„Und wer kontrolliert Ihr Leben?“

– zur Versorgungssituation von AsylbewerberInnen in Leipzig –

AsylbewerberInnen und „geduldeten“ (1) Flüchtlingen ist es in Leipzig bis dato nicht gestattet, Lebensmittel für ihren täglichen Bedarf einfach einzukaufen oder sich im nächsten Supermarkt spontan vom An­gebot der Regale inspirieren zu lassen. Stattdessen müssen sie schon eine Woche vorher wissen, was in der darauf Folgenden auf den Tisch kommen soll. Denn mit dem seit 1997 geltenden Asyl­bewerber­leistungs­gesetz (AsylbLG) wurde die Grund­versorgung von der verwaltungsmäßig einfacheren und auch kostengünstigeren Bargeldauszahlung auf Sachleistungen umgestellt.

AsylbewerberInnen, die weniger als 4 Jahre (2) hier leben, und MigrantInnen mit dem Status „Duldung“ erhalten kein Bargeld zur Deckung ihrer Grund­bedürfnisse. Sie müssen ihre Lebensmittel und Hygiene­artikel aus einen, im Angebot eher be­schränkten Katalog der Kühlhaus Wüsten­brand GmbH bestellen. Zweimal pro Woche werden die Pakete „frei Haus“ ins Heim geliefert. Ein Paket umfasst pro Person einen Warenwert von ca. 15 Euro.

Das heißt genau genommen, dass man vorher doch nie genau weiß, womit in der folgenden Woche tatsächlich gekocht wird. Denn aus der bestellten Dose Erbsen-Möhren wird schnell mal eine Dose Mais, das Duschbad hat irgendeine Duft­richtung, der Joghurt kommt mal als Erdbeer- oder Him­beerjoghurt, relativ unabhängig davon, was bestellt wurde. Da kann es auch schon mal passieren, dass die Kondome statt in normaler Größe als XXL oder XS an­kommen.

Insgesamt scheint es bei dem Versorgungs­unternehmen nicht so darauf anzu­kommen, was genau bestellt wurde, ein grob ähnliches Produkt wird es schon tun. Nicht so genau wird es auch mit dem Haltbarkeitsdatum der Lebensmittel genommen, wahrscheinlich nimmt man unterbewusst an, dass „Nichtdeutsche“ keine arabischen Zahlen und den gregor­ianischen Kalender deuten können. Also auch nicht merken, wenn die Lebens­mittel überlagert sind.

Einen Schritt vor und zwei zurück

Statt der bisherigen Paketversorgung für Asylsuchende, mit denen aus einem begrenzten Angebot zu festgesetzten Preisen Essen und Körperpflegemittel sieben Tage im Voraus bestellt wurden, ist ab diesem Jahr die Einführung von Chipkarten geplant. Bürgermeister Pro­fessor Dr. Thomas Fabian (Bei­geordneter für Jugend, Soziales, Ge­sundheit und Schule) preist dies als „erheblichen Zuwachs an Lebensqualität für die Asylbewerber“ an. (3)

Dabei müsste dem Bürgermeister klar sein, dass es letztlich im Sinne aller ist, einfach Bargeld auszuzahlen. Denn die Stadt Leipzig war bereits vor einigen Jahren viel weiter und bat die Landes­regierung in Dresden um die Ge­nehmi­gung, Bargeld an AsylbewerberInnen auszahlen zu dürfen. Dieser Vorstoß wurde aber damals abgeblockt.

Paradoxerweise war es nun aus­ge­rechnet die Stadt Dresden, die in Sachsen eine erzwungene Vorreiterrolle zugewiesen bekam. Bis 2007 gab es auch in Dresden Kataloggutscheine, seit Dezember letzten Jahres wird dort in einem zunächst befristeten Modellprojekt aber endlich Bargeld ausgezahlt. Aus­schlag­gebend dafür war die Kampagne „Und wer kontrolliert ihren Einkauf?“, die in Dresden, ähnlich wie die Umtausch­initiative in Leipzig, die Pakete der AsylbewerberInnen zu Bargeld tauschte. Daneben leisteten die Aktiven dieser Kampagne auch eine Menge Lobby­arbeit im Dresdner Stadtrat. Bei diesem Unter­fangen spielte ihnen in die Hände, dass dieser selbst im Oktober 2004 be­schlossen hatte, Chipkarten ein­zu­führen und den Oberbürgermeister beauftragte, sich gleichzeitig bei der Landes­regierung für die Bargeld­auszahlung einzusetzen. Dieser Be­schluss wurde jedoch nur widerwillig und sehr zögerlich umgesetzt. So konnte sich der politische Druck darauf kon­zentrieren, die Herren und Damen Abgeordneten an ihre eigenen Beschlüsse zu erinnern.

Anstatt dass die Stadt Leipzig, die sich sonst gern weltoffen und freiheitlich gibt, nun in die geschlagene Bresche springen und ebenfalls zur kostengünstigsten Variante ‚Bargeld’ greifen würde, soll hier nun das aufwendigere Chipkartensystem eingeführt werden.

„Selbst aus dem Angebot wählen“ (Prof. Dr. T. Fabian)

Das System „Chipkarten“ meint, dass von der Stadt ein Unternehmen angeworben wird, welches die AsylbewerberInnen mit Chipkarten ausstattet, die monatlich mit einem Guthaben von 48 Euro (4) auf­ge­laden werden. Mit diesen Karten sollen sie dann bei teil­nehm­en­den Händ­lern/Han­dels­ket­ten ein­kaufen kön­­­nen.

Allerdings müs­­­­sen vorher Ein­kaufs­märkte ge­funden wer­den, die bereit sind, die ent­spre­ch­en­de Ab­bu­ch­ungs­­­­­­elek­tronik zu in­stallieren. Auch ver­längert das Ab­rechnungs­­verfahren an der Kasse die War­te­­­zeiten für alle Kun­den, was ein nicht zu unter­schät­zendes Kriterium vor allem für kleinere Händler sein könnte.

Momentan hat sich zum Glück in ganz Sachsen noch kein Chip­karten­hersteller gefunden, der sich der Sache in Leipzig annehmen will. Firmen, die bereits in anderen Städten daran beteiligt sind, haben kein Interesse, weil es einfach unrentabel ist. Auch die Sparkasse, die bisher an der Auszahlung von Geldern an Asyl­bewerber­Innen beteiligt war, hat ihren Auftrag für 2008 gekündigt und steht auch nicht für Dienstleistungen im Zusammenhang mit Chipkarten zur Verfügung. Deshalb wurde die Suche nach einem Chipkartenhersteller nun auf die ganze EU ausgeweitet.

Chipkarten & daraus folgende Probleme im Alltag

1. Entmündigung: AsylbewerberInnen mit Chipkarten dürfen zwar einkaufen, aber sie können nicht wählen, wo. Denn die Stadt muss die Partnerunternehmen aussuchen und anwerben (eine Firma, die die Chipkarten und Lesegeräte etc. herstellt; Banken, in denen die Asyl­suchenden ihr bares „Taschengeld“ von eigens dafür eingerichteten Konten abholen dürfen; Lebensmittelgeschäfte, Supermärkte, Kleidungsmärkte etc.) Außerdem wird ihnen die Fähigkeit abgesprochen, selber zu entscheiden, was sie mit dem Betrag – welcher ohnehin schon unter der Hartz-IV-Grenze liegt und damit weit unter der relativen Armuts­grenze der BRD – kaufen: das Geld soll in drei Posten aufgeteilt werden, die unter­einander nicht verschiebbar sind – Essen, Kleidung, Sonstiges. So bleibt mit Chip­karten, wie zuvor mit den Katalogen nicht genügend Geld für öffentliche Ver­kehrsmittel, für das Asylverfahren drin­gend benötigte Anwälte, Schul­materialien, Telefon etc. Mal davon abgesehen, dass Tabak- und Alkohol­erwerb verboten sind bzw. bei anderen „Luxusgütern“ die VerkäuferInnen an der Kasse ad hoc entscheiden können, ob das Produkt für eine/n Asylsuchende/n angemessen ist. (5)

2. Diskriminierung: Wenn an der Kasse die VerkäuferIn umständlich die Chip­karte auf Guthaben und Gültigkeit prüft, ist dies entwürdigend und allen An­wesenden wird die angebliche „Anders­artigkeit“ des Ein­kaufen­den vor Augen geführt.

3. Kontrolle: Jeden Monat müssen die AsylbewerberInnen zum Aufladen ihrer Karte zum Sozialamt fahren. Unterstellt eine SachbearbeiterIn, die AsylbewerberIn könne nicht mit Geld umgehen, kann sogar ver­langt werden, den jeweiligen Betrag einmal pro Woche abzuholen. Außerdem wird ge­spei­chert, wann, wo und wie viel die Asyl­bewerberInnen einkaufen und von Mitar­beiterInnen des Sozialamtes kon­trolliert. Nicht genutzte Beträge verfallen und kön­nen nicht etwa angespart werden.

Dass die Stadt Leipzig trotz aller Nach­tei­­le für die Verwaltung – die Auszah­lung von Bargeld wäre kosten­günstiger und weni­ger aufwendig – und die hier lebenden „Nicht­­deut­schen“ auf dem Sach­leistungs­prin­­zip beharrt, ver­deutlicht, worum es ei­gent­lich geht: um die „gewollte Ein­schrän­kung in der freien Ge­stal­tung des Lebens“. (6)

Auch wenn der Ein­kauf per Chip­karte ten­denziell we­niger Iso­lierung und mehr (aber keine freie) Auswahl er­möglicht, geht es damit immer noch um eine ras­sistische Praxis, die sich fort­schreibt. Es handelt sich hierbei nur um einen von vielen struktur­ellen Rassismen, die sich in Regelungen wie z.B. der Residenzpflicht oder dem Arbeits­recht (siehe Kasten) wieder finden, mit Hilfe derer die per­sönliche Freiheit des Einzelnen – in diesem Fall die Entscheidung, was, wann und wo ein­zukaufen – massiv ein­ge­schränkt wird.

Morgen fängt heute an

Kaufen wir ein, damit andere einkaufen können! Bargeld für alle sofort! Tauschen wir mit den AsylbewerberInnen ihre Gutscheine gegen Bargeld, damit sie selbst entscheiden können, was sie be­nötigen! Für ein Ende der strukturellen Dis­krimi­nierung von AsylbewerberInnen und die Verbesserung ihrer Lebens­be­dingun­gen!

(Kampagne gegen Ausgrenzung)

www.anderseinkaufen.de.vu
(1) Die Duldung ist nach der Definition des deut­schen Aufenthaltsrechts eine „vorüber­gehende Aussetzung der Abschiebung“ von ausreise­pflichtigen Aus­ländern, und stellt damit keinen Aufenthaltstitel dar. Die Dul­dung dient aus­schließlich dazu, dem Ausländer zu bescheinigen, dass von einer Durch­setzung der bestehenden Ausreisepflicht für den ge­nann­ten Zeitraum aus verwaltungs­technischen oder politischen Gründen abgesehen wird.
(2) Erst kürzlich wurde die Zeit, in der Asyl­suchende mit ungeklärtem Status nur per Katalog kon­sumieren dürfen, von drei auf vier Jahre verlängert. Bisher konnte nach drei Jahren Bargeld ausgezahlt werden (das gibt es also schon in Leipzig), jedoch müssen Asylbewer­berInnen nach einem ab­geschlossenen Asylver­fahren, das mit dem Status „Duldung“ endet, wieder per Katalog bestellen.
(3) www.leipzig.de/de/buerger/news/09889.shtml.
(4) Derzeit kann für bis zu 30 Euro die Woche (je Paket 15 Euro) aus dem Lebensmittel­katalog bestellt werden. Zusätzlich stehen monatlich 18 Euro für die Bestellung von Hygienartikeln aus einer separaten Liste zur Verfügung. Diese Trennung würde beim Chipkartensystem wegfallen.
(5) Zwar wurde bestimmt, dass Asylbewer­berInnen keine Luxusgüter erwerben dürfen, allerdings wurde der Begriff nicht näher definiert. Dadurch liegt es letztlich in der Entscheidungsgewalt der jeweiligen KassiererIn zu entscheiden, ob die betreffende Ware ein Luxusgut ist oder nicht. Es gab schon Streitfälle bei denen einem Asylbewerber der Erwerb eines Pelzmantels im Winter mit eben dieser Begründung verweigert wurde.
(6) Reinhard Boos, seit Juni 2007 zum zweiten Mal Präsident des Sächsischen Landesamtes für Ver­fassungsschutz. Er hatte das Landesamt bereits von Juni 1999 bis Dezember 2002 geleitet und ersetzt den im Rahmen des „Sächsischen Korruptions­skandals“ abge­setzten Rainer Stock. Boos war zuletzt Leiter des Referats „Ausländer- und Asyl­angelegen­heiten“.

Residenzpflicht – Einschränkung der Bewegungsfreiheit

Die Residenzpflicht ist eine ge­setzliche Regelung, die die Be­troffenen massiv in ihrer Be­wegungs­freiheit ein­schränkt. Flüchtlinge, deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist, dürfen nach § 56 Asyl­verfahrens­gesetz (AsylVfG) den Landkreis, in dem sie leben, nicht verlassen. Menschen mit dem Status „Duldung“ sind nach § 61 Aufent­haltsgesetz in ihrer Bewegungsfreiheit auf das Bundesland beschränkt, in dem sie leben.

Die zuständige Ausländerbehörde kann nach §§ 57 und 58 AsylVfG Ausnahmen von der Residenz­pflicht erlauben. Flüchtlinge erhalten auf Antrag eine Aus­nahme­genehmigung für Termine bei Rechts­anwält­Innen, Gerichten, ÄrztInnen und Be­ratungs­stellen.

Ebenfalls auf Antrag können Aus­nahme­ge­nehmi­gungen für Besuche bei Fa­milien­mitgliedern, Freund­Innen, Kirchen­gemeinden, kultur­ellen Veranstaltungen u.ä. erteilt werden. Diese liegen jedoch im Ermessen der Aus­länder­be­hör­den und werden je nach Land­kreis unter­schiedlich ge­hand­habt. Generelle Aus­nahme­regelungen von der Re­si­denz­­pflicht sind möglich, z.B. für Flüchtlinge, die in direkter Nähe zur näch­sten Stadt un­ter­ge­bracht sind, die jedoch im an­grenz­enden Land­kreis liegt.

Eine ähnliche Re­gelung gilt auch für deutsche Em­pfänger­Innen von ALG II: die Be­troffenen sind ver­pflichtet an jedem Werk­­tag bei der Ar­beit­s­agentur er­scheinen zu kön­nen. „Ur­laub“, Ab­wesenheit vom Wohn­ort ist auf 21 Tage im Jahr be­schränkt und muss be­­an­tragt wer­den.

Arbeitsverbot

Geduldete und AsylbewerberInnen unterliegen seit dem 1.1.2001 für die Dauer eines Jahres einem generellen Arbeitsverbot.

Arbeitsmarktzugang

Nach einem Jahr Aufenthalt in der BRD haben sie die abstrakte Möglichkeit, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, jedoch nur mit einen „nachrangigen Zugang“ zum Arbeitsmarkt. Sie müssen dazu einen Arbeitgeber finden, der ihnen schriftlich bestätigt, sie anstellen zu wollen. Mit dieser Bestätigung müssen sie eine Arbeitserlaubnis beantragen. Doch in der Regel werden diese Jobs, die den Flüchtlingen zugesagt sind, von der Agentur für Arbeit an andere Arbeitssuchende vergeben.

„Nachrangigkeit“

§ 39 des Aufenthaltsgesetzes sieht vor, dass die Bundesagentur für Arbeit einer Beschäftigung nur unter folgenden Voraussetzungen zustimmen darf: Die Beschäftigung darf keine nachteiligen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben und es darf kein Deutscher bzw. EU-Ausländer mit bevorzugtem Arbeitsmarktzugang zur Verfügung stehen. Des weiteren dürfen die Arbeits­bedingungen nicht ungünstiger sein als bei Beschäftigung vergleichbarer deutscher Arbeitnehmer. In der Praxis hat dies folgende Konsequenzen: Der Arbeitgeber hat den Nachweis zu erbringen, dass er über einen angemessen Zeitraum versucht hat, die Stelle mit einem be­vorrechtigtem Arbeitnehmer zu besetzen. Wesentlich ist hier vor allem ein Vermittlungsgesuch an das Arbeitsamt, welches auch überregional nach geeigneten Ar­beitnehmern zu suchen hat. Zudem soll geprüft werden, inwieweit die offene Stelle von Arbeitssuchenden mit abweichender Berufsqualifikation besetzbar ist. Die Dauer der Prüffrist wird auf mindestens vier Wochen festgelegt. Und selbst wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann sich der Arbeitnehmer keineswegs sicher sein, die Stelle dauerhaft zu behalten, da jede Ver­längerung der Arbeitserlaubnis, sogar beim selben Arbeitgeber, eine erneute Prüfung nach sich zieht.

In einigen Bundesländern existieren zudem sog. „Negativlisten“, welche die Erteilung einer Arbeits­erlaubnis für bestimmte Berufe generell untersagen. Bei diesen geht das Arbeitsamt davon aus, dass die Bewerberzahl der Deutschen bzw. bevorrechtigter Ausländer dauerhaft höher ist als die Zahl der offenen Stellen.

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