Weimarer Zustände

Dass sich innerhalb der Linken gerne mal gestritten wird, ist allgemein bekannt – was seit einigen Monaten in Weimar abläuft, sprengt dennoch den Rahmen des Üblichen. Ort des Geschehens ist das Soziokulturelle Zentrum Gerberstraße bzw. die beiden Hausprojekte in der Gerberstraße 1 und 3, die von einem gemeinsamen Verein getragen werden.

Auf einem Vereinsplenum Ende Oktober 2008 wurde zum ersten Mal über eine Reihe von sexuellen Übergriffen diskutiert, die in den Räumen der Gerberstraße stattgefunden hatten. Die Betroffenen, die aufgrund der Vorfälle die Gerberstraße nicht mehr besuchen wollten, hatten sich an Vertrauenspersonen gewandt, es bildete sich eine Unterstützer_innengruppe. Dem Täter, der selbst in der Gerberstraße 3 wohnt, wurde in einem Gespräch nahegelegt, sein Verhalten zu reflektieren und ohne großes Aufsehen aus dem Haus auszuziehen. Dieser wandte sich daraufhin seinerseits an Vertrauenspersonen, die die Vorwürfe öffentlich machten und zum Vereinsplenum mobilisierten.

Die Unterstützer_innengruppe reagierte mit einer Erklärung, in der sie sich auf das Prinzip der Definitionsmacht berief, wonach die Entscheidung darüber, was sie als Überschreitung ihrer persönlichen Grenzen empfinden, einzig bei den Betroffenen selber liege. Zudem wurde erklärt, dass die Betroffenen anonym bleiben wollten und nicht wünschten, dass Details der Übergriffe öffentlich gemacht würden. Ein Großteil der auf dem Plenum Anwesenden sprach der U-Gruppe darauf­hin die Glaubwürdigkeit ab und forderte Details, damit man „objektiv“ entscheiden könne, ob eine sexuelle Belästigung vorliege oder nicht.

Auch die folgenden Plenas brachten keine Klärung des Konflikts, im Gegenteil verschärfte sich dieser zusehends. Es bildeten sich zwei Lager heraus, von denen das eine hauptsächlich aus jüngeren, im Umfeld der Gerberstraße 1 politisch aktiven Leuten besteht, das andere eher der Gerberstraße 3 zuzuordnen ist. Wiederholt kam es zu Handgreiflichkeiten gegen Mitglieder der U-Gruppe und Leute, die sich mit dieser solidarisierten. Auch auf den Plenas konnte die U-Gruppe sich mit ihren Forderungen nicht durchsetzen – ihre Argumente wurden teilweise einfach „nie­dergebrüllt“, ihnen wurde vorgeworfen, das Projekt „spalten“ zu wollen, hinzu kamen Beschimpfungen und Drohungen.

Letztlich wurden die Strukturen des Trä­gervereins der beiden Häuser gegen die Unterstützer_innengruppe in Anschlag gebracht. Diese hatten bis dahin als reine Formalien gegolten und dazu gedient, den Häusern gegenüber der Stadt einen legalen Status zu verschaffen, wurden jetzt aber dazu genutzt, um zwei Mitglieder der U-Gruppe zum Auszug aus der Gerberstraße 3 zu zwingen. Diese wurden ihrer „Ämter“ enthoben (sie waren als Sozialarbeiter beim Verein angestellt), einer anderen Person aus der U-Gruppe, die im Vorstand des Vereins aktiv war, wurde nahegelegt, von ihrem Posten zurückzutreten. Diesem Beschluss des Plenums waren offenbar interne Absprachen vorausgegangen – dass unmittelbar darauf die Schlösser der Büroräume der Gerberstraße 3 ausgewechselt und so der Entscheidung in handfester Weise Nachdruck verliehen wurde, stützt diesen Verdacht. Schon einige Zeit vorher war das Passwort des Email-Accounts der Gerber 3 geändert worden – ein Mitglied der U-Gruppe hatte sich zuvor jahrelang um die Verwaltung der Mails gekümmert.

Sexistisches Verhalten nicht als Problem zu erkennen, stattdessen diejenigen auszuschließen und zu bedrohen, die dieses öffentlich thematisieren – solch ein Handeln wirft kein gutes Licht auf die Reflek­tionsfähigkeit von so manchen vermeintlichen Linken. Die Weimarer Zustände sind ein Symptom dafür, wie verbreitet stumpfes Mackertum auch dort ist, wo mensch es nicht erwarten würde.

(justus)

Eine ausführliche Chronik der Ereignisse findet ihr unter queerschnitt.blogsport.de/2008/11/26/der-kalte-putsch-von-weimar/

Schreibe einen Kommentar