: „Gesammelte Werke“, Bd.1, Erster Halbbd., Dietz Verlag, Berlin 1982, S. 391
[8] Ebenda, S. 402
[9] „Die durch Bernstein theoretisch formulierte opportunistische Strömung in der Partei ist nichts anderes als eine unbewusste Bestrebung, den zur Partei herübergekommenen kleinbürgerlichen Elementen die Oberhand zu sichern, in ihrem Geiste die Praxis und die Ziele der Partei umzumodeln.“ ebenda, S. 371
[10] Ebenda, S. 371

Theorie & Praxis

PISA2: Alles eine Frage der Betrachtung

Genau genommen ist es nicht richtig, wenn im­mer wieder behauptet wird, Deutsch­land habe auch in der zweiten PISA-Studie unterdurchschnittlich ab­ge­schlos­sen. In einer Rubrik zählt es sogar zu den drei Spitzennationen. Nur Ungarn und Belgien erzielen höhere Werte in der Frage, wie stark der Zusammenhang zwi­schen schulischer Leistung und sozialer Her­kunft ist. Laut Statistik trifft in allen drei Ländern die schlichte Rechnung zu, daß Kinder armer Eltern über eine schlech­te, und Kinder aus reichen Familien über ei­ne gute Bildung verfügen. Selbst die USA, nicht eben berühmt für ein sozial aus­gewogenes Bildungssystem, finden sich erst etliche Plätze hinter Deutschland in der Tabelle.

Nachdem in Brandenburg die „Ober­schule“ eingeführt wird, die die Selektion in verschiedene Schulformen abmildern soll, und Schleswig-Holstein gar die Schaffung einer Einheitsschule bis zur 10. Klasse plant, haben sich CDU-Politiker beeilt, die PISA II-Ergebnisse als Be­stätigung für den Erhalt, ja Ausbau des Drei­schulen­systems zu deuten. Ent­sprechend ihres sozialen Hintergrundes und ihrer daraus resultierenden Bedürf­nisse, so die christdemokratischen Bil­dungs­experten, müß­ten die Kinderlein gezielter gefördert werden, und das gewährleiste das Modell Haupt-, Real­schule und Gymnasium ja nun am besten. Dringend erforderlich sei, das zeige PISA II, eine verstärkte Elitenförderung.

Genau das sieht die PISA-Kommission der OECD dezent anders. In jenen Schul­systemen mit niedriger „Steigung des sozialen Gradienten“ und schwachem „Zusammenhang der Varianzaufklärung“ – wie die PISA-Studie soziale Chancen­gleichheit verklausuliert benennt – ist gerade die Förderung von Schülern mit Lern­problemen stark ausgeprägt, gibt es ein gefächertes System aus Erziehern, Nach­hilfelehrern und Therapeuten, das bereits im Vorschulalter ansetzt und Defi­zite der sozialen und sozio-kulturellen Her­kunft ausgleichen soll. Spezielle Eliten­förderungen dagegen sind hier weitest­gehend unbekannt. Aber es ist natürlich die Frage, worauf man hinaus will. Die PISA-Kommission bewertet eine mög­lichst geringe Streuung des Leistungsniveaus einer Vergleichsgruppe positiv, das Gros der Schüler eines Jahrgangs soll also nicht zu­weit auseinander liegen; Verteidiger des deut­schen „Standorts“ hingegen ist mehr an einer großen Bestengruppe gelegen, und da landet Deutschland mit 4,1% genau im Durchschnittsbereich (der sich aus einem Feld ermittelt, zu dem, wohl­gemerkt, auch Mexiko gehört, das hier auf ein klares Ergebnis von 0,0% kommt). Daß die PISA-Studie 21,6% der getesteten deutschen Schüler zur „Risikogruppe“ zählt, deren Leistungen in Schulnoten ausgedrückt irgendwo zwischen 5 und 6 schwanken, stört hierzulande Kapital und Politik kaum. Aber daß diese Gruppe zum Großteil aus sozial benachteiligten Haus­halten kommt und so der Eindruck ent­steht, im deutschen Bildungssystem herrsche keine Chancengleichkeit, die doch als kapitalistische Urtugend gilt, wurmt. Knapp 45% der Kinder, deren Elternhaus dem ärmsten Viertel der Gesellschaft angehört, besuchen die Hauptschule. Umgekehrt genießen über 52% jener Kin­der, deren Eltern das vermögenste Bevöl­­kerungsviertel unter sich aufteilen, den Drill des Gymnasiums. In allen Test­kategorien schneiden HauptschülerInnen am schlechtesten, Gymnasiasten am besten ab, und Realschüler liegen in der goldenen Mitte.

PISA II bestätigt damit eine Reihe älterer Studien zum deutschen Schulsystem, die wiederholt auf den alarmierenden Zusam­men­hang zwischen Herkunft und Bildung hinwiesen. Durch den internationalen Vergleich mit anderen Schulsystemen, die auf eingleisiger Schulform und Förderung der Schwächeren statt Eliten setzen, erfährt die Studie der OECD jedoch eine beson­dere argumentative Schärfe. PISA-Koor­dinator Andreas Schleicher stellt fest, daß „schwache Schüler nur abgeschoben“ werden, wenn sie in Haupt- bzw. Real­schule landen. Das dreigeteilte Schulsystem erklärt er glatt für „gescheitert“.

Das deutsche Schulsystem folgt zu aller erst dem Prinzip der Selektion, was in letzter Konsequenz bloße Wissensabfrage statt -vermittlung bedeutet. Typisch hierfür erweist sich die PISA-Erhebung zu Com­puter­kenntnissen der 15jährigen. Obwohl bei Interesse und Können ganz vorne mit dabei, geben nahezu 80% der deutschen SchülerInnen an, ihre Fähigkeiten außer­halb des Unterrichts erworben zu haben. Es scheint, die Schule funktioniert tatsächlich allein nach dem Konzept, daß sie nur abfragt und bewertet, was ihre Schützlinge privat beigebracht bekommen, bzw. sich selbst angeeignet haben. Es wird viel geprüft und wenig gelehrt. Das verdeutlicht auch das insgesamt schwache Abschneiden der Gymnasiasten. Nieder­schmetternd fällt schließlich auch das Ergebnis für die Gesamtschule aus. Dessen Pennäler schneiden in allen Kategorien schlechter ab als RealschülerInnen. Schleicher führt das darauf zurück, daß, wer die Wahl hat, im Zweifel das Gym­nasium bevorzugt und die Gesamtschule kaum weniger soziales Abstellgleis ist als die Hauptschule. Das Modell der drei, bzw. vier Schulformen nützt offenbar nie­mandem so recht.

Allerdings bedeutet die Einheitsschule keine Patentlösung des sozialen Problems. Die meisten der getesteten Staaten weisen in diesem Punkt ein nur um weniges besseres Niveau als Deutschland auf. Nur wenige Länder (darunter Island, PISA-Primus Finnland und Mexico) weisen keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Können und sozialer Herkunft der getesteten SchülerInnen auf – wobei im Falle Mexikos zu ergänzen bleibt, daß auch Kinder aus reichem Hause bei den Test­ergebnissen ziemlich arm aussehen. Der enorme Aufwand, der nötig ist, um eine relative Chancengleichheit in der Ausbil­dung herzustellen, verdeutlicht die soziale Kluft, die der Kapitalismus erzeugt. Da gibt es nichts zu deuteln.

Matti

Bildung

Athen: DemonstrantInnen stürmen Polizeistation

Zwei Tage nach der Bekanntmachung durch die Medien, dass auf der Agios-Panteleimonas-Polizeiwache Athens Flüchtlinge gefoltert wurden, attackierten Autonome und AnarchistInnen die Wache. Es handelte sich um ungefähr 25 afghanische Flüchtlinge die auf einer Polizeiwache im Zentrum der Stadt systematisch gefoltert wurden. Wie ein Zentrum zur Unterstützung von Folter trauma­tisierter Menschen festgestellt hat, wurden die Leute geschlagen, sexuell gefoltert, mit kaltem Wasser bespritzt und gedemütigt. Der zuständige Minister sprach von einem bedauerlichem Einzelfall, welcher verfolgt werden wird.

Am 24.12.04 organisierten je nach Angaben 40 bis 100 Leute aus der Athener autonomen/anarchistischen Szene einen Besuch zu der Wache und überraschten die Polizei. Polizeiautos wurden beschädigt und teilweise umgekippt und zerstört, die anwesenden Beamten angegriffen, die Polizeistation beschädigt. Die ganze Nacht gab es Razzien und Ingewahrsam­nahmen im Zentrum. Eine Person wurde festgenommen, anscheinend erst später und anderswo, aber angeblich hatte er einen Hammer bei sich. Wie es aussieht wurde er während der Haft ebenfalls misshandelt. Die Erfahrungen mit den Methoden der griechischen Polizei lässt vermuten dass in den nächsten Monaten auch internationale Solidarität sehr wichtig sein wird.

Quelle: de.indymedia.org

Nachbarn

Arbeiterbewegung in Polen

Soziale Kämpfe und Organisierung

In Polen, geht da was? Zumindest wenn man dies an dem (wieder?)erwachenden Interesse der radikaleren Arbeitergruppen hierzulande misst. So setzt nicht nur diese Ausgabe die Kontinuität der Berichterstattung über unsere gar nicht so fernen Nachbarn fort, auch die aktuellen Ausgaben der „Direkten Aktion“ [1] und „Wildcat“ [2] berichten über die Situation der Arbeiter in Polen. Die Berliner Osteuropa-AG organisierte ein Infowochenende im Meh­ringhof, die Freie ArbeiterInnen-Union brachte 2004 die lange in Planung befindliche SaisonarbeiterInnen-Broschüre [3] heraus und in der FAU Leipzig strebt eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit den anarchosyndikalistischen KollegInnen an.

In Polen ging schon viel! Die Geschichte der Klassenkämpfe reicht vom 56er "polnischen Sommer" gegen Normerhö­hungen in Industrie und Landwirtschaft sowie Preiserhöhungen, einer breiten Welle von Streiks von Bergarbeitern und Werftarbeitern 1970, über eine erneute Streikwelle im August 1980, aus der die Solidarnosc entstand und gegen die, die realsozialistische Regierung das Kriegsrecht verhängte, bis zum landesweiten Streik 1988, der die kommunistische Staatspartei PVAP aus der Regierung trieb, und die Solidarnosc-Funktionäre mit Lech Walesa an der Spitze in die Regierung hob. Diese setzte dann 300 bis 500prozentige Preiserhöhungen durch und stellte die unruhigen Arbeiter durch ihre gewerkschaftliche Autorität ruhig. [2,4]

2001/02 wurde von ArbeiterInnen und Erwerbslosen der 1989 gegründeten Anarchistischen Föderation die „Iniciatywa Pracownica“ (Arbei­ter­initiative) [5] aus der Taufe gehoben. Es gibt in elf Städten Ansprechpartner, wobei es derzeit fünf aktive Guppen in Poz­nan, Lodz, Szczeczin, der Region Schlesien und Warschau gibt, in Gdansk und Rybnik sind Leute gerade am Aufbau und in manchen Städten hat die Anarchistische Föderation direkt Kontakt mit anderen Arbei­terInnen. Darüber hinaus gibt es noch in Warschau, Lodz, Bialystok und Tar­nobrzeg An­sprech­partner oder Gruppen des hauptsächlich anarchosyndika­listisch orientierten Zusammenschluss aus dem Czerwony Kolektyw und der Lewi­cowa Alternatywa ("Rotes Kollektiv – Linke Alternative") [6], der im April 2003 gegründet wurde.

