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Militarisierte Landschaften

Vorschlag zur aktivistischen Psychogeografie

In Deutschland wie auch global nehmen die Proteste gegen Militärbasen wieder zu. Zum dritten Mal fand im August 2014 ein Aktionscamp gegen das Gefechtsübungszentrum des Heeres (GÜZ) in der Colbitz-Letzlinger Heide statt, zuvor protestierten Tausende auf Sizilien gegen die Satellitenanlage MUOS der US-Army. Zum Globalen Aktionstag gegen die Nutzung von Drohnen für Krieg und Überwachung am 4. Oktober 2014 sind alleine in Deutschland Aktionen und Kundgebungen an mindestens sieben Militärstandorten und Forschungseinrichtungen angekündigt. Doch auch jenseits von Bündnissen und Aktionstagen bieten sich Ausflüge zu solchen Liegenschaften an, um aktuelle und vergangene Formen der Kriegführung subjektiv erfahrbar zu machen. An diesen verknüpfen sich zudem lokale, soziale Auseinandersetzungen mit der großen, oft nur abstrakt kritisierbaren Geopolitik – so zumindest ein im Entstehen begriffener wissenschaftlicher Ansatz.

Vernetzte Kriegführung

Zugespitzt ist jeder Mobilfunkmast Teil jener Infrastruktur, mit der Profile erstellt werden, die letztlich zur „gezielten Tötung” von Menschen in Pakistan oder Somalia führen. Solche Bewegungsprofile werden in den USA und im Umfeld des US-Oberkommandos für Afrika (AfriCom) bei Stuttgart mit öffentlichen und geheimdienstlichen Daten abgeglichen, und letztlich fällt hier, irgendwo in Deutschland, die Entscheidung über den Waffeneinsatz einer zuvor bereits in Djibouti gestarteten, bewaffneten Aufklärungsdrohne.

Noch bevor dies auch durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bekannt gemacht wurde, begann eine internationale, gerade in Deutschland sehr sichtbare Kampagne mit dem Namen „War starts here“ – Krieg beginnt hier. Ein rosafarbenes Kreuz an Rüstungsbetrieben, anderen Institutionen und Unternehmen, die mit der Bundeswehr zusammenarbeiten, wurde zu ihrem Symbol. Doch auch Brandanschläge auf Bundeswehrfahrzeuge und Sprühereien gegen die Post-Tochter DHL, nachdem sich diese um die Privatisierung der Basislogistik der Bundeswehr beworben hatte, bezogen sich auf die Kampagne. Mittlerweile zum dritten Mal fand diesen Sommer unter dem Titel „War starts here“ ein Protestcamp in der Nähe des Gefechtsübungszentrum in der Colbitz-Letzlinger Heide statt, wo alle Soldaten des Heeres trainieren, bevor sie im Ausland, wie etwa in Afghanistan eingesetzt werden. Im Gegensatz zu der Demonstration zum zehnten Jahrestag des Beginns des Afghanistankrieges im Dezember 2011 in Bonn, die von den meisten Teilnehmenden als klein und frustrierend wahrgenommen wurde, entwickelte das Camp mit dem expliziten Ziel, den Übungsbetrieb und damit die Kriegsvorbereitungen zu stören, eine starke Dynamik. Auch an verschiedenen Universitäten, dem Flughafen Halle/Leipzig, dem AfriCom bei Stuttgart und den Luftlagezentren Kalkar und Uedem am Niederrhein wachsen die Widerstände gegen konkrete Orte der Kriegsvorbereitung und -führung.

Geopolitik und soziale Auseinandersetzungen

Die politische Wissenschaft hat die Militarisierung der internationalen Beziehungen lange ganz im Sinne herrschender Ideologieproduktion negiert oder humanitär zu begründen versucht. In jüngster Zeit sind allerdings Publikationen erschienen und ist ein Ansatz am Entstehen, der die genannten Entwicklungen der Lokalisierung nicht nur wahrnimmt, sondern auch in Teilen zu erklären und fundieren vermag. Das Charmante und womöglich wirklich Produktive besteht dabei darin, dass Geopolitik mit unmittelbaren sozialen Kämpfen in Zusammenhang gesetzt wird – und den letzteren, zumindest bezogen auf Militärbasen, einen deutlich größeren Stellenwert eingeräumt wird, als man angesichts einer überwältigenden, unaufhaltsam scheinenden Kriegsmaschinerie annehmen mag.

So hat Amy Austin Holmes (1), deren Arbeit u.a. von Beverly Silver (2) betreut wurde, den Widerstand gegen US-Militärbasen in Deutschland und der Türkei seit 1945 untersucht. Im Gegensatz zu früheren Imperien, die hierfür besetzte Gebiete und Protektorate nutzten, baue das US-amerikanische auf ein weitläufiges Netzwerk von Basen in (je nach Zählweise bis zu 170) – zumindest formal – souveränen Staaten. Statt militärischer Niederlage und Zwang sind internationale Verträge Grundlage der Stationierungen, die sich wiederum auf einen Diskurs stützen, wonach diese Staaten von den Stützpunkten profitieren, indem sie dadurch unter einen Schutzschirm der Militärmacht USA genommen und vor Invasionen und inneren Umstürzen geschützt werden. Wenn jedoch die gesellschaftlich wahrgenommene Bedrohung abnimmt oder ganz verschwindet, treten plötzlich die negativen Folgen der Stützpunkte für Umwelt, Umfeld, Wohnungs- und Arbeitsmarkt deutlicher zutage und Protest formiert sich. Dieser habe sowohl in der Türkei wie auch in Deutschland vier verschiedene Formen angenommen: (a) parlamentarische, indem kleinere Oppositionsparteien den Abzug forderten; (b) gewaltfreie, etwa durch Blockaden von Stützpunkten durch Anwohner_innen oder spontane Proteste nach Zwischenfällen; (c) militante, in Form von Anschlägen auf Personal und Einrichtungen der US-Streitkräfte und (d) Arbeitskämpfe durch zivile Angestellte im Umfeld der Basen. Besonders die gewaltfreien Proteste und Arbeitskämpfe hätten nach Holmes durchaus geopolitische Wirkung entfaltet.

Die US-Militärplaner_innen können nach Holmes die Natur und Ursache dieser Widerstände nicht wahrnehmen und verstehen – ihr auf militärische Feinde fokussierender, an globalen Strategien orientierter Blick lässt das offenbar nicht zu. Deshalb bestünden auch kaum Lösungsstrategien und mittelfristig sei zu beobachten, dass sie sich dem Protest fügen, in andere Regionen abwandern. Die angekündigte Verschiebung des Schwerpunkts US-amerikanischer Truppenstationierung von Europa nach Asien (wo die Bedrohung durch China und Nordkorea gesellschaftlich stärker wahrgenommen wird, als diejenige durch Russland in Europa) mag hierfür ebenso ein Indiz sein wie der Rückgriff auf kleinere, nur sporadisch genutzte – häufig als private Unternehmen getarnte – Basen in Regionen mit jüngerer Kolonialgeschichte, in Lateinamerika und Asien. Die Struktur der US-Militärpräsenz in Afrika scheint dem durchaus zu entsprechen: Führungsstrukturen und Einsatzkräfte sind dauerhaft in Süddeutschland und den USA stationiert (wo gegenwärtig ebenfalls der Protest insbesondere gegen die Drohnenkriegführung wächst) und führen regelmäßig in ausgewählten afrikanischen Staaten gemeinsame „Übungen“ und Einsätze durch. Dafür nutzen sie Flughäfen „ziviler“ Subunternehmen der US-Army oder geheime Stützpunkte des CIA. Was Holmes leider nicht explizit einbezieht, in Deutschland aber ein wachsendes Problem darstellt, sind die Mobilisierungen rechter Gruppen gegen US-Basen mit dem Argument, Deutschland müsse vom Besatzungsstatus wieder zur vollständigen Souveränität, womöglich sogar in den Grenzen vor 1945/1989, zurückfinden.

Militärische Landschaften

Parallel dazu entsteht in den geographischen Wissenschaften gegenwärtig ein Ansatz zu militärischen/militarisierten Landschaften. Dieser nimmt die Rolle des Militärischen für die Konfiguration des Raumes in den Blick, von Erinnerungsstätten und Soldat_innengräbern über einzelne Rüstungsbetriebe und Militärbasen und deren Auswirkungen aufs städtische und ländliche Umfeld bis hin zur weitläufigen Anordnung solcher Stützpunkte. Das Interessante an diesem Ansatz ist nicht nur, dass etwa Rachel Woodward, eine der Protagonistinnen eines entsprechenden Forschungsprogrammes, lange (und bezeichnenderweise) fehlende wissenschaftliche Definitionen für Begriffe wie „Militär“ und „Militarisierung“ entwickelt und anbietet (3), sondern dass sich als Methode die militante, also eingreifende Untersuchung geradezu aufdrängt. So ist bereits das Benennen der militärischen Funktion eines Stützpunktes, eines privaten Unternehmens oder einer öffentlichen Institution ein Akt mit Folgen für diese Einrichtungen und ihre Legitimität. Eine wissenschaftliche, als Hobby oder Aktivismus durchgeführte Untersuchung solcher Orte durchbricht per se die Aura der Geheimhaltung, das von den Betreiber_innen beanspruchte Deutungsmonopol und das rechtlich wie praktisch nicht durchsetzbare, auf Schildern aber häufig proklamierte Betretungs- und Fotografieverbot. Die Befragung der Anwohnenden über Auswirkungen, persönliche Gefährdung durch und Wissen über die globale Funktion der Einrichtungen wirft bei diesen womöglich ganz neue Fragen auf. Vor allem aber stellen solche Untersuchungen eine Form der intellektuellen Selbstverteidigung gegen die naturgemäß starke Verzerrung der Wahrnehmung gegenwärtiger Kriegführung dar.

Vorschlag zur aktivistischen Psychogeografie

Statt in der Freizeit an den See zu fahren oder fernzusehen, wird hier also der Vorschlag gemacht, Ausflüge an konkrete Orte der Kriegführung zu machen. Der nächste Truppenübungsplatz, der nächste Rüstungsbetrieb oder die nächste Fakultät, an der Kriegsforschung betrieben wird, ist von den meisten Punkten in Deutschland mit Fahrrädern oder dem öffentlichen Nahverkehr zu erreichen. Kennzeichen und Typen der Autos auf Firmenparkplätzen, die Aushänge in Universitätsfluren und die Anordnung von Basen im städtischen oder ländlichen Raum lassen Krieg und seine kapillaren Ausformungen neu erfahrbar werden. Wer im Freundeskreis und der Nachbarschaft dann von diesen Ausflügen erzählt, macht oft die Erfahrung, dass viel weiteres verstreutes Wissen über militärische Einrichtungen existiert und plötzlich zutage tritt: Es gibt Informationen über jenen Bunker im Wald und die Aktivitäten bestimmter Firmen. Fast schon lückenlos wird die mentale Karte militarisierter Landschaft, wenn die historische Komponente einbezogen wird: Verwaltungsgebäude und Wohnprojekte sind ehemalige Kasernen, in Kirchen und an öffentlichen Plätzen finden sich Gefallenendenkmäler mit sehr unterschiedlichen Inschriften aus unterschiedlichen Zeiten.

Letztlich lassen sich die meisten Städte dechiffrieren – wie das schon 2005 eine Arbeitsgruppe des ASTA der Uni Kassel versuchte (4) – von den Resten der Stadtmauer und anderen Festungsanlagen über die Bauten, die nach dem zweiten Weltkrieg auf den Trümmern bombardierter Fabriken entstanden, die Bunker aus der Zeit des „Kalten Krieges“ bis hin zu Forschungszentren, Zulieferbetrieben und Flughäfen am Stadtrand als „gebauter Krieg“. Einige aktuelle Tendenzen der Kriegführung werden unmittelbar erfahrbar. Darunter die sogenannte Zivil-Militärische Zusammenarbeit und die weit gediehene Privatisierung: Zahllose zivile Baufirmen sind auf den Stützpunkten aktiv und sichtbar, die IT wird von privaten Firmen gewartet. Manche Stützpunkte, an deren weitläufigem Zaun im Wald noch vor „Schusswaffengebrauch“ gewarnt wird, stellen sich am Haupteingang lediglich als Sitz einer GmbH dar. Aktuelle und neue Stützpunkte offenbaren darüber hinaus häufig die herausragende Bedeutung der sogenannten C3I: Kommando, Kontrolle, Kommunikation und Aufklärung (5), die eine wesentlich verteiltere/vernetztere Struktur der Streitkräfte ermöglichen. Neben diesen vermeintlichen Revolutions in Military Affairs (RMA) (6), welche die Beschleunigung von Aufklärung und Kommunikation als entscheidenden zu erringenden Vorteil gegenüber den Gegnern erachten, zeigen sich aber auch geradezu banale, scheinbar zeitlose Erscheinungen, wie die anhaltende Bedeutung und Nutzung des Waldes als Barriere und Sichtschutz gerade für sensiblere Bereiche von Standorten.

Der Wald, der vielleicht sonst eher Ruhe und Natürlichkeit vermittelt, kann plötzlich bedrohlich wirken, wenn ein Pickup-Truck mit bewaffneten Jägern (oder Spezialkräften in Zivil?) plötzlich neben einem auftaucht, während man ein Gelände inspiziert und sich an die Worte eines Wachsoldaten erinnert, der warnte: „es ist im engeren Sinne nicht rechtlich verboten, das Gelände zu betreten, aber sie könnten erschossen werden“. Dann fährt plötzlich eine Familie beim Fahrradausflug gut gelaunt den ausgeschilderten Radweg entlang und alles wirkt wieder ganz harmlos.

