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Raum für ein Soziales Zentrum

Hausbesetzung und Räumung am Lutherplatz in Dresden

Am 1. Dezember 2004 wurden am Lutherplatz im Dresdner Stadtteil Neustadt ein fast vier Monate lang bewohntes und genutztes Haus und Hinterhaus von einem Großaufgebot der Polizei geräumt. Während die Einsatzkräfte allerlei Möbel, Klamotten und Kleinteile aus dem Haus trugen und in zwei überdimensionale Container verfrachteten, flatterte in einem der Fenster noch ein Transparent mit der Aufschrift: SOZIALES ZENTRUM.

Im August 2004 war es, als eine Gruppe junger, engagierter DresdnerInnen den Versuch startete, ein bis dahin ungenutzt verfallendes Haus wieder nutzbar zu machen und nach aussen zu öffnen. Ihre Vision war es, einen Raum zu schaffen, in dem jeder, ohne Zugehörigkeit zu einer politischen oder sozialen Gruppe und unabhängig von finanziellen Mitteln die Möglichkeit hat, selbstbestimmt Ideen und Projekte zu entwickeln und diese kreativ in die Tat umzusetzen. Ein Ort der freien Kom­munikation und des Informa­tionsaustausches, offen für alle, die ein solidarisches Leben miteinander teilen wollen und frei von jedem Konsumzwang. Kurzum: ein Refugium der Selbstbestimmung und ein Experimentierfeld für Selbstorganisation. Oder ganz einfach: Freiraum!

Freiraum. Etwas, was man im heutigen Stadtbild mehr und mehr vergeblich sucht. Gemeint sind damit nicht Frei- oder Grünflächen, Park- oder Sportplätze. Solche Orte sind in ihrer Funktion klar festgelegt und bieten bloße Nutzungs- und Aufenthaltserlaubnis in ihrem eingeschränkten Rahmen. Gemeint sind Orte, die räumlich wie sozial gesehen nicht in Schranken weisen, sondern zum Ausloten auffordern, zum Füllen mit Leben.

Das Potenzial für eine solche Nische fand die Gruppe in einem lehrstehenden Grün­der­zeitbau am Martin-Luther-Platz, im Zen­trum der Dresdner Neustadt gelegen. Das Haus, schon jahrelang ungenutzt, verfiel zusehends. Im Prinzip schon Freiraum in sich bergend, musste es also noch erschlossen und öffentlich nutzbar gemacht werden. Die Instandbesetzer beräumten Schutt, reparierten Teile der Fußböden und strichen Wände. So entstand im Erdgeschoss des Vorderhauses ein offener Veranstaltungsraum. Hier war auch auch das sogenannte „Umsonstkino“ zu Hause. Einmal wöchentlich wurde dort unentgeltlich ein Film vorgeführt.

Im ersten Stock eröffnete der „Umsonstladen“. Hier konnten Menschen intakte Gegenstände, die sie nicht mehr benötigten, abgeben. Auf drei Räume verteilt sammelten sich Klamotten, Bücher, Geschirr oder anderer Kleinkram. Wer etwas brauchte, konnte sich einfach bedienen, ohne Geld oder Tausch. Oder man tratschte einfach über das alte Erbstück, von dem man sich endlich trennen konnte…

Zweimal wöchentlich öffnete der Umsonstladen seine Tore und wurde trotz Kälte und notdürftiger Beleuchtung mittels einer Autobatterie in den vier Nachmittagsstunden von bis zu 40 Leuten verschiedenster Schichten besucht. In der Etage über dem Umsonstladen war ein offenes Atelier in Planung und eine Theatergruppe wollte die Räumlichkeiten daneben für sich nutzen. Im 3. Oberge­schoss begann eine Gruppe junger, politisch engagierter Menschen, Räume vorzubereiten, um eine Plattform des freien Informationsaustausches zu schaffen. Dies war als ein Ort gedacht, an dem Menschen an einer Art Litfaßsäule Informationen aufnehmen und ebenso loswerden könnten. Zwei mal im Monat sollte eine sogenannte „INFOKÜ“ stattfinden, ein themenbezogener Abend mit Vorträgen und Filmen gewürzt und dazu Gekochtes zum Selbstkostenpreis, um den Hunger nach Nahrung und Information gleicher­maßen zu befriedigen. Nebenan planten sie einen Seminarraum für Workshops zu unterschiedlichen Themen, wie Rassismus, Soziales, Verkehr …

Zusätzlich zeigten zum Zeitpunkt der Räumung noch die Redaktion einer Zeitschrift für künstlerische und politische Momentaufnahmen und ein Treffpunkt für Asylbewerber konkretes Interesse. Und Raum war im Vorderhaus auch noch reichlich vorhanden.

Das große Interesse und der augenscheinliche Bedarf eines sozialen Zentrums, wie es sich am Lutherplatz Stück für Stück entwickelte, war wenig überraschend, wie auch die Idee nicht ganz neu ist. In Italien entstanden bereits in den siebziger Jahren sogenannte centri sociali. Leer stehende nicht mehr verwertbare Gebäude wurden dort übernommen und zu unabhängigen Politik- und Kulturzentren umgestaltet. Ein Mangel im sozialen und kulturellen Bereich sollte über­wunden und eine wirkliche Sou­veränität in der Freizeit erreicht werden. Im Gegensatz zu autonomen Zentren und Infoläden lag den Centri eine größere Offenheit und Nutzungs­brei­te zu Grunde. Jeder konnte hier gleichermaßen zum Nutzer und auch Gestalter von Projekten werden.*

Zu Zeiten der Massenproteste in Genua 2001 gab es zwischen 300 und 400 solcher selbstverwalteten Zentren. Sie bildeten auch die Basis für die Organisation des globali­sierungs­kritischen Widerstands zum Weltwirtschaftsgipfel. So ist es kein Wunder, dass heutzutage viele, selbst langjährig etablierte Centri, wieder vor der Räumung zu stehen. Auch in Deutschland gibt es Bestrebungen, in verschieden Städten wie beispiels­weise in Aachen und Berlin, Soziale Zentren aufzubauen. Einige existieren auch bereits.

In Zeiten, in denen öffentlicher Raum mehr und mehr privatisiert wird, scheint der Bedarf nach realer Teilhabe am öffentlichen Leben wieder zu wachsen. Immer mehr wird in den Städten fehlende Urbanität beklagt und eine soziale und räumliche Frag­­mentierung erlebt, die Stadtteile an bestimmte Schichten und Funk­tionen bindet. Die Innenstädte bei­spielsweise entwickeln sich mehr und mehr zu überwachten, inszenierten Ein­kaufswel­ten, in denen nur noch kapitalstar­ke, kaufwillige Klientel erwünscht ist.

In Stadteilen wie der Neustadt wird ersichtlich, wie sozial Benachteiligte schritt­weise aus den Zentren vertrieben werden.

Kurz vor der Wende stark vom Verfall bedroht, hatten sich hier Künstler, Studenten und Leute mit eher schmalem Geldbeutel angesiedelt. Diesen Bewohnern gelang es dann auch den drohenden Abriss des Quartiers zu verhindern. Nach der Wende entdeckten Investoren und die Stadt den Wert des einstigen „Stiefkindes“, welches als größtes zusammenhängend erhalten gebliebenes Gründerzeitviertel in Deutschland gilt. Es wurde zum Sanie­rungs­gebiet erklärt und ein neuer Laden nach dem anderen öffnete seine Pforten.

Das nun als Dresdner „Szeneviertel“ bezeichnete Gebiet hat zwar immer noch den höchsten Anteil an den unter 30 jährigen in Dresden, doch sein Gesicht hat sich stark gewandelt. Inzwischen kann man hier im Designeroutlet seinen Anzug kaufen und im französischen Fein­schmec­kerrestaurant speisen. Dafür leben jetzt nur noch 10 % der Bewohner von Anfang der Neunziger hier; für viele wurde die Miete in den chic sanierten Häusern schlichtweg zu teuer. Und auch Teilhabe am kulturellen Leben wird hier mehr und mehr zum Privileg der Besserver­die­nenden.

Dieser hier beschriebene Prozeß ist auch aus anderen deutschen und vor allem amerikanischen Großstädten bekannt. Er wird in der Stadtsoziologie Gentrification genannt, was übersetzt eine Aufwertung des Stadtviertels bedeutet.

Einige obdachlose Jugendliche, die im aufgewerteten Wohnraum der Neustadt keine Bleibe mehr gefunden hatten, waren in dem Hinterhaus am Lutherplatz 6 untergekommen. Sie bildeten dort ein selbstverwaltetes Wohnprojekt, als die Räu­mungsauforderung ins Haus flatterte. Acht Tage wurden darin den Bewohnern und Nutzern eingeräumt, um die Häuser zu verlassen. „Eine ordnungsgemäße weitere Nutzbarkeit“, so der Bescheid, sollte damit gewährleistet werden. Der bis dahin unbekannte Eigentümer aus Süddeutschland, der wahrscheinlich erst durch die Polizei von der Nutzung seines Hauses erfahren hatte, kündigte eine – so wörtlich – „kurzfristige Sanierung“ des seit Jahren verfallenden Gebäudes an.