Die AktivistInnen der IP mischten sich in die Kämpfe gegen Entlassungen und Betriebsabwicklungen ein, vor allem auch in der großen Protestwelle 2002/2003, die mit Finanzzusagen des Staates an von der Schließung betroffene Betriebe beendet wurde. Sie suchten die Diskussion mit ArbeiterInnen verschiedener Fabriken, z.B. sechs Uhr morgens durch Flugblattverteilung auf dem Weg zur Arbeit, oder durch die Veranstaltung von Fußballturnieren, und organisierten die polenweiten Arbeiterkonferenzen[7] mit. So nahmen AktivistInnen Kontakt zu Werftarbeitern in Szczeczin auf (trotz dortiger antianarchistischer Aversionen), unterstützten aktiv die Arbeiter der Kabelfabrik in Ozarow bei ihrer 306-Tage-Besetzung und bei der Verteidigung gegen die Angriffe der Polizei und organisierten mit Anderen zusammen den Boykott von Nestle gegen Massenentlassungen u.a. in Poznan [8]…

Einige haben im Oktober 2004 eine offiziell angemeldete Gewerkschaft gleichen Namens gegründet, deren Zentrum drei Fabriken an zwei Standorten in Poznan ist, und nach eigenen Angaben 150 Mitglieder hat, von denen sich die wenigsten als Anarchisten bezeichnen. Denn wie in Deutschland gibt es auch in Polen bisher keine stärkere anarchistisch orientierte Gewerkschaftsbewegung, weshalb es sich anfangs um durchaus schwierige und längerfristige Diskussionsprozesse handelt. Zur Zeit ist noch unklar wie sich das Verhältnis zwischen beiden Organisationen genau gestaltet. Derzeit gibt es Diskussionen in der anarchistischen Föderation und den beiden "Arbeiterinitiativen": über die Problematik offizieller Gewerkschaftsanerkennung im Betrieb, ob es sich noch um eine anarchosyndikalistische Gewerkschaft handele, wenn die meisten Mitglieder keine erklärten AnarchistInnen sind, wie es mit den libertären Ideen bestellt sei, wenn sich hauptsächlich auf Kämpfe konzentriert wird, über die identische Namensgebung und was da noch so dranhängt …

Ein anderer aktueller Diskussionspunkt ist das Verhältnis zu einem neuen Gesetz zur Einrichtung von betriebsratähnlichen Arbeitervertretern, das im Rahmen der Angleichung an europäische Standards, 2005 in Polen in Kraft treten soll und sich derzeit noch in parlamentarischen Verhandlungen befindet. Dieses Gesetz sieht vor, daß in Betrieben ab 20 Arbeitern, "Betriebsräte" gebildet werden müssen, die von den Arbeitern gewählt werden. Aber selbst in den größten Betrieben sollen nie über fünf Arbeiter dazugehören, so Vizewirtschaftsminister Piotr Kulpa. Die Repräsentanten können Informationen über Beschäftigungsbedingungen, Entlassungspläne, organisatorische Änderungen und den wirtschaftlichen Angelegenheiten des Unternehmens erhalten. "Können" deshalb, weil die Unternehmen die Infor­mationsweitergabe auch verweigern dürfen, wogegen dann wiederum vor Gericht Einspruch erhoben werden kann. Desweiteren ist es den Repräsentanten unter Strafe untersagt, die Informationen weiterzugeben. Trotz dieser offensichtlichen Farce befürchten Unternehmer ihre Macht nun mit den Arbeitern teilen zu müssen. Die großen Gewerkschaften befürchten dagegen Einfluß an die neuen "Betriebsräte" zu verlieren, auch vor dem Hintergrund, daß nur 14 % der Arbeiter gewerkschaftlich organisiert sind. Dabei versichert Kulpa, daß die Verhandlungen über die Kollektivverträge bei Unternehmen und Gewerkschaften verbleiben. Aus anarchistischer Perspektive ist nicht viel von vom Staate verordneter Mitbestimmung zu halten, auf deren Ausgestaltung die Arbeiter selbst keinen Einfluß haben.

Darüber wurde auch auf der 3. polnischen Arbeiterkonferenz diskutiert, die Meinungen schwankten zwischen Ablehnung, der Hoffnung auf eine Aktivierung der ArbeiterInnen, über die Feststellung, daß es nur eine beschränkte Partizipation bietet, bis zur Forderung nach möglichst großen Kompetenzen für die "Betriebsräte". An dieser Konferenz, die vom 6. und 7. November in Lodz stattfand, nahmen etwa 100 Arbeiter und Arbeiterinnen verschiedener Initiativen, anarchosyndikalistischer Gruppen, und kleinerer Gewerkschaften, aus Unternehmen wie Cegielski und Goplana Poznan, Union Tex in Lodz oder den Arbeitern der Verkehrsbetriebe in Warschau und sozialer Bewegungen, wie der Erwerbslosen, teil. Hauptmotto war die Frage wie erfolgreiche Arbeiterproteste aussehen könnten, neben Streiks und Boykotten wurde über die Situation vor Ort, soziale Bewegungen und die Organi­sierung von ArbeitsmigrantInnen diskutiert. An dieser Konferenz nahmen auch Mitglieder von Arbeiterorganisationen anderer Länder teil, wie die Freie Arbei­terInnen-Union, die schwedische Sveriges Arbetares Centralorganisation oder die Confederación General de Trabajo aus Spanien. Kurze Zeit später berichteten im Berliner Mehringhof Arbeiter aus den illegalen Kohlegruben ("Bieda Szyby" – Kohlenspechte) [8] und Bergwerken in Silesia (Schlesien), aus der Schiffswerft in Szczeczin (Stettin) und anderen Betrieben über Lebens- und Arbeitsbedingungen, Organisierung und soziale Kämpfe.

In Berlin wird demnächst in Cafés eine Ausstellung über Arbeitskämpfe in Poznan gezeigt und zwischen AktivistInnen der FAU und der IP ist eine weitere Zusammenarbeit in Hinsicht Informierung und Kontaktierung polnischer Saison­arbeiter­Innen geplant. Der Austausch zwischen Aktiven beider Länder kommt scheinbar in Gang und könnte auch auf eine kontinuierliche Basis gestellt werden, eine wichtige Voraussetzung gegen die nationalistische Verwirrung, die in beiden Ländern Normalität ist!

francis murr

[1] DA 167 (Jan/Feb 2005)
[2] Wildcat 72 (Januar 2005)
[3] www.fau.org/syndikate/gnll/art_040712-170700
[4] Thekla 13: Klassenkämpfe im Sozialismus, www.wildcat-www.de
[5] paspartoo.w.interia.pl
[6] www.ck-la.tk
[6] siehe auch FA! #11
[7] Abolishing the Borders from Below #17
[8] siehe auch FA! # 12

Nachbarn

Feierabend! – mehr als antideutsch*

Voraus

Um den in der Ausgabe FA! #14 veröffentlichten Artikel „Zum antideutschen Kommunismus“ [1] hat es heftige Kontroversen (auch in der Redaktion) gegeben. Insbe­son­dere gewisse etablierte Positionen der Leip­ziger „Radikalen Linken“ haben dem Artikel, Autor und der ganzen Redaktion „Hard­core-Antisemitismus“ und „Entnazifizierung“ [2] vorgeworfen. Vor allen Dingen, nachdem die Redaktion einer „von Falko (aus dem conne island)“ erfolgten Aufforderung zur sofortigen Distan­zie­rung nicht Folge leistete und sich wei­ter­hin hinter die inhaltliche Stoßrich­tung des Artikels stellte [3]. Dabei hatten wir versucht, selbstkritisch mit dem Thema umzugehen, Fehler einzugestehen und im übrigen auf die redaktionelle Autonomie des Autor zu verweisen [4]. Umsonst: Das Conne Island hat unser solidarisches Verhältnis zueinan­der einseitig aufgekündigt. Schade, aber wohl in absehbarer Zeit nicht zu ändern. Ins­be­sondere deshalb schade, weil gerade in Hin­blick auf die Solidarität mit dem Conne Island erhebliche Differenzen zwischen Autor und Redaktion zu Tage traten – die Redaktion zwar auch den Einfluß diverser anti­deut­scher Ideologeme [5] im Umfeld des Conne Islands kritisiert, aber im Gegensatz zum Autor, an die kritische Beweglichkeit und rationale Einsicht (Vernunft-Fähigkeit) der im und im Umfeld des Conne Islands Ak­tiven glaubt. Den Farbbeutelwurf begreift die Redaktion eher als lächerlichen Ausdruck der Sprachlosigkeit [6] denn als anti-antideutschen, terroristischen Anschlag. Rech­net diesen aber nicht antideut­scher Agi­tation sondern lediglich einem individuellen Bedürfnis nach Widerstand zu.

Traurig ist, und das haben wir im letzten Heft auch eingeräumt, der Umstand, daß das Anliegen der Redaktion hinter diese Ne­benschauplätze zurücktrat. Während unserer zweijährigen politischen Zei­tungs­tä­tigkeit haben wir schließlich genügend Spu­ren unserer politischen Grund­ein­stel­­lung hinterlassen. Daß wir mit Kritik an an­ti­deutschen Positionen und Kritik an der na­tionalen Verfassung Israels antisemitische Res­sentiments befördern würden, die­ser Vor­wurf trifft insofern nicht, weil bei ei­ner/m derart irrational eingestellten Re­zi­pien­tin/en, der/die solche Ressentiments schon verinnerlicht hat, wohl noch jedes Ar­­gument seine/ihre Hirn­gespinste bestärkt. Insofern vertrauen wir unserem Le­ser­­­Innen­kreis und versuchen im übrigen in je­­­dem Heft einen breiten Kontext für even­tuel­le Rückbezü­ge aufzubauen. Wir teilen nicht die Analyse, Aufklärung wäre, insbe­son­dere in deutschen Landen, hoffnungslos.