Neben Erkenntnissen locken also auch kleine Abenteuer, harmloser als eine Fernsehdokumentation, aber unmittelbar, ungefiltert und subjektiv. Natürlich, und das sollte hier ausdrücklich gesagt werden, droht auch die Paranoia. Wie bei anderen Karten auch ist das Militärische nur eine Folie von vielen, die die Wahrnehmung des Raumes strukturieren können, und darüber sollte man sich im Austausch mit anderen immer wieder verständigen. Oder einfach mal wieder eine Fahrradtour an den See machen.

maria

(1) Amy Austin Holmes: „Social Unrest and American Military Bases in Turkey and Germany since 1945“, Cambridge University Press 2014.

(2) Beverly Silver vertritt in ihrem vielbeachteten Buch „Forces of Labour“ (Kräfte der Arbeit) die operaistische Auffassung, dass das Kapital nicht immer bessere Ausbeutungsbedingungen sucht und schafft, sondern von Arbeitskämpfen um den Globus getrieben wird. In Anlehnung könnte man Holmes zugespitzt so interpretieren, dass die Streitkräfte der US-Army von Protesten über den Globus getrieben werden.

(3) Rachel Woodward: „Military landscapes – Agendas and approaches for future research“, in: Progress in Human Geography 2014, Vol. 38(1) 40–61.

(4) Lola Meyer: „Die Suche nach dem Krieg in Architektur und Städtebau am Beispiel Kassels“, Universität Kassel 2006.

(5) C3I (Control Command Communication Intelligence) ist eine militärische Abkürzung, die die verschiedenen Ebenen bezeichnet, mit deren Hilfe das Militär Aktionen plant und durchführt.

(6) Revolution in Military Affairs (dt. Revolution der militärischen Angelegenheiten) ist eine These aus der amerikanischen Militärwissenschaft, die besagt, dass sich die Art der Kriegsführung aufgrund von neuen Strategien,Taktiken oder Technologien (z.B. Drohnen) ändert.

Krieg Um Welt

Welcome all Refugees from capitalist War

Fluchtursachen und ihre „Bekämpfung“

Weltweit sind ganze Regionen zu Kriegsgebieten verkommen. Hier wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen ZivilistInnen und KombattantInnen. Massaker an eben Unbeteiligten dienen der ethnischen Mobilmachung und so der Verlängerung der für die (staatlichen und privaten) Warlords einträglichen Konflikte. Es gibt Zwangsrekrutierungen selbst von Kindern und durch die gewaltsame Zerstörung ziviler Lebensgrundlagen und die allgemeine Unsicherheit und Militarisierung bleibt vielen nichts anderes übrig, als zur Waffe zu greifen und sich einer Miliz anzuschließen. Oder eben die Flucht. In diesen Regionen leben Millionen Menschen in gewaltigen Flüchtlingslagern, die aber zugleich Ziel und Operationsbasis der Milizen sind. Eine weitergehende Flucht wird von den potentiellen, reicheren Zielländern militärisch und durch Zusammenarbeit mit humanitären Organisationen und dem UNHCR (UN-Flüchtlingshilfswerk) unterbunden.

Andere Gebiete und Schichten sind auch ohne blutige Konflikte durch eine anhaltende und wachsende Armut geprägt. Durch die Privatisierung der Grundversorgung und des Landes wird den Menschen die Möglichkeit selbst zur eigenständigen Grundversorgung genommen, sie werden proletarisiert und vertrieben, ohne dass ihnen die Möglichkeit auf ein einträgliches Einkommen gegeben würde. Viele versuchen es dennoch und siedeln in die Vorstädte der nächstgelegenen Großstädte, aus denen gewaltige Slums werden, die teils durch unerträgliche Lebensumstände geprägt sind. Dort fristen sie ihr Dasein oder machen sich auf die Weiterreise dorthin, wo sie bessere Lebensperspektiven sehen. Entweder sie passieren illegal die Grenzen in die Wohlfahrtszonen und führen dort ein Schattendasein das sie sich mit illegaler Arbeit zu Niedrigstlöhnen finanzieren, oder sie treiben irgendwo genug Geld auf, um sich ein Visum zu erkaufen und probieren dann, über Eheschließung, Arbeitsverträge oder ähnliches einen längerfristigen Aufenthaltsstatus zu erlangen.

Zudem gibt es überall auf der Welt bedrohte und diskriminierte Minderheiten oder Bevölkerungsgruppen. Frauen ist in religiös-fundamentalistisch geprägten Gesellschaften ein selbstbestimmtes Leben verwehrt und ihnen drohen drakonische Strafen wie die Steinigung. Wer nicht für seine Rechte kämpfen will oder kann, dem bleibt nur ein Ausweg: die Flucht.

Zahlreiche dieser Fluchtursachen werden mittlerweile als Grund für militärische Interventionen der Großmächte genannt, die aber stets eigene Interessen verfolgen und die Lage der Bevölkerung durch weitere Militarisierung und die Provokation militärischen Widerstands meist noch weiter verschlechtern. Die gute Schwester der militärischen Intervention, die staatliche Entwicklungshilfe, gibt vor, sich mit zivilen Mitteln dieser Probleme annehmen zu wollen. Dies geschieht immer häufiger durch die Finanzierung und den Aufbau neuer Polizeieinheiten, kann die Unterstützung eines Gewaltregimes bedeuten (z.B. EUPOL KINSHASA (1) in der Demokratischen Republik Congo). Oft geht es bei Entwicklungshilfe auch nur darum, Länder und Regionen für die Anbindung an den Weltmarkt vorzubereiten oder internationalen Unternehmen den Aufkauf der zivilen Infrastruktur und der profitträchtigsten Wirtschaftsbereiche zu ermöglichen (So haben BMZ und die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) gemeinsam mit USAID im Windschatten des Afghanistankrieges die Agentur AISA gegründet, die mit Werbung für profitträchtige Anlagen und der Privatisierung von Wasser- und Stromversorgung deutschen und internationalen Konzernen den Ausverkauf Afghanistans ermöglichen soll, siehe aisa.org.af ). Im besten Falle sind Entwicklungshelfer meist kleinerer Organisationen damit beschäftigt, die sozialen Härten der kapitalistischen Globalisierung abzufedern und den Menschen in neu kolonialisierten Gebieten Tipps für das Überleben im globalen Markt zu geben – meist, das soll hier gar nicht geleugnet werden, in bester Absicht und manchmal mit ansehnlichem Erfolg.

Migration ist Entwicklungshilfe – von Unten

Dennoch ist Entwicklungshilfe als Bekämpfung der Fluchtursachen, wie sie gerade v.a. mit Blick auf Afrika propagiert wird – sofern dies ernst gemeint ist – in mehrfacher Hinsicht Paradox. Wenn das Ziel lauten sollte, die globale Ungleichheit an Wohlstand, Sicherheit und Rechten abzumildern, dann müsste zunächst das wesentliche Instrument angegangen werden, welches diese Ungleichheit territorial festschreibt, nämlich die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Menschen aus Armuts- und Konfliktgebieten. Denn wenn Menschen aus unerträglichen Lebensumständen fliehen und wo anders tatsächlich ein besseres Leben finden, dann hilft das nicht nur konkret all diesen Menschen, sondern auch den Regionen, aus denen sie stammen. Nicht nur, dass Migration aus kargen oder überbevölkerten Regionen das Überleben dort schon deshalb erleichtert, weil vom selben Boden weniger Menschen zu ernähren sind und damit auch das Konfliktpotential wesentlich sinkt. Die meisten Migrant- Innen bleiben den Gesellschaften, aus denen sie stammen, die ihnen oft auch die Wegreise ermöglicht haben, weiterhin verbunden. Allein die registrierten Rücküberweisungen von MigrantInnen, sog. Rimessen, an Familien und Freunde im Herkunftsland, übersteigen weltweit die Summe der offiziellen Entwicklungshilfe aller Staaten zusammen – und kommen meist direkter an. Zusätzlich besuchen die MigrantInnen, soweit es ihnen möglich ist, ihre Herkunftsgesellschaften, was dort eine touristische Infrastruktur und den Aufbau von Verkehrswesen begünstigt. Andererseits wollen Viele auch im Land, in dem sie sich gegenwärtig aufhalten, nicht auf traditionelle Lebensmittel und kulturelle Güter verzichten, was dazu führt, dass es in jeder großen Stadt mittlerweile Spezialläden für Produkte aus diesem und jenem Land gibt und dies den Export kultureller Güter (mit enormen Profiten) aus ärmeren Regionen fördert.

Diese „Entwicklungshilfe von Unten“ (2) funktioniert allerdings auch jenseits rein kapitalistischer Dynamiken. So schließen sich in größeren Städten die MigrantInnen aus denselben Gemeinden oder Regionen zusammen und organisieren beispielsweise Kulturveranstaltungen, deren Erlös sie für Infrastrukturprojekte in ihre Herkunftsgemeinden schicken (3). Diese Gelder können bspw. in Projekte wie eine kommunalen Krankenversicherung fließen, die sonst nicht denkbar wären. Vor allem Menschen, die vor Unterdrückung und Krieg geflohen sind, verfolgen hier meist weiter die Lage in ihrem Herkunftsland. Viele übersetzen Artikel und machen so auf die dortige Unterdrückung aufmerksam. Manche organisieren sich in Exil- oder Menschenrechtsgruppen und engagieren sich von hier aus für die Rechte ihrer GenossInnen im Ausland. Das ist die Voraussetzung für internationale Aufmerksamkeit und Solidarität und hat schon so manche Freilassung politischer Gefangener erwirkt, wie es Folter und Steinigungen verhindert hat. Auch weniger politisch engagierte MigrantInnen werden in ihrem Zielland mit anderen Werten konfrontiert sein, als sie es aus ihrer Kindheit und Jugend kennen. Sie werden von diesen das übernehmen, was ihnen sinnvoll erscheint und sie auch in ihre Herkunftsgesellschaften kommunizieren, wo sie dann erörtert, angenommen oder abgelehnt werden. Dies ist eher die Überzeugung beim Familienfest, als die aus dem Gewehrlauf. Wenn nicht nur Europäern zugestanden wird, dass Menschen ihre Werte auf der Grundlage von Vernunft aushandeln, dann müsste diese Form globaler Zivilgesellschaft langfristig zu einer vielfältigen, sich gegenseitig argumentativ herausfordernden Wertelandschaft führen.

MigrantInnen als Arbeitskräfte

Solche Entwicklungen sind jedoch nur Nebeneffekte einer kapitalistischen Dynamik, die seit der Entstehung der Nationalstaaten deren Drang nach Ab- und Ausgrenzung immer wieder aufbricht. Für den globalisierten Kapitalismus ist nicht nur die freie Zirkulation von Kapital und Waren, sondern auch von Dienstleistungen und Arbeitskräften notwendig. Der Nachkriegsboom in den 50er und 60er Jahren hing ebenso vom Zustrom von Arbeitskräften ab, wie zuvor der Aufstieg der USA zur Weltmacht nur durch beständigen Zuzug aus aller Welt möglich war. Auch heute beruht der Wohlstand der „entwickelten“ Staaten (auch der reichen Öl-Staaten) wesentlich darauf, dass Arbeitsprozesse, die nur bei enorm niedrigen Löhnen profitabel sind, sich aber nicht ins Ausland verlagern lassen – namentlich Dienstleistungen wie Gebäudereinigung, Billig-Gastronomie, zunehmend auch Alten- und Krankenversorgung – von migrantischen Arbeitskräften erledigt werden, die niedrigere Löhne in Kauf nehmen. Da vor allem die Macht europäisch geprägter Staaten vom Nationalismus abhängt, der dementsprechend andauernd geschürt werden muss, und es zu ihrem Verständnis von Souveränität gehört, die Grenzen aufrecht zu erhalten und zu kontrollieren, befinden sie sich hier in einem Interessenskonflikt mit ihrer mächtigsten Lobbygruppe, dem Kapital, das generell zur Öffnung der Grenzen, auch für Arbeitskräfte, drängt. Der Kompromiss, von dem beide profitieren, ist die weitgehende Öffnung der Grenzen bei gleichzeitiger rassistischer Diskriminierung der MigrantInnen. Dadurch entsteht ein für die Industrie sehr nützliches entrechtetes Subproletariat, das bei Belieben zu niedrigsten Löhnen angeheuert und wieder gefeuert bzw. deportiert werden kann und, spekulierend auch auf nationalistisch-rassistische Tendenzen innerhalb der Arbeitnehmerschaft, diese spaltet, in die relativ privilegierten einheimischen Arbeiter und eben dieses Subproletariat.

Machtdemonstrationen

Genau dies geschah beispielsweise in Deutschland mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts, der Illegalisierung weiter Teile der MigrantInnen und durch die vielfältige rechtliche Diskriminierung von „Ausländern“: Essenspakete und Residenzpflicht bei Asylbewerbern, biometrische Erfassung, Rasterfahndung, Sicherheitsverwahrung und Gesinnungsprüfung und Kettenduldung, d.h. Die immer nur kurzfristige Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigungen, die die MigrantInnen dauerhaft in einem prekären Schwebezustand hält und langfristige Perspektiven verhindert. Dass die Grenzen gleichzeitig geöffnet würden, mag der alltäglichen Wahrnehmung widersprechen. Werden die Zäune in Melilla und Ceuta nicht eben verstärkt, nachdem dort auf Flüchtlinge geschossen wurde, die versuchten, sie zu überwinden? Finden nicht gegenwärtig völlig sinnlose Abschiebungen von hier geborenen Kindern und ihren Familien in (Bürger-)Kriegsgebiete wie den Kosovo und Afghanistan statt? Entstehen nicht überall in der EU und jenseits ihrer Grenzen Auffang- und Abschiebelager? Wird nicht gar in den Kriegsgebieten selbst Militär eingesetzt, um die Flüchtlinge an der Weiterreise Richtung EU und Deutschland zu hindern?