Da es innerhalb der acht Tage unmöglich war, einen neuen Raum für den Umsonstladen und die anderen Projekte zu finden (schon gar nicht neuen Wohnraum für die fünf Bewohner des Hinterhauses), versuchte man schriftlich, mit dem Besitzer in Kontakt zu treten, um über ein befristetes Nutzungsrecht zu sprechen. So wäre es möglich gewesen, über den Winter ein neues Zuhause für das Soziale Zentrum zu suchen. Doch der Eigentümer zeigte sich nicht gesprächsbereit. Bis zuletzt auf eine gütliche Einigung hoffend, sahen sich die Menschen vom Lutherplatz 6 dann pünktlich am 1. Dezember dem Räu­mungs­kommando gegenüber.

Im Verlauf dieser Räumung wurde einer weiteren Nutzung des Hauses erst einmal ein Riegel vorgeschoben. Sämtliche, noch gut erhaltene Fenster und Türen wurden von eigens dafür angeheuerten Handwerkern herausgerissen. Dank der vielen Helfer, die Autos und ihre Arbeitskraft kurzfristig zur Verfügung stellten, konnten viele der Artikel aus dem Umsonstladen gerettet werden. Sie sind nun provisorisch bei Unterstützern zwi­schen­gelagert. Das Umsonstkino hat übergangsweise in einem anderen Raum Asyl gefunden und wird weiterhin wöchentlich betrieben. Doch wie lange der Raum genutzt werden kann ist fraglich.

Die Bewohner des Hinterhauses traf es am schlimmsten. Glück hatten die, die bei Freunden unterkamen, doch einige leben auch wieder auf der Straße.

Aus den ehemaligen Nutzern und aktiven Leuten beteiligter Projekte hat sich nun die Initiative für ein soziales Zentrum herausgebildet. Diese Menschen haben es sich ausdrücklich zum Ziel erklärt, ein Soziales Zentrum für Dresden möglich zu machen. Denn eins ist durch die Räumung umso deutlicher geworden:

Der Bedarf, einen solchen Freiraum mit Leben zu füllen, ist größer denn je. Und leere Gebäude gibt es in Dresden genug.

Initiative für ein soziales Zentrum

*als Bsp. für Centri Sociali und sozialer Bewe­gung: „Italienisch für Erwerbslose“, Direkte Aktion, #165

Lokales

Pelz ist mehr!

Am Samstag den 12.3.05 fand die jährliche Demo gegen die Pelzmesse „Fur & Fashion“ in Frankfurt/Main statt. Hier präsentierte sich die „Pelzindus­trie“, die da­von lebt, das Tier zum bloßen Ding, zum „Pelz“ zu degradieren, dessen einzige Lebensberechti­gung der wirtschaftliche Nutzen ist. Dieser „weiche“ Begriff bagatellisiert sowohl das Leid und den Schmerz der Tiere wie auch Eitelkeit und Prestige-Bedürfnisse der „TrägerIn“.

Die Veranstalter der Messe ließen sich von der stetig sinkenden Zahl von Ausstellern auf der „Fur & Fashion“ und dem Ausstieg verschiedener Konzerne, bei­spiels­weise Quelle, C&A und Karstadt aus dem Pelzverkauf, nicht beeindrucken.

An der Demo beteiligten sich ca. 200-300 Menschen. Ebenso fiel die starke Polizeipräsenz auf. Seltsam auch, dass sich beinahe jede/r Teilnehmer/in einer Ta­schenkontrolle unterziehen musste. Den ersten Halt machte die Demo vor dem Pelz-Geschäft „Pelz Türpitz“, wo es erst­mals zu Rangeleien kam und ein Straßentheater eine Tierhäutung „zeigte“. Vor den Läden „Appelrath Cüpper“ und „Peek und Cloppenburg“ heizte sich die Stimmung zwischen Demon­strantInnen und Po­lizisten bzw. Se­cu­ri­ty-Männern auf, die „Peek und Clop­penburg“ schein­bar extra angeheuert hatte und vor die Rei­­hen der Polizei stellte. Es gab erneut Rangeleien, ein paar Tritte und Knüppelhiebe. Bei der Abschlusskundgebung wurden 50.000 (!) Unterschriften gegen den Pelzhandel bei „Peek und Cloppen­burg“ entrollt. Nach der Demo hielten 60-70 Leute vor der Messe eine Mahnwache, die ohne Zwischenfälle ablief. Am Abend gab es das Antipelz-Fest im „Exil“ mit Live Musik von Chaoze One, Albino, madcap (die auch die Demo musikalisch begleiteten), sowie einem Drum´n´Bass DJ und lecker veganem Essen.

„Pelztier“-Farmen sind allesamt grausame Orte. Dies war zu keiner Zeit anders.

Rosa

Quelle: de.indymedia.org

Übrigens! Die Behauptung, dass es Pelztieren auf den Farmen wegen ihres glänzenden Felles physisch und psychisch „gut“ gehen müsste, lässt sich leicht entkräften: Mangeler­nährung, Bewegungsunfähigkeit und die ständige psychische Qual wirken sich erst nach ca. 7 Monaten im Fell aus, so alt werden diese Tiere aber nicht.

+ 1/4 der zu „Pelz“ verarbeiteten Felle stammen aus dem Fallenfang.

+ ca. 3/4 stammen aus „Pelztier“- Farmen.

+ 1998 wurden weltweit 25.746.000 Nerze und 3.668.000 Füchse in Farmen getötet.

+ In Deutschland gibt es ca. 40 Nerzfarmen, einige Fuchs- und Sumpfbiberfarmen sowie unzählige Chinchillazuchten in denen insgesamt ca. 270.000 Tiere untergebracht sind.

Quelle: offensive gegen die pelzindustrie

Bewegung

Barcelona: „Schöne Bescherung!!!“

Stop fascism, fight capitalism!

Am 23.12.2004 versammelten sich abends mehrere tausend DemonstrantInnen im Zentrum Barcelonas und gingen vor die Polizeistation am Plaza Sant Jaume. Anlaß war der Tod eines jungen Antifaschisten, dessen schwere Verletzungen nach einem faschistischen Übergriff ihn nicht mehr aus dem Koma erwachen ließen.

Viele werfen der örtlichen Polizei Dul­dung und Unterstützung der faschis­tischen Szene vor. Und schließlich kommen die deutschen Realitäten via EURO.pa auch in Spanien an: zu der Präsenztaktik im öffentlichen Raum, tritt nun die Stra­tegie der Polizei, ihn zu kontrollieren. Als hätte die Stadt nicht genug unabhängig operierende Polizei­einheiten: Die gerade im Aufbau befindliche Catalonische Polizei scheint die BesetzerInnen-Szene fest ins Visier genommen zu haben. Nicht nur die Hamsa, auch andere Häuser wie das Huerto und soziale Zentren wurden im Verlauf des letzten halben Jahres geräumt.

Der Protest war dementsprechend sehr entschlossen und die DemonstrantInnen griffen die Polizeistation und die aufgefahrenen Polizeiverbände mit den unter­schiedlichsten Wurfgeschossen an, drängten diese zeitweise in die Station zurück. Nach einigen Warnschüssen (die in Spanien den Einsatz von Gummige­schoßen und Gasgranaten signalisieren) konnte die Polizei allerdings die Situation wenden und die Kundgebung auseinander treiben. Trotz der auch in Spanien üblichen Taktik, zivile Beamte einzusetzen, gab es im Ganzen nur vier Festnahmen. Hier zeigt sich ein Unterschied: während die deutsche Beamtenschaft eher zu Festnahmen greift und der Verwahrungs-/Untersuchungs-/Strafaufenthalt in Gefängnissen vergleichsweise harmlos ist, sind innerhalb des spanischen Exekutiv-Apparates Folter und erpresste Aussagen immer noch alltäglich. Die Erfahrung aus den beiden verwalteten Territorien jedoch belegt schon jetzt, dass die im Zuge der allgemeinen „Terrorismus-Angst“ durch-gesetzten Anti-Terror-Paragraphen der nationalen Verwaltungen, den Behörden auch zu verstärkter Repression gegen politisch Andersdenkende, insbesondere gegen emanzipatorische antinationale Projekte und Netzwerke dienen.

sali & clov

Nachbarn

Schillers politisches Theater

Schiller lockt derzeit an allen Ecken. Ob nun als zweihundertjähriger Bühnenaufguss, als Logo auf Supermarkt-Rabatt-Marken oder als einfaches Abziehbild fürs Kinderzimmer. Hauptsache es schillert irgendwie. Schiller der große Literat, Schiller das ästhetische Genie! Ganz nebenbei schmückt man sich dabei die neu entfachten, nationalen Identifikationsbedürfnisse mit den welken Lorbeeren des Schillerschen Nationalismus aus, um noch im gleichen Atemzug zu behaupten, Kunst und Politik hätten nichts miteinander zu tun. Und doch! Gerade Schiller hatte entdeckt, wie sich Kunst als Theaterkultur mit seinen suggestiven Möglichkeiten für nationale Projektionen einspannen lassen könnte. Seine Forderungen nach einem „großen“ Nationaltheater blieben uneingelöst, sein Nationalismus abstrakt, der emanzipatorische Gehalt beschränkte sich auf den Affront gegen die herrschende Aristokratie. Die Geschichte des „deutschen“ Theaters ist seitdem zerrissen von Selbstbespiegelungen, kollektiven Psychosen, krampfhaften Deutungsversuchen und Nationalmeierei. Am Tropf der nationalen Kassen steuern die staatlichen und städtischen Subven-tionsbühnen gegenwärtig wieder einmal ihrem ästhetischen und politischen Ende entgegen, diesmal überholt von der Suggestionskraft der neueren Medien, wie Film und Funk. Doch anstatt sich um eine emanzipatorische Kunst und Politik zu bemühen, rechnet man Gevatter Staat die Zweckmäßigkeit der Theaterkunst für die ästhetische Bildung des Menschen vor.  Da schillerts wieder. Bleibt zu erwarten, daß Schatzwart Eichel demnächst die neuste Kunstdoktrin verkünden wird: Wir machen EINE Bühne, ein Theater für uns alle Deutschen! Nö, hab ich bei dem Gedanken zu mir selbst gesagt, da hört doch letztlich jede Emanzipation auf. Flugs griff ich Stift, Papier und Schillers Sammelwerk, das Ziel war klar: Der junge Friedrich gehört entlarvt!

Aufklärung…

Wenn in allen unsern Stücken ein Hauptzug herrschte, wenn unsre Dichter unter sich einige werden und einen festen Bund zu diesem Endzweck errichten wollten – wenn strenge Auswahl ihre Arbeiten leitete, ihr Pinsel nur Volksgegenständen sich weihte, – mit einem Wort, wenn wir es erlebten, eine Nationalbühne zu haben, so würden wir auch eine Nation.“(2)

Die Aufklärung, so wie sie in den Geisteswissenschaften epochal eingegrenzt wird, ist eine Zeit hoher und überhöhter Ideen gewesen. Sie markiert nicht nur das Ende der mittelalterlichen Dogmatik in Europa, von ihr aus nehmen auch die modernen Geistesströmungen des Humanismus, des Subjektivismus, des Individualismus bzw. Kollektivismus ihren Anfang. Universalistische, radikale bzw. rigorose Ideen empfangen von hier ihre Inspiration und Kraft. Und die Ansprüche der Aufklärer wirken fort: Gerade die postmoderne Kritik hat in den letzten drei Jahrzehnten die tief in die Moderne eingeschriebene Ambiguität (3) wieder mit ihren aufklärerischen Wurzeln identifiziert. Der Wahlspruch aufgeklärter Haltung: Sape audere! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist nach wie vor in Geltung, ebenso wie das Vermächtnis des auf­klärerischen Denkens, die Aufforderung, die Geschichte in die eigenen Hände zu nehmen und Gesellschaft nach mensch­lichem Maß und Möglichkeit einzu­richten.

…und nationalistisches Theater

Wenn Friedrich Schiller um 1793 in einem Brief zur ästhetischen Erziehung des Menschen schreibt: „Das Zeitalter ist aufgeklärt…“ und dann fragt „… woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?“ (4), daran anknüpfend die Ausbildung des menschlichen Empfindungsvermögens als dringliches Bedürfnis der Zeit einschätzt – dann lässt sich der Gedanke dahinter nicht verstehen, trachtete man danach, ihn rein auf seinen ästhetischen Gehalt hin zu untersuchen. Sein Charakter ist durch und durch dem aufklärerischen Geist verschrieben, und d.h. er ist ordinär politisch. Denn das, was Schiller mit seinem Konzept der „Erziehung zur Empfindsamkeit“ verbindet, ist ja der emanzipative Anspruch, durch Gesellschaft und Geselligkeit die barbarische Natur des Menschen zu einer besseren heranzubilden, durch die Erziehung zur Empfindsamkeit eine humanere Vergesellschaftung einzusetzen. In gewisser Weise kann man in Schiller den Archetypus des bildungsbürgerlichen Intellektuellen sehen. Und darin hat er auch heute noch seine Anziehungskraft.

Hieraus wird auch ersichtlich, warum Schiller der Schaubühne, sprich dem Theater, eine wesentlich gesellschaftliche Funktion zuschrieb. Nicht um die Kunst vor dem Tagesgeschäft der Politik bloßzu­stellen, sondern gerade um durch die Förderung der Kultur, die ganz eigene Qualität des Kunstschönen gesellschaftlich nutzen zu können. Man kann die Schau­bühne mit Schillers Augen also so sehen: Als Ort, wo durch die Darstellung von Kunstschönem die Empfindsamkeit der rezipierenden Menschen gefördert, und für diese da­durch ein besserer Charakter erlangbar wird:

Unsere Natur, gleich unfähig, länger im Zustande des Tiers fortzudauern, als die feinern Arbeiten des Verstandes fortzusetzen, verlangte einen mittleren Zustand, der beide widersprechende Enden vereinigte, die harte Spannung zu sanfter Harmonie herabstimmte und den wechselsweisen Übergang eines Zustandes in den andern erleichterte. Diesen Nutzen leistet überhaupt nun der ästhetische Sinn oder das Gefühl für das Schöne.“ (5)

Aber Schiller will nicht nur auf die „Entspannung“ vom Tagewerk hinaus, er will diese in doppelte Zügel legen. Die ästhetische Genügsamkeit im (bloß) Schönen – hier als Kunstschönes – reichte seinem aufklärerischen Geiste lange nicht hin: „… weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden.“ (6), kann Kunst gleichsam nicht allein auf dem eigenen Potential des (nur) Schönen beruhen, sie soll auch im Sinne einer „verbesserten Einsicht“ des Verstandes wirken. Diese ermögliche ja erst den Einblick in die hohen aufklärerischen Ideale. Entspannung und gesteigerte Empfindsamkeit sind kein Sel­bstzweck sondern stehen im Dienst des ganzen Menschen als geselligen bzw. gesellschaftlichen, und das heißt für Schiller hier ganz konkret: Im Sinne eines national bewusst gebildeten Bürgers.

Indem Schiller also, als typischer Vertreter der zeitgenössischen Forderung nach einem deutschsprachigen Nationaltheater, Kunst und Kultur in ihrer eigenen Qualität begründet, verweist er auf ihre gesellschaftliche Brauchbarkeit, auf die Möglichkeiten ihrer politischen und politisierenden Wirkung. Die sind das Zentrum seines Interesses. Und nicht ohne Grund: In der deutschen Kleinstaaterei galt es ja Förderer aus dem aristokratischen Stand für das Projekt einer stehenden Bühne zu gewinnen, das lokale Bürgertum war kaum in der Lage, wie etwa in London oder Paris, Theater selbst zu finanzieren. Zumal mit der Nationaltheater-Idee auch der hohe Anspruch verbunden war, nicht nur einen repräsentativen Status einzunehmen sondern in internationale Konkurrenz zu anderen National-Bühnen zu treten. Die Forderung nach einer stehenden Bühne hatte so auch einen sehr technischen Aspekt: Die erforderliche Apparatur für große Inszenierungen, die Professionalisierung der Schauspieler, die Projektierung von Spielplan und Budget bedurften einer zentralen Infrastruktur – mit einem Wort, einer guten ökonomischen Grundlage.

Verbunden mit dem Repräsentationsanspruch dieser zu fördernden, stehenden Bühnen war aber auch eine Politik gegen die Wanderbühnen. Obwohl ihnen der Gehalt des Schönen (7) schlicht nicht abzusprechen war, konnten sich weder Adel noch die dünnen elitären Schichten des Bildungsbürgertums mit dem Theater der fahrenden Leute identifizieren. Staunend blickten sie nach England oder Frankreich, wo die Bühnen die Grundrisse des frühbürgerlichen Dramas durchexerzierten, mit satten Augen auf die banale Vergnüg­lichkeit der Schwänke, die hierzulande die Straßen belebten. Und gerade dieser Anspruch auf neue Repräsentation im Sinne einer Identität ist dieser Fluchtpunkt der bildungsbürgerlichen Theatervorstellung. Und hierin ist auch ihre politische Wirkung begrenzt. Der emanzipatorische Humanismus, insoweit er in den Texten zur Geltung kommt, hat gleichsam eine nationale Schranke. Schiller hat das, eingangs zitiert, glänzend markiert. Gerade die herausgehobene Einheit wird mit solcher Vehemenz vorgetragen, dass sie auffallen muß. Der Gebrauch bleibt dop­pelzüngig. Man kann ihn leicht als naiven Humanismus verstehen. Aber es sind mit den „Volksgegenständen“ und der Rede vom „wir“ nicht etwa ALLE Menschen angesprochen, auch nicht allein die Bildungsbürger deutscher Provenienz, sondern alle DEUTSCHEN, insoweit ist dem Schillerschen Humanismus schon zu trauen. Die Einheit, auf die Schiller dabei abzielt, ist letztlich die Identität im „Deutschen“. Die neue deutsche Nationalbühne soll ja nicht nur das französische oder das englische Nationaltheater nachahmen, sondern denen gegenüber einen ganz eigenen Wert zur Geltung bringen. Als Repräsenta­tionsmittel soll die Schaubühne identifizierend wirken, und zwar im Sinne eines deutschen Nationalismus, so der junge Schiller.

Dabei steht aber außer Frage, dass eine solche nationale Einheit (als politische und soziokulturelle) in den Zeiten dieser Forderungen innerhalb der deutschsprachig verwalteten Territorien gar nicht existierte. Damit bekommt aber das Theater auch eine eigentümliche gesellschaftliche Funktion zugewiesen. Es sollte nämlich zu­allererst eine Einheit suggerieren, die de facto illusionär war, und damit gleichzeitig diese Illusion befördern. Die Autoren sollten sich in Schillers Augen auf typisch „Deutsches“ einstellen, die Künstler ein deutsches Empfinden und Bewusstsein vor­spielen und die Nationalbühne DAS „Deutsche“ repräsentieren.

Schiller, der Nationalist

Derart eingespannt, wird die Schaubühne allerdings zum politischen Suggestions­theater – eine Apparatur zur Integration, Identifikation und Erzeugung von natio­nalem Bewusstsein unter Vortäuschung erreichter nationaler Einheit. Dieser Umstand wird noch dadurch verschärft, dass Schiller zwar das Ziel der intellek­tuellen Entwicklung des rezipierenden Publikums im Auge hat, aber immer wieder die Steigerung der (emotionalen) Empfindsamkeit als Wirkziel hervorhebt. Mit dieser Betonung der suggestiven Wirkung von Kunst hebt er aber zugleich auch ihre herrschaftstechnische Brauch­barkeit hervor und setzt sie dadurch doch wieder zurück in einen Zusammenhang, der droht, Kunst einseitig für politische Zwecke (hier nationale Integration) zu vereinnahmen. Dieser Anspruch der Vereinnahmung wird auf dem historischen Hintergrund verständlich. Schillers emanzipatorische Stoßrichtung zielte ja auf gesellschaftlichen Fortschritt, der für ihn die politische Installation einer deutschen Nation nach europäischem Vorbild bedeutete. Das bildungsbürger­liche Bewusstsein seiner selbst und seiner Zeitgenossen identifizierte dabei den eigenen Wunsch und das eigene Interesse nach „höherer“ Einheit mit einer diese Einheit repräsentierenden Bühne. (8)

Im Rahmen der Politik dieses frühen Bürgertums gegen die Dominanz und Vormachtstellung des Adels verlor die Forderung nach einem National­theater jedoch schon früh jeden emanzi­patorischen Gehalt. Die neue National­kultur wurde alsbald staatlich dirrigiert und durch­gesetzt. Der preussische Staatskultus verband identifikatorische Kulturpolitik und Repression, um die deutschverwalteten Splitterstaaten zu einer neuen Einheit zu verschweißen.

Aber anstatt diese neue „Größe“ und Einheit der Nation zu repräsentieren, degenerierte das deutsche Theater – auch als Folge der Politik gegen die Wanderbühnen – im Laufe des 19. Jahrhunderts wieder zu einem Hof- und Burgtheater zur hauptsächlichen Vergnügung des deutschen Spätadels und verlor jede öffentliche Relevanz. Wie so oft, ein deutsches Trauerspiel.

Wer braucht Nationaltheater?

…wenn Menschen aus allen Kreisen und Zonen und Ständen, abgeworfen jede Fessel der Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem Drange des Schicksals, durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, in ein Geschlecht wieder aufgelöst, ihrer selbst und der Welt vergessen und ihrem himmlischen Ursprung sich nähern. Jeder einzelne genießt die Entzückung aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein.“(9)

Der junge Schiller weiß seinen Humanis-mus klug auszuspielen, allerdings ist auch seine nationale Selbstbeschränkung klar ge­worden. Der Schluß liegt offen auf der Hand: Wer nach dem Nationaltheater ruft, schreit nach der Einheit und der Repräsen­tation im Staat, nach dessen Portemonnaie ganz nebenbei. Warum soll die Bühne aber nur EIN Theater bieten? Noch dazu die Politik des Theatertreibens sich nationa­listisch bestimmen? Die Frage klingt im ersten Moment nach einer einfachen Antwort, etwas anachronistisch gar. Freilich, ein deutsches Nationaltheater hat es ebenso wenig gegeben, wie eine deutsche Nation nach europäischem Vorbild. Dennoch steht diese Frage am Ausgangs­punkt der Überlegungen zu einem deutsch­sprachigen Theater mit nationaler Relevanz und repräsentativem Anspruch. Mit „ja!“ haben etwa Schiller, Gottsched oder Lessing darauf geantwortet, im Vorgriff auf eine noch zu integrierende Nation, und dem Theater dabei auch gleich eine solche integrierende gesell­schaftliche Funktion zugewiesen. Mit „ja!“ Antwortet ein spärlicher Chor Aufge­rüttelter derzeit, um einer finanziellen Aushöhlung der „großen“ Bühnen entge­genzutr­eten.

„Nein!“ halte ich der Tradition entgegen. Emanzipation weist heute weit über die nationale Grenzenzieherei hinaus. Poli­tisches Theater auf der großen Bühne ist zwar wünschenswert, doch nationales Phrasen­dreschen kann sich jeder sparen. Der Staatskultus deutscher Prägung hat sich seine große Arena bereits geschaffen: den Reichstag zu Berlin – im Dauerlicht der nimmersatten Fernsehaugen. Nicht Besitz­standswahrung und der Ruf nach vollen Kassen wird der Bühne in die politische Zukunft weisen, sondern die ernsthafte Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit, die sie umgibt. Die For­derung nach einem politischen Theater, nach politisierender Wirkung enthebt aber auch die Kunst- und Theaterschaffenden ihrer Leichtigkeit, ihrer asozialen Tendenz: l’art pour l’art, Kunst um der Kunst willen, der Wahlspruch des isolierten Bürgers ist suspendiert. Zum Ideal des (bloß) Schönen tritt das des Nützlichen hinzu.

Emanzi­pa­tive Kunst kann deshalb für das gegenwärtige politische Theater doch nur bedeuten, sich eine neues Publikum aufzuschließen, aus der Kantine in die Stadt zu treten und einen progressiven Blick auf die Geschichte wieder zugewinnen. Da ist der Schiller nämlich nicht seit heute obsolet. Die Nation ist Wirklichkeit und hat sich ausgewachsen, so daß sie heute jede Freiheit zu ersticken droht, in Antragsflut und Ordnungswut. Dagegen kühn die Zukunft zu entwerfen, ist auch der Anspruch an die Kunst, den ich erhebe: Mehr Aufklärung statt Suggestion! Mehr Offenheit statt elitärem Dünkel! Konkreter und kontroverser, statt allgemeiner und platter, und letzlich wirklicher statt ewiggleiches „realistisch-mangelhaft“. Ob mit, ob ohne Schillerische Dichterei ist dann die Frage zweiter Wahl. Das Theater braucht konkrete Utopie.

clov

(1) Schiller, Friedrich, „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“, in: Derselbe, „Vom Pathetischen und Erha­benen“, Reclam, Ditzingen, 1999, S. 11
(2) Ebenda, S. 12
(3) Ambiguität – hier: widersprüchliche Mehrdeutigkeit
(4) Schiller, Friedrich, „Über die Grenzen der Vernunft“, in: „Was ist Aufklärung?“, Reclam, Ditzingen, 1998, S. 53
(5) Schiller, Friedrich, „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“, in: Derselbe, „Vom Pathetischen und Erha­benen“, Reclam, Ditzingen, 1999, S. 3
(6) Ebenda, S. 55
(7) Hier oftmals mit der positiv besetzten Kategorie der Volkstümlichkeit verbun­den.
(8) „Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern Teile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet. Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volks …“ Schiller, Friedrich, „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“, in: Derselbe, „Vom Pathetischen und Erha­benen“, Reclam, Ditzingen, 1999, S. 10
(9) Ebenda, S. 13

Theorie & …

Bei DHL arbeiten wir an 365 Tagen 24 Stunden

Die Freude war groß, als das DHL-Management am 9. November verlaut­barte, dass das erweiterte europäische Drehkreuz des Logistikunternehmens 2008 am Flughafen Halle-Leipzig angesie­delt werden soll. Närrisches Frohlocken: „Ich bin völlig aus dem Häuschen! Ein unglaublicher Erfolg!“, meldete sich OBM Tiefensee zu Wort. Auch die sonstige veröffentlichte Meinung gibt sich rückhalt­los enthusiastisch. Wer freut sich da, worüber? Das Handelsblatt (9.11.2004) zitiert u.a. den ver.di-Bundesvorstand, die DHL-Ansiedlung in Leipzig sei ein „Signal für den Standort Deutschland“ (1). Ist es Begeisterung, die bisher schon mehr als 9.000 Bewerbungen motivierte?

Zuerst jedoch ein kurzer Blick auf den Hintergrund: DHL – der Firmenname leitet sich von den Initialen der drei Männer ab, die das Unternehmen 1969 in San Francisco gründeten – ist ein Tochterunternehmen des Deutsche Post World Net (Deutsche Post, Postbank, u.a.): 1998 wurde es von dem Konzern mehrheitlich, 2002 komplett über­nommen. Im April vor­letzten Jahres, während ArbeiterInnen in Hamburg, Bremen und Dortmund unter verdi-Anleitung für eine Lohner­höhung streik­ten, wurden die Firmen DHL, Danzas und Deutsche Post Euro Express zu der heute bekannten Marke DHL Express & Logistik zusammengefasst – während die Verhand­lungen mit ver.di über eine Fusion der Unternehmen, bzw. den dabei vorgese­henen Stellenabbau im Juli 2004 vorerst abgebrochen wurden. Derzeit unter­hält DHL weltweit 250 Flugzeuge und ein dementsprechend dichtes Netz an Sortier­zentren – insgesamt 160.000 Arbei­terIn­nen halten den Laden am Laufen, 10.000 davon in der BRD (2). Bevor die Sendungen in eins der beiden deutschen Sortierzentren in Köln oder Frankfurt/M. kommen, werden sie schon in sechs Gateways, darunter in Leipzig, vorsortiert. Danach werden die Sendungen zum derzeitigen kontinentalen Hauptumschlagplatzes (HUB) in Brüssel geflogen. Eben dieses Drehkreuz sollte erweitert werden – die Verhandlungen mit der Stadtverwaltung wurden Ende Oktober jedoch für gescheitert erklärt.

Am 21.10. waren also noch die Stadträte von Vatry und Leipzig „im Rennen“ um enorme Investitionen bis 2008 und um mehr als 3.500 Arbeitsplätze – während­dessen wurde im Brüsseler HUB, der seit 1985 existiert, die Arbeit niedergelegt (vgl. Demo in Brüssel, S. 7). Darüber fand sich in der hiesigen Presse kein Wort. Anfang November ist dann klar: Bis 2012 will der Konzern – DPWN konnte 2003 einen Umsatz von 40 Milliarden Euro verzeich­nen – in der Leipziger Region 250 Millio­nen Euro investieren (3).

Hinzu kommen zumindest knapp 71 Mio. Euro aus EU-Kassen, die bereits im April 2004 für Leipzig bewilligt waren, etwa 35 Mio. Euro aus dem sachsen-anhaltinischen Landeshaushalt – unbekannt, wieviel der Sächsische Freistaat hinzugibt.

Außerdem sind an die Post-Niederlassung gebunden: der (evtl.) Ausbau der Bundes­straße 6 auf vier Spuren, eine Hoch­ge­schwindig­keitsbahntrasse für Frachtver­kehr zwischen Frankfurt und Leipzig, sowie die Erhöhung des Lärm­schutz­­etats um 30 auf 380 Mio. Euro. Kein Wunder, dass Tiefensee angesichts dieser Taler schwin­delig wird – gleichwohl ein Termin für den ersten Spatenstich eben­so ­wenig feststeht wie eine konkrete Auf­­listung der zu besetz­en­­den Stellen. Bis zur Inbetrieb­nahme ist es ja noch 3mal Lang­zeitarbeits­­losig­keit (d.h. 3 Jahre) hin.

Freilich mögen die 3.500 DHL-Ar­­beits­­plätze, und weitere 6.000 im Umfeld (4), in Zeiten von Massen­ar­beits­losig­keit und ALG II wie ein selig­machen­­des Glücks­versprechen erscheinen – so stark ist der Im­puls, dass binnen weniger Wochen mehr als 9.000 Bewerbungen bei der städtischen PUUL (vgl. PUUL, S. 7) eingegangen sind. Nach Angaben des Geschäftsführers Oertel seien 50 Prozent der BewerberIn­nen derzeit arbeitslos. In Kontinuität der un­säglichen Olympia-Kampagne übt sich die Lokalpresse darin, Hoffnungen zu schü­ren und das Glück auf Erden in Arbeit, Arbeit, nochmals Arbeit zu finden. Den „Arbeitgebern“ macht man sich heutzutage Untertan, man scheut nicht den Wett­kampf der Anbiederung, der Privatisierung öffentlicher Gelder, des aus ehrlicher Dankbarkeit geschmeidigen Bücklings. Dankbar wofür? Was einen Gutteil der künftigen 3.500 (Un-)Glücklichen erwar­tet beschreibt eine Reportage aus Brüssel: „Bevor er zupackt, stopft er sich noch Stöpsel ins Ohr, anders ist der ewige Lärm der Bänder nicht auszuhalten. Und dann steht er in einem Gang, der kaum mal einen halben Meter misst, fast 100 Meter lang, zwischen weiteren 100 Kolleginnen und Kollegen, die das gleiche machen, wie er: Pakete sortieren.“ (5) Freilich kann es auch anders kommen. Nicht unwahrscheinlich nämlich ist es, dass das Ma­na­ge­ment im Zuge des Neubaus auf die Automatisierung weiter Bereiche setzt – wie Arbei­terIn­nen in Brüssel vermuten. (6)

Jedenfalls ist die Stimmung bei DHL nicht allzu glückverheißend: das Management übt seit Monaten Druck auf die Beleg­schaf­ten aus, indem Aufträge systematisch an Subunternehmen abgegeben werden … erste Vorboten einer verschärften Situation, denn ab 2008 wird das Briefmonopol in der BRD aufgehoben, von dem der Mutterkonzern heute noch profitiert. Die künftigen Leip­ziger DHL-Mit­arbeiterIn­nen können sich also schon jetzt einstellen auf Maloche unter „autoritärem Führungs­stil“ (7) – und die entsprechenden Ausein­ander­setzungen. Denn es ist die einfache Einsicht in den Klassenkampf, die LVZ und Tie­fen­see mit ihrer Tollerei um „Arbeitsplätze“ verdrängen wollen. Das Arbeitsverhältnis ist schließlich von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt: für DHL arbeiten fast 50 Prozent der Kon­zern­­beleg­schaft, die mehr als 50 Prozent des Umsatzes realisieren. In dem Schlüssel­sektor des Konzerns selbst, bildet wiede­rum das kontinentale Drehkreuz einen der wichtig­sten Knotenpunkte.

A.E.

(1) aus einer Presseerklärung vom 21.10.
(2) Ob diese Zahlen auch die Angestellten in Subunternehmen umfasst, ist unklar. Quelle: A. Storn, Nur der Name bleibt, Die Zeit, 2.9.04
(3) Mind. ebensoviel soll Deutsche Post World Net für die Logistiksparte von Karstadt/Quelle gebo­ten haben, deren Verkauf fürs Quartal 1/05 vorgese­hn ist.
(4) Nach Schätzungen der sächs. Regierung.
(5) D. Drewes, Wo nachts die Post für ganz Europa abgeht, 16.12.04, www.stimme.de
(6) Darauf deutet auch die erwähnte Bahntrasse hin, deren Investitionsvolu­men nach Angaben der Finan­cial Times Deutschland (27.12.04) mehrere 10 Mio Euro umfasst. Im dazugehörigen „Luftfracht-Umschlagbahnhof mit spezieller Technologie“ sollen in 15 Minuten 200 Tonnen Fracht verladen werden.
(7) Storn, Nur der Name bleibt. Die Zeit, 2.9.04

Lokales

Libertäres Afrika

Südafrika gehört (neben Nigeria) zu den industrialisiertesten Ländern Afrikas. Das Interview mit  J. Black, ZACF, wurde im Ende 2004 von der Agência de Notícias Anarquistas (Brasilien) geführt und wirft uns ein Licht, wo sonst nur Dunkel ist.

Wie steht es heute um die anarchistische Bewegung in Südafrika?

Es gibt eine kleine anarchistische Bewegung in Südafrika seit etwa Beginn der 1990er. Sie findet sich aber noch in den Kinderschuhen, obwohl libertäre Ideen in den sozialen Bewegungen der letzten fünf Jahre immer populärer geworden sind. Es gibt auch marxistisch dominierte Jugendorganisationen in Swaziland, wo sich einige Mitglieder für Anarchismus interessieren.

Wie setzt sich die Bewegung zusammen?

Die wichtigste Vereinigung des organisier­ten Anarchismus in Südafrika ist die Zabalaza Anarchist Communist Fede­ration (ZACF), die dieses Jahr ihren ersten offiziellen Kongress in Johannesburg abhielt. Die Aktivitäten der ZACF – die gebildet wird von der Black Action Group, dem Bikisha Media Collective, den Zabalaza Books, dem Anarchist Black Cross und der nun aufgelösten Zabalaza Action Group – umfassen Propaganda und Bildung, indem wir anarchistische Lite­ratur schreiben, veröffentlichen und verbreiten, und indem wir politische Bil­dungs­­foren ausrichten und an sozialen Bewegungen und Gemeinschaften ebenso teilnehmen wie an Organisationsver­suchen in Gefängnissen.

Wo liegt derzeit euer Schwerpunkt?

Zur Zeit versuchen wir, die demoralisierten und enttäuschten ArbeiterInnen zu organi­sieren, die an der WITS-Universität ausgegliedert wurden. Außerdem nehmen wir an sozialen Bewegungen teil, die sich gegen die Privatisierung der Wasser- und Stromversorung und gegen Zwangs­räumungen richten. Schließlich versuchen wir, Gefangene zu organisieren.

Bringt ihr viele Bücher und Publikationen heraus?

Die ZACF gibt „Zabalaza: A Journal of Southern African Revolutionary Anarchism“ heraus und, wenn auch nur sporadisch, den „Black Alert: Paper of the Anarchist Black Cross – Anti-Repression Network“. Wir schreiben und produzieren auch verschiedene anarchistische Flug­blätter und Kritiken, die den aktuellen Klassenkampf in Südafrika und seine Geschichte berühren, wie zum Beispiel „Class Struggles in South Africa: From Apartheid to Neoliberalism“. Außerdem reproduzieren wir viele zeitgenössische und klassische anarchistische theoretische und praktische Texte. Zabalaza Books begann jüngst auch mit der Herausgabe des Buches „African Anar­chism“ der nigeria­nischen Anarchisten Sam Mbah und I.E. Igariwey von der Aware­ness League, wie auch von „Hungary ’56“ von Andy Anderson.

Gibt es auch anarchistische Lokalitäten, oder Kulturzentren?

Es gibt ein sehr kleines Gemeindezentrum im Motsoaledi-Town­ship von Soweto, das von Anar­chisten betrieben wird. Das ist ein kleiner Lese­­raum und eine Bibliothek, die anar­chis­­tische Literatur beherbergt. Es werden dort aber auch politische und unterhaltsame Video­s gezeigt. Die Aktivisten betreuen auch einen kleinen Gemüsegarten und bieten in jüngster Zeit eine Tagesbe­treuung für kleine Kinder an. Daneben gibt es noch zahlreiche andere Gemeinde­zen­­tren, die von der Basis betrieben werden, aber nicht spezifisch anarchistisch sind – immerhin findet man auch dort anarchistische Literatur und Einflüsse unserer Ideen. Eines der wichtigsten Ziele der ZACF für die nähere Zukunft ist der Aufbau eines anarchistisch betriebenen Gemein­de­­zentrums oder Infoladens, wo wir unsere Materialien verteilen, Workshops etc. machen können.

Gibt es in Südafrika eine anarchistische Tradition?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine relativ große anarchistische Bewegung in Gestalt der anti-parlamen­tarischen Communist Party of South Africa (nicht zu verwechseln mit der reformis­tischen Communist Party of South Africa – Communist International!), des Socialist Club, der International Socialist League, der Industrial Workers of Africa, der Industrial Workers of the World South Africa und der Industrial Socialist League – sie alle wurden zwischen 1900 und 1920 in Südafrika gegründet. Außerdem gab es in Mozam­bique die Revolutionary League und anarcho-syndikalistische Gewerk­schaften, die mit der portugiesischen CGT verbunden waren und die mozambi­quanische ArbeiterIn­nen­bewegung der 1920er dominierte. Diese Traditionen im südlichen Afrika wurde durch die beiden Weltkriege und das nationalistische Regime leider ausgelöscht; ein Wieder-Anknüpfen war erst möglich, seit das Apartheid-Regime niederging und das „Gesetz zur Unterdrückung des Kommu­nismus“ aufgehoben wurde. […]

Gibt es ein anarchistisches Projekt, das du hervorheben möchtest?

Im Moment gibt es ein Projekt, dem ich mich leiden­schaftlich verbunden fühle, und zwar eine Unterstützungskampagne für inhaftierte Anti-Apartheid-Kämpfer und politische Gefangene, die noch immer in den Kerkern Südafrikas vegetieren. Die Kampagne soll dem Los dieser Gefangenen Aufmerksam­keit verschaffen, in der Hoffnung, dass wir ausreichend öffentliche Unterstützung erzeugen können, damit diese Leute amnestiert werden. Einige dieser Gefan­genen interessieren sich sehr für Anarchis­mus und wir hoffen, dass wir durch sie, über die Gefängnisorgani­sation hinaus, in die sie involviert sind, auch ihre Familien und Gemeinden erreichen können, die die repressive Rolle des Staates direkt erfahren haben.

Wird die anarchistische Bewegung in erster Linie von Schwarzen gebildet?

Das Proletariat in Südafrika ist mehrheitlich schwarz, aber aufgrund der Geschichte – mit dem mangelnden Zugang zu Informa­tionen für die unterprivilegierten Klassen und speziell die „Nicht-Weißen“ während der Apartheid – war die Mehrheit der bewussten Anarchisten tatsächlich weiß. Bis auf wenige Ausnahmen, gelang es uns erst im Zuge der Mobilisierung gegen den UN-Gipfel über Nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002, Kontakte zu schwarzen Anarchisten aus den Townships aufzubauen. Sie sind erst vor kurzem mit anarchistischen Ideen in Berührung gekommen, was vor allem auf unsere Propaganda in sozialen Bewegungen zurückzuführen ist. In letzter Zeit zeigen auch einige politische Gefangene zuneh­men­des Interesse am Anarchismus, oder bezeichnen sich jetzt selbst als Anarchisten.

Was ist heute das größte Problem des Anarchismus in Südafrika?

Das größte Problem der anarchistischen Bewegung in Südafrika ist, wie vielleicht aus dem Gesagten schon hervorgeht, dass es keine anarchistische oder libertäre Massen­bewegung gibt, gleichwohl wir Kontakte haben zu sozialen Bewegungen und Gras­wurzelaktivisten in den Gemeinden. Da die Massenbewegungen von Reformisten und autoritären Sozialisten dominiert werden, haben wir es aufgrund unserer geringen Anzahl und der Begrenztheit unseres Einflusses und Budgets sehr schwer, eine praktische Alternative zum autoritären Sozialismus herauszustellen.

Wie sehen die Perspektiven aus?

Die ANC-Regierung trägt viel dazu bei, die Leute über die Rolle der Politik zu desillusio­nieren, was die Verbesserung der allgemei­nen Lebensbedingungen angeht. Und die trotzkistisch geprägte Führung des Anti-Privatisierungsforums (APF), das als soziale Bewegung aus der ArbeiterIn­nen­klasse entstanden ist1, will das APF nun als „Arbeitermassenpartei“ registrieren und zu Wahlen antreten – ein Gedanke, der heiß debattiert wurde, wobei sich in der sozialen Bewegung zwei oppositionelle Gruppen ergaben: eine libertäre und autonome, und eine autoritär-hierarchische. Diese Situa­tion könnte eine gute Gelegenheit für Anarchisten bieten, all jene Aktivisten in einer Volksfront der unterdrückten Klassen zu versammeln – orientiert an den Prinzi­pien der direkten Aktion, der Gleichheit, etc. –, die der parlamentarischen Politik ablehnend gegenüber stehen. Außerdem scheint mir die Einrichtung eines anarchis­tischen sozialen und kulturellen Zentrums äußerst wichtig, das für die ArbeiterInnen­klasse leicht zugänglich ist, damit unsere Materialien mehr Leute erreichen.

In welchen anderen Ländern des Konti­nents gibt es noch anarchistische Strömun­gen?

In Nigeria existiert bereits seit einigen, etwa zehn Jahren die anarcho-syndikalis­tische Awareness League, die zur Zeit etwa 1.000 Mitglieder hat, obwohl die Zahl in letzter Zeit wohl gesunken ist. Im Jahr 2000 oder 2002 hatten sie eine eigene Radiostation eröffnet, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie noch auf Sendung ist. Die Awareness League schloss sich im Dezember 1996 der anarchistischen Internationale IAA an. In Kenia gibt es die Anti-Capitalist Conver­gence of Kenya, die meines Wissens wie die Washington DC Anti-Capitalist Conver­gence aufgebaut ist und von libertären Kommunisten, Mar­xisten und anderen Sozialisten ins Leben gerufen wurde, um „die allgemeine Öffentlichkeit mit revolutionären Ideen, Propaganda und Aktionen zu erreichen“. Außerdem hat wohl die französische Sektion der IAA, die CNT, einige Kontakte zu Anarchosyndikalisten in Algerien. Außerdem scheinen einige Gruppen in den Gewerkschaften Marokkos aktiv zu sein. Die australische Zeitschrift „Organise“ berichtete, dass auf dem XXI. IAA-Kongress im Dezember 2000 von einer Organisation in Zaire­/Kongo die Rede war. Gerüchteweise gibt es auch in Uganda, Sierra Leone und Ägypten einige, mög­licher­weise sehr wenige aktive AnarchistIn­nen. Zudem haben wir Kontakt zu marxistisch beeinflussten Revolutionären vom Swaziland Youth Congress (SWAY OCO) und der Students Union of Swazi­land, die reges Interesse am Anarchismus äußerten. Sie sehen darin ein Kampfmittel gegen das monarchistische Tinkundla-Regime, und wir hoffen, die Beziehungen weiter ausbauen zu können.

Fühlt ihr euch in die weltweite anarchis­tische Bewegung integriert?

Im allgemei­nen leistete die internationale anarchis­tische Gemeinschaft sehr viel Unter­stützung und wir stehen regelmäßig in Kontakt mit zahlreichen AnarchistInnen und Organisationen aus der ganzen Welt. Wir hatten auch Gelegenheit gehabt, einige AnarchistInnen aus Ländern wie Schwe­den, Amerika, Irak, England, der Schweiz etc. zu treffen als sie Südafrika besuchten. Die ZACF ist auch Mitglied des anarchis­tischen Netzwerks International Liber­tarian Solidarity (ILS), in dem wir regel­mäßigen Austausch pflegen. Außerdem wenden sich viele AnarchistInnen aus dem Ausland an Zabalaza Books. Ich sehe vielmehr eine Isolation in Hinblick auf die anarchistische Bewegung im Rest des afrikanischen Kontinents, wie im globalen Süden allgemein. Dort ist meines Erach­tens die Kommunikation schwieriger als im Norden.

Welche Erwartungen verbindest Du mit dem Besuch in Brasilien?

Ich will beginnen, Brüc­ken zu bauen über die Kommu­ni­ka­tions­­gräben, die zwischen den anar­chistischen Bewegungen des Südens bestehen. Ich will Netzwerke aufbauen zwischen den verschiedenen Plätzen in Brasilien und in Südafrika, die ich kennengelernt habe. Ich glaube auch, dass die Lebensbedingungen in Brasilien denen in Südafrika nicht ganz unähnlich sind, und ich möchte erfahren, wie sich brasi­lianische Anarchisten in die sozialen Bewegungen – etwa zu Wohnrecht und Bildung – einmischen. Ich möchte auch berichten über die Bedingungen in Südafrika, nach zehn Jahren von „Freiheit“ und „Demokratie“, berichten über wach­sende Ungleichheit, Neo-Liberalismus etc. Nicht zuletzt will ich Solidarität organisie­ren für unsere Kampagne für die politi­schen Gefangenen des Apartheid-Regimes.

Danke für das Interview. Ein letztes Wort?

Danke für die Gelegenheit, ein bißchen über die kleine, aber wachsende anar­chistische Bewegung in Südafrika zu erzählen. Lasst uns den Druck erhöhen!

Übersetzung ins Deutsche: A.E.

www.zabalaza.net
(1) vgl. Feierabend! #13

Nachbarn

Demo in Brüssel

Nachdem am 21.10.2004 das DHL-Management angekündigt hatte, das Kon­tinental­drehkreuz in Brüssel in drei Jahren zu verlagern und damit etwa 1.700 Arbei­terIn­nen auf die Straße zu setzen, initiier­en letztere einen spontanen Streik. Der Ausstand der TransportarbeiterInnen wird zwar von der sozialistischen Gewerk­schaft SETCa nicht unterstützt, aber die DHL-Piloten treten in Solidaritätsstreik. Der viertägige Ausstand mündet am Mon­tag in eine Betriebsversammlung, die für Freitag, den 29. Oktober, eine Demo be­schließt. Unklar bleibt aller­dings, ob der Streik bis dahin fortgesetzt werden soll – am Don­­ner­s­­tag ist nichts mehr zu sehen: keine Trans­pa­rente, keine Streikposten, keine Flugblätter.

Am Freitag sind die StraßenbahnfahrerIn­nen im Streik und ArbeiterInnen verschie­de­ner Kurierdienste nehmen an der Demo teil, insgesamt 2.000 Leute. Ein Flugblatt, das mit „ArbeiterInnen von B-Cargo“ (Eisen­­bahn-Gütertransport) unterschrie­ben ist, ruft dazu auf, die Arbeit unter der Drohung von Entlassungen zu verweigern. Die Demo geht los: die Meisten schmeis­sen mit Knallkörpern um sich und Viele trinken Dosenbier. Die Demo zieht vor das Transportministerium – die Bullen stehen in Montur und mit Wasserwerfer davor, hin­ter Stacheldraht. Junge Typen und alte Arbeiter rütteln direkt an der Sperre, werfen Knallkörper und Dosen – sie tragen ihre Arbeits­kleidung: Bomberjacken von TNT, Warn­westen von DHL. Ein paar ver­mum­men sich mit Gewerk­schaftsschals. Es hat den Anschein, als wären sie an solche Aus­ein­an­­der­­setzungen ge­wöhnt, vielleicht vom Fußball. Es gibt einen Schlagabtausch über den Stacheldraht hinweg, die Stim­mung ist gut, die meis­ten haben sichtlich Spaß. Zeitgleich be­set­zen kleine Grup­pen die Stadtautobahn; es gibt keine Gewerk­schafts­ordner, die sie zurückhalten. Dort fliegen nach einem kurzen Ausfall der Bullen jetzt auch Fla­schen und vereinzelte Stei­­ne. Es gibt darüber keine Spaltung inner­halb der Protes­tierenden.

Die Beset­zung des Brüsseler Flughafens durch ArbeiterInnen der bankrotten belgi­schen Airline Sabena im Winter 2002 hat­­te heftigere Auseinandersetzungen ausgelöst, als diese lebendige, doch im Symbolischen verbleibende Demonstration.

Derweil verhandelten Management und Ge­werk­schaften über „sozialverträglichen Stel­len­abbau“ – am 30.12. wurden die Ver­­­hand­lungen ab-, und Entlassungen bis 2008 „ausgeschlossen“. Um den Druck auf die Sozialpartner zu erhöhen, hatte die Nacht­schicht im Sortierzentrum des Brüs­seler Dreh­kreuzes am 23. Dezember mit einem Streik begonnen, der auch über „Heilig‘ Abend“ fortgesetzt wurde – die meis­­ten ArbeiterInnen waren wieder nach Hau­se gegangen. Am Sonntag, den 26.12. verweiger­ten noch 30 der 150 SortiererIn­nen die Arbeit.

A.E.

Nachbarn

Definitionssache „Humankapital“

„Unworte bereiten Untaten den Boden.“ Diese Wahrheit meinte Johannes Rau schon zu kennen. Ist es nicht schön zu wissen, wer die Definitionsmacht vertritt?

„Humankapital“ ist zum „Unwort“ des Jahres 2004 gewählt worden. Anlass zur Rüge war die Verwendung des Begriffs in einer offiziellen Erklärung des EU-Parlaments, die damit die „Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie das Wissen, das in Personen verkörpert ist“ betriebswirtschaftlich definiert. Die Wahl legitimiere sich durch den Anspruch, Menschlichkeit im Gebrauch der deutschen Sprache zu bewahren. Der Begriff Humankapital wurde beanstandet, da er „Menschen nur noch zu ökonomisch interessanten Größen degradiere“. Was ist falsch daran?

Die Erkenntnis ist schmerzvoll, doch Humankapital ist ein ehrlicher Begriff, der sachlich angemessen ist. Durch die Wahl zum Unwort wurde dies (wegen einer verkürzten Begriffsdefinition und dem Fehlen des kontextuellen Gebrauchs) jedoch nicht erkannt und passt ins bildungsbürgerliche Denkschema, welches eine differenzierte Erklärung der verschiedenen Bedeutungsebenen zu oft nicht beachtet. Dem Ökonomen sei Humankapital halt ein Wort aus seiner wirtschaftswissen­schaftlichen Fachsprache und gehöre nur dahin – basta.

In der Begründung der Wahl wurde durch die Jury Humankapital mit deren negativen Konnotation verwendet. Es reduziere den Menschen nur auf seinen wirtschaftlichen Wert und sei deshalb erniedrigend. Natürlich ist es das, doch in der Logik des Kapitalismus, der sich nur am Profit orientiert, ist dieser Wert ein positiver Begriff, was natürlich auch von WirtschaftswissenschaftlerInnen behauptet wird und man beurteilt die Un­wortwahl als „zynischen Versuch einer kontraproduktiven Denunziation eines konstruktiven Weges im Personalmana­ge­ment“. In dieser Fachsprache sei Humankapital der Wert eines Menschen im positivem Sinne, indem dieser als Erfolgsfaktor eines Unternehmen betrachtet und nicht nur als Verursacher von Kosten gesehen wird. Jedoch ist nicht die Unwortwahl ein zynisches Urteil sondern diese Art der Argumentation aus der Unternehmensper­spektive, die den Menschen nur auf einen Multiplikator von Kosten und Gewinnen eines Produktionsbe­trie­bes reduziert. Obwohl es zu oft verdrängt wird, sind die Vorgänge in der Wirtschaft weniger von den Interessen der Men­schen als von jenen des Kapitals bestimmt. Die Begriffsverbindung von Mensch und Kapital bestätigt die Überlegenheit des Kapitals, dem sich der Mensch unterzuordnen hat. Aber müssten wir nicht wissen, dass nur die Menschen Wert schaffen können und dass nur wir die Gesellschaft gestalten und nicht ein unnötiges Kapital?

Durch die Unwortwahl beabsichtigen die Sprachkritiker ein Diskussionsangebot zu geben, welches zu mehr sprachkritischer Reflexion anregen soll. Die Wirkung in der medialen Öffentlichkeit war jedoch sehr einseitig, da mehr Wert auf die formale Beschreibung der Unwortaktion, die Vorstellung der Jurymitglieder, sowie den Anlass und die verkürzte Wahlbe­gründung gelegt wurde. Während der Recherche nach der Öffentlichkeit in welcher Humankapital verwendet wird, stößt man auf Erklärungen von politischen Parteien, die mit dem Begriff jonglieren. Es zeigt, dass sich die politische Rhetorik und unternehmensorientierte Praxis stark an der Wirtschaft orientieren und beweist die wirtschaftliche Perspektive bzw. Bewertung des Menschen im Gesetzgebungsprozess.

Neben Boden und Arbeit sei das Kapital in der Volkswirtschaftslehre der dritte Produktionsfaktor und beschreibe die Besitzverhältnisse. Die Vermehrung von Kapital steht im Mittelpunkt dieser Vergesellschaftung, wo menschliche Bedürfnisse fehl am Platz sind und Identitätsbildung oft nur über die Lohnarbeit erfolgt. Doch warum soll ich mich mit Lohnarbeit identifizieren, die mich „beschäftigt“ hält, mich zubildet, in vorgefertigte Formen zwingt und mir keinen Raum zum eigenständigen Denken, Handeln und Gefühle auch auszuleben gibt?

Die Behauptung zu wissen, es gäbe keine Alternative, ist doch nur eine feige Ausrede, nicht danach zu suchen. Die Verbindung des Kapitalbegriffs mit dem Menschen vernebelt in seiner ökonomischen Definitionsrhetorik die herrschenden und kapitalbedingten Unterdrückungsmecha­nismen. Humankapital birgt eine alte Wahrheit, die es auszusprechen gilt, um sie verändern zu können.

droff

Grundsätze der Wahl zum „Unwort des Jahres“

„Die Aktion ‚Unwort des Jahres’ will für mehr sachliche Angemessenheit und Humanität im öffentlichen Sprachgebrauch werben. … Die Rügen verstehen sich in erster Linie als Anregung zu mehr sprachkritischer Reflexion. Eine Zensurabsicht liegt der Aktion fern. … Jeder Bürger und jede Bürgerin kann Vorschläge machen.“ Sprachwissenschaftler- und VertreterInnen der öffentlichen Sprachpraxis bilden die Jury, die alle Vorschläge in einer „groben Vorsortierung“ in die Kriterien der Unwortwahl, „aktuell“, „sachlich grob unangemessen“, „inhuman“, einteilen. Letztendlich erfolgt die Entscheidung „ausschließlich nach inhaltlichen Kriterien“.

(Quelle: www.unwortdesjahres.org/satzung.htm)

Unschöne und unerwünschte Wörter

1991 Ausländerfrei

1992 Ethnische Säuberung

1993 Überfremdung

1994 Peanuts

1995 Diätenanpassung

1996 Rentnerschwemme

1997 Wohlstandsmüll

1998 Sozialverträgliches Frühableben

1999 Kollateralschaden

2000 national befreite Zone

2001 Gotteskrieger

2002 Ich-AG

2003 Tätervolk

2004 Humankapital

über´n Tellerrand

Hallo Feinde, wir sind da – Autonome Antifa!

Am Samstag, dem 27.11.2004, demonstrierten 1200 AntifaschistInnen durch das sächsische Pirna. Die Demo fand im Rahmen der Antifa-Kampagne „Schöner leben ohne Naziläden“ statt und hatte den Naziladen „Eagle“ und mehrere Pirnaer Nazifanzines und Versände zum Ziel. Zusammen mit den Ereignissen in Chemnitz und Leipzig im Herbst letzten Jahres wurde sie allgemein als das Coming-out einer wieder erstarkten Antifa gewertet.

Nach der Verweigerung der Vorkontrollen und dem erfolglosen Versuch der Demon­strantInnen, eine Kette zu durchbrechen, schleuste die Polizei sie nach einer Minidemo von 6oo Metern zurück zum Bahnhof.

Die Wut über diese Polizeistrategie entlud sich später in der Dresdner Innenstadt, wo während einer rasanten Spontandemo Schaufensterscheiben zu Bruch gingen und am Leipziger Bahnhof wo einige provokant wartende Nazis zu Schaden kamen. Einer von ihnen schwer.

Die Frage nach der richtigen Antifaschistischen Praxis dominiert derzeit die innerlinke Debatte. Sollen sich Antifas verhalten, wie Hools beim Auswärtsspiel, sollen sie die permanente Konfrontation mit allem und jedem suchen? Oder führt diese Strategie ins Leere?

Näheres zum Thema in diesem und letzten FA!, der aktuellen Incipito #15 …

soja

Lokales

Osnabrück: Kampf um Freiräume geht weiter

In Osnabrück haben AktivistInnen am 26.12.2004 das Haus Bruchstrasse 18 direkt am Hauptbahnhof besetzt. Diese Aneignung leerstehenden Raumes ist nach der Räumung des AZ-Wagenplatzes ein erneuter Versuch, Freiräume für politische Aktivitäten und alternative Kulturangebote zu schaffen. Obwohl es noch keine weiteren Nutzungspläne gibt, soll das Haus am 10.01.05 abgerissen werden. Das Gebäude gehört zum BauBeCon-Konzern, welcher mit einem Strafantrag droht, wenn das Haus nicht bis zum 5.1. 2005 geräumt ist.

Am 4.1. 2005 wurde die Hausbesetzung mit einer öffentlichen „Ausziehaktion“ in der Innenstadt beendet. Zeitgleich wurde unter dem Motto „Nach der Räumung ist vor der Besetzung!“ erneut ein Haus in der Hamburger Straße mit der Forderung nach einem Autonomen Zentrum besetzt. Da dieses Haus auf dem Grundstück der Deutschen Bahn steht, wurde der Bundesgrenzschutz eingeschaltet, mit dessen Hilfe die Osnabrücker Polizeit es einen Tag später wieder räumen konnte.

Doch die Aktivitäten der AZ-Gruppe werden weitergehen, schließlich sind durch die Räumung des AZ-Wagenplatzes auch andere Projekte betroffen, wie die Zwille – das „autonome Szeneblatt aus Osna­brück, Lingen und Vechta“, das dadurch ihre Postadresse verloren hat.

Unterstützt die AktivistInnen! Für mehr Alternativen in Osnabrück!

d. & clov

Mehr Infos unter:
www.azwp.de.vu oder über
az-wagenplatz@gmx.de

Bewegung