Was die „Entnazifizierung“ von Eichmann und die Frage der Einschätzung des Han­delns von Kasztner während der Nazi-Diktatur betrifft, bleibt festzustellen, dass die Re­daktion den Argumenten der historischen Bewertung Falkos, wie sie in der aktuellen incipito dargelegt werden, durch­aus Beachtung schenkt und für beachtenswert hält. Der Argu­men­ta­tions­­zu­sammen­hang im Artikel „Zum antideut­schen Kommunismus“ ist aus der Perspektive der Redaktion hier mangelhaft, der Autor v.sc.d. selbst folgt aber weiterhin der Bewertung Lenni Brenners.

Einige haben sich sicher auch gefragt, wa­rum machen die das jetzt, zwei Jahre Ignoranz gegenüber diesem Thema waren doch ein gutes Ruhekissen? Da war zum einen das persönliche Anliegen des Autors, der Leipzig nun auf unabsehbare Zeit den Rücken kehrt: eine Abrechnung! Doch das allein hätte für einen Abdruck nicht gereicht. Das, was das Anliegen der Redaktion mit dem des Autors hauptsächlich ver­band und noch verbindet, ist eine sozialrevolutionäre, an­tinationale Perspektive für politisches Han­­­­deln in kritischer Differenz zu anti­deut­­schen Positionen und ihren vulgari­sier­ten Formen [7] aufzubauen, um auch und insbesondere in Leipzig eine breitere und wirk­­samere politische Handlungsfähigkeit zu erzeugen, den solidarischen Zusammenhalt zwischen den Gruppen und Projekten zu befördern, anstelle von Abgrenzungen und elitärer Dünkelei. Nicht zuletzt war die­­­ser Strategiewechsel auch eine notwendi­ge Folge des Annähe­rungs­prozesses an die „Szene“, wie er sich aus der redaktionellen und persönlichen Entwicklung einzelner Re­­­dakteure und Redakteurinnen ergab. Schließ­­lich stellte sich auch die Frage: Antideutsch und nicht mehr? dadurch selbst. Bei der Beantwortung dieser und anderer Fragen werden wir es uns auch in Zukunft nicht nehmen lassen, Kritik an politischem Han­­deln und dessen ideologischer Motivation zu üben, auf revisionistische Strömungen [8] und letztlich Tendenzen der Ver­bür­­gerlichung in befreundeten Projekten hinzuweisen.

Die Feierabend!-Redaktion

Wozu antideutsche Kritik?

Meines Erachtens wurde bei aller berechtigten Kritik an antideutschen Positionen, der kritische gegenüber dem politischen Ge­halt stets unterschätzt. Dabei hat die antideutsche Kritik radikal das bloßgestellt, was Anlaß zu einiger Selbstkritik gäbe: Den naiven Bezug auf eine paläs­tinensische Widerstandsbewegung, die längst zu einer faschistoiden degeneriert ist, den grassierenden Sexismus, Pa­triarchis­mus und die Heroi­sierung von Gewalt innerhalb der Antifa-Gruppen und -Struk­turen, die allgemeine Ge­schichts­ver­gessenheit (gerade in Be­zug auf Schoah und Holocaust), schließ­lich den nationalistischen Kern, der innerhalb der traditionellen und orthodoxen linken Theorie immer noch zu finden ist (bspw. Imperialismus-Theorie div. MLer/Stalinisten/K-Grüppler) und die unfun­dier­te Kritik an den USA. Alles in allem also eine Kritik an den allgemeinen bürgerlichen Tendenzen innerhalb der linksradikalen Bewegung, die unter dem Eindruck verstärkter Repression, mangelndem Zuwachs und Abwanderung zu leiden hatte.

Darüber hinaus kann an der antideut­schen Theorie auch ein erster echter Erfahrungsaustausch zwischen der west- und ostdeutschen Linken konstatiert werden. Wobei gerade die Erfahrungen aus dem Staatssozialismus auf der einen und der Ausfall eines wesentlichen ideologischen Bezugspunktes („Seht, die da drüben haben schon Sozialismus!“) auf der anderen Seite der Grenze eine Rolle spielten. Ich denke, gerade die distanzierte Rezeption der Tradition der westdeutschen Linken im Osten hat zu radikaleren Positionen geführt und diesem Austausch sein Gepräge gegeben.

Soweit so gut, wäre mensch auch hier dem großen Vorbild Adornos gefolgt und hätte den frisch verfassten Text am besten gleich zu Suhrkamp gebracht. Doch indem mensch sich der antideutschen Kritik politisch bediente, damit sein Handeln le­gi­timierte, geriet durcheinander, was Adorno noch säuberlich voneinander trennen wollte: Kritische Theorie und Politik. [9]

Adorno und Kritische Theorie

Freilich hat Adorno Kritik und Politik durchs Subjekt vermittelt gesehen, aller­dings immer auf dem philosophischen Geschäft der Kritik beharrt. Politisches Handeln blieb ihm zeitlebens suspekt und gefährlich, obwohl er oftmals politisch agier­te. Ein innerindividueller Widerspruch, den er deshalb sein Leben lang aushalten konnte, weil dieser seine Existenz nicht bedrohte. Ich will es mal drastisch ausdrücken: Im Grunde ist Adornos Philosophie die letzte große moderne Ro­mantisierung des liberalen Indivi­duums nach dem Motto: Im Geiste frei, im Handeln einerlei! Dieser politische Pessimismus, der zum guten Teil seinem kühnen Denken geschuldet ist, markiert auch eine erhebliche Differenz zu Marx und grün­det vor allen Dingen darauf, dass dessen Optimismus in die proletarische Bewegung des 19. Jahrhunderts durch die sich verstärkende Nationalisierung im frühen 20. Jahrhundert enttäuscht und durch die nationalen Faschismen letzt­lich gebrochen wurde. Indem die antideut­sche Theorie diesen Pessimismus in ihren Denk­figuren reproduziert, verab­schie­­det sie sich schon von jeder Praxis gesellschaftlicher Emanzipation. Wo Marx noch die ar­bei­tenden Massen gegen die bür­gerliche Verwaltung von Gesellschaft mobilisiert, Kri­tik und Politik im Klassensubjekt (Klassenbewusstsein) vermittelt sieht, ist sein Kom­munismus noch echte Uto­pie im Sinne geschichtlicher Entwicklung zum Besse­ren. Kritische Theorie à la Adorno nimmt hier­von Abstand: der Begriff von Kommu­nis­mus rückt folgerichtig in den Hintergrund und von gesellschaftlicher Emanzi­pa­tion ist nur insofern zu reden, als dem individuellen Bewusstsein der Anspruch nicht abgesprochen werden darf, hinter den Begriffen und ihren Ob­jek­­tivierungen (institutioneller Überbau) ihren wahren Ge­halt zu entdecken, auf den die Begriffe stets noch rückbezo­gen sind. [10] Der ethische Imperativ, der Adornos gesamtes Werk durch­zieht, ist zu­gleich das Erste und das Letzte seiner Philosophie: Die Hof­f­nung, durchs Denken noch zur Wahr­­­heit durchzudringen, gegen allen Schein bürgerlich verwalteter Welt.

Allerdings bleibt das Subjekt solcher möglichen Erkenntnis auf das vereinzelte moderne Individuum beschränkt, weil jede über­­individuelle Einsicht, des Falschen (als Schein) anrüchig, der Ideologie verdächtig, den konkreten Gedanken in seiner Realisa­tion (durch notwendig falsche Verwirklichung) entwürdigt. Schon eine Politik des Ge­sprächs zwischen Ich und Du kann diese Kritische Theorie nicht mehr rechtfertigen, ohne sich dabei selbst zu entlarven. [11] Ihr Geschäft, also die Rolle des bürger­lichen Intellektuellen in der spät­moder­nen, ver­walteten Welt, besteht darin, aus ihr selbst heraus die in sie eingeschriebene Ge­gen­these zu entfalten und sie als individuelle Erkenntnis gegen den objektiven Schein der modernen Gesellschaft zu mobi­li­sieren. Folgt mensch Adorno, ist der Intel­lek­tuelle dabei weder auf eigene Erfahrung oder auf eine revolutionäre Politik ge­schicht­licher Subjekte an­gewiesen. Jene ‚Ver­armung ist dem abstrakten Einerlei an­gemessen’, weil Kritische Theorie kein po­litis­ches Handeln an­leiten will (wie bspw. bei Marx); sondern die „Insuffizienz“ des Be­griffs gegen seine moderne „Hyposta­sierung“, d. h. die Unzulänglichkeit des Be­grif­­fenen gegen dessen Objektivierung (institutioneller Überbau) in Stellung bringen will.

Das, was Adorno zum Ende seines Le­bens­werks ent­­wirft, die negative Dia­lek­tik, ist der Form nach ein mächtiges Kampf­mit­tel ge­gen jeden begrifflichen Zu­sam­menhang, weil dieser durch die kritische Be­we­gung negativer Dialektik stets mit seinen Un­zulänglichkeiten und letztlich mit seinem ideologischen Kern konfrontiert wer­den kann. Klug eingesetzt, ist solche Kritik auch heute noch ein wirksames Mittel ge­­gen die Ideologie politischer Gegner oder ge­gen allerlei in der bürgerlichen Gesellschaft etablierte Konventionen. Nur taugt sol­che Kritik weder zur Anleitung oder gar Recht­fertigung politischen Handelns, noch zur Erklärung der Welt (der gesellschaftlichen Verhältnisse). Beides hat Adorno nie ge­wollt.