Doch! Aber zugleich werden die Möglichkeiten für Arbeitgeber beständig erweitert, Arbeitskräfte ins Land zu holen. Die Visabestimmungen für Mittel- und Osteuropäer werden gelockert, und in den Zäunen werden bewusst Löcher gelassen, abgefangene Boat people aus Nordafrika oder dem Mittleren Osten werden freigelassen, während die „Schwarzen“ aus Südafrika deportiert werden. Die Abschottung ist gar nicht möglich, zu vielfältig sind die Möglichkeiten und Wege, in die EU zu gelangen. Die repressive Grenzpolitik ist lediglich der Versuch, diese Migration biopolitisch zu steuern: Lieber Osteuropäer als Afrikaner, lieber Studenten als Flüchtlinge. Dieser offen von den Staaten ausgeübte Rassismus soll nach Innen das Privileg der Staatsbürgerschaft deutlich zum Vorschein bringen. Die offene und symbolkräftige Diskriminierung derer, die nicht zur Nation gehören soll diejenigen, die dazugehören, noch enger an den Staat binden, damit sie immer weitere Einschnitte akzeptieren. Abschiebungen lohnen sich finanziell überhaupt nicht, geben den Bürgen des Staates aber das Gefühl, dass es anderen noch dreckiger geht, dass ihnen das nicht passieren kann. Im übrigen ein Fehlschluss: Denn die Herrschaftstechniken, die zunächst gegenüber MigrantInnen angewandt werden, werden immer schneller auch auf unterprivilegierte Schichten der nationalen Bevölkerung angewandt, freilich bei gleichzeitiger Verschärfung der Schikanen gegenüber den MigrantInnen. So folgte die biometrische Erfassung der gesamten Bevölkerung in Deutschland durch die Einführung neuer Pässe einer Art Probelauf, in dem alle Einreisenden und Asylbewerber erfasst werden sollten. Die Techniken, mit denen seit Hartz IV die Arbeitslosen durch die Bundesagentur verwaltet werden, erinnern stark an die Praktiken, mit denen zuvor Asylbewerber konfrontiert waren.

NO LAGER

Es gibt also keinen Interessengegensatz zwischen „einheimischen“ und migrantischen Lohnabhängigen, sondern gemeinsame Kämpfe. Was heute an Diskriminierung von „Ausländern“ verhindert werden kann, wird langfristig für die gesamte Gesellschaft abgewehrt. In diesem Zusammenhang ist die weltweite Ausdehnung von Lagern zu sehen, die von staatlichen Akteuren als Reaktion auf unkontrollierte Bewegung und nicht-verwertbares Leben vorangetrieben wird. In Krisen- und Kriegsgebieten leben Millionen von Menschen in Lagern, hunderttausende in den Lagern an den Rändern der EU und ebenso viele innerhalb der EU. Lager erlauben die ideale Kontrolle der Insassen und isolieren sie vom Rest der Gesellschaft so wie von den Insassen anderer Lager. Die Menschen werden hier am nackten Leben erhalten, von privaten oder staatlichen Sicherheitsagenturen kontrolliert und gepeinigt, bis sich eine kurz- oder langfristige Verwertungsmöglichkeit ergibt. Eine Vision mit Zukunft. Dass sich diese Herrschaftspraktik auf immer weitere Teile der Weltbevölkerung ausdehnen lässt, zeigt sich daran, wie leicht es den Nationalstaaten stets gefallen ist, per Gesetz Gesellschaften, die alle auf Migration beruhen, in Bürger und Entrechtete zu trennen.

maria

(1) Diese EU-Mission besteht darin, mit Geldern aus dem Europäischen Entwicklungs-Fond neue Polizeieinheiten in Kongo-Kinshasa aufzubauen, welche die „Regierung des Übergangs“ schützen sollen. Diese besteht ausnahmslos aus Warlords und Kriegsverbrechern und sollte im Juni 2005 durch erste freie Wahlen abgesetzt werden. Die Wahlen wurden verschoben, die Proteste niedergeschossen. Die EU dürfte davon nicht überrascht gewesen sein, denn die Mission begann Anfang 2005 und war für mindestens ein Jahr geplant…
(2) Siehe hierzu: APUZ (Aus Politik und Zeitgeschichte) 27/2005: Entwicklung durch Migration
(3) exemplarisch am Fall El Salvador: Helen Rupp: Migration als Wirtschaftsmodell: Die remittances in El Salvador, in Prokla (Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft) Nr. 140

Migration

Das Gewissen Europas

Die Minister sind besorgt über die große Zahl derer, die sich in oft seeuntüchtigen Booten auf den Weg nach Europa machen und dabei Leib und Leben riskieren“ (1).

So heißt es jedenfalls in der Presseerklärung des Bundesinnenministeriums zum Treffen von Otto Schily mit seinem italienischen Amtskollegen Antonio Pisanu am 12. 08. 04. Dieser bezeichnete die Migration aus Afrika als Frage an das europäische Gewissen. Die europäische Politik ist verantwortlich für das alltägliche Drama, welches sich zwischen Afrika und Europa und an den EU Außengrenzen generell abspielt. Damit ist nicht nur die koloniale Eroberung Afrikas und wirtschaftliche Ausbeutung gemeint, sondern auch die konkrete Flüchtlingspolitik, die von der EU betrieben wird. Es ist auf Grund der Visa-Bestimmungen für Flüchtlinge praktisch nicht möglich, legal in die EU einzureisen um einen Asylantrag zu stellen. Die illegale Einreise ist aber gefährlich und oft teuer. Viele Flüchtlinge müssen in Nordafrika erst jahrelang unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten, um später Schlepper bezahlen zu können, die sie in Seelenverkäufern über das Mittelmeer fahren oder in Schlauchboote setzen. Diese Schlepper, denen die Innenminister schon mehrfach den Kampf angesagt haben, sind in Wirklichkeit ebenfalls das Produkt ihrer eigenen Politik. Auch die Gefahren, die bei einer solchen Überfahrt entstehen, werden durch diese Politik größer. Hohe Strafen für „Schlepper“ führen dazu, dass oft gar niemand mit Navigationskenntnissen an Bord ist, patrouillierende Militärboote mit Wärmebildkameras und Radar zwingen die Flüchtlinge auf kleine Schiffe und Schlauchboote. Das von Pisanu im letzten Jahr durchgesetzte Gesetz, wonach Schiffe, die an Schleusungen beteiligt waren, verschrottet werden, zwingt die Schlepper dazu, auf wahre Schrottkähne zurückzugreifen und steigert damit direkt den Anteil der Migranten, die bei der Überfahrt umkommen.

Seit der spektakulären Rettungsaktion der Cap Anamur ist das Sterben an den EU-Außengrenzen und speziell im Mittelmeer ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Dies ist das eigentliche Problem von Schily und seinen Kollegen. Deshalb der Vorschlag, doch schon in Nordafrika Lager zu errichten, in denen Asylanträge gestellt, bearbeitet und abgelehnt werden können. Das schmutzige Geschäft der Abschiebung wäre dann ebenfalls in die nordafrikanischen Staaten verlagert. Dieser Vorschlag wurde in Deutschland kontrovers diskutiert und fand kaum Zustimmung in der Öffentlichkeit. Dies wurde von Schily und Pisanu aber bewusst ignoriert. Die Ergebnisse ihres Treffens haben bisher keine großen Wellen geschlagen, in Deutschland war lediglich der grüne Koalitionspartner etwas mürrisch darüber, vorher nicht informiert gewesen zu sein. Gekleidet in Worthülsen (s.o.) beschlossen sie aber, diese Lager in Nordafrika durchzusetzen. In der Pressemitteilung des BMI heißt es dazu:

Für diesen Personenkreis [Flüchtlinge, die sich auf ihr Asylrecht berufen] muß nach Auffassung der Minister die Schaffung einer europäischen Einrichtung erwogen werden, welche außerhalb der Grenzen Europas Asylgesuche entgegennimmt und prüft. Ferner soll sie für die Aufnahme der Personen, die als Flüchtlinge anerkannt werden, in einem Drittland oder in einem Mitgliedsland der EU auf freiwilliger Basis sorgen.“ (2)

Nach Aussage von EU-Kommissionspräsident Prodi hat sich beispielsweise Libyen bereit erklärt, über die Errichtung von Auffanglagern für afrikanische Flüchtlinge auf seinem Territorium zu diskutieren. Gerade Libyen hat aber die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet, was bedeutet, dass es dort nicht einmal nominell ein Asylrecht gibt. Diese Lager sollen auch keineswegs Tore in die EU werden, sondern Clearing-Stellen, von denen die Flüchtlinge abgeschoben oder vermittelt werden. Wie in der Pressemitteilung deutlich wird, soll eine Aufnahme von Flüchtlingen in die EU nur noch „auf freiwilliger Basis“ stattfinden. Bürgerkriegsflüchtlinge sollen beispielsweise in Nachbarstaaten zurückgeschickt werden. Die Lager in Libyen wären eben kein juristisches Hoheitsgebiet der EU, weshalb verbindliche Asylanträge in die EU von dort aus gar nicht gestellt werden können. Ohnehin wird Libyen zum „sicheren Drittstaat“: wer über einen solchen in die EU einreist, kann dorthin automatisch wieder abgeschoben werden. Die Regelung des „sicheren Drittstaates“ wurde von Deutschland EU-weit durchgesetzt und ist die faktische Aufhebung des Asylrechts. Immer mehr Staaten oder gar einzelne Regionen werden nun als sicher eingestuft, was zugleich bedeutet, dass Migranten aus diesen Staaten und Regionen keine Chance auf Anerkennung als Flüchtlinge haben. Auch der zukünftige EU-Justizkommissar Rocco Buttiglione hat in diesem Zusammenhang bereits klar gemacht, dass er von einem Recht auf Asyl gar nichts mehr hält:

Wir müssen streng sein. Es ist nicht wahr, dass irgendjemand das Recht hat, zu uns zu kommen. Dieses Land gehört vorerst den Europäern und nur die Europäer können bestimmen, wer das Recht hat zu kommen und wer nicht. Wer kommt, ist ein Gast.“ (3)

Diesem klammheimlichen Abschied vom Völkerrecht stehen zugleich Formulierungen gegenüber, die „theoretisch“ eine „freiwillige Aufnahme“ in die EU ermöglichen sollen. Ganz klar, hier geht es um Arbeitsmigration. Nach den Vorstellungen von Schily und Co. sollen pro Saison, je nach Bedarf der EU-Länder, Quoten festgelegt werden, wer wohin immigrieren darf. Die Kriterien, nach denen diese „Glücklichen“ ausgewählt werden, sind dann aber nicht der Fluchthintergrund, sondern Ausbildung und Sprachkenntnisse. Denn die EU braucht Migration, nicht nur, um die zu niedrige Geburtenzahl innerhalb zu kompensieren und einer Überalterung der Gesellschaft entgegenzuwirken, sondern auch um durch Erhöhung des Arbeitskräftepotentials seine Position als Wirtschaftsmacht auszubauen (Lissabon-Strategie). Globale Migration ist eine Tatsache und nicht nur logische Folge eines globalisierten Kapitalismus, sondern auch notwendig für sein Funktionieren. Dennoch stellt sie sich den Regierungschefs der EU als globales Problem dar, das folgerichtig global „gelöst“ werden muss.

Die Lager, die nun in Nordafrika gebaut werden sollen sind lediglich ein anschauliches Beispiel für die Versuche der EU, Migrationsströme weltweit zu kontrollieren. Seit dem Jugoslawienkrieg bemühen sich unter anderem auch Militärs um eine „heimatnahe Unterbringung“ der Kriegsflüchtlinge, indem sie Lager im Nachbarland errichten und ein Weiterziehen verhindern. Kaum ein Entwicklungshilfeprogramm und keine Verhandlung mit EU-Kandidaten oder Anrainern wird geführt, ohne dass die Länder unter Druck gesetzt werden, Migrationsbewegungen in die EU zu unterbinden. Der EU-Rat hat ausdrücklich dazu aufgefordert, „dass in allen künftigen Kooperations- oder Assoziationsabkommen mit gleich welchem Land […], eine Klausel über die gemeinsame Kontrolle der Migrationsströme sowie über die obligatorische Rückübernahme im Falle der illegalen Einwanderung aufgenommen wird“ (4).

Mit millionenschweren Programmen werden nun die Grenzschützer der nordafrikanischen Staaten von der EU mit Militär- und Überwachungstechnologie ausgerüstet. Längst besteht auch eine polizeiliche Zusammenarbeit mit ihnen, nicht zuletzt um zu kontrollieren, ob diese sich tatsächlich um die Abschottung ihrer Außengrenzen kümmern. Der tunesische Grenzschutzbeamte hat nämlich kein eigenes Interesse, seine Landsmänner und -frauen von einem (besseren?) Leben in der EU abzuhalten. So ist es durch polizeiliche Zusammenarbeit zwischen Italien und Ägypten nahezu unmöglich geworden, über den Suez-Kanal Richtung EU zu kommen, viele Migranten weichen über die Sahara aus, was wesentlich gefährlicher ist.

Die Minister haben sich darauf verständigt, ihre gemeinsamen Überlegungen in einem Konzeptentwurf zusammenzufassen, der im Oktober beim Treffen G 5 in Florenz erörtert und anschließend als gemeinsamer Vorschlag im Kreise der Justiz- und Innenminister eingebracht werden soll.“ (5) Dass hier Politik bewusst die Meinung der europäischen Zivilgesellschaft ignoriert, ist nur ein weiterer Beleg für das verkommene Demokratieverständnis der Regierenden und des Demokratiedefizites der EU-Institutionen. Wenn die Lager in Nordafrika dann vom EU-Ministerrat beschlossen wurden, stehen sie vermutlich schon. Das Sterben im Mittelmeer wird vielleicht tatsächlich zurückgehen, dafür werden aber um so mehr Leichen im Wüstensand der Sahara als stumme Zeugen für das Gewissen Europas verwesen.

maria

(1) Pressemitteilung BMI zum Treffen von Schily mit Pisanu am 12. August 2004 in Lucca/Toscana.
(2) ebd.
(3) Rocco Buttiglione im Interview mit Deutschlandfunk (16.8.2004)
(4) Paolo Cuttitta: „Das diskrete Sterben“ in Frankfurter Rundschau vom 14.08.2004
(5) Pressemitteilung BMI

Nachbarn

Gesellschaft für eine lustigere Gegenwart

Ich traf mich mit den drei jungen Männern von der „Gesellschaft für eine lustigere Gegenwart“ im Freisitz vom Conne Island. Hinter uns wurde geskatet, nebenan Sportzigaretten geraucht. Nur hatte ich leider vergessen, mir selbst was zu trinken mitzunehmen und musste entsprechend tief in die Tasche greifen.

?: Ihr wart zuvor im Bündnis gegen den Krieg aktiv und habt nun euren Schwerpunkt auf Überwachung und Repression verlagert. Wie kam es dazu und was für einen Zusammenhang seht ihr zwischen diesen Themen?

A: Es gibt da eigentlich mehrere Linien, die uns dazu gebracht haben. Eine davon war das Dilemma des Bündnis gegen den Krieg, sich gegen Politiken zu wenden, die nicht im Einflussgebiet sind, sprich wenn man was gegen einen Krieg machen will, der in erster Linie von den USA und dem Irak geführt wird, dann hat man natürlich wenige Angriffsmöglichkeiten von Leipzig aus. Daraus sind Überlegungen entstanden, sich vor Ort „Sparring-Partners“ also Ansprechpartner für seine politischen Forderungen zu suchen. Zum anderen ging es auch darum zu zeigen, dass Gewalt und Militarisierung nicht nur Probleme der US-amerikanischen Außenpolitik sind, sondern auch im Alltag greifen. Und Leipzig ist bekannt für seine repressive Stadtpolitik durch das Pilotprojekt der Videoüberwachung. Deshalb wollten wir dort ansetzen. Aber wir beschäftigen uns aber auch noch mit anderen Phänomenen der Militarisierung der Gesellschaft, beispielsweise haben Mitstreiter des Bündnisses gegen Krieg zur 13. Panzerdivision recherchiert, wo in Leipzig, vor Ort, Auslandseinsätze vorbereitet werden.

B: Wir haben damals im Bündnis überlegt, auf welchen verschiedenen Ebenen es wichtig ist, sich mit dem Irak-Krieg oder eben den neuen Weltordnungskriegen auseinander zu setzen und wir haben unseren Schwerpunkt auf die spezifischen Veränderungen der Weltpolitik nach dem 11. September gesetzt und dazu gehört eben auch, dass dieses Datum eine Markierung für eine Welle von anti-freiheitlichen Gesetzen, Verschärfungen und Repression darstellt. Da besteht ein direkter Zusammenhang zwischen diesen Kriegen und der Verschärfung der Gesetzgebung zur inneren Sicherheit. Aber natürlich hat das auch mit persönlichem Interesse am Thema Überwachung zu tun.

?: Ist Kameraüberwachung eine Form von Gewalt?

A: Jein. Kameraüberwachung soll soziale Probleme nicht lösen, sondern unterdrücken und verdrängen. Das würde ich schon als Form von Gewalt bezeichnen, wenn auch nicht in erster Linie als „schmerzliche“ Gewalt…

B: Das kann schon schmerzlich sein, im Winter frieren zu müssen, wenn man sich sonst im Bahnhof aufgewärmt hat. Aber es ist schon eine andere Gewalt als beispielsweise Repression gegen Globalisierungskritiker.

C: Es ist auf jeden Fall strukturelle Gewalt und diese wird durch Kameraüberwachung insgesamt gefestigt.

A: Jedenfalls ist es eine repressive Ordnungsmaßnahme, die zeigt, wie eine Gesellschaft ihre BürgerInnen behandelt und ordnet.

?: Wollt ihr euch weiterhin auf Videoüberwachung konzentrieren?

B: Das war ein Einstieg, der in Leipzig Sinn macht wegen der Pionierrolle, die hier polizeilicher Videoüberwachung einnimmt. Außerdem sind das noch sichtbare, – nicht wirklich offene – aber sichtbare Veränderungen, die stattfinden. Deshalb haben wir damit angefangen und diesen Videoüberwachungs-Stadtplan erstellt. Jetzt geht es uns aber darum, dieses Phänomen in die Gesamtheit der Überwachungstechnologien und -praktiken einzubetten.

A: Videoüberwachung fällt den Leuten noch auf und sie sind sensibilisierbar, während Fragen der Rasterfahndung und der biometrischen Erfassung noch ziemlich unbekannt sind. Es ist viel schwieriger, diese abstrakten Phänomene zu vermitteln, und schließlich mit seiner Kritik gehört zu werden. Insofern war Videoüberwachung ein guter Aufhänger für eine Kritik an der Überwachungsgesellschaft.

B: Ich würde nicht den Begriff „Überwachungsgesellschaft“ verwenden, ich bin immer skeptisch, wenn irgendwelche „Gesellschaften“ ausgerufen werden. Überwachung ist eine Art, wie soziale Probleme und Krisen gedeckelt werden, aber sie ist nicht der Kern des Ganzen.

A: Jein. Ein weiteres Problem ist immerhin, dass ständig neue Technologien entstehen, wo noch keine Diskussion geführt wird, inwieweit diese einen Eingriff in das, was wir als Persönlichkeitsrechte wahrnehmen, mit sich bringen. Diese Technologien werden unser Leben und unser Verständnis von Privatheit auf jeden Fall verändern.

?: Womit wollt ihr dieses Thema Verbindung bringen?

A: Wir werden versuchen sichtbar zu machen, was in der Ordnung des Stadtraumes sonst noch wirkt, also Kontrollen von Polizei, privaten Sicherheitsdiensten, Bahnschutz und Ordnungsamt. Über Leipzig hinaus sind die neuen Pass- und Visabestimmungen von Bedeutung

B: Ich würde sagen, es gibt eine globale Entwicklung durch neue Bedrohungsszenarien, politische Konzepte und technische Möglichkeiten, die sich lokal aber dennoch unterschiedlich auswirken. Man muss die Rahmenbedingungen im Auge behalten aber trotzdem an konkreten Punkten ansetzen, wo man Widerstandsperspektiven hat.

?: Angesetzt habt ihr beispielsweise mit diesem Stadtrundgang zur Videoüberwachung. Was war da eure Intention und wie bewertet ihr ihn im Nachhinein?

B: Wir wollten verschiedene Mechanismen der Überwachung hautnah erlebbar machen, wie man gefilmt wird, überwacht wird und Datenspuren hinterlässt, Potentiale für Ausgrenzung und Repression aufzuzeigen aufzeigen. Da kann man auch legalistisch argumentieren, dass in die Grundrechte eingegriffen wird.

A: Diese Potentiale zur rassistischen und sozialen Ausgrenzung werden im Moment zwar wenig wahrgenommen, können aber in Zeiten ökonomischer und sonstiger Krisen schnell ausgeschöpft werden.

B: Zur Einschätzung: Ich bin im Großen und Ganzen zufrieden, weil es eine Menge positiver Reaktionen gab und erstaunlich viel Medienpräsenz. Das merkt man an diesem Interview, aber auch im ND, der jungen Welt und der LVZ kamen Berichte, wobei wir bei der LVZ gar nicht zufrieden damit sind, was sie geschrieben haben. Aber wir haben es geschafft wahrgenommen zu werden und auch den vielen Lesern der LVZ klarzumachen: „Wir finden das total Scheiße, was da läuft“, das ist schon mal etwas. Wo ich gespalten bin, ist die Tatsache, dass wir bei vielen, die nicht von vornherein kritisch eingestellt waren, es nicht geschafft haben zu überzeugen. Da kam dann immer wieder das Argument: „Aber ich hab doch nichts zu verbergen, dann kann mir das doch egal sein.“ Da ist so ein Grundvertrauen, dass die gesammelten Daten schon nicht gegen einen verwendet werden.

A: Es ist auch viel erwartet, alle in zwei Stunden zu überzeugen. Aber die Stimme der Kritik wurde wahrgenommen und das kann auch einen Prozess des Nachdenkens in Gang bringen. Es lief jedenfalls besser als unsere Veranstaltungen im Vortrags-Format, wo kaum jemand kam. Diese Form scheint mir ein bisschen eingeschlafen zu sein. Es war gut, mal wieder die Kritik in die Stadt zu tragen.

C: Die Vorankündigungen in der LVZ und so waren ja auch offen gehalten, es war nicht klar, dass wir dagegen sind. Es war ein Stadtrundgang mit Information und dadurch konnten wir auch über die Szene hinaus Leute erreichen.

?: Ich habe mich gewundert, dass ihr euch eher positiv auf den Datenschutzbeauftragten bezogen habt, so mit: „Diese Polizeikamera ist nicht genehmigt, wir werfen hier jetzt einen Brief an den Datenschutzbeauftragten ein, und der bringt das dann in Ordnung“.

B: Nie!

A: Ich dementiere. Ich denke, dass der Datenschutz in Deutschland den Weg bereitet hat für Videoüberwachung, eben durch dieses Pilotprojekt, das der damalige, von uns nicht geliebte, sächsische Datenschutzbeauftragte Thomas Gießen genehmigt hat. Er hat später für einen Datenschützer noch eine seltsame Berühmtheit erlangt, als er nach dem Kofferfund im Dresdener Bahnhof mehr Videoüberwachung gefordert hat und kritisierte, das die Kameras nicht 24 Stunden am Tag aufzeichnen.

B: Zu dieser Eingabe, die wir gemacht haben: Ich denke, dass es wichtig ist, auf allen möglichen Ebenen, wo man was machen kann, das auch zu tun. Eine prinzipielle, radikale Kritik zu formulieren und trotzdem eine Eingabe an den Datenschutzbeauftragten zu machen ist für mich überhaupt kein Widerspruch. Außerdem dachten wir, das wäre eine Handlung, die von den Medien gut transportiert werden kann und Leuten den Einstieg ins „Kritisch-Sein“ leichter macht.

?: Was habt ihr jetzt an weiteren Aktivitäten vor?

C: Also zunächst ist ein sechsteiliges Radioprojekt angedacht, wo wir mit Interviews und so verschiedene Aspekte dieses Themas näher beleuchten wollen.

B: Wir wollen am Beispiel einer Stadt mit unterschiedlichen Schwerpunkten zeigen, wer ausgegrenzt wird und was für Institutionen dabei welche Rolle spielen. Dann gibt es noch ein zweites Konzept, ein Workshop oder eine Podiumsdiskussion, die sich eher auf einer theoretischen Ebene mit den gegenwärtigen Entwicklungen auseinandersetzt. Was gibt es für neue Techniken, was für Anlässe und Vorwände für Repression auch gegen Linke und Globalisierungskritiker. Es soll um die Rahmenbedingungen gehen und um Perspektiven des Widerstandes. Aber beides, Radioprojekt und Workshop klappen nur, wenn sich noch Leute finden die sich beteiligen wollen.

?: Wie kann man euch unterstützen?

B: Man kann natürlich einfach bei uns mitmachen, am besten ist aber, wenn sich jemand für eins unserer Projekte interessiert. Es gibt da ganz konkrete Möglichkeiten: Man kann unsere Kamerakarten aufhängen, man kann für das Radioprojekt recherchieren oder auch selbstverantwortlich oder mit uns zusammen einen Beitrag machen.

A: Wir sind eigentlich für jede Form von Zusammenarbeit offen.

?: Ja, schön. Vielen Dank. Dann stoppen wir mal die Überwachung und ich mach das Tonband aus.

B: Oh, so haben wir das noch gar nicht gesehen…

maria

Kontakt: gflg@gmx.de
www.leipziger-kamera.cjb.net

Interview

Wie sich Deutschland in Europa wiederfindet

Wir schreiben das Jahr 2010. Die Deutsche Mark heißt mittlerweile Euro und ist offizielles Zahlungsmittel in 25 Europäischen Staaten, sowie Leitwährung in der halben Welt. Der Euro hat den Dollar überflügelt, da die Europäische Zentralbank in Frankfurt gute Arbeit geleistet hat. Der EU-Außenminister Joschka Fischer hat soeben mit Zustimmung des Europa-Parlaments eine humanitäre Intervention zur Rohstoffsicherung in irgendeiner Diktatur der südlichen Hemisphäre angeordnet. Polnische Soldaten kämpfen mit deutschen Gewehren und französischen Flugzeugen unter deutschen Offizieren an der Front, eine deutsch-französische Elite-Eingreiftruppe wartet hinter den Grenzen. Auch US-Truppen sind in der Region, halten sich aber zurück. In den vergangenen Jahren kam es in Afrika, dem Nahen Osten und Asien verstärkt zu Spannungen zwischen den USA und der EU. Deutsche Polizisten werden nach dem Sieg wie zuvor in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak für demokratisches Recht und Ordnung sorgen. In Warschau, in der Immanuel-Kant-Straße, ist man darüber nicht so glücklich. Hier wohnte einer der vor drei Tagen gefallenen Soldaten, die man heute beerdigt. Die Ehrenbrigade spielt aus diesem Anlass die europäische Hymne „Freude schöner Götterfunken“. An den EU-Außengrenzen sitzen hunderttausende Flüchtlinge und warten darauf, dass die europäische Grenzschutzagentur sie nach Vorgaben aus Berlin abschiebt oder hereinlässt. Bald ist wieder der 9. Mai, europaweiter Nationalfeiertag, denn am Morgen nach dem Jahrestag der deutschen Kapitulation gab sich die EU eine Verfassung. Der Philosoph Habermas lebt immer noch und ist zufrieden mit sich.

Zurück zur Gegenwart: Berauscht von den europäischen Demonstrationen gegen den Irak-Krieg am 15. Februar 2003 ergriff Habermas mit seinem französischen Kollegen Jacques Derrida eine Initiative, die darin mündete, dass europäische Intellektuelle und der US-Amerikaner Richard Rorty am 31. Mai 2003 in verschiedenen wichtigen europäischen Zeitungen Artikel veröffentlichten, die dafür warben „Europa [müsse] sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren“. Habermas und Derrida schreiben in ihrem Aufruf „Unsere Erneuerung nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas“ in der FAZ, Kerneuropa müsse „in einem ´Europa der zwei Geschwindigkeiten´ mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anfang machen“. Denn in der EU erkennen Habermas und Co. Rechtsstaaten in einem Staatenbund vereinigt, wie ihn Kant als Voraussetzung „zum ewigen Frieden“ sah. Von besonderer Qualität sei dafür auch die europäische Identität, so die Argumentation, die aus ihren andauernden zwischenstaatlichen Kriegen und letztlich dem „Dritten Reich“ gelernt hätte, Konflikte friedlich durch Kooperation und internationales Recht auszutragen.

Damit werden die deutsche Mega-Aggression und der Holocaust geradezu zu konstituierenden Momenten europäischer Identität und fast möchte man herauslesen, die USA sollten auch mal derart auf die Schnauze fallen wie damals Deutschland, damit sie lernen, sich Länder ohne Krieg einzuverleiben. Seit damit durch ehemalige linke Intellektuelle den Deutschen als Kerneuropäern gegen jede reale Macht- und Militärpolitik ein friedliebender Charakter attestiert wurde und es geradezu als historische Mission formuliert wurde, diesen Charakter und die eigene Kultur („Christentum und Kapitalismus, Naturwissenschaft und Technik, römisches Recht und Code Napoleon, die bürgerlich-urbane Lebensform, Demokratie und Menschenrechte, die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft“) als Grundlage in einer neuen Weltordnung zu exportieren, zelebriert sich Deutschland hemmungslos selbst. In der ZDF-Show „Unsere Besten“ wird Konrad Adenauer zum größten Deutschen gekürt. Im Kino können wir die Heldentaten von Luther, der deutschen Fußballnationalmannschaft („Das Wunder von Bern“) und deutschen Vorzeigearbeitern („Das Wunder von Lengede“) bewundern. Der Spiegel begründet dies mit einem „Hunger nach Geschichte jenseits der Nazi-Zeit“. Den verspürt offensichtlich auch die Pop- Sängerin Mia, die mit ihrem Liebeslied an Schwarz-Rot-Gold „Was es ist“, „neues deutsches Land“ betreten will und für Deutschland, ihre Liebe, was riskiert: „Fragt man mich jetzt, woher ich komme, tu ich mir nicht mehr selber leid“. Die Berliner Morgenpost jubelt, Deutschland würde endlich begreifen „dass seine Geschichte große Erzählungen bietet, auch solche, deren Kraft über den Bruch von 1933/45 hinweg trägt“. Die Deutschen in zerbombten Städten und die Vertriebenen stellen sich derweil skrupellos als Opfer dar. Aus dem Trümmerhaufen der Dresdner Frauenkirche als Mahnmal gegen Krieg und die, die ihn angefangen haben, wurde das alte Monument wieder aufgebaut. Nun als Mahnmal gegen deutschen Kleinmut und scheinbarer Beweis dafür, dass dunkle Kapitel der Geschichte auch irgendwann endgültig vorbei sind – oder gar positive Kraft entfalten können.

So eine Scheiße ist natürlich gnadenlos herbeihalluziniert. Nur weil Deutschland nun als stärkster Faktor im Einvernehmen mit Frankreich die EU zusammenschweißt, darf man noch lange nicht argumentieren, es sei doch alles gut ausgegangen und man könne wieder stolz auf sich sein. Wichtiger ist es, auf wahrlich besorgniserregende Kontinuitäten hinzuweisen: Deutschland ist keine Friedensmacht, seit der „Wiedervereinigung“ kämpft es mit, wo es nur kann, in Jugoslawien, Afghanistan, Kongo, selbst der Irak-Krieg wurde logistisch unterstützt. Und Deutschland treibt die Militarisierung der EU-Außenpolitik voran, um zukünftig auch Soldaten aus anderen EU-Mitgliedsstaaten für die eigenen Großmachtinteressen in den Kampf zu schicken. Als Begründung für diese Schlachten müssen eben die europäischen Werte herhalten: Demokratie, Menschenrechte und Säkularisierung. Die deutsche Regierung hat außerdem durchgesetzt, dass ihre Migrationspolitik, die restriktivste in ganz Europa, nun EU-weit gilt. Vor dem Hintergrund eben dieser Kontinuität ist es auch historisch verständlich, dass sich beispielsweise Warschau gegen die Diktate aus Berlin sträubt und den Brüsseler Verfassungsgipfel scheitern ließ. Denn deutsche EU-Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

maria

EU.ropa

Non! Nee! Nö!

Zur EU-Verfassung

Schadenfreude über den gebückten Kanzler.

Nachrichten machen wieder Spaß. Anstatt von der politischen Klasse täglich zu­frie­den und selbstgefällig irgend­welche Hiobs­­­­bot­schaf­ten verkün­det zu be­kom­­men, kann mensch sich gegen­wär­tig ihrer ins­gesamt be­­drück­ten Stimmung erfreuen. Denn zwei ihrer größten Projekte schei­nen in den letz­ten Wo­chen zu schei­­tern. Wäh­rend auf na­tio­naler Ebe­ne Rot-Grün mit ihr­em Mo­derni­sie­rungs­­­kon­­zept „Agenda 2010“ in NRW eine schwere Niederlage er­litt und seitdem krampf­haft nach Mög­lich­keiten der Selbst­­auflösung sucht, ist auf euro­päischer Ebene der bisher glatte Durch­­marsch des Pro­jekts „EU-Ver­fas­sung“ durch das französische „Non!“ erst­mal gebremst worden, letztlich gescheitert, in­­so­fern die Ver­fassung der letzte Versuch war, die Brüssler Bürokratie irgendwie an ei­ne eu­ropäische Bevölkerung rück­zu­bin­den und zu legitimieren. Die langen Ge­sich­ter Schrö­ders und des Kommissions­prä­si­denten Barroso ähneln sich und Rat­lo­sig­keit herrscht bei den europäischen Eli­ten, die sich nur noch ungern vor die Ka­me­­ras wa­gen, um halbherzige Durchhalte­pa­­­rolen aus­zugeben. Einigen Politikern wur­­de hier durch deutsche Landtags­wah­len bzw. ein französisches Referendum ihr per­­sönliches Lebenswerk versaut, sie sind zu hoch geflogen und auf die Schnauze ge­­fallen.

Großmachtpläne.

Beide Projekte, Rot-Grün und die EU-Ver­­fassung, ähneln sich und auch ihr Schei­­tern. Die EU-Verfassung war der Ver­such, ei­nen militärischen, ökonomischen und poli­tischen Großraum zu schaffen und zu zen­tra­lisieren, damit die Herrschaft und de­ren Effizienz zu intensivieren, um im glo­balen Maßstab nicht nur mithalten, son­­­­dern auch mitgestalten zu können, also das, was oft die „neoliberale Globalisie­rung“ genannt wird, nach eigenen Vor­stellung­en und militärisch flankiert welt­weit durch­­­­zu­setzen. Rot-Grün hat nicht nur Deut­­­schland wieder zum militärischen Ak­­­­teur wer­den lassen, son­dern kämpfte ver­­­­biss­en, um eine welt­weite und eu­­­ro­päi­sche Spit­­zen­po­si­tion Deut­schlands, nicht was Lebens­qualität son­dern was po­­li­­tische und wir­t­­schaf­­t­liche Macht, al­­so letzt­­­­­­­lich die Macht deut­­­scher po­li­­ti­­scher E­li­­­­ten an­­­­geht. Deut­­­­sch­­­land als Groß­macht war aller­­­­dings nur mög­lich, im Rah­men ei­­ner Welt­macht EU, de­ren Ent­wicklung von der Bun­des­re­gierung vor­angetrieben wur­de. Auf wirt­schaft­licher Ebe­ne sind hier beispielsweise der Wachs­tums- und Sta­bilitätspakt im Rah­men der Währungs­union und die Lissabon-Stra­tegie1 zu nen­nen, die von der deut­­schen Politik in der EU durchgesetzt wur­den und innen­poli­tisch in allen EU-Staaten einen Zwang zu So­zialabbau dar­stellen, dem gerne weit­geh­end entsprochen wur­de. Ähnliches gilt für die Mili­tari­sie­rung, die unter dem La­bel GASP (Gemein­same Außen- und Sicherheitspolitik) vor all­em von Deutsch­land und Frankreich ini­tiiert und voran­ge­trieben wurde. Im Ver­fa­s­sungs­­vertrag der EU ist ausdrücklich ei­ne Auf­rüstungs­verpflichtung2 ent­hal­ten und die Grün­dung einer europäi­schen Rüstungs­­agen­tur vorgesehen. Durch die Gründung des EU-weiten Rüstungs­kon­sortiums EADS und die gemeinsame Be­stellung von 180 Großraumtransportern Air­bus A400-M wurden die industriellen und logistischen Voraussetzungen für welt­weite ro­buste Militäreinsätze geschaffen. Sei­ne rot-grüne nationale Entsprechung fand dies in der Beteiligung der Bun­deswehr an zahl­reichen Einsätzen seit 19993 und deren Um­strukturierung zur In­ter­ven­tions­streit­macht, verschleiernd als „Stand­ort­schlie­ßung“ diskutiert. Flankiert wur­den diese, im Allge­meinen un­popu­lären, Entschei­dungen von nationa­listischer Rhe­torik, dem Gefasel von Sachzwängen der Globa­li­sierung (die von den gleichen Ak­teuren er­zeugt und vertraglich fest­ge­hal­ten wur­den) und auf nationaler wie euro­pä­ischer Ebe­ne mit verschärfter Repression und Sicher­heitsgesetzen. (Feierabend! #16 „Lust auf Ver­fassung“)

Ein Grund zum Feiern?

Der Linken in Europa ist es bislang nicht ge­­lungen, diesen Großmachtplänen effek­ti­ven Widerstand entgegenzusetzen, wäh­rend die extremen Nationalisten in Deut­schland, den Niederlanden, Italien, Frank­reich und Spanien vom Schreckgespenst der Globalisierung und der Tatsache, dass sich der Staat zunehmend unbeliebt mach­te, profitieren konnten und als Rechts­außen, von dem sich die Regierungen als Mit­te abgrenzen konnten, von diesen oft un­ter­­stützt wurden4. Für die Herr­schen­den Euro­pas eine gute Ausgangsposition, um Re­formen in ihrem Sinne durch­zu­setzen, Aus­beutung und Unterdrückung zu in­ten­si­vieren und sich so die Ressourcen an­­zu­ei­gnen, um weltweit führend zu wer­den. Wi­derstand ließ lange auf sich warten: Die Stu­dentenproteste der letzten Jahre zün­­d­e­ten nicht, Teile der Frie­dens­be­we­gung lie­ßen sich von Zivil­machts-Rhetorik ein­­lullen, die Montags­demons­tra­tionen eb­b­­ten ab und wurden später ignoriert. Nicht durch wütende Massen­pro­teste, son­dern durch nüchterne Wahlen wurde nun den Re­gierenden ein Strich durch die Rech­­nung gemacht.

Eine Analyse fällt schwer: In Nordrhein-West­­falen muss aus bürgerlicher Sicht von ei­­nem Rechtsruck gesprochen werden, denn von den etablierteren Parteien konn­ten nur CDU und NPD Stimmen hin­zu­­ge­winnen, während v. a. SPD, FDP und Grüne deutlich Stimmen einbüßten. Deut­­lich mehr Menschen als im Mai 2000 wähl­­ten allerdings unbedeutende Kleinst-Par­­teien oder ungültig. Beim Referendum in Frankreich stellt sich die Sache noch kom­­plizierter dar. Einerseits deutet die ho­he Beteiligung (knapp 70%) und die zu­letzt intensive öffentliche Debatte darauf hin, dass die Wähler gute Gründe für ihre Ent­­scheidung hatten. Die europaweiten Pro­­tagonisten des Verfassungsvertrages und die parlamentarische Opposition in Frank­­reich versuchten die gelaufene De­batte über das Machwerk zu negieren und das Re­fe­rendum auf ein Votum gegen Chi­rac zu re­duzieren. Die politische Mitte ver­sucht, v. a. nationalistische, also die Ar­gu­men­te der Rechten, und kleingeistigen Kon­­ser­vatismus für die Ablehnung der Ver­fassung ver­antwortlich zu machen, währ­end die fran­zösischen „Sozialisten“ und europaweit die Linke die Ent­schei­dung für sich ver­ein­­nahmen wollen: Die Ver­fassung sei ab­ge­­lehnt worden, weil sie neo­liberal ist.

Bei­des, nationalistische und glo­ba­li­sie­rungskritische Beweggründe, passen je­doch zusammen, v. a. in Frankreich, wo sich auch die kämpferische Arbeiter­be­we­gung oft national, z. B. hinsichtlich ihrer Streik­­kultur, als etwas Besonderes begreift und reflexartig widerständig auf Beeinflus­s­ungs­versuche aus Deutschland und den USA reagiert.

Wahlen verändern nichts, sonst werden sie verboten

Letztendlich hat das „Volk“, also eine bü­ro­kratisch abgegrenzte, vielfältige Menge von mehre­ren Millionen Menschen ab­ge­stim­mt. Die Ergebnisse solcher Verfahren sind zwangs­läufig absurd und lassen nie ein­­deutige logische Schlüsse auf die Be­weg­­grün­de der Einzelnen zu. Dennoch zeigt sich selbst bei solch minimalen demo­kra­­tischen Elementen, dass die politische Klas­­se sich erklären muss und nicht zu weit ab­­­heben kann, da sie dann doch, alle vier bis sechs Jahre, wieder zwischenlanden muss und dann evtl. ausgewechselt wird. Das haben die Regierenden in den letzten Jah­­ren offensichtlich vergessen und so tat­säch­lich viel Vertrauen in das politische Sys­­tem verspielt. Dieses Vertrauen mag nun kurz­fristig wiederhergestellt sein, denn die Re­­gierenden erhielten ja nun ihre Quit­tung. Und doch ist hier nicht nur die CDU ge­wählt worden, sondern in Frank­reich wie in NRW ist auch ein „Non!“ ge­wählt wor­den. Die Krise ist nicht vorbei, denn in den westeuropäischen Staaten kann es sich ge­­genwärtig kaum eine Re­gierung realis­tisch ausmalen, wieder ge­wählt zu werden, außer aus reiner Alter­na­tiv­losigkeit heraus, wie zuvor schon in Groß­britannien Blair wie­der gewählt wur­de, in Frankreich Chi­rac gegen Le Pen ein­deutig das kleinere Übel war und Schrö­der eigentlich auch nur mit „Weg mit Kohl“- und „Stoppt Stoi­ber“-Kampag­nen erfolgreich sein konnte. Auch die, die in Deutschland im Herbst CDU wählen, wis­sen, dass das Ergebnis wie­der nur eine All­parteienregierung sein wird, die in der fol­genden Wahl erneut abg­ewählt, d.h. per­sonell umbesetzt wird, und damit kei­ne­swegs eine Wende zum Gu­ten erreicht wird, sondern nur der illu­sorischen Hoff­nung auf ein kleineres Übel ent­sprochen wird. Dieser Teufelskreis kann sich noch ewig hinziehen, solange die Men­schen erst auf die Frage der Regierenden, auf ver­fas­s­ungsmäßig obligatorische Wah­len, war­ten, um ihr „Non!“ zu artikulieren. Doch die gegenwärtige und sich weiter ver­schär­fende Vertrauenskrise ist ein guter An­lass, das „Non!“ zunehmend auf die Straße und in den Alltag zu tragen. Hoffnungs­volle Vor­bilder gibt es derzeit: In Mittel- und La­­teinamerika wurden in den letzten Mo­n­aten nicht nur reihenweise Re­gierungen ge­stürzt und durch Links-Par­teien ersetzt. Nein, auch diesen Linkspar­teien wird kei­ne Ruhe gelassen, ihre all­täg­lichen Ent­scheidungen werden von Massen­protesten be­gleitet und es ist den Re­­gierenden nicht mehr möglich, eine Außen- und Wirt­schaftspolitik zu betrei­ben, die ka­pi­ta­lis­tischen, „westlichen“ Stan­dards genügt. In Bolivien und Ve­nezuela wur­den die Steu­ern für Auslän­dische För­der­un­ter­neh­men von Erdöl und Erd­gas auf Druck der Be­völkerung so weit er­höht, dass ein Ein­grei­fen der USA droht, den­noch hält der Druck an und in Bo­li­vien musste Mesa An­fang Juni erneut seinen Rück­tritt er­klären. Der brasi­lia­nische Prä­sident „Lula“ wird durch Massen­proteste der Land­losen­be­wegung zur Fortsetzung sei­ner Umver­tei­lungs­­po­li­tik gezwungen, die bei den Pro­tagonisten des Neo­li­beralismus und in Dip­lomaten­kreisen Kopf­schütteln bis blan­kes Entset­zen her­vorrufen. Die Bevöl­kerungen schei­nen im wahrsten Sinne des Wor­tes „unregierbar“ zu werden. Wenn sol­che Ver­hältnisse nicht auch hier Schule machen, und die Men­schen sich darauf be­schränken, ihrem Un­mut in Wahlen Aus­druck zu verleihen, wird deren Bedeutung von der politischen Klas­se zunehmend ein­ge­schränkt werden (So wie es auch durch die Verfassung ge­plant war, die dem EU- Par­lament, einer ohn­ehin nicht re­präsen­ta­tiven, aber im­merhin gewählten Insti­tu­tion kaum Rechte ein­räumte). Das zu­neh­mende Misstrauen ge­­genüber dem li­be­ral-demokratischen Sys­tem kann dann von nationalistischen Kräften genutzt wer­den und sich in wachsenden Stimman­tei­len rechtsradikaler Par­teien, weiterem De­mo­kratieabbau und ei­ner zunehmend faschistoiden Ge­sellschaft auswirken.

Das Nein geht auf die Straße, das Ja sieht auf Zusehen hin zu.

maria

(1) „Beim Lissaboner Früh­jahrsgipfel der Europäischen Union Jahr am 23. und 24. März 2000 haben die Staats- und Regierungschefs eine wirt­schafts- und sozial­poli­ti­sche Agenda be­schlossen. Ziel dieser so genannten Lissa­­bon-Strategie ist es, die EU bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dy­na­mischsten wis­sens­basierten Wirt­schafts­­raum der Welt zu machen.“ (www.bundes­re­gierung.de)
(2) „Die Mit­gliedsstaaten verpflichten sich, ihre mili­tä­ri­schen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Artikel I-40, Abs. 3)
(3) KFOR (Kosovo, seit 1999), INTERFET (Ost-Timor, 1999), Task Force Fox (Mazedonien, 2001), Enduring Free­dom (versch. Orte, seit 2001), ISAF (Afghanistan, seit 2002), Artemis (Demokratische Republik Kongo, 2003), Concordia (Mazedonien, 2003), UNMIS (Sudan, 2005)
(4) Hinsichtlich Deut­schlands sei dabei an den durch das Innen­minis­terium vereitelten Verbotsantrag ge­gen die NPD erinnert, in dessen Verlauf sich herausstellte, dass ein Drittel der NPD-Ka­der auf der Ge­halts­liste des Ver­fassungs­schutz/Innen­minist­eriums steht.

EURO.pa

Scheiternde Staaten

Nach dem Ende des Ost-West-Kon­fliktes ist das „Ende der Geschichte“ (Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man, 1992), der kapi­ta­lis­ti­sche Welt­friede, ausgeblieben. Im Ge­genteil: mi­li­ta­­risierte Gewalt und Kriege nehmen zu, die Rüs­tungs­­aus­ga­ben welt­­weit steigen wie­­der und im­mer mehr vor­­mals zivile Be­reiche wer­­den mit dem mili­tä­rischen Sek­tor ver­knüpft und für des­sen Zie­le miss­­brau­cht. Dies äu­ßert sich nicht in ers­ter Linie im an­ste­hen­den Krieg ge­gen den Iran und Be­satz­ung und Wi­­­der­stand in Irak und Af­­­gha­ni­stan, son­dern in der mittlerweile bei­­­­nahe alltäglichen Entsendung von „Mi­­­litär­beratern“, in Polizeimissionen in der sog. „Dritten Welt“, in „Friedens­mis­sionen“, Katas­trophenhilfe und EU-fi­nan­zierten Mili­täraktionen der Afri­ka­nischen Union in Afrika. (Karte S. 12/13)

Kampf um Ideologien

Der Kampf der Ideologien war also nicht die dominante Triebfeder krieger­ischer Außenpolitik. Viele sehen im Kapitalis­mus selbst eine Tendenz bzw. Notwendig­keit zum Imperialismus, da sich nur durch Er­schließung und Unter­werfung neuer Gebiete die Widersprüche des Kapi­ta­lis­mus kompensieren und sich die Wider­sprüche gegen den Kapitalismus nur durch einen äußeren Feind bezwingen ließen. Die dauerhafte Absicherung des sog. sozialen Friedens, einer eklatanten Un­gleichheit macht den Aufbau re­pressiver Organe notwendig, die vorder­gründig gegen diesen äußeren Feind ge­richtet sind, der nach Innen integrierend, einigend wirken soll. Diese These scheint von der Gegenwart be­stätigt zu werden. Auch in der Aufteilung der Welt in Staaten und der damit ver­bun­de­nen Exis­tenz mi­li­tärisch-indus­trieller Kom­plexe lässt sich eine ihnen in­ne­­wohnende Kriegs­­­­­gefahr aus­machen. Ein Staat wird sou­verän, indem er die Gewalt mo­no­po­lisiert und eine Ar­mee zu sei­ner Ver­teidigung aufstellt. Er schafft Institutionen des Krieges, die er auch nicht auflöst, wenn seine terri­toriale In­te­grität nicht mehr gefährdet ist, also ein An­griff feindlicher Truppen aus­ge­schlos­sen ist. Genau dies ist gegenwärtig in Deutsch­land der Fall, wo eine faktische Aufrüstung unter dem Begriff „Um­struk­turierung“ stattfindet, indem eine schwer­fällige Verteidigungsarmee ohne Fähigkei­ten zur Führung von An­griffs­kriegen zu einer hoch spezialisierten, flexiblen Inter­ventionsarmee umgebaut wird.

Neue Gefahren?

Wie werden Aufrechterhaltung und Ausbau gewaltträchtiger, anti-demo­kratischer Strukturen mit ihren immensen Kosten begründet? Die Ver­teidi­gungs­po­li­tischen Richtlinien (VPR) Deutschlands und die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) der EU machen wie auch die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) der USA neue Gefahren in den sog. „schei­ternden Staaten“ aus, die als Terroris­mus, organisiertes Verbrechen, Ver­brei­tung von Klein- und Massen­ver­nichtungs­waffen und Migration (sic!) auch die post-industriellen, vermeintlich gefestigten Staaten bedrohen würden. Deshalb gelte es, in diesen Staaten und ganzen Regionen zu intervenieren und eine neue Ordnung auf­zu­bauen. Bis­her wurden sol­che Am­bi­tionen durch das Völ­ker­recht be­schränkt. Die Ver­einten Na­tio­nen (UN) wur­den nach dem 2. Welt­krieg ge­grün­det, einer­seits sicherlich um die Staaten als mäch­tigste Akteure der Welt­politik zu eta­blieren, andererseits aber auch um eine Vermittlungs- und Kontrollinstanz zu schaf­fen, um weitere Kriege im Welt­maß­stab zu verhindern. Das den UN und dem Völker­recht zugrunde lie­gen­de Sou­verä­ni­täts­prinzip erlaubte es nur in zwei Fällen, andere Staaten anzugreifen: Zur Selbstver­teidi­gung, oder wenn von diesen eine Gefähr­dung des Weltfriedens ausginge bzw. dies zu­mindest vom Sicherheitsrat als Organi­sation der mächtigsten (Atom-)Staaten so interpretiert wurde.

In den letzten Jahren fanden dennoch völkerrechtswidrige Angriffskriege auf Jugoslawien und Irak statt, an denen sich bspw. USA, Deutsch­land, Frank­reich, Großbritannien … beteiligten. Diese Akteure zeigten offen ihren nachlassenden Respekt vor dem Völkerrecht und stellten die Be­deutung der UN immer mehr in Frage. Um der drohenden Mar­gi­na­li­sierung zu entgehen, kündigte Kofi Annan nun eine Änderung des Völker­rechts an, welche dazu führen wird, dass zukünftig alle Inter­ventionen vom Sicherheitsrat ab­genickt werden und auch sonst als „legitim“ gelten können. Zwi­schen all den Diskussionen um die UN-Reform wird dies eher unbe­merkt, durch die Hintertür gesche­hen. Die Charta der UN wird nicht umformu­liert, sondern per Beschluss mit einfacher Mehr­heit erhält der Begriff Souveränität eine neue Definition, welche besagt, dass ein Staat sie verliert, wenn er in seinem Inneren keine Men­schen­rechte und die Sicherheit der Individuen nicht mehr garantieren kann. Dann obliege es der in­ter­­nationalen Gemeinschaft oder klei­ner­en Gruppen von Staaten, zu intervenieren. Dies wird sicherlich nur geschehen, wenn sich dabei ökono­mische oder strategische Interessen reali­sieren lassen, während vordergründig mit der „Verantwortung zum Schutz“ der Indi­viduen weltweit argumentiert wird.

Souveränität.

Hier geht es jedoch nicht nur um eine perfide neue Legitimationsstrategie für eine neue Runde kolonialer Außenpolitik, sondern auch darum, wie die Welt strukturiert sein soll und welche Rolle Staa­ten dabei spielen. Ihr globaler Ver­bund, die UN, nimmt für sich in An­spruch, zukünftig zu bestimmen, wer souverän ist und wer nicht. Doch in ihren Augen können nur Staaten souverän sein, Individuen niemals. Diese unterliegen lediglich dem Schutz „ihres“ Staates oder der Staatenwelt und begründen ge­gebenenfalls militärische Feldzüge. Das „Scheitern“ eines Staates besteht im Aufbrechen des Gewaltmonopols, das nach dieser Logik zu einem der sog. „Neuen Kriege“ führt. Für die Individuen muss weiterhin Verantwortung über­nommen werden, indem über ihnen von einer fremden Macht ein neuer Staat aufgebaut wird. Die Sicherheit der Bevölkerung wird mit der Souveränität „ihres“ Staates, also der Existenz eines zentralisierten Gewaltapparates gleich­ge­setzt. Basisorganisierte Systeme kollek­tiver Verteidigung werden dabei als Indiz für Souveränitätsverlust interpretiert. Das Individuum darf nicht souverän werden, es bleibt Objekt der Sicherheit, also Ob­jekt von Intervention oder Völ­kermord.

Souveränität bedeutet jedoch auf den Staat bezogen, dass er die Individuen nach seinem Willen organisieren und, etwa für Zwangsdienste, unterwerfen kann, und in einer Vereinbarung zwischen den Staaten, dass er nicht von außen durch Zwang beeinflusst oder angegriffen werden darf. Eine solche Vereinbarung ist aber unter den Individuen notwendig, damit es ihnen möglich wird, ihren Zustand selbst zu bestimmen und zu organisieren, frei zu werden.

Alle gegen Alle?

Nachdem sich der Staat in den letzten Jahrzehnten stark über seine „Wohlfahrts“-Funktion legitimiert hatte, ist dies ein Rückfall in hobbessche (nach Thomas Hobbes) Erklärungsmuster, die davon ausgehen, dass ohne die Monopolisierung der Gewalt in den Händen des Staates automatisch ein Krieg Aller gegen Alle ausbrechen würde. Mit dieser Lüge hat der Staat den Menschen die Souveränität geraubt, und sie begegnet uns bei vielen Diskussionen über den An­ar­chis­mus. Menschliche Unsicherheit re­sul­tiert danach zwangsläufig und allein aus dem Aufbrechen des staat­lichen Gewalt­mono­pols. Andere Ursachen für Elend, wie die massen­haf­te Pro­duk­tion von Kleinwaffen, ein glo­ba­les Konglomerat mili­tärisch-in­dustrieller Komplexe und eine teil­­weise mili­tä­risch und polizeilich durch­­­gesetzte Wirt­schafts­­­ordnung, die auf Kon­kurrenz basiert und damit zwangsläufig massenhaft marginalisierte Menschen pro­du­ziert, werden damit von vornherein aus­ge­­blendet und der gewaltsame Konflikt zum mensch­lichen Urzustand erhoben.

Es ist kein Wunder, dass diese alten wie falschen Begründungen für die Notwen­digkeit des Staates zu diesem Zeitpunkt ei­ne Renaissance erleben, wo seine Mög­lich­keiten, sich über eine soziale Grund­sicherung aller Bürger, über eine Abfeder­ung der Härten des Kapitalismus für die Mit­glieder des Kollektivs zu legitimieren, in der (selbst?-)Auflösung begriffen sind. Es ist ebenso kein Wunder, dass dies mit der verzweifelten Suche nach und Provo­ka­tion von „neuen Bedrohun­gen“, mit Aufrüstung von Militär, Polizei, Geheim­diensten, mit neuen Knästen, Lager­sys­temen für rassistisch eingegrenzt Ausge­grenzte, etwa entlang der EU-Außen­grenzen, sowie öffentlich zelebrierte Fol­terungen wie in Guantanamo und Abu Ghraib einhergehen. Die Regierungen der post-industriellen Staaten sehen die Vor­boten ihres eigenen Scheiterns durch den Ver­lust ihrer wohlfahrtspolitischen Hand­lungs­fähigkeit in den post-kolonia­len Re­gio­nen und reagieren panisch, indem sie sich nicht nur verstärkt über Sicherheit le­gi­timieren sondern auch, indem sie alle ihre Mittel in den Sicher­heitssektor lenken. Kein Wunder: Diese Institutionen or­ganisierter Gewalt werden alles sein, was ihnen bleibt.

maria

Proteste, die gar nicht stattfinden sollten

NATO-Gipfel in Straßburg 2009

30.000 Menschen haben am ersten Aprilwochenende gegen die NATO und die Kriegspolitik ihrer Mitgliedsstaaten demonstriert – oder das zumindest versucht. Dass sich überhaupt so viele auf den Weg machten, hat viele überrascht. Denn die französischen wie die deutschen Behörden ließen nichts unversucht, um die Menschen abzuschrecken, vor Ort gegen den NATO-Gipfel zu protestieren.

Dabei verfolgten sie mehrere Strategien. Einerseits weigerten sie sich standhaft, angemeldete Kundgebungen, Demonstrationen und Infrastruktur (Camps, Infopunkte etc.) zu genehmigen. Die Route der Großdemonstration blieb bis zuletzt unklar und während das einzige genehmigte Camp in Straßburg bereits aufgebaut wurde, gab es schon wieder Anzeichen für ein Verbot. Die Verlautbarungen der Polizei sagten bis zuletzt wenig darüber aus, ob die legitimen und legalen Protestformen überhaupt stattfinden und eingeplant würden. Stattdessen wurden Sicher­heits­konzepte vorgestellt, die darauf hinausliefen „Störer“ fernzuhalten.

Die gesamte Mobilisierung wurde in einen linksradikalen und gewaltbereiten Kontext gerückt und entsprechend würde die Reaktion darin bestehen, die Grenze zu schließen, Autobahnen und Bundesstraßen zu sperren, Busse nicht passieren zu lassen und den Menschen das Verlassen ihrer Häuser und ihrer Wohnorte zu verbieten. Medial wurde so das Szenario eines Ausnahmezustandes verbreitet, dem nur durch ein rigoroses Eingreifen der Polizei gegen die wenigen und angeblich ausschließlich militanten NATO-Gegner in den sonst menschenleeren Innenstädten zu begegnen sei.

Eine antimilitaristische Mobilisierung

Trotzdem erhielt die Mobilisierung in den letzten Wochen einen deutlichen Schub. Anfänglich wurde der NATO-Jubiläumsgipfel in zahlreichen Aufrufen in seiner Bedeutung als Protestereignis mit den jährlichen G8-Gipfeln gleichgesetzt. Das war sicherlich eine Fehleinschätzung, denn die NATO ist nicht so unmittelbar mit Themen der Landwirtschaft, der Klimapolitik, der Nord-Süd-Verhältnisse, der völligen Deregulierung der Finanzmärkte und der Privatisierung öffentlichen Eigentums usw. in Zusammenhang zu bringen, wie der G8-Gipfel. Dass die NATO aber ein wesentliches Instrument einiger G8-Staaten ist, diese Agenda gegen Widerstände durchzusetzen, konnte im Rahmen der Mobilisierung vermittelt werden.

In Straßburg wurde hingegen ganz konkret gegen die NATO demonstriert und damit auch gegen das der NATO zu­grunde liegende Prinzip militärischer Herrschaftsdurchsetzung. Die Proteste gegen andere drängende gesellschaftliche Probleme, wie die Wirtschaftskrise fanden zu Recht andernorts statt, am 28. März in Berlin und Frankfurt und Anfang April in London. Das Thema Krise wirkte dennoch als Katalysator für die Mobilisierung, da sie verdeutlichte, dass Militär nicht nur ein Mittel zur Kriegsführung ist, sondern grundsätzlich in Zusammenhang mit repressiver In­ter­essens­durchsetzung steht. Dieser repressive Charakter des Militarismus zeigt sich daran, wie und wo Militär eingesetzt wird. Etwa bei der asymmetrischen Kriegsführung im Ausland, dem Einsatz von Bundeswehr im Inland (siehe G8 in Heiligendamm) und u.a. der europäischen Migrationspolitik, die mit Zäunen und Lagern durchgesetzt wird. Hinter diesen Entwicklungen liegt eine Vorstellung von Gefahr und Sicherheit, nach der jede Bewegung und jeder Widerspruch gegen das herrschende Sicherheitsverständnis oder die Ordnung zumindest potentiell zum Feind oder gar zum militärischen Gegner erklärt wird. Das wiederum fordert geradezu den spektrenübergreifenden Widerspruch der Menschen heraus, gegen die Polizei, Militär und Stigmatisierung eingesetzt werden. Die Mobilisierung gegen den NATO-Gipfel wurde so eine wirklich antimilitaristische Mobilisierung, die über die klassische Friedensbewegung hinaus weite Teile der Linken erfasste.

Verbindend wirkte auch die Wahrnehmung eines gemeinsamen Kampfes um das Recht, überhaupt protestieren zu können, zumindest in Süddeutschland durch die in Bayern bereits umgesetzte (und schon wieder zurückgenommene) und in Ba­den-Württemberg geplante Novel­lie­rung des Versammlungsrechtes, die von eben diesem Recht nichts mehr übrig lässt und ebenfalls einen spektrenübergrei­fen­den und konfrontativen Widerstand her­vor­­gebracht hat. Der NATO-Gipfel galt in diesem Kon­­text als Vorgeschmack auf eine Zeit ohne Demon­strationsrecht und da­mit auch als Anlass, das Demon­stra­­tions­recht zu verteidigen bzw. durchzusetzen.

Strategie der Spannung

Dass diese umfassende Mobilisierung so gut gelang, lag auch an der Haltung der deutschen und französischen Behörden, die die Proteste per se für illegitim und illegal erklärten und bereits im Vorfeld die Friedensbewegung mit einem brandschatzenden Mob gleichsetzten. Am 2. April, einen Tag nachdem anlässlich des G20-Gipfels zur Finanzkrise in London Banken verwüstet wurden und ein Mann höchstwahrscheinlich unter dem Einfluss von Polizeigewalt verstarb und zwei Tage vor der Großdemonstration gegen die NATO, äußerten sich Vertreter der beiden deutschen Polizeigewerkschaften gegenüber der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. So meinte Konrad Freiberg (Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei): „Wir müssen damit rechnen, dass die Proteste beim Nato-Gipfel deutlich aggressiver werden als in der Vergangenheit“ und dass „reisende Gewalttäter den Protest der Friedensbewegung gezielt für Randale und brutale Übergriffe auf Polizisten missbrauchen könnten“. Diese Ansicht wurde von den Medien aufgegriffen und schnell weiterverbreitet.

Eine stärkere Differenzierung seitens der Be­hörden hätte eher dazu geführt, dass es ge­trennte Mobilisierungen einerseits der Frie­densbewegung zu genehmigten Veranstaltungen sowie der anderen Spektren gegeben hätte. Von vornherein als „Black Block“ behandelt, hatte die Friedensbewegung jedoch nichts mehr zu verlieren.

Der Polizeieinsatz zwei Tage später in Straßburg zeigte überdeutlich, dass die Proteste durch die so herbeigeredeten Randale kontrolliert werden sollten. Die Polizeiführung – über Hubschrauber ständig mit aktuellem Lagebild versorgt und über Funk mit tausenden Einsatzkräften in Kontakt – ist schon wegen dieser organisatorischen Überlegenheit viel eher für den Gesamtverlauf der Demonstration verantwortlich zu machen als die De­mons­tra­tionskoordination. Ihr Einsatz zielte erkennbar weder darauf ab, Randale zu verhindern, eine ordnungsgemäße Demonstration zu ermöglichen oder Schaden von den Gebäuden und Menschen auf der Insel abzuwenden. Stattdessen zielte er darauf ab, die Proteste von der Innenstadt und reicheren Wohngegenden fernzuhalten, Gewalt zu provozieren und diese dann als Anlass zu nutzen, die Demonstration aufzureiben. Das ist ihr gelungen und das ist die eigentliche Niederlage. Die Auseinandersetzungen in Straßburg waren tatsächlich ein Vorgeschmack auf Proteste, denen kein Raum zugestanden wird, die von Vorn­herein verhindert werden sollen, sich aber dennoch Bahn brechen werden. Das birgt ein enormes Eskalationsrisiko, darf die sozialen Bewegungen aber nicht dazu bringen, nicht mehr zu solchen Protesten zu mobilisieren, nur weil sie diese nicht kontrollieren kann. Die Regierungen hingegen müssen sich fragen, ob sie dauerhaft fähig und bereit sind, diese Eskalation voranzutreiben und Protesten in zunehmend militärisch anmutender Art zu begegnen. Sind sie dies nicht, müssen sie ihre Politik ändern oder zumindest den Protesten Raum geben. Sind sie es doch, müssen die sozialen Bewegungen Strategien entwickeln, wie sie mit zunehmend un­ko­or­di­nier­ten und militanteren Formen des Protestes umgehen können, damit diese nicht gegen sie instrumentalisiert werden und ohne dass sie selbst in die Eskalationsfalle geraten.

Konferenz, Camp, Blockaden, Großdemonstration

Am 1. April eröffnete das Camp in Straß­burg und es wuchs zunächst langsam, dann beständig und immer schneller. Und es wuchs weitgehend unkontrolliert. Das lag vor allem daran, dass es das einzige Camp war und so lange unklar blieb, ob es überhaupt stattfinden kann. Vor diesem Hintergrund war es eine Leistung der Camp­vorbereitung, dass überhaupt die nö­tige Infrastruktur (Großzelte, Volx­küchen, Strom und sanitäre Anlagen) vorhanden war, obwohl beispielsweise eine der Volxküchen nicht über die Grenze gelassen wurde und auch viele andere Ak­ti­vist­Innen, um überhaupt über die Grenze zu kommen, darauf verzichteten, Material wie Zeltstangen, Stromkabel, Fackeln oder Flugblätter mitzunehmen. Vor dem Hintergrund dieser erschwerten Bedingungen litt die interne Organisation des Camps. Zwar wurden auf verschiedenen Plena im Camp Absprachen getroffen, diese blieben aber unverbindlich, da nicht alle der überwiegend in Kleingruppen organisierten Gruppen vertreten waren. Entsprechend unkoordiniert und auch häufig unüberlegt wurde auf die sporadischen Angriffe der Polizei im Umfeld des Camps reagiert, die sich oft zu stundenlangen Scharmützeln auswuchsen, während auf dem Camp selbst der Aufbau, die Absprachen und das Leben ganz nor­mal weitergingen. Nicht nur diese Aus­ein­andersetzungen am Rande signalisierten sowohl den überwiegend unbeteiligten Be­woh­nerInnen des Camps als auch den­jenigen, die die Berichterstattung ver­folg­ten, dass es auch am Tag der Proteste „krachen“ würde. Auf die Mehrheit der De­monstranten hatte dies eine eher ein­schüchternde Wir­­kung. Diejenigen, die solche Auseinandersetzungen suchen, wurden damit natürlich eu­ro­pa­weit angezogen. Am Ab­end vor der Groß­de­mons­tration nahm der Strom von Neu­ankömm­ling­en im Camp noch ein­mal spürbar zu.

Am 3. April begann, etwa drei Kilometer vom Camp entfernt, eine internationale Konferenz mit AntikriegsaktivistInnen insbesondere aus Deutschland und Frankreich, aber auch aus Großbritannien und Irland, skandinavischen Ländern, Griechenland, Spanien und den USA. Hier stand die inhaltliche Kritik an der NATO und west­licher Kriegspolitik im Mittelpunkt der zahlreichen größeren und kleineren Workshops. Daneben wur­de die Konferenz von vielen genutzt, um sich informell mit den oft altbekannten Genoss­Innen aus anderen Ländern auszutauschen und gemeinsame Kampagnen vorzubereiten. Ein Austausch mit den Bewohnern des Camps fand in begrenztem Maße statt. Viele der zumeist in der Stadt untergekommenen KonferenzteilnehmerInnen statteten dem Camp einen Besuch ab. Unter den Camp-BewohnerInnen scheiterte der Wunsch nach einer Teilnahme an der Konferenz jedoch oft an der schlechten Anbindung und der Sorge, auf dem Weg durch die Stadt polizeilicher Repression ausgesetzt zu sein. Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass sich das mediale Interesse an der Konferenz – trotz dem Bekanntheitsgrad vieler Teil­nehmerInnen – in Grenzen hielt. Die Medien waren weniger an den Argumenten der Gipfel­gegnerInnen interessiert, denn an den Bildern von Ausschreitungen, die sie am nächsten Tag erhalten sollten.

Verschiedene überwiegend deutsche Bündnisse hatten gewaltfreie Blockaden am 4. April in der Straßburger Innenstadt geplant. Auch auf dem Camp bereiteten Leute sich konkret auf diese Aktion vor. Sie bildeten Bezugsgruppen, Delegierten­plena, es gab Aktionstrainings und die gewaltfreie Reaktion auf Po­li­zei­re­pres­sion wurde abgesprochen. Das Konzept der gewaltfreien Blockaden basiert auf der Rechtsfigur des zivilen Ungehorsams, die es in Deutschland gibt, aber nicht in Frankreich. Insbesondere im Austausch mit französischen Ge­noss­Innen, die oft wenig Verständnis für diese Aktionsform aufbringen konnten, wurde deutlich, dass diese eventuell wenig aussichtsreich verlaufen könnten, da die französische Polizei nicht zögern würde, Tränengas und auch Gummigeschosse gegen eine friedliche Sitzblockade einzusetzen. Obwohl diese Debatten sicherlich eine abschreckende Wirkung entfalteten, entschlossen sich mehrere tausend Menschen, es dennoch zu versuchen. Sie machten sich nachts vom Camp in größeren und kleineren Gruppen auf, um überhaupt in die Innenstadt zu gelangen, von der die Polizei angekündigt hatte, sie komplett abzuriegeln. Die größeren Gruppen wurden tatsächlich von Polizeihubschraubern verfolgt und später mit Tränengas aufgehalten. Einigen kleineren Gruppen gelang es, in die Innenstadt zu gelangen und sich auf zentralen Kreuzungen zu sammeln. Sie wurden teilweise ohne Ankündigung von der Polizei mit Tränengas attackiert. Die Polizei lehnte Verhandlungen ab mit den Worten, „wenn wir Euch hier weg haben möchten, dann werdet ihr das schon merken“. Den­noch brachte diese ent­schlos­sene und ge­walt­freie Form des Protestes einen beachtlichen Erfolg: mitten in der Innenstadt gab es Kreuzungen, die blockiert wurden. Selbst wenn dies nicht die zentralen Kreuzungen waren, und die Blockaden zuletzt durch die Polizei toleriert wurden, so konnte sich auf diese Weise doch genau dort Protest äußern, wo die NATO und die französischen Behörden ihn nicht haben wollten. Durch diese Blockaden gab es auch in der Innenstadt zeitweise Bewegungsfreiheit für die AktivistInnen und Kontakt mit der Straßburger Bevölkerung.

Am selben Tag vormittags sammelten sich auf der deutschen Seite in Kehl mehrere tau­send Menschen, die am Ostermarsch über die Europabrücke auf die französische Seite teilnehmen wollten. Aus Nordrhein-Westfalen traf ein Sonderzug ein und aus ganz Süddeutschland Busse, die überwiegend von der Polizei aufgehalten und kon­trolliert worden waren. Des­halb begann der Ostermarsch auch erst mit Verzögerung. Während der Auf­takt­kundgebung strömten aus Straß­burg, aus dem Camp und von den Bloc­kade­­punkten Menschen auf die Insel zwischen Kehl und Straßburg, auf der beide De­mons­tra­tionen sich vereinigen und die Großde­mons­tration statt­­finden sollte. Doch bevor die gemeinsame Kundgebung be­gann, wurden bereits alle Zugänge zu der Insel von der Poli­zei abgeriegelt, woraufhin es an einigen Stel­len zu Auseinandersetzungen kam. Auf der Insel selbst war zunächst über­haupt keine uniformierte Polizei zu sehen und es kam zu ersten Sachbeschädigungen ins­be­­sondere an einer alten, leer stehenden Grenz­station. Trotzdem kann die Lage zu die­sem Zeitpunkt noch als weitgehend ruhig beschrieben werden – eben da sich kei­ne Polizei blicken ließ –, es gab zahlreiche Diskussionen über die Randale, die da­raufhin teilweise auch ein­gestellt wurden. Auf deut­scher Seite wurden diese aber als Vorwand genutzt, um den Ostermarsch, der zu diesem Zeitpunkt sicher­lich deeskalierend und strukturierend gewirkt hätte, nicht über die Brücke zu lassen. Irgen­dwann brannte dann auf der In­sel die Grenzstation und ein IBIS-Hotel. We­nig später – die Auftaktkund­gebung hat­te erst angefangen – griff die Polizei an und trieb die auf der Insel verstreute Menge auf den Platz der Auftaktkund­ge­bung, den sie ebenfalls mit Tränengas ein­ne­belte. Die Demonstration begann damit verfrüht und unfreiwillig und verlief unter nahezu ununterbrochenem Trä­nen­gas­beschuss im Halbkreis durch das Industriegebiet auf der Insel. Den willkommenen An­lass für den ständigen Trä­nen­gas­beschuss lie­ferten einige der ver­mummten, schwarz gekleideten De­mons­tra­tions­teilnehmer, die bei jeder Gelegenheit die Polizei mit Stei­nen attackier­ten und anschließend in die Demonstration flüchteten. Immer mehr Demons­tra­tions­teil­nehmer setzten sich auf Freiflächen, Fabrikgeländen, auf Bahnschienen und ent­lang von Seitenarmen des Rheins ab. Kurz bevor die Demonstration wieder auf das brennende Ho­tel gestoßen wäre, riegelte die Polizei die Route auch von Vorne ab. Auch hier wurde sie attackiert, obwohl die Militanten aus der Demonstration heraus aufgefordert wurden, dies zu unterlassen. Wie­der reagierte die Polizei mit Tränengasangriffen auf die Demonstration, die sich nun überwiegend in flüchtende Kleingruppen auflöste. Sichtlich niedergeschlagen und demoralisiert zogen diese Kleingruppen später unter der höhnischen Aufsicht der Polizei von der Insel ab, wobei sie eindeutig so geleitet wurden, dass sie die Stadt nur über deren ärmste Viertel wieder erreichten.

Zur Selbstkritik

Während sowohl das Stattfinden des Camps und der Blockaden als auch die Kon­­ferenz und die schiere Masse an De­mons­­trantenInnen – ganz abgesehen von der in­halt­lichen Mobilisierung und Au­sein­andersetzung mit der NATO und Mi­li­tarismus im Vorfeld – als Erfolge angesehen werden können, so war die Demonstration selbst eine Niederlage, die den Teil­nehmerInnen beim Abzug sichtbar ins Gesicht geschrieben stand. Die unmittelbare Erfahrung von sinnloser Gewalt, die von Einigen aus der Demonstration heraus ausgeübt wurde, führte dazu, dass viele eben die­se, sowie die Organisatoren der Demonstration für das Scheitern verantwortlich machten. Dies aller­dings ist ein Fehlschluss, der denjenigen in die Hände spielt, die den Protest verhindern oder dif­fa­mieren wollten. Deren Rolle darf nicht un­terschätzt werden, denn sie haben es be­reits mit ihrer restriktiven Politik im Vorfeld geschafft, dass die Großde­mons­tra­tion nicht ausreichend vorbereitet und kein gemeinsames Vorgehen unter der Mehr­zahl der Demonstrierenden ausge­han­delt werden konnte. Für den Gesamtverlauf des großen und unübersichtlichen Protestes sind nicht diejenigen verantwortlich zu machen, die sich bis zuletzt darum bemüht haben, dass dieser überhaupt stattfinden kann, sondern allenfalls diejenigen, welche den Kontext der Proteste gestalteten. Hierzu gehört allen voran die NATO selbst mit ihrer Entscheidung, ihr sechzigjähriges Fortbestehen in einer Großstadt zu feiern, deren Be­wohner­Innen hierfür massive Einschränkungen in Kauf nehmen mussten. Wenn die Regierenden immer offener gegen die Interessen derjenigen agieren, die sie zu vertreten in Anspruch nehmen, muss mit solchen absolut legitimen Protesten gerechnet werden. Die immer offenere Drei­stig­keit der Regierungen, die in solchen Feierlichkeiten inmitten der Krise nur ihre symbolische Zu­spit­zung erfahren, füh­ren natürlich auch dazu, dass weniger politisierte und organisierte Menschen ihrer Wut Ausdruck verleihen möch­ten und dass damit auch die Proteste für die Veranstalter schwerer kon­trollierbar werden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass es legitim ist, etwa zu Demonstrationen gegen den NATO-Gipfel aufzurufen.

Derweil auf dem Olymp

Was wurde nun gefeiert auf dem Gipfel, was wurde beschlossen? Einigkeit sollte demonstriert werden und ein Neuanfang, in dessen Zentrum frei­lich der neue US-ameri­ka­nische Präsident Obama stand. All sein Charisma, das er unter anderem mit der reali­täts­fernen Forderung nach einer „atom­waffen­freien Welt“ versuchte aufzuhüb­schen, konnte die anwesende Polit-Prominenz nicht darüber hinwegtäuschen, dass er an der Spitze eines Landes steht, das härter von der Finanzkrise getroffen wird, als alle anderen Großmächte und gleichzeitig in mehreren recht aussichtslosen Konflikten steckt. Die USA brauchen die europäischen Staaten und ihre Soldaten mehr denn je. Deshalb der Vorschlag eines Neuanfangs, einer neuen NATO, in der die USA und die EU gleichberechtigt nebeneinander stehen. Allerdings gibt die EU ohne den halbtoten Lissabon-Vertrag keinen ausreichend einheitlichen und ausreichend starken militärpolitischen Akteur ab, um die USA aus dem afghanischen Schlamassel zu ziehen und die ambitionierten Pläne der NATO, eine dem Untergang geweihte Weltordnung militärisch zu verteidigen, umzusetzen. „Don´t mention the Balkans“, mag sich so manche(r) gedacht haben. Denn dort, wo sich die NATO vor über zehn Jahren als Interventionsbündnis zur Vorwärtsverteidigung neu erfunden hat, stecken bis heute ihre Soldaten fest, ohne dass es noch irgendwelche Aussichten auf eine erfolgreiche kapitalistische Integration der zurechtgebombten neuen Staaten gäbe. Anstatt die Soldaten in einen sinnlosen Krieg zu schicken, machten sich die RegierungsvertreterInnen jeder und jede für sich ihre nationalen Gedanken, wie sie Banken retten und Wählerstimmen mit Konjunkturpaketen kaufen könnten. Die meisten kamen gerade erst aus London, wo man ähnlich perspektivlos dabei scheiterte, ein gemeinsames Vorgehen in der Krise abzusprechen, ohne über Alternativen auch nur nachdenken zu können. Auch dort konnten die Regierungsvertreter bei ihrer Abreise Rauchwolken sehen. So verzweifelt die Herrschenden in diesem Moment sein mochten, so ambitioniert verteidigten ihre Schergen zugleich deren Un-Ordnung.

(maria)