Moderner Nationalismus und seine Grenzen

Vom gutbürgerlichen Staate unter Staaten und der mangelnden Vorstellung einer besseren Welt

Ideologien, gleich welchem politischen Lager sie entspringen, stellen immer Vereinfachungen gesellschaftlicher Wirklichkeiten dar. Sie leisten Hilfestellung, sowohl bei der Auslegung der historischen Tatbestände und Sachverhalte, als auch bei der Einschätzung und Bewertung der gegenwärtigen Zustände. Obwohl vielerorts der Abgesang auf die alten Ideologien erklingt, sind sie nach wie vor am Werke und gerade in Krisenzeiten ist ihr Fortbestand wieder deutlich spürbar. Auch der Nationalismus, der so einfach wie verbreitet ist. Seine Auswirkungen auf die Deutung von Geschichte, die Beschreibung der Gegenwart und Vorstellung von Zukünftigem soll im Folgenden eingehender untersucht werden.

Die Bildung von Nationen – einst progres­sive politische Idee – erscheint in einer ihrer Verfallsformen heute unter dem Ti­tel „Nation-building“ als geostrategisches Großprojekt politischer und militärischer Eliten. Warum? Eine ziemlich konventio­nelle Antwort darauf lautet: Ein erfolg­reiches Modell wurde durchgesetzt, wird durchgesetzt und setzt sich dann durch. Oder aus dem kulturellen Bauch heraus: Zu Unserem Wohlstand führen auch nur Unsere Wege.

Die Geschichte als nationale Staatsgeschichte

Diese Identifikation mit der Perspektive von oben, mit der herrschenden, mei­nungstragenden können wir getrost gut­bürgerlich nennen. Die Pronomen „Wir“ und „Uns“ sind erste verlässliche Indi­katoren. So z.B. in Reden, wie: „Wir sind das Volk“ oder „Uns geht es schlecht.“ Ihr, der Perspektive des guten Staatenbürgers, neigen diejenigen Haltungen zu, die sich in positiver bzw. positivistischer Ge­schichtsschreibung üben. Der konservati­ve Kern liegt in der einfachen Rede vom ‚früher war alles besser‘. Gerade deswegen ist es ja jetzt noch gut(-bürgerlich), aber in unmittelbarer Zukunft geht es rapide bergab. Staatstragendes Element dieser Haltung ist die Legitimation vorgängiger politischer Praxis, dem Einführen neuer Verwaltungsvorschriften etwa oder ordungspolitischer Maßnahmen. (1)

Insbesondere hier, wo die gutbürgerliche Perspektive aus der positiven Deutung der Geschichte die Haltungen zur Legitimation des Staats begründet, bilden die Kategorien von Volk und Nation die stabile Ordnung moderner Staaten. Das heißt nicht, dass das Volk innerhalb oder unter einem modernen Staatsapparat wirklich existier­te. Vielmehr dient der Volksbegriff vor al­len Dingen dazu, in der Rückschau vorgefundene Ereignisse gutbürgerlich zu deuten. Die ‚Wende ’89‘ als Aufbegehren des Volkes, so wie die Unruhen 1953. Jahrhundertflut und Rosinenbomber – die Solidarität des Volks. Solcherlei verein­fachende Deutung reicht vom nationalen übers nationalsozialistische bis ins sozialis­tische Lager und ist Index ihrer Ideologie. Aber von hier wird möglich, was sonst undenkbar wäre: Die Einheit von Subjekt und Objekt in einer: der Geschichte. Erst mittels einer Geschichte als Staats­geschichte, die in sich den völkischen Charakter staatstragender Ereignisse ent­hält, wird jene Mystifikation möglich, deren moderne Staaten zum Funktionie­ren unvermittelt nicht bedürften: die Na­tion. In sanktionierter Sprachformel: der Nationalstaat. Ihre Bedeutung reicht wei­ter als die von politischen Kasten, kon­kreten Parteien, territorialen Regierungen oder regionalen Parlamenten. Sie, die (indirekte oder direkte) Rede von der Nation ist es schließlich, von deren Standpunkt die gutbürgerliche Per­spektive erst möglich wird. Eine detaillierte Geschichte der ordnungspolitischen Maß­nahmen eines Verwaltungsbereichs z.B. geht so in der nationalen Staatsgeschichte unter. Fernab der Wirklichkeiten poli­tischer Ökonomie wird ein Subjekt zur Tat berufen, dessen Handlungsfähigkeit (2) getrost bezweifelt werden darf. Wer hat den 1989 demonstriert? Das Volk?! Oder Volker, Heidi, Susi, Isa… ?

Nationale Politikerin und Nationalbürger

Bürokratinnen und Wissenschaftler, die Führer und Bürger, öffentlicher und pri­vater Gebrauch der Vernunft, so bunt, komplex und vielfältig der politische All­tag erscheint, so eindimensional ist die Perspektive, der er obliegt. Bauman hat es unverwechselbar ausdrückt: „Für den Be­obachter ‚von oben‘, aus der Perspektive derer, die für das Funktionieren der Ge­sellschaft verantwortlich sind, der ‚Hüter des Gemeinwohls‘, musste die Freiheit der einzelnen beunruhigen; sie ist von Vorn­herein suspekt — wegen der schieren Unvorhersagbarkeit ihrer Konsequenzen, weil eine ständige Quelle der Instabilität.“ (3) Insoweit also ein gutbürgerliches Bewusstsein dadurch gekennzeichnet ist, die Geschichte seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit als Staatsgeschichte seiner Nation oder Nationalität, seiner Volkszu­gehörigkeit zu deuten, ist es eben jener Blick von oben, die vorherrschende Per­spektive, die stabile Ordnung und Homo­genität garantiert. Denn von hier aus wird es denkbar, den gesamtgesellschaftlichen Wandel als durch nationale Kontrolle und Volksintervention ausbalancierbar zu be­trachten. Zwar reicht die Entzauberung des Bildungsbürgers gerade noch soweit, hinter der mystischen Phrase: ein Interes­se des Volkes würde über einen nationa­len Lösungsweg durchgesetzt, eine Wahl­kampffloskel aktueller Politik oder die ver­staubten Zeilen eines staatlichen Ge­schichtsbuches zu vermuten, doch beim Blick in die Geschichte verzaubert ihn der Nationalstolz und die Volksverbundenheit erneut. Die Bedeutung der medialen Öf­fentlichkeit für die moderne Auslegung von Geschichte wäre von hieraus neu zu untersuchen. Vom Deutschlandfunk bis hin zum öffentlich-rechtlich deutschen Fernsehen. (4)

Nationalstaaten

Nun wäre es jedoch ein Einfaches zu sa­gen: Die Auslegung der Geschichte wird uns nie bar jeden Vorurteils einen freien Blick auf die historischen Sachverhalte und Tatbestände erlauben. Was ist falsch an den Begriffen vom ‚Volk‘ und der ‚Nati­on‘? Helfen sie doch, komplexe Phänome­ne einfach zu verstehen und gewähren-leisten dabei den Fortbestand der stabilen Ordnung der politischen Verfassung. Doch Vorsicht! Die Einheit, die die ge­meinsame Perspektive von führenden Po­litikern und Bürgerin erlauben soll, ist nur der Form nach unterstellt. Die ideale Transparenz der demokratischen Verhält­nisse, bleibt das utopische Fernziel der Reform. Und Reformisten mühen sich allenortens mit nationaler Ideologie, die kulturellen Differenzen allüberall auf die von Völkern abzustufen, anstelle mensch­lichen Tuns das Verhandeln von National­staaten anzusetzen. Inhaltliches Detail geht dabei zuerst dem Bürger und dann oftmals auch der politischen Führung schnell verloren. Die positive Einheit, die die gutbürgerliche Perspektive auf die Geschichte suggerierte, Kontinuität- und Erfolg eines Modells, das Stabilität durch staatliche Ordnung verspricht, reduziert schließlich in der Gegenwart Handelnde auf ihre Volkszugehörigkeit, Handlungs­schauplätze auf ihren nationalen Charak­ter – Handlungsmöglichkeiten auf Volksprotest (bis hin zur Bür­gerwehr) und Volkssolidarität (bis hin zur Pflichtabgabe), auf National-Verbot (bis hin zur lückenlosen Strafverfolgung) und National-Erlass (bis hin zur Arbeits­pflicht). Deshalb spricht aus manchem gutbürgerlichen Munde noch die kombi­nierte Quintessenz parlamentarischer Opposition. Weiß der eigentliche Adres­sat von moderner nationaler Ideologie, dieselbe lückenloser auszusprechen. Im Staate unter Staaten kann er sich die In­differenz der Geschichte nicht anders auf­klären, als durch den Unterschied der Völker und den speziellen Staatsgeschich­ten der Nationen. Noch jede Aussicht auf Verbesserung, die gute Möglichkeit in Ta­ten umzusetzen, stockt so am Mangel der historischen Erfahrung. Diese Sprachlosig­keit des modernen Nationalismus ist es, die die Friedhofsstille der Gesellschaft verantwortet.

Nation-building: Es gibt nur Uns … und andere

Alle Völker unter einen politischen Hut zu bringen, das ist der Überschwang des Kosmopolitischen, das europäische Projekt ein Wechselbalg der ähnlichen Idee, die nichtsdestotrotz des Volksbegriffs bedarf. Was dem guten Bürger hier Erfolg ver­spricht, das Modell der Volksnation in der Nation der Völker, ist Ausdruck seiner Einfalt und auch Einfallslosigkeit. So wie der Standpunkt selbst der gutbür­gerlichen Perspektive die Stabilität ver­leiht, die die eindimensionale Auslegung der Geschichte unterstellt, wird sie krisenblind – die Geschichte einer Kri­se zerfällt in singuläre Fälle, missglückte Proben in der unendlichen Testreihe rich­tiger Geschichte. Und zwar nach Innen wie nach Außen. Außen vor ist alles, was sich nicht als nationale Staatsgeschichte identifizieren, jede Gesellschaftlichkeit (Geselligkeit), deren Einheit sich eben nicht in der demokratischen Anstalt von Volk und Nation begründen lässt. Jedwede andere Geschichte wird zur Vorgeschich­te der Nation verklärt. Deswegen erscheint dem Bürger auch nur gut, was an der eigenen Nationalgeschichte Erfolg ver­heißt. „Nation-building“, so das Etikett des Placebo-Präparats. Wären die moder­nen Staaten ihrer Legitimation durchs Volk und die Nation beraubt, wer weiß, wie mensch Verwaltung heute buchstabie­ren würde. Aber wie zum Trotze haben sich die militärischen und politischen Eliten an ihrer Selbsterhaltung festgebissen. Ihr Hang zur Geheimniskrämerei, die jeden Inhalt noch verdeckt, und zur Ver­einfachung, den selben noch beschnei­dend, erleichtert das gutbürgerliche Ge­wissen, welches Verantwortung, wenn auch abstrakt, so oftmals noch verspürt. Das ist der Pakt, auf den sich Führerin und Bürger eingelassen haben. Dem Anderen, sei es die Vorstellung einer anderen Welt mit anderen Möglichkeiten, wird schon mangels Einsicht Gewalt getan. Deshalb ist es eine einfache Antwort zu sagen: Bil­det erst einmal Nationen wie Unsere. Und gutbürgerlich dazu.

clov

(1) Das Spiel der Macht ist hier oftmals ein Spiel mit den Ängsten der Menschen.
(2) oder: synthetische Einheit in der Apperzeption – nach Kant (für Eingeweihte)
(3) Zygmunt Bauman, „Postmoderne Ethik“, S. 17 – Hamburg: Hamburger Ed., 1995
(4) Weiterhin: das Verhältnis von PolitikerInnen und Medien.
Anmerkung: Sowohl der judikative (nach Hegel) als auch der rein sprachliche Rahmen (hermeneutische Tradition) einer Geschichte verfehlt jene Einheit, welche die politische Geschichte erreicht, die Einheit von Individuum und Gesellschaft in der moralischen Verantwortung für andere. Eben diese unseren Kindern zu bewahren, darin liegt die Aufgabe heutiger Generationen.

Theorie & Praxis

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