Kri­tische Theorie à la Adorno ist gerade der begriffliche Vollzug des indivi­duel­len Lei­dens an der falschen Einrichtung der Welt. Hier liegt ein Punkt, der in der Rezeption sei­nes Werkes im­mer wie­der gegen ihn in Anschlag gebracht wurde: sein Ästhetizismus. Und tat­säch­lich, Adorno ist ein von je­dem Ra­tio­nali­täts­anspruch be­freiter Be­griffsäs­thet. Seine Texte sind eher antithe­tische Kom­po­sitionen der kon­ventio­nel­len Ideenge­schich­te als plausible Argu­men­ta­­tions­zu­sam­­menhänge. Wer das übersieht, wird sich noch in aller Ewigkeit die Zähne an Tex­ten von Adorno ausbeißen. Das soll nicht heißen, er hätte damit jeden Wahr­heitsanspruch im be­griff­lichen Denken aufgegeben. Im Gegenteil: gegenüber den überkommenen Konventionen, gegenüber der falschen Objektivierung der Welt, will er den wahren Gehalt, den konkreten Bezug, den der Begriff stets noch mit sich führt, aufdecken. Anders ausgedrückt: Wo­ran sich der objektivierte, konventio­nel­le Begriff nicht mehr erinnert, an seinen Sach­bezug, seinen konkreten Aus­gangs­punkt, das Nichtidentische, was bei der Identifizie­rung mit seinem Begriff verloren ging, das will Adorno in seinen Texten zur Sprache bringen. Das Subjekt einer solchen Aufgabe sieht er freilich nur im einzelnen Individuum: bspw. in ihm selbst. Wahr­heit ist hier nur insofern zu finden, wie sich Adorno die­­ser Auf­gabe stellt und diese in seinem kritischen Denken auch vollzieht. Wer Adorno mal gelesen hat, wird um seine Sprach­gewalt wissen, seinen schillernden, facet­ten­rei­chen Be­griffshaushalt, um sei­nen Mut, gegen die traditionellen Lesarten an­zu­treten, und um seine Klug­heit, mit der er das mo­der­ne Denken seinen immanenten Unzu­läng­lichkeiten über­­führt. Der Wahr­­heits­an­spruch seiner Rede ist deshalb auch nicht an die Vermittlung bzw. Vermit­tel­bar­keit zwischen Ich und Du geknüpft, er ist lediglich in der Selbstrechtfertigung des nach Er­kennt­nis strebenden Individuums begründet. Diese Sel­bstgenügsamkeit ist m. E. das wesentliche Moment, welches Adorno immer wieder dem Vor­wurf der allgemeinen Unzugänglichkeit, der „unverständlichen“ Abstraktion aus­gesetzt hat. Und diese Schwach­stelle wird von diversen Apo­logeten seines Denkens wiederholt miß­braucht, um den eigenen Positionen mehr Gewicht und schließlich den Anspruch auf Meinungs­füh­rer­schaft zuzuweisen. Wüßte Adorno darum und könnte er noch handeln, er würde dererlei Um­trie­bigkeiten sicher den ganzen modernen Machtapparat auf den Hals hetzen.

Ich hoffe, aus dem soeben Ausgeführten ist er­sichtlich geworden, inwieweit die zeit­genössischen antideutschen Positionen mit einem Begriff von Kritik umgehen, dem zwei­felsfrei eine Überdehnung des Ver­ständnisses von Kritischer Theorie à la Adorno zugrunde liegt. Dieser allerdings war klug genug, den Wahrheitsanspruch sei­ner Rede nicht über sein individuelles Er­­kennt­nisvermögen hinaus, zu überhöhen – der Preis für diese Selbstbeschrän­kung da­ge­gen war die gewählte Einsamkeit im Den­ken und der Abschied von je­der über­in­di­viduellen Politik. Im An­schluß an Adorno haben deshalb viele ge­fragt, wie denn ein derart radikal linksliberales Projekt bürgerlicher Kritik sonst (also außer durch sich selbst) zu rechtfertigen wäre? Die Antworten allerdings haben keine Klarheit zu Tage gefördert. Nicht zu letzt weil Adornos Denkfigur als moderne so ziemlich am Ende einer allgemeinen Ver­fallsgeschichte steht, wie sie die Moderne selbst markiert. Das, was in den letzten Jah­ren unter dem Label „Postmoderne“ als fal­sche Einheit einer nicht mehr zu vereinenden Vielfalt lanciert wurde, ist oft nicht mehr als der gras­sieren­de subjektive Relativismus in den bürgerlichen Wissenschaften, Ausdruck der völligen Haltlosigkeit bloß idealer Begriffe. Hierin und in ihrer pes­simis­tischen Nostalgie liegt die Ablehnung an­ti­deutscher Theorie gegenüber post­modernen Ansätzen begründet. Dabei gibt es durchaus bemerkenswerte Projekte post­mo­derner Prägung: verwiesen sei hier nur auf Foucaults historische Wissen-Macht-Analysen [12], seinen Begriff von Bio­politik; Judith Butlers Strategie der Ent­un­ter­­werfung durch Selbststilisierung [13]; oder etwa Zygmunt Baumans „Post­mo­der­ne Ethik“ [14]. Das, was in diesem Umfeld als aktualisierter Begriff von Kritik vor­ge­stellt wird, bedarf der Beachtung und sicher auch der Vertiefung. Wer sich davon nur schulterzuckend zu distanzieren weiß und weiter auf modernem Denken beharrt, macht die eigene Position des Anachronistischen verdächtig. In der Kritik z. B. an Negri&Hardts Machwerk „Empire“ gibt sol­che Haltung sich der völligen Hilflosig- und letztlich Lä­cher­lich­keit preis, versucht sie in den Griff zu bekommen, was dort als moderne und vor­moderne Zeitbombe einfach falsch tickt!

Strategische Interferenzen

Nun hat, wie eingangs schon bemerkt, die antideutsche Kritik, wesentliche Unzulänglichkeiten innerhalb der überkommenen lin­ken Konvention (traditionelle und orthodoxe Theorie) aufgedeckt. Zu deren Überwindung hat sie allerdings auch nur sich selbst als einzig wahre Welterklärung angeboten. Dabei führte wohl in manchen Kreisen das aus der tendenziell richtigen Kritik gewonnene Selbstbewusstsein zu einem Über­legen­heitsgefühl gegen alles andere. Aus der antideutschen Kritik wurde zunehmend ein Kampfmittel, um die eige­nen politischen Positionen als mei­nungs­­führend und diese Führerschaft verteidigend durchzusetzen. Das, was meines Erachtens in Adornos Kritischer Theorie schon angelegt ist, der Generalver­dacht ge­genüber allem Außer- und Überindi­vi­duel­len als grundsätzlich Falschem und dem ent­gegen der vereinzelte Wahr­heits­anspruch des Individuums, der schlechter­dings nicht aufgegeben werden darf, dieser Generalverdacht treibt innerhalb der ant­ideutschen Theoriebildung wilde Blüten. Denn Adorno selbst hatte die Gefahr eines derart individualisierten Wahrheitsbe­griffs gesehen und dagegen eben sein Kon­zept ständiger Selbstkritik und der Ent­­fernung von jeder Politik gesetzt: „Dia­lektik kein Standpunkt“, Abstraktion um einer Ideologisierung zu entgehen, Kritik eben und keine Politik. Adorno wußte, dass seinem kritisierten „abstrakten Einerlei der verwalteten Welt“ kein Träger, kein subjektives Bewusstsein, keine politische Bewegung mehr zuzuordnen war – ob positiv oder negativ, weder in Richtung Bar­ba­rei noch in Richtung Emanzipation. Anti­­deutsche Theo­rie fällt hinter diese Kri­tik zurück, wenn sie nun wieder ein Subjekt mit den falschen Objektivierun­gen der verwalteten Welt identifiziert. Ihr überzogener Pessi­mis­mus gründet darauf, dass durch die Kri­tik an der traditionellen Linken plötz­­lich alle außer natürlich den Antideut­schen, die­se falschen Objek­ti­vie­rungen an­trei­ben, die Barbarei befördern würden. Plötz­lich gibt es wieder ein Ge­schichts­sub­jekt, welches die Welt gestaltet: die anti­ameri­ka­nische, antizionis­tische, antisemitische Welt­ver­schwö­­­rung. Sicher, antideutsche Kri­tik konn­­te zeigen, dass dererlei Ressentiments nicht nur in den deutschsprachigen Medien kol­por­tiert werden, son­dern ein guter Teil der traditionellen Lin­ken darin verhaftet ist. Doch an den de­ge­nerierten Formen poli­tischer Praxis der anti­deutschen Haltungen lässt sich leicht er­sehen, dass der anti­deut­schen Kritik gar keine politische The­o­rie (bspw. im Sinne der Aufklärung) an­­ge­glie­dert wurde. Mei­nungsunter­drüc­kung, Bil­der­verbote, Hass­tiraden gegen An­ders­den­kende, destruktive Mob-Action mit Israelfahnen und eine naive­, unkritische Legitimation von Kriegs­ver­­läufen, von israelischer und us-amerika­nischer Staatspolitik [15], letztlich eine Ent­solidari­sie­rung zwischen den verschiedenen Projekten und eine völlige Hilflosigkeit gegenüber der deutschen Staatspoli­tik und der aufstrebenden neuen Rech­ten – das sind die Schlagwörter im Register politischer Praxis anti­deutscher Prägung. Sie über­nimmt die ador­neske Selbstbeschrän­kung, sich mit dem Texteschreiben zu be­gnü­gen, ohne al­ler­­dings dessen politischer Ent­­haltsamkeit zu folgen – und setzt da­durch Kritik zurück in einen selbst­recht­fer­­ti­genden, ideo­lo­gischen Zusammenhang. Mit der Folge, dass jetzt jedes Ge­sprächs­­angebot unter das Mot­to fällt: „Friß oder stirb!“ bzw. „Antideutsch oder Anti­­semitisch!“. Deshalb war es immer dop­­­pelzüngig zu behaupten: Sagt doch was dagegen, ihr habt doch nichts zu sagen.

Antideutsche Theorie ist m. E. mit ih­ren Erkenntnissen immer viel zu fahrläs­sig um­gegangen: Anstatt auf die Aufklärung der nächstliegenden Kreise zu setzen, haben anti­deutsche Haltungen und ih­re Apologeten Spaß daran gefunden, den Leu­ten ihre „Dummheit“ unter die Nase zu reiben – ein eli­tärer Dünkel eben [16]. Für derart gutbürgerliche Selbstbeweihräucherung ist der Inhalt der antideut­schen Kritik aller­dings zu wichtig, insbe­son­­­­dere für die, die sich noch Rest der ra­di­kalen Linken schimp­fen lassen. Die Er­kennt­nis, dass eine kri­tische Reformu­lie­rung traditionell linker Positionen dringend notwendig ist, gerade unter dem As­pekt, daß mensch der neuen Rech­ten sonst lediglich das Feld räumt, dass lin­ke Grup­­pen und Projekte zu einer pro­gres­siven Politik zurückfinden müssen, um sich der eigenen Verbürgerlichung [17] selbst­kritisch zu stellen, dass sich letztlich im (wiederverein­ten) Groß­deutsch­­land erneut Gefährliches zu­sammenbraut – was zu­dem gerade in Be­­­griff ist, sich auf europäischer Ebene zu re­­produzieren – dies alles ist viel zu wichtig für eine emanzipatorische Perspektive, um in diskursiven Haar­spal­tereien und ge­genseitiger Provokation [18] zu verharren. Wer sich schließ­lich von der projizier­ten Ohnmacht der verwalteten Welt in ih­ren falschen Objek­tivierungen der­art täu­schen läßt, daß sie/er sich nicht einen Fun­ken Optimismus auf einen guten Ausgang der ganzen Geschichte bewahrt, kann schließ­lich seinen Begriff von Eman­­zi­­pation auch gleich mit in seinen Koffer packen.

Der Verdacht, daß antideutsche Positionen im Grunde einen Rückzug aus jeder links­radikalen Politik bedeuten, läßt sich an ihrem Umgang mit größeren außerpar­la­men­tarischen Protesten wie etwa den Pro­­testen gegen die Irakintervention der USA oder den Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010 erhärten. Dabei wurde an­hand einiger politischer Parolen, we­ni­gen unrepräsentativen Statements und einem guten Schuß eigenem Ressenti­ment auf das politische Bewusstsein von je­der/m einzelnen Teilnehmenden ge­schlos­­sen. Anstatt mit­zumischen und die größ­tenteils entpolitisierten und naiven Klein­­bürger­lichen und sich selbst der Her­aus­forderung zu stellen, über linksradikale Positionen ins Gespräch zu kommen, woll­­te mensch sich mit „so Etwas“ nicht auf der Straße sehen lassen – welch spieß­bür­gerliche Ziererei. Anstatt sich der an­schlie­ßenden organisierten Rechten entge­gen­zustellen und sie von der Straße zu fegen, wurde ihre Teilnahme frohlockend/selbs­tbestätigend konstatiert. Da­bei müsste doch zu­min­dest darüber Einvernehmen herr­schen, dass je­der linksradi­ka­le Kampf schließ­lich auf der Straße gewonnen werden wird und eben nicht im schlecht­be­heiz­­ten Studierstüb­chen. Wie ernst­gemeint kann ein Antifaschismus am Ende sein, der sich damit begnügt festzu­stel­len, daß mensch von FaschistInnen um­stellt ist? [19] Für diese „Einsicht“ braucht wirk­lich niemand eine politische Theo­rie oder auch nur einen Fetzen Papier zu verschwenden.

Antideutsch oder antinational?

Was ist ein „Deutscher“ anderes als ein Mann, dem der Nationalkult der bürgerlichen Gesellschaft einen Staatsbürgerstatus zuweist?

Jemand, der sich mit der deutschen Nationalgeschichte identifiziert?

Jemand der sich aus dem gemeinsamen Gebrauch einer ähnlichen Sprachfamilie eine Gemeinschaft halluziniert?

Oder jemand, der sich von der zwangsweisen Solidarität (Mechanismen der Arbeits-, Geld- und Güterverteilung) im deutschen Staate unterwerfen läßt?

Reproduziert sich im „Deutschtum“ ein Katalog kultureller und kultischer Praxis, kehren im „deutschen Geist“ dieselben Denkmuster immer wieder?

Das, was die antideutsche Theorie als „das Deutsche“ identifiziert, ist meist nebulöser als das fragwürdige Projekt einer Men­ta­litätsgeschichte oder deren Ableitungen von Klimalagen. Mir scheint, innerhalb der antideutschen Theorie werden all zu oft Anti­semitismus und „Deutsch-Sein“ (???) in eins gesetzt. Da­bei ist Antisemitismus doch beileibe kein Problem spezifisch deutscher Prägung – er wurde nur fatalerweise in den deutsch-verwalteten Territorien [20] zur Staatsdoktrin erhoben – sondern ein Prob­lem, das im christlich geprägten Eu­ro­pa schon mit der Offenbarungsfrage zu gras­sieren begann. Nun soll nicht bestritten werden, daß dem deutschen National­kul­tus der anti­semi­tische Reflex seit je her nahe lag, doch antideutsche Theorie reduziert den Be­griff von Antisemitismus in gefährlicher Wei­se, indem sie ihn auf sein spe­zi­fisch „Deutsches“ zu beschränken trachtet. Eine Na­tional­grenze zwischen Frankreich und Polen brächte das Problem nicht aus der Welt und schon gar nicht aus Euro­pa. Bei allem Be­­wußt­sein für die schier unerträgliche Leidensgeschichte so vieler Menschen, Fa­mi­lien und Gemeinschaften, die während und nach dem Krieg eine erste Zuflucht im Nationalstaat Israel fanden, bei allem Inhalt und historischen Verlauf, darf aber auch der formale Zu­sammenhang nicht vergessen werden, sonst setzt mensch Schoah und Holocaust ein­fach gleich. Und hier lässt sich an der deut­schen Geschichte zeigen, inwieweit in na­tionalöko­nomischen Krisen durch kapi­ta­­lis­tische Produktionsweise aufgeladene Frustration bei gleichzeitiger Entfaltung ei­nes nationalen Kultus und unter staat­licher An­leitung bis zur massenhaften, industriel­len Vernichtung von aus dem Nationalkol­lektiv ausgeschlossenen Men­schen führen kann. SemitInnen, Kommu­nis­­tInnen, An­archis­tInnen, Sinti, Roma, Transsexuelle, Behinderte, Staatsfeinde, „Sozialschmarot­zer“! Um eine derart menschen­un­wür­dige Katastrophe für immer zu vermeiden, lohnt es sich, kritisch und politisch zu Felde zu zie­hen, lohnt es sich, gegen die kapitalistischen Mißverhältnisse in der Produktion vorzu­gehen, lohnt es sich auch, den deutschen Staat als wesentlichen Agenten einer na­tionalen Kultur anzugreifen, wie im übri­gen jeden Nationalismus, weil er stets das vom Recht gesetzte Zwangsverhältnis zwischen Individuum und Staat zum solidarischen Miteinan­der gegen Andere verklärt.Antifaschistische als antikapitalis­tische, anti­nationale, eman­zi­pa­torische Praxis lohnt die Mühe um und den Glauben an das Bessere im Menschen. Antifaschismus ist schließlich die geschichtliche Verantwortung jedes Ein­zel­nen. Daß die antideutsche Haltung den ver­schiedenen Gruppen, Projekten und Per­so­nen, die diese Verantwortung auch tragen wollen, ihre antifaschistische Grund­ein­stellung abspricht anstatt ihnen zuzureden, grenzte an Sabotage. Das hat, denke ich, vie­le so erregt und die allgemeine Sprach- und Hilflosigkeit begründet.

Dass sich der antifaschistische Kampf hier­zulande auf die Nation namens „Deutschland“ und auf den deutschen Staat kon­zentrie­ren muß, liegt auf der Hand, dass den vielen Menschen unter israelischer Verwaltung zumindest am Ende irgendeiner Vor­ge­schichte eine bessere Verfassung als die na­tionale zu wünschen wäre, aber doch wohl auch. Das Rückgrat jeder antideut­schen Hal­tung sollte deshalb eine antina­tio­nale sein, zumal wenn mensch die nationalen Gren­zen übertritt. Oder hat er/sie schon mal ernsthaft versucht außerhalb der deutsch-verwalteten Territorien je­man­dem zu erklären, warum sich hierzu­lande linksradikale Kritik und Politik auf antideutsche Positionen beschränken soll? Wenn doch hat der/die Gegenüber sicher verständnisvoll genickt und dabei gedacht: „Die spinnen doch, die Deutschen!“

clov

*Gegen die Nebenwirkungen unkritischer Af­firmation, naiver Ontolo­gisierung bloß be­grifflicher Zusammenhänge oder gegen rei­ne Denkfaulheit empfiehlt sich auch wei­ter­hin die regelmäßige Rezeption alternativer Zeitschriften (CEE IEH, incipito etc.pp.)
[1] FA! #14, Sep.-Okt. 2004.
[2] z.B.: „Nichts ist unmöglich – Feierabend!“, in: incipito Heft Nr. 15, Jan. 2005, siehe unter: www.left-action.de/incipito/
[3] Die schriftliche Aufforderung, die Falko als „ganz lieben Brief“ bezeichnet, ist jetzt ebenfalls auf unserer Homepage www.feierabend.net.tc veröffentlicht.
[4] s. Vorbemerkungen zu „Tant de bruit pour une omelette!“, in: FA! #15, Nov.-Jan. 2004/05.
[5] Versatzstücke einer Ideologie
[6] Diese wurde ja auch in verschiedenen antideutschen Statements konstatiert, aber anstatt beidseitig Mittel und Strategien dagegen zu entwickeln, wurde beleidigt, beschimpft, verboten und ignoriert.
[7] Solche vereinfachenden, verkürzten Ansichten lassen sich vor allen Dingen in der zweiten und dritten Generation der antideutschen Bewe­gung finden (s. bspw. FN 15). Die kritische Grund­figur wird hier oft weder verstanden noch nach­vollzogen. Mit der absurden Folge, daß anti­deutsche Theorie so zum Ausdrucksmittel eines existentialistischen Weltschmerzes wird, einer all­ge­meinen Hilflosigkeit, die in der agitatorischen Unterstützung nationalstaat­licher Parolen gipfelt.
[8] Politische Strömungen, die die sozialrevolu­tionäre Perspektive aufgeben und eindeutiges Merkmal radikaler bürgerlicher Positionen.
[9] Ich, der ich als Teilnehmer des Lektürekurses „Negative Dialektik“ an der HGB der Sezierung dieser Textstelle beiwohnen durfte, erinnere an das, was Adorno zu den eisigen Höhen der Abstraktion bemerkt: „Die Verarmung der Erfahrung durch Dialektik jedoch, über welche sich die gesunden Ansichten entrüsten, erweist sich in der verwalteten Welt als deren abstraktem Einerlei angemessen. Ihr Schmerzhaftes ist der Schmerz über jene, zum Begriffe erhoben. Ihr muß Erkenntnis sich fügen, will sie nicht Konkretion nochmals zu der Ideologie entwürdigen, die sie real zu werden beginnt.“ Th.W. Adorno, „Negative Dialektik“, Suhrkamp, Frankfurt, 1997 (1975), S. 18
[10] Adorno ist und bleibt halt Idealist. Institutionelle Ausprägungen gesellschaftlicher Verhältnisse sind für ihn, darin Hegel folgend, bloß die objektive Seite von Begriffen. Nur daß diese nicht mehr Ausdruck des Wahren, sondern Indikator des Falschen sind.
[11] Habermas hatte das erkannt, aber sein kommunikationstheoretischer Vorschlag einer Universalpragmatik des Gesprächs war reichlich degeneriert. *kreischend nach dem alten Jürgen wink*
[12] Unbedingt zu empfehlen sind die beiden berühmt gewordenen Aufsätze „Was ist Kritik?“ und „Was ist ein Autor?“, die in verschiedenen Versionen auch unter dem Titel „Was ist Aufklärung?“ abgedruckt wurden; u.a. in: Michel Foucault, „Was ist Kritik“, Merve-Verlag, Berlin, 1992 (1978) u. Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“ (1969), Fischer Taschenbuchverlag.
[13] Wobei Judith Butler in Ihrem Aufsatz „No, it‘s not anitsemitic“, der in der aktuellen Januarausgabe der Zeitschrift Die Aktion abgedruckt ist und Mitte 2003 erstmals erschien, nur einen sehr eingeschränkten Begriff von Kritik gegen den Harvard-Präsidenten Lawrence Summers und sein „Denkverbot“ verteidigt: den der bürgerlichen Meinungfreiheit. Vgl. u.a.: „Ironischer Weise übernimmt Summers, wenn er Zionismus mit Judentum gleichsetzt, genau die bevorzugte Taktik der Antisemiten.“ in: Die Aktion, Heft 210 „Genozid, Antisemitismus, Israel-Palästina“, Januar 2005, Edition Nautilus, Hamburg, S. 50
[14] Für Leute, die sich ernsthaft mit Denkexperimenten auseinandersetzen und nach Wegen aus dem modernen Einheitsbrei suchen, fern eines minimalistischen Utilitarismus oder der ethischen Schwarz-Weiß-Malerei „Gut gegen Böse“, unbedingt zu empfehlen: Zygmunt Bauman, „Postmoderne Ethik“, Hamburger Edition, Hamburg, 1995 oder derselbe, „Dialektik der Ordnung: Die Moderne und der Holocaust“, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg, 1992
[15] U. a. s. „Wahl in den USA“, in: CEE IEH Nr. 116, Dez. 2004: „Wie zu Beginn des Artikels dargelegt, gibt es genug Gründe als Amerikaner gegen Bush zu sein. Aufgrund des allgegenwärtigen antiamerikanischen Ressentiments in Deutschland gibt es für Freundinnen und Freunde der Emanzipation jedoch nur eine Option: die Verteidigung George W. Bushs und die ideel­le und argumentative Unterstützung der amerikanischen Außenpolitik im Nahen Osten. – In diesem Sinne: Cowboys of the world unite.“ Hier wird sich ohne Wahrheitsanspruch und ohne sich die Frage nach einer richtigen Politik zu stellen, einfach positiv auf die US-Administration be­zo­gen, mit der Begründung, dass müsse mensch den grassierenden Ressentiments einzig entgegenhalten. Warum hier ein „Amerikaner“ mehr Recht auf Kritik haben sollte, als eine „Deutsche“ bleibt dabei völlig unklar. Schon Adorno wusste, dass Kritik einzig der Wahrheit ver­pflichtet sein muß. Schließlich müsste sich jede ernstgemeinte Position doch die Frage stellen lassen, welche Politik gegen solche Ressentiments entfaltbar ist. Gibt mensch sich hier einem absoluten Pessimismus hin bzw. gibt noch das letzte Ideal der Aufklärung auf, nach dem Motto: „Deutsche [wer ist das eigentlich?] raffen es einfach nicht!“, landet mensch schnell bei einer minimalistischen Politik, die nur noch von einem blinden Vernich­tungswillen getrieben wird.
[16] Der im Wildcat-Zirkular Nr. 63 im März 2002 erschienene Text „Linke zwischen Nebelkerzen“ (S. 20-29, [z63nebel.htm]) behandelt diesen Widerspruch zwischen Politik und Kritik innerhalb der Radikalen Linken noch ausführlicher unter dem Aspekt, wie intellektualisierte KritikerInnen sich ihrer eigenen Verbür­gerlichung nicht bewußt sind, weil sie eine selbstkritische Reflexion auf ihre soziale Wirklichkeit ausblenden.
[17] Entsolidarisierungsprozeße, die begleitet sind durch die Übernahme des bürgerlichen Ge­schichtsrelativismus, von Mainstream-Positionen, nationaler Logik und diversen Ressentiments.
[18] Es sei ausdrücklich angemerkt, dass Feinbildkonstruktionen á la „die bösen Antideut­schen“ hier genauso wenig hilfreich sind, wie etwa „antisemitischer Friedensmob“ oder „antiamerika­nische Anti-Globalisierungs­bewegung“.
[19] Insoweit wäre doch die taktische Frage wichtig, inwieweit mensch gegen die bürgerliche Ge­sell­schaft agieren soll und kann, um antifaschistisch zu wirken. Das Bgr (Bündnis gegen Realität) schließt eine Aktion gegen Staat und Kapital aus, oh­ne zu benennen, wo über­haupt sonst an­zu­set­zen wäre. Bei der Veranstaltung „Antifa hahaha“, (FA!#15, S. 3) waren ca. 200 Menschen da, aber außer den abgedroschenen Standpunkten hatte sich niemand wirklich etwas zu sagen. Na, immerhin gibt’s das Offene Antifa-Plenum wiederwieder.
[20] Der Begriff der deutschen Territorialverwaltung trägt der Entwicklung Rechnung, daß die Bedeutung klassischer (militärischer) Natio­nalgrenzen tendenziell abnimmt. Dennoch gibt es klare nationale Grenzen, die vor allen Dingen durch die Reichweite der jeweiligen Verwaltungsrechte bestimmt sind. Die „Amtssprache“, insbesondere innerhalb des Bürokratie-Apparats, und das von ihm kontrollierte Gebiet, sind untrügliche Indikatoren für die nationale Verfassung.

Zuletzt*

Die Beschuldigung einer Zensur im Feierabend! ist insofern zurückzuweisen, als sich die Redaktion immer Nichtveröffent­lichungen vorbehält. Zwar hat es vereinzelt innerredaktionellen Zwist gegeben, weil etwas nicht-so-aber-anders kommen sollte, oder unauto­risiert Details in der Hektik vorm Druck verändert wurden – aber niemand kann der Redaktion vorwerfen, sie hätte sich mit solchen Problemen nicht intensiv auseinandergesetzt, Einzellösungen und Taktiken entworfen, dererlei zu verhindern.

*Im Fall, den Falko in der aktuellen incipito erwähnt, ging es um einen Artikel zum dataspace-Projekt im Conne Island, dass die Redaktion gern vorgestellt hätte. Der eingereichte Text bezog sich hauptsächlich auf eine Preisverleihung und schien so der Redaktion trotz mehrmaliger Diskussion am Ende doch ungeeignet, zu attitüden­haft und nichtssagend. Und es ist leicht einzusehen, dass eine Redaktion nicht alles abdrucken kann, was eingereicht wird. Sorry, Falko, dass wir uns so lange nicht entscheiden konnten, was wir wollten.

Theorie & …

Zur Feier der Revolution in Russland

Vom 6. bis 8. November fand in St. Petersburg der anarchistische Kongress „Black Petrograd 2004“ statt

Eine Reise im Eurolines-Bus von Berlin nach Russland ist nicht wirklich ein Spaß, aber unser Ziel ist diese Qualen wert: immerhin fahren wir zum Black-Petrograd-Kongress 2004 in St. Petersburg, einem russlandweiten Treffen von AnarchistInnen anläßlich der Oktober- bzw. Novemberrevolution 1917.

Zum Kongress kamen um die 70 Menschen – aus mehreren großen Städten Russlands, sowie aus Finnland, Schweden, Deutschland und Rumänien. Die Altersspanne war ungewöhnlich groß – von der 14-jährigen Straßenpunkerin bis zur bereits ergrauten Eminenz war alles vertreten, wobei der Anteil jüngerer Leute doch überwog.

Los ging es am Samstag mit einer Vorlesung über die Machno-Bewegung, einer revolutionären Gruppierung unter der Führung Nestor Machnos, die in der heutigen Ukraine gegen Rote und Weiße Armee gleichzeitig kämpfte. Meine Informationen beschränkten sich vor dem Vortrag darauf, dass es der Machno-Bewegung gelang, als einzige in der Geschichte ein anarchistisch-selbstverwaltetes Gebiet zu schaffen, dann aber von den Bolschewiki überrannt und in die Sowjetunion eingegliedert wurden. Leider war ich auch hinterher nicht viel schlauer, weil sich der Vortrag weitestgehend auf Machnos Biographie und diverse militärische Einzelheiten beschränkte.

Nachdem die erste Veranstaltung vorbei war, hatte ich Gelegenheit, mir die Räumlichkeiten näher anzusehen: Wir befanden uns in den Büroräumen der Menschenrechtsorganisation „Memorial“, die sich mit der Aufarbeitung der sowjetischen Lager-Geschichte beschäftigt. Gerahmte Fotos im Großformat zeigten eindrucksvoll die Witterungsbedingungen, denen die Gulag-Insassen damals ausgesetzt waren.

Die anarchistischen Gruppen in St. Petersburg verfügen nicht über eigene Räumlichkeiten, zwar gab es einen Squat (genannt Klizma nach der Klistierspritze, die von den Besetzern dort als erstes gefunden wurde), der aber einige Zeit zuvor geräumt worden war. Während des Kongresses wurde das Haus als Übernachtungsmöglichkeit für die Auswärtigen genutzt – was sich als einigermaßen gefährlich herausstellte, denn am zweiten Tag wurde Klizma von einem Haufen Nazis überfallen. Jedenfalls war es nicht möglich, diesen Ort als Tagungsraum zu nutzen.

Später gab es eine kleine Kundgebung am Nevskij-Pospekt gegen den Tschetschenien-Krieg und gegen Präsident Putin bzw. seine Politik im Allgemeinen. Auf besonders viel Gegenliebe seitens der auf der Prachtstraße flanierenden Passanten stieß sie nicht –Kritik, speziell am Tschetschenien-Krieg, wird im russischen politischen Mainstream so gut wie nicht geübt. Die Einzigen, die sich neben den Anarchisten dagegen einsetzen, sind die katholischen (sic! Russland ist mehrheitlich orthodox) Soldatenmütter, mit denen früher auch Zusammenarbeit stattfand.

Am nächsten Tag stand die große Demonstration zum Gedenken an die Revolution an – die sich aber als ziemlich schlechter Witz herausstellte. Hatte der anarchistische Block in der kommunistisch dominierten Demo (nebst den Nationalbolschewisten [1]) bisher stets problemlos mitlaufen können, wurde das in diesem Jahr sofort verhindert: Mitglieder der Spezialeinheit Omon kesselten die Anar­chistInnen umgehend ein und ließen sie so lange nicht mehr heraus, bis die Kommies und die hinterdrein ziehende Kolonne von Putzfahrzeugen auf und davon waren. Die Rache kam postwendend in Form einer Spontandemonstration, die merkwürdigerweise nicht von Bullen behelligt wurde, bis sie an den ehemaligen Zarensitz Ermitage gelangte, wo die offizielle Demo ihren Schluss nahm. Dort wurden wir auseinander getrieben, es gab einige Festnahmen. Offensichtlich hatten die Kommunisten im Voraus mit der Polizei verabredet, uns von ihrer Demo fernzuhalten – wir hätten ja dem Gedenken an die Revolution in die Quere kommen können.

Am Montag wurde über den Zustand der anarchistischen Bewegung in Russland diskutiert, hauptsächlich über Organisationsformen (formell oder informell) und über Strategien, den Leuten die eigenen Ziele näher bringen zu können. Ich fand es sehr positiv, zu beobachten, wie ernsthaft die Diskussion ausgetragen wurde, obwohl die Bewegung so klein ist und – vor allem wegen des Mangels an Räumen – relativ wenig Möglichkeiten besitzt, Politik zu machen. Natürlich gibt es auch hier die üblichen Spaltungen, persönlichen Antipathien etc. Aber auf eine Art hat ein anti-autoritärer, libertärer Diskurs in einem so autokratischen Staat wie Russland eine andere Dimension als in Westeuropa. Und es scheint, dass die anarchistische Bewegung dort wächst. Für den nächsten Frühling ist ein ähnliches Treffen in Moskau geplant.

iselin

(1) Übrigens interessant: Diese Leute haben als Parteiabzeichen eine rote Armbinde mit Hammer & Sichel in weißem Kreis …

Nachbarn

Castoralarm!

Die Hoffnung, die mensch am Sonntagmorgen (07.11.2004) noch in den Widerstand auf französischer Seite setzte, wurde jäh erschüttert, als die Nachricht durchsickerte, der Castorenzug hätte einen französischen Aktivisten überrollt und getötet. Auch wenn bei dem gewaltfreien Widerstand gegen die Atommülltransporte immer wieder das Leben aufs Spiel gesetzt wird, damit hatte niemand gerechnet. Der Castorenzug rollt mit 100 h/km (!!!) über die Gleise, sieht die DemonstrantInnen zu spät und verletzt einen tödlich. Keine Polizei, keine Aufklärung und Abschirmung, kein noch so modernes Überwachungs- und Kontrollgerät konnten das verhindern. Dabei handelte es sich um den gefährlichsten Transport, den mensch sich überhaupt denken könnte.

Mit den kritischen Stimmen der französischen Presse bleibt deshalb zu fragen: Was wäre eigentlich passiert, wenn anstelle des Demonstranten ein Baum oder irgendetwas anderes auf der Strecke gelegen hätte und der Zug wäre entgleist? Und warum gibt es in der französischen Regierung und in den Köpfen der vielen Menschen auf beiden Seiten der Grenze noch immer diese schier unerträgliche Ignoranz gegenüber den für alle viel zu hohen Risiken atomarer Kernkraft und deren Entsorgung!? Umdenken. Aktiv werden. Abschalten. Mit dem Widerstand stirbt auch die Hoffnung auf eine von der Atomkraft befreite Welt!

clov

Bewegung

Eine andere Geschichte schreiben…

Von einem rastlosen Anarchosyndikalisten im Mexiko der 20er

"Sie kommen an einen Hafen, von dem drei Dampfer in See stechen. Sie wollen verreisen, Sie wollen sich bewegen, die Welt und Sie sollen eins werden, Sie wollen leben. Eines der Dampfschiffe heißt "Zur Scheiße", das andere heißt "Zur Ausbeutung, zur Täuschung, zum Kapital", das andere heißt "Zur sozialen Revolution". Entweder Sie bleiben am Hafen stehen und sehen zu wie die Dampfer losfahren, während Ihre Koffer in einem davon mitfahren, ohne daß Sie entschieden hätten, in welchem, oder Sie wählen aus und steigen ein."

(Sebastian San Vicente in "Auf Durchreise")

Die Geschichte ist verschüttet, nur wenige Stelen ragen heraus, die von den Siegern beschriftet wurden. Diese Sieger sind vielfältig über die Jahrhunderte und den Erdball verteilt. Den Besiegten bleibt das Vergessen. Über Generationen hinweg wird das Ritual der Unterworfenen wiederholt, verallgemeinert, variiert und in das Bewußtsein der Nachkommen verpflanzt. Das Leiden der Arbeiter und Bauern, des gemeinen Volkes, der Widerstand der allenthalben hochkochte, der seine Ideen fand oder sich selbst schuf, der in vielen Revolutionen kulminierte, die in sich die Konkurrenz zwischen autoritärem und freiheitlichem Kommunismus austrug, diese Geschichte von Millionen wird in den Lehrbüchern und in der Öffentlichkeit der Diskurseliten unter Allgemeinem abgehandelt, um sich dann wieder ausführ­lichst den Feldzügen und Streitigkeiten der herrschenden Cliquen zu widmen. Dieses Ungleichgewicht in den Schulbüchern der Geschichte, den Fürsten und Präsidenten bei weitem mehr Platz einzuräumen als den Widerständigen und Gehenkten, zeigt, daß wir das Ende der Geschichte noch lange nicht erreicht haben, daß Geschichte immer davon abhängt, ob man sie von oben oder von unten liest, daß die Klassengesellschaft trotz aller ideologischen Schleier noch existiert.

Wenn wir wissen wollen, was zwischen den Zeilen steht, dann müssen wir uns schon selbst auf die Suche begeben. Dabei reicht es nicht, sich mit Revolutionsikonen wie Che Guevara, W.I. Lenin oder Leo Trotzki zufriedenzugeben, deren autoritärer Kern und ihr tatsächliches Handeln von viel zu vielen Linken immer noch ignoriert wird. Sie dienen oft als Strohhalme in unre­vo­lu­tionären Zeiten, als Haltepunkte und Orientierung in der medialen und ideologischen Überflutung, da mit ihnen eine Identität gegen den Kapitalismus markiert wird. Dabei handelt es sich um rein symbolische Abgrenzungen, die immer mehr kapitalistisch integriert und ihres revolutionären Impetus entkleidet werden: Denn kaum einer, der mit einem Che-T-Shirt rumrennt, kennt die tiefere Geschichte dieses Menschen, geschweige denn die historischen Details der kubanischen Revolution. Diese wurde beileibe nicht nur von Che und Fidel, sondern durch viele verschiedene Akteure und Gruppierungen bestimmt, deren Aktivitäten heute größt­enteils verschüttet sind. Ganz zu schweigen von dem Kasernenkommunismus und der Militarisierung der Gesellschaft, die von der Oligarchie des Castroregimes betrieben wurde. Lenin und Trotzki werden als positive Gegenspieler zu Stalin aufgebaut. Nach dem Motto: Stalin böse, Lenin gut? Dabei hat Lenin letztendlich das Fundament gelegt, auf dem Stalin seine persönliche Diktatur errichten konnte, und auch vor Stalin waren die Gefängnisse gefüllt mit Anarchisten, Sozialrevolutionären und anderen ehemaligen Verbündeten der Bolschewiki, die freiheitlichere Vorstellungen vom Kommunismus hatten. Trotzkis mörderische Rolle bei der Niederschlagung des Aufstands der Matrosen von Kronstadt oder bei der Zerschlagung der anarchistisch inspirierten Machno­bewe­gung durch die Rote Armee, wird ignoriert. Im Mythos wird er seines historischen Lebenslaufs entkleidet.

Es gibt aber auch andere Geschich­te(n), die von libertären Ideen erzählen, von revolutionär-gewerkschaftlicher Organisierung oder Kämpfen für Würde, Land, Freiheit, für den freiheitlichen Kommunismus oder auch "nur" ums nackte Überleben. Diese Underdogs der herrschenden Geschichtsschreibung, ihre Ideen und sozialen Ideale sind es, die uns den Halt geben können, um nicht unterzugehen, um die Hoffnung auf ein Ende der Bevormundung, Zurichtung und Ausbeuterei am Leben zu halten. Diese Geschichten sind keine Heldenepen, auch wenn sie heroische Elemente aufweisen. Sie sind nicht perfekt, auch wenn die Ideen danach streben. Sie haben auch kein happy end, auf das unsere Sehn­sucht drängt. Keine soziale Revolution ohne Sehnsucht nach menschlicher Freiheit und Gleich­heit! Keine soziale Revolution ohne Lei­denschaft, Verhältnisse ab­zu­schüt­­teln, die den Men­­­schen Leiden, Ab­stum­p­fung und Unterwerfung bringen und in denen dies durch staatliche Gewalt, Befehl und Gehorsam, Lohnzettel oder schillernde Kon­sumwelten aufrechterhalten wird! Geschichte kann den ideologischen Schleier zerreißen …

Paco Ignacio Taibo II. erzählt so eine Geschichte, die Geschichte von Sebastian San Vicente Bermúdez, spanischer Seemann, Anarchist und Gewerkschaftsorganisator, Herumreisender im Mexiko der 20er Jahre, mit der "Revolution im Reisegepäck". Es beginnt in Tampiquo, das ihm den Beinamen "der Tampikaner" einbringt, und führt ihn über La Colmena bis nach Vera Cruz, an verschiedene Orte in Mexiko, verfolgt vom FBI und von staatlichen Behörden, die ihn gerne abschieben würden. Er hilft bei der Organisierung der lokalen Gruppen der Confederacion Generale de Trabajadores, dem anarchosyn­dika­lis­tischen Gewerkschaftsverband, und beteiligt sich an Arbeitskämpfen. Er besitzt nichts und wenn er sich von jemanden etwas leiht, dann gibt er es jemanden Anderes zurück, wechselt seinen Schlafplatz wie die Unterhosen und seine Identität wie Hemden.

Vicente hat es wirklich gegeben, von ihm sind jedoch nur bruchstückhafte Informationen überliefert. Die Schilderung von Vicente durch den Autor wird von Zeitungsartikeln, Polizeiberichten, Gewerk­schaftsprotokollen und Augenzeugenberichten zusammengehalten, die in 55 kleinen Kapiteln aufgefächert, verschiedene Stationen seines Weges durch Mexiko beleuchten. Doch wie erzählt man Geschichte ohne in trockenes Aneinan­derreihen von Fakten zu verfallen? Wie erzählt man Geschichte, wenn die Informationen so verstreut sind, wie in diesem Fall? Der Staat und Herausgeber der Lexika und Enzyklopädien hatten sicherlich kein Interesse daran, die Geschichte eines rastlosen Proletariers und Anarchosyndikalisten aufzuschreiben, viele Historiker, Ge­schichts­lehrer und Journalisten kämen nicht mal auf die Idee, daß es so etwas geben könnte. Bleibt das Recherchematerial so lückenhaft, so bietet es sich an, aus der Geschichtsschreibung eine Geschichte, einen Roman zu machen. So erklärt der Autor in seinen Anmerkungen zu Beginn, daß sich schwerlich behaupten lässt, daß es sich um einen Roman handele, daß es jedoch zweifelsohne einer sei. Schlitzohrig kann er sich dennoch die Frage nicht verkneifen: "Was zum Teufel ist eigentlich ein Roman?"

Mit dem Romanhaften wird die historische Figur geflickt und aufgefüllt. Durch diese fiktive Anreicherung Vicentes fließen auch Hoffnungen, Vorstellungen und Vergangenheit des Autors in seine Geschichte ein. So erinnert er sich der Schwierigkeit 1968 in der Studentenbewegung von Mexiko-Stadt Anknüpfungspunkte zu finden, den "dünnen Faden der Kontinuität zu spannen" und er gesteht, daß der Ursprung dieses Buches in der "fixen Idee des Autors" der "nochmaligen Überprüfung und Erweiterung der Legen­den­sammlung der Linken" zu finden ist. Der Autor verwendet einen Erzählstil, der einem die Geschichte ein­gäng­lich und intensiv vermittelt. Leicht und locker werden vielerlei Metaphern in Szene gesetzt und mit der historischen Situation und handelnden Figur ver­knüpft.

Überhaupt steckt diese Ge­­schich­te voller anarchistischer Philosophie und Poesie.* Man möch­te behaupten, daß die Figur Se­bastian San Vicente in gewissem Sinne eine Verkörperung dieser Ideale darstellt. Dabei werden diese zeitweise dichter als die Figur selbst, drängen den Menschen Vicente in den Hintergrund. Anderer­seits macht es vielleicht gerade den Menschen Vicente aus, diese Ideen konsequent leben zu wollen. Vielleicht mag auch bei dem einen oder anderen Leser nach der Lektüre einer Liebe zum Anarchosyndikalismus nichts mehr im Wege stehen …

francis murr

* siehe Zitat oben

Paco Ignacio Taibo II; „Auf Durchreise“, Edition Nautilus, gebunden, 138 Seiten, makuliert
Ebenfalls empfehlenswert:
Zur kubanischen Revolution: Sam Dolgoff; „Leuchtfeuer in der Karibik“
Zur Russischen Revolution: Peter A. Arschinoff; „Geschichte der Machno-Bewegung“ • Alexander Berkman; „Der bolschewistische Mythos“ • Volin; „Der Aufstand von Kronstadt“ • Volin; „Die unbekannte Revolution“
Allgemein: Horst Stowasser; „Leben ohne Chef und Staat“
(die meisten können unter Anderem beim A-Sortiment bestellt werden: www.cafe-libertad.de/mat/enter.htm oder Syndikat A: www.fau.org/fau_medien/syndikat-a
bzw. Lesen und Ausleihen in der Bibliothek des libertären Zentrums Libelle)

Rezension

Buch-Buh-Bundeswehr

Die Bundeswehr hat die (Kriegs-)Flagge auf der Leipziger Buchmesse 2005 gestrichen! Im Vorjahr 2004 noch bar aller Bücher größter Einzelaussteller auf der Buchmesse, traten die Feldgrauen dieses Jahr den strategischen Rückzug an. Proteste, 1.200 Unterschriften gegen ihre Anwesenheit und die bekundete Ablehnung vieler Verlage haben offenbar Wirkung getan. Hinzu kam die negative Publicity für die Leipziger Buchmesse durch die gewalttätige Anwesenheit von Feldjägern und Polizei. Offenbar um weiteren Imageschaden für Messe und Kriegskampagne zu vermeiden, machte die Bundeswehr wegen angekündigter neuer Proteste nach eigener Aussage den Rückzieher. Jaja – die Kultur ist ein Minenfeld, das mussten nun auch die Anwerbe-Soldaten lernen.

Wir konnten also eine Buchmesse ohne die auf Tölpelfang im Jugend- und Kindermessebereich ausgehende Bundeswehr erleben. „Der Weg zum Frieden führt über den Schulhof“, so warb damals Deutschlands Streitmacht, wobei doch die Interpretation „Der Weg zum Friedhof führt über den Schulhof“ augenscheinlich näher lag. Bücher statt Bomben!

LPA

über´n Tellerrand

Erziehung zum Manne

Burschenschaften, Landsmannschaften, Corps und jede Art von Korporierten werden immer noch in vielerlei Hinsicht ideo­logisch unterschätzt. Es ist zwar relativ bekannt, dass viele Vertreter ihrer Art mit rechtsextremen Haltungen sympathisieren bis hin zum Austausch mit faschistischen Gruppen, genauso ihre elitäre Abgrenzung verbunden mit Vetternwirt­schaftlerei und den ausgeprägten Sexismus, trotzdem genießen sie – und das nicht nur in konservativen Kreisen – eine unreflektierte gesellschaftliche Akzeptanz. Das wird oft damit begründet, dass es viele unter ihnen gäbe, die sich „liberal“ äußern mit den Hinweis, dass man die verschiedenen Studentenverbindungen nicht als eine homogene Masse begreifen könne. Es ist nicht abzustreiten, dass es bezüglich der einzelnen Weltanschauungen Differenzen gibt (auch wenn sich die Spanne in fast allen Fällen nur zwischen rechtsextrem und konservativ bewegt) und dass es selbst so- genannte „alternative“ Burschenschaften gibt, die „sogar“ Frauen aufnehmen; ihre gemeinsamen Grundprinzipien und der damit verbundene Zwangscharakter jedoch, was alle Formen von Verbindungswesen teilen, wird sehr gerne übersehen oder sogar heimlich bewundert. Studentische Korp­erationen teilen alle eine militärisch hierarchische Grundnorm sowie einen erzieherischen Anspruch. Der Einzelne hat sich seiner Aufgaben – die ihm meist vom nächst höheren zugeteilt werden- sowie der eigenen Verbindung bedingungslos zu unterwerfen. Die Gemeinschaft die sich zuallererst über elitäre Abgrenzung definiert, hat die Aufgabe, den Einzelnen nach einer entsprechenden Norm zu formen. Dies gelingt über eine Fülle verschiedenster Rituale und Konventionen.

Ein zentrales Element bei schlagenden Verbindungen ist die Mensur, ein ritualisierter Degenkampf, der die Aufgabe hat, dass die Kämpfenden sich selbst überwinden. Die beiden Kontrahenten dürfen während des Kampfes ihre Positionen nicht verändern um abwechselnd auf­einander einzuschlagen. Sollte einer von beiden rückwärts ausweichen, bekommt er eine Strafe die in den meisten Fällen ein Freischlag (also ein Schlag bei dem der Gegner nicht parieren darf) für den anderen bedeutet. Der ganze Vorgang ist nicht nur ein krudes Männerspiel, es dient auch der Charakterdisziplinierung. Der Einzelne, dem die Aufgabe obliegt sich selbst zu überwinden, zwingt sich zum Kriegsspiel, indem er natürliche Ängste in erster Linie verdrängt und somit sich total dem kollektiven Diktat der soldatischen Tugend unterwirft, sie quasi lieben lernt. Die Mensur bindet das noch junge Mitglied an die Fraktion und wird ihr Soldat. In den verschiedenen, schlagenden Verbindungen muss jeder mind­estens einmal die sogenannte Bestim­mungsmensur gefochten haben um Mitglied zu werden. Längst überholte Männer­roman­tik vom harten, pflichtbewussten und bedingungslos loyalen preußischen Männchen blüht bei ihr wieder auf. Indem Ängste einfach wegdividiert oder ihre Ursachen unreflektiert gelassen werden, bietet die durchdisziplin­ierte Gemeinschaft das Gefühl der Sicherheit und den festen Glauben daran, dass jeder Erfolg nur ihr zu verdanken ist. Ein weiteres Beispiel für die ständige kämpferische Auseinandersetzung sowie gezielte Diszi­plinierung innerhalb von Studentenbünden sind die „Trinkspiele“. Diese sind nicht als gesellige Partyunterstützer zu betrachten, sondern dienen oft als Ersatz für Zucht und Mannbarkeitsbestimmung. Trinkrituale werden zum einen als Strafe der Gruppe gegenüber dem Einzelnen verwendet, der die engen Regeln und Konventionen übertreten hat, zum anderen sind sie Duellersatz zwischen zwei Mitgliedern. Trinken als Strafe findet sich bei der so genannten „Kneipe“ wieder, eine geschlossener verbindungs­internen „Feierlichkeit“. Während des „öffentlichen“ Teils dürfen die einzelnen Mitglieder nicht vom Tisch aufstehen (auch nicht um einfach banal auf die Toilette zu gehen). Bricht ein Teilnehmer jedoch die strenge Regel muss er öffentlich zur „Belehrung“ Zwangstrinken. Bei solchen Ritualen wird ein Schwächerer gekürt und seine angebliche Schwäche öffentlich diffamiert. Es fordert gleichzeitig alle anderen Anwesenden dazu auf bloß keine Schwäche zu zeigen Das Trinken als Duell ist Mittel der männlichen Auseinandersetzung und verliert die Unschuld des schlicht Geselligen. Das ständige Kampftrinken ist ebenso Grundlage bei der Auseinandersetzung mit anderen Verbindungen, wo militärisch stramm und im Gleichschritt Marsch „Stafetten“ gegen­einander getrunken werden. Das Individuum ist ständig einen Druck zur Profi­l­ierung ausgesetzt, damit es sich immer aufs neue „selbstüberwinden“, sprich Ängste verdrängen muss um nicht als Verlierer (und damit als nicht profund „männlich“) dazustehen. Indem sich der gemeinschaftliche Rahmen in Verbindungen durch Disziplinierung, Unterwerfung unter eine Autorität und ewige Auseinandersetzung charakterisiert, wird der Einzelne unter Druck gehalten und formbar zum sexistischen, nationaltreuen und Autorität heuchelnden Ellenbogentypus. Im Selbstbild der korporierten Erziehung wird das als Prozess zur Entwicklung von Verantwortlichkeit stilisiert. Der Einzelne hat sich autoritärer Strukturen anzupassen, was schon in der Verbindlichkeit zur einheitlichen Kleidung zum Ausdruck kommt. Das Verbindungs(un)wesen vermittelt ein Weltbild, was sich auf Ellen­bogenmentalität bis hin zum Recht des stärkeren versteht. Insofern sind die Verbindungen von Burschenschaften zur extremen Rechten kein Zufall und keine Ausnahme und eben darum nicht zu ignorieren.

Verbindungen starten gerade zu Anfang des Semesters vielerlei Werbeveranstaltung in Form von Info-Ständen, Parties oder günstige Wohnangebote um neue Mitglieder zu rekrutieren.

Burschenschaften der Deutschen Burschenschaft (ein burschenschaftlicher Dachverband) treffen sich ebenso alljährlich zu ihrem Burschen- und Altherrentag. Die Versammlung findet in der Zeit vom 18-22. Mai 2005 statt. Jeder ist aufgerufen das nationalistische Fanengeschwenke zu stören und sich kritisch mit dem im selben Rahmen stattfindenden Vorträgen und Veranstaltungen auseinanderzusetzen.

Karotte

Bildung