Wo ist denn nun der Wald?

Als ich meine Arbeit im Schloss verlor, war mir vor allem klar, dass es sich hier nur um neue Möglichkeiten und Wege handelt. Schließlich hatte mich mein persönlicher Weg schon weit gebracht und durch alle Forderungen und Umwege bin ich genau dort gelandet wo ich jetzt bin. Was also könnte daran falsch sein? Als ich ging, weinten aber alle meine Kollegen. Sie verstanden gar nicht weshalb obwohl der König selbst doch immer wieder allen erzählt, dass „jeder hier austauschbar“ sei. Weshalb also Tränen um etwas vergießen was jederzeit ersetzt werden kann? Und inwiefern bin ich eigentlich ersetzbar? Oder ist es nur meine Arbeit die ersetzbar ist? Und was ist mit dem Rest?

Bevