Proteste, die gar nicht stattfinden sollten

NATO-Gipfel in Straßburg 2009

30.000 Menschen haben am ersten Aprilwochenende gegen die NATO und die Kriegspolitik ihrer Mitgliedsstaaten demonstriert – oder das zumindest versucht. Dass sich überhaupt so viele auf den Weg machten, hat viele überrascht. Denn die französischen wie die deutschen Behörden ließen nichts unversucht, um die Menschen abzuschrecken, vor Ort gegen den NATO-Gipfel zu protestieren.

Dabei verfolgten sie mehrere Strategien. Einerseits weigerten sie sich standhaft, angemeldete Kundgebungen, Demonstrationen und Infrastruktur (Camps, Infopunkte etc.) zu genehmigen. Die Route der Großdemonstration blieb bis zuletzt unklar und während das einzige genehmigte Camp in Straßburg bereits aufgebaut wurde, gab es schon wieder Anzeichen für ein Verbot. Die Verlautbarungen der Polizei sagten bis zuletzt wenig darüber aus, ob die legitimen und legalen Protestformen überhaupt stattfinden und eingeplant würden. Stattdessen wurden Sicher­heits­konzepte vorgestellt, die darauf hinausliefen „Störer“ fernzuhalten.

Die gesamte Mobilisierung wurde in einen linksradikalen und gewaltbereiten Kontext gerückt und entsprechend würde die Reaktion darin bestehen, die Grenze zu schließen, Autobahnen und Bundesstraßen zu sperren, Busse nicht passieren zu lassen und den Menschen das Verlassen ihrer Häuser und ihrer Wohnorte zu verbieten. Medial wurde so das Szenario eines Ausnahmezustandes verbreitet, dem nur durch ein rigoroses Eingreifen der Polizei gegen die wenigen und angeblich ausschließlich militanten NATO-Gegner in den sonst menschenleeren Innenstädten zu begegnen sei.

Eine antimilitaristische Mobilisierung

Trotzdem erhielt die Mobilisierung in den letzten Wochen einen deutlichen Schub. Anfänglich wurde der NATO-Jubiläumsgipfel in zahlreichen Aufrufen in seiner Bedeutung als Protestereignis mit den jährlichen G8-Gipfeln gleichgesetzt. Das war sicherlich eine Fehleinschätzung, denn die NATO ist nicht so unmittelbar mit Themen der Landwirtschaft, der Klimapolitik, der Nord-Süd-Verhältnisse, der völligen Deregulierung der Finanzmärkte und der Privatisierung öffentlichen Eigentums usw. in Zusammenhang zu bringen, wie der G8-Gipfel. Dass die NATO aber ein wesentliches Instrument einiger G8-Staaten ist, diese Agenda gegen Widerstände durchzusetzen, konnte im Rahmen der Mobilisierung vermittelt werden.

In Straßburg wurde hingegen ganz konkret gegen die NATO demonstriert und damit auch gegen das der NATO zu­grunde liegende Prinzip militärischer Herrschaftsdurchsetzung. Die Proteste gegen andere drängende gesellschaftliche Probleme, wie die Wirtschaftskrise fanden zu Recht andernorts statt, am 28. März in Berlin und Frankfurt und Anfang April in London. Das Thema Krise wirkte dennoch als Katalysator für die Mobilisierung, da sie verdeutlichte, dass Militär nicht nur ein Mittel zur Kriegsführung ist, sondern grundsätzlich in Zusammenhang mit repressiver In­ter­essens­durchsetzung steht. Dieser repressive Charakter des Militarismus zeigt sich daran, wie und wo Militär eingesetzt wird. Etwa bei der asymmetrischen Kriegsführung im Ausland, dem Einsatz von Bundeswehr im Inland (siehe G8 in Heiligendamm) und u.a. der europäischen Migrationspolitik, die mit Zäunen und Lagern durchgesetzt wird. Hinter diesen Entwicklungen liegt eine Vorstellung von Gefahr und Sicherheit, nach der jede Bewegung und jeder Widerspruch gegen das herrschende Sicherheitsverständnis oder die Ordnung zumindest potentiell zum Feind oder gar zum militärischen Gegner erklärt wird. Das wiederum fordert geradezu den spektrenübergreifenden Widerspruch der Menschen heraus, gegen die Polizei, Militär und Stigmatisierung eingesetzt werden. Die Mobilisierung gegen den NATO-Gipfel wurde so eine wirklich antimilitaristische Mobilisierung, die über die klassische Friedensbewegung hinaus weite Teile der Linken erfasste.

Verbindend wirkte auch die Wahrnehmung eines gemeinsamen Kampfes um das Recht, überhaupt protestieren zu können, zumindest in Süddeutschland durch die in Bayern bereits umgesetzte (und schon wieder zurückgenommene) und in Ba­den-Württemberg geplante Novel­lie­rung des Versammlungsrechtes, die von eben diesem Recht nichts mehr übrig lässt und ebenfalls einen spektrenübergrei­fen­den und konfrontativen Widerstand her­vor­­gebracht hat. Der NATO-Gipfel galt in diesem Kon­­text als Vorgeschmack auf eine Zeit ohne Demon­strationsrecht und da­mit auch als Anlass, das Demon­stra­­tions­recht zu verteidigen bzw. durchzusetzen.

Strategie der Spannung

Dass diese umfassende Mobilisierung so gut gelang, lag auch an der Haltung der deutschen und französischen Behörden, die die Proteste per se für illegitim und illegal erklärten und bereits im Vorfeld die Friedensbewegung mit einem brandschatzenden Mob gleichsetzten. Am 2. April, einen Tag nachdem anlässlich des G20-Gipfels zur Finanzkrise in London Banken verwüstet wurden und ein Mann höchstwahrscheinlich unter dem Einfluss von Polizeigewalt verstarb und zwei Tage vor der Großdemonstration gegen die NATO, äußerten sich Vertreter der beiden deutschen Polizeigewerkschaften gegenüber der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. So meinte Konrad Freiberg (Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei): „Wir müssen damit rechnen, dass die Proteste beim Nato-Gipfel deutlich aggressiver werden als in der Vergangenheit“ und dass „reisende Gewalttäter den Protest der Friedensbewegung gezielt für Randale und brutale Übergriffe auf Polizisten missbrauchen könnten“. Diese Ansicht wurde von den Medien aufgegriffen und schnell weiterverbreitet.

Eine stärkere Differenzierung seitens der Be­hörden hätte eher dazu geführt, dass es ge­trennte Mobilisierungen einerseits der Frie­densbewegung zu genehmigten Veranstaltungen sowie der anderen Spektren gegeben hätte. Von vornherein als „Black Block“ behandelt, hatte die Friedensbewegung jedoch nichts mehr zu verlieren.

Der Polizeieinsatz zwei Tage später in Straßburg zeigte überdeutlich, dass die Proteste durch die so herbeigeredeten Randale kontrolliert werden sollten. Die Polizeiführung – über Hubschrauber ständig mit aktuellem Lagebild versorgt und über Funk mit tausenden Einsatzkräften in Kontakt – ist schon wegen dieser organisatorischen Überlegenheit viel eher für den Gesamtverlauf der Demonstration verantwortlich zu machen als die De­mons­tra­tionskoordination. Ihr Einsatz zielte erkennbar weder darauf ab, Randale zu verhindern, eine ordnungsgemäße Demonstration zu ermöglichen oder Schaden von den Gebäuden und Menschen auf der Insel abzuwenden. Stattdessen zielte er darauf ab, die Proteste von der Innenstadt und reicheren Wohngegenden fernzuhalten, Gewalt zu provozieren und diese dann als Anlass zu nutzen, die Demonstration aufzureiben. Das ist ihr gelungen und das ist die eigentliche Niederlage. Die Auseinandersetzungen in Straßburg waren tatsächlich ein Vorgeschmack auf Proteste, denen kein Raum zugestanden wird, die von Vorn­herein verhindert werden sollen, sich aber dennoch Bahn brechen werden. Das birgt ein enormes Eskalationsrisiko, darf die sozialen Bewegungen aber nicht dazu bringen, nicht mehr zu solchen Protesten zu mobilisieren, nur weil sie diese nicht kontrollieren kann. Die Regierungen hingegen müssen sich fragen, ob sie dauerhaft fähig und bereit sind, diese Eskalation voranzutreiben und Protesten in zunehmend militärisch anmutender Art zu begegnen. Sind sie dies nicht, müssen sie ihre Politik ändern oder zumindest den Protesten Raum geben. Sind sie es doch, müssen die sozialen Bewegungen Strategien entwickeln, wie sie mit zunehmend un­ko­or­di­nier­ten und militanteren Formen des Protestes umgehen können, damit diese nicht gegen sie instrumentalisiert werden und ohne dass sie selbst in die Eskalationsfalle geraten.

Konferenz, Camp, Blockaden, Großdemonstration

Am 1. April eröffnete das Camp in Straß­burg und es wuchs zunächst langsam, dann beständig und immer schneller. Und es wuchs weitgehend unkontrolliert. Das lag vor allem daran, dass es das einzige Camp war und so lange unklar blieb, ob es überhaupt stattfinden kann. Vor diesem Hintergrund war es eine Leistung der Camp­vorbereitung, dass überhaupt die nö­tige Infrastruktur (Großzelte, Volx­küchen, Strom und sanitäre Anlagen) vorhanden war, obwohl beispielsweise eine der Volxküchen nicht über die Grenze gelassen wurde und auch viele andere Ak­ti­vist­Innen, um überhaupt über die Grenze zu kommen, darauf verzichteten, Material wie Zeltstangen, Stromkabel, Fackeln oder Flugblätter mitzunehmen. Vor dem Hintergrund dieser erschwerten Bedingungen litt die interne Organisation des Camps. Zwar wurden auf verschiedenen Plena im Camp Absprachen getroffen, diese blieben aber unverbindlich, da nicht alle der überwiegend in Kleingruppen organisierten Gruppen vertreten waren. Entsprechend unkoordiniert und auch häufig unüberlegt wurde auf die sporadischen Angriffe der Polizei im Umfeld des Camps reagiert, die sich oft zu stundenlangen Scharmützeln auswuchsen, während auf dem Camp selbst der Aufbau, die Absprachen und das Leben ganz nor­mal weitergingen. Nicht nur diese Aus­ein­andersetzungen am Rande signalisierten sowohl den überwiegend unbeteiligten Be­woh­nerInnen des Camps als auch den­jenigen, die die Berichterstattung ver­folg­ten, dass es auch am Tag der Proteste „krachen“ würde. Auf die Mehrheit der De­monstranten hatte dies eine eher ein­schüchternde Wir­­kung. Diejenigen, die solche Auseinandersetzungen suchen, wurden damit natürlich eu­ro­pa­weit angezogen. Am Ab­end vor der Groß­de­mons­tration nahm der Strom von Neu­ankömm­ling­en im Camp noch ein­mal spürbar zu.

Am 3. April begann, etwa drei Kilometer vom Camp entfernt, eine internationale Konferenz mit AntikriegsaktivistInnen insbesondere aus Deutschland und Frankreich, aber auch aus Großbritannien und Irland, skandinavischen Ländern, Griechenland, Spanien und den USA. Hier stand die inhaltliche Kritik an der NATO und west­licher Kriegspolitik im Mittelpunkt der zahlreichen größeren und kleineren Workshops. Daneben wur­de die Konferenz von vielen genutzt, um sich informell mit den oft altbekannten Genoss­Innen aus anderen Ländern auszutauschen und gemeinsame Kampagnen vorzubereiten. Ein Austausch mit den Bewohnern des Camps fand in begrenztem Maße statt. Viele der zumeist in der Stadt untergekommenen KonferenzteilnehmerInnen statteten dem Camp einen Besuch ab. Unter den Camp-BewohnerInnen scheiterte der Wunsch nach einer Teilnahme an der Konferenz jedoch oft an der schlechten Anbindung und der Sorge, auf dem Weg durch die Stadt polizeilicher Repression ausgesetzt zu sein. Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass sich das mediale Interesse an der Konferenz – trotz dem Bekanntheitsgrad vieler Teil­nehmerInnen – in Grenzen hielt. Die Medien waren weniger an den Argumenten der Gipfel­gegnerInnen interessiert, denn an den Bildern von Ausschreitungen, die sie am nächsten Tag erhalten sollten.

Verschiedene überwiegend deutsche Bündnisse hatten gewaltfreie Blockaden am 4. April in der Straßburger Innenstadt geplant. Auch auf dem Camp bereiteten Leute sich konkret auf diese Aktion vor. Sie bildeten Bezugsgruppen, Delegierten­plena, es gab Aktionstrainings und die gewaltfreie Reaktion auf Po­li­zei­re­pres­sion wurde abgesprochen. Das Konzept der gewaltfreien Blockaden basiert auf der Rechtsfigur des zivilen Ungehorsams, die es in Deutschland gibt, aber nicht in Frankreich. Insbesondere im Austausch mit französischen Ge­noss­Innen, die oft wenig Verständnis für diese Aktionsform aufbringen konnten, wurde deutlich, dass diese eventuell wenig aussichtsreich verlaufen könnten, da die französische Polizei nicht zögern würde, Tränengas und auch Gummigeschosse gegen eine friedliche Sitzblockade einzusetzen. Obwohl diese Debatten sicherlich eine abschreckende Wirkung entfalteten, entschlossen sich mehrere tausend Menschen, es dennoch zu versuchen. Sie machten sich nachts vom Camp in größeren und kleineren Gruppen auf, um überhaupt in die Innenstadt zu gelangen, von der die Polizei angekündigt hatte, sie komplett abzuriegeln. Die größeren Gruppen wurden tatsächlich von Polizeihubschraubern verfolgt und später mit Tränengas aufgehalten. Einigen kleineren Gruppen gelang es, in die Innenstadt zu gelangen und sich auf zentralen Kreuzungen zu sammeln. Sie wurden teilweise ohne Ankündigung von der Polizei mit Tränengas attackiert. Die Polizei lehnte Verhandlungen ab mit den Worten, „wenn wir Euch hier weg haben möchten, dann werdet ihr das schon merken“. Den­noch brachte diese ent­schlos­sene und ge­walt­freie Form des Protestes einen beachtlichen Erfolg: mitten in der Innenstadt gab es Kreuzungen, die blockiert wurden. Selbst wenn dies nicht die zentralen Kreuzungen waren, und die Blockaden zuletzt durch die Polizei toleriert wurden, so konnte sich auf diese Weise doch genau dort Protest äußern, wo die NATO und die französischen Behörden ihn nicht haben wollten. Durch diese Blockaden gab es auch in der Innenstadt zeitweise Bewegungsfreiheit für die AktivistInnen und Kontakt mit der Straßburger Bevölkerung.

Am selben Tag vormittags sammelten sich auf der deutschen Seite in Kehl mehrere tau­send Menschen, die am Ostermarsch über die Europabrücke auf die französische Seite teilnehmen wollten. Aus Nordrhein-Westfalen traf ein Sonderzug ein und aus ganz Süddeutschland Busse, die überwiegend von der Polizei aufgehalten und kon­trolliert worden waren. Des­halb begann der Ostermarsch auch erst mit Verzögerung. Während der Auf­takt­kundgebung strömten aus Straß­burg, aus dem Camp und von den Bloc­kade­­punkten Menschen auf die Insel zwischen Kehl und Straßburg, auf der beide De­mons­tra­tionen sich vereinigen und die Großde­mons­tration statt­­finden sollte. Doch bevor die gemeinsame Kundgebung be­gann, wurden bereits alle Zugänge zu der Insel von der Poli­zei abgeriegelt, woraufhin es an einigen Stel­len zu Auseinandersetzungen kam. Auf der Insel selbst war zunächst über­haupt keine uniformierte Polizei zu sehen und es kam zu ersten Sachbeschädigungen ins­be­­sondere an einer alten, leer stehenden Grenz­station. Trotzdem kann die Lage zu die­sem Zeitpunkt noch als weitgehend ruhig beschrieben werden – eben da sich kei­ne Polizei blicken ließ –, es gab zahlreiche Diskussionen über die Randale, die da­raufhin teilweise auch ein­gestellt wurden. Auf deut­scher Seite wurden diese aber als Vorwand genutzt, um den Ostermarsch, der zu diesem Zeitpunkt sicher­lich deeskalierend und strukturierend gewirkt hätte, nicht über die Brücke zu lassen. Irgen­dwann brannte dann auf der In­sel die Grenzstation und ein IBIS-Hotel. We­nig später – die Auftaktkund­gebung hat­te erst angefangen – griff die Polizei an und trieb die auf der Insel verstreute Menge auf den Platz der Auftaktkund­ge­bung, den sie ebenfalls mit Tränengas ein­ne­belte. Die Demonstration begann damit verfrüht und unfreiwillig und verlief unter nahezu ununterbrochenem Trä­nen­gas­beschuss im Halbkreis durch das Industriegebiet auf der Insel. Den willkommenen An­lass für den ständigen Trä­nen­gas­beschuss lie­ferten einige der ver­mummten, schwarz gekleideten De­mons­tra­tions­teilnehmer, die bei jeder Gelegenheit die Polizei mit Stei­nen attackier­ten und anschließend in die Demonstration flüchteten. Immer mehr Demons­tra­tions­teil­nehmer setzten sich auf Freiflächen, Fabrikgeländen, auf Bahnschienen und ent­lang von Seitenarmen des Rheins ab. Kurz bevor die Demonstration wieder auf das brennende Ho­tel gestoßen wäre, riegelte die Polizei die Route auch von Vorne ab. Auch hier wurde sie attackiert, obwohl die Militanten aus der Demonstration heraus aufgefordert wurden, dies zu unterlassen. Wie­der reagierte die Polizei mit Tränengasangriffen auf die Demonstration, die sich nun überwiegend in flüchtende Kleingruppen auflöste. Sichtlich niedergeschlagen und demoralisiert zogen diese Kleingruppen später unter der höhnischen Aufsicht der Polizei von der Insel ab, wobei sie eindeutig so geleitet wurden, dass sie die Stadt nur über deren ärmste Viertel wieder erreichten.

Zur Selbstkritik

Während sowohl das Stattfinden des Camps und der Blockaden als auch die Kon­­ferenz und die schiere Masse an De­mons­­trantenInnen – ganz abgesehen von der in­halt­lichen Mobilisierung und Au­sein­andersetzung mit der NATO und Mi­li­tarismus im Vorfeld – als Erfolge angesehen werden können, so war die Demonstration selbst eine Niederlage, die den Teil­nehmerInnen beim Abzug sichtbar ins Gesicht geschrieben stand. Die unmittelbare Erfahrung von sinnloser Gewalt, die von Einigen aus der Demonstration heraus ausgeübt wurde, führte dazu, dass viele eben die­se, sowie die Organisatoren der Demonstration für das Scheitern verantwortlich machten. Dies aller­dings ist ein Fehlschluss, der denjenigen in die Hände spielt, die den Protest verhindern oder dif­fa­mieren wollten. Deren Rolle darf nicht un­terschätzt werden, denn sie haben es be­reits mit ihrer restriktiven Politik im Vorfeld geschafft, dass die Großde­mons­tra­tion nicht ausreichend vorbereitet und kein gemeinsames Vorgehen unter der Mehr­zahl der Demonstrierenden ausge­han­delt werden konnte. Für den Gesamtverlauf des großen und unübersichtlichen Protestes sind nicht diejenigen verantwortlich zu machen, die sich bis zuletzt darum bemüht haben, dass dieser überhaupt stattfinden kann, sondern allenfalls diejenigen, welche den Kontext der Proteste gestalteten. Hierzu gehört allen voran die NATO selbst mit ihrer Entscheidung, ihr sechzigjähriges Fortbestehen in einer Großstadt zu feiern, deren Be­wohner­Innen hierfür massive Einschränkungen in Kauf nehmen mussten. Wenn die Regierenden immer offener gegen die Interessen derjenigen agieren, die sie zu vertreten in Anspruch nehmen, muss mit solchen absolut legitimen Protesten gerechnet werden. Die immer offenere Drei­stig­keit der Regierungen, die in solchen Feierlichkeiten inmitten der Krise nur ihre symbolische Zu­spit­zung erfahren, füh­ren natürlich auch dazu, dass weniger politisierte und organisierte Menschen ihrer Wut Ausdruck verleihen möch­ten und dass damit auch die Proteste für die Veranstalter schwerer kon­trollierbar werden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass es legitim ist, etwa zu Demonstrationen gegen den NATO-Gipfel aufzurufen.

Derweil auf dem Olymp

Was wurde nun gefeiert auf dem Gipfel, was wurde beschlossen? Einigkeit sollte demonstriert werden und ein Neuanfang, in dessen Zentrum frei­lich der neue US-ameri­ka­nische Präsident Obama stand. All sein Charisma, das er unter anderem mit der reali­täts­fernen Forderung nach einer „atom­waffen­freien Welt“ versuchte aufzuhüb­schen, konnte die anwesende Polit-Prominenz nicht darüber hinwegtäuschen, dass er an der Spitze eines Landes steht, das härter von der Finanzkrise getroffen wird, als alle anderen Großmächte und gleichzeitig in mehreren recht aussichtslosen Konflikten steckt. Die USA brauchen die europäischen Staaten und ihre Soldaten mehr denn je. Deshalb der Vorschlag eines Neuanfangs, einer neuen NATO, in der die USA und die EU gleichberechtigt nebeneinander stehen. Allerdings gibt die EU ohne den halbtoten Lissabon-Vertrag keinen ausreichend einheitlichen und ausreichend starken militärpolitischen Akteur ab, um die USA aus dem afghanischen Schlamassel zu ziehen und die ambitionierten Pläne der NATO, eine dem Untergang geweihte Weltordnung militärisch zu verteidigen, umzusetzen. „Don´t mention the Balkans“, mag sich so manche(r) gedacht haben. Denn dort, wo sich die NATO vor über zehn Jahren als Interventionsbündnis zur Vorwärtsverteidigung neu erfunden hat, stecken bis heute ihre Soldaten fest, ohne dass es noch irgendwelche Aussichten auf eine erfolgreiche kapitalistische Integration der zurechtgebombten neuen Staaten gäbe. Anstatt die Soldaten in einen sinnlosen Krieg zu schicken, machten sich die RegierungsvertreterInnen jeder und jede für sich ihre nationalen Gedanken, wie sie Banken retten und Wählerstimmen mit Konjunkturpaketen kaufen könnten. Die meisten kamen gerade erst aus London, wo man ähnlich perspektivlos dabei scheiterte, ein gemeinsames Vorgehen in der Krise abzusprechen, ohne über Alternativen auch nur nachdenken zu können. Auch dort konnten die Regierungsvertreter bei ihrer Abreise Rauchwolken sehen. So verzweifelt die Herrschenden in diesem Moment sein mochten, so ambitioniert verteidigten ihre Schergen zugleich deren Un-Ordnung.

(maria)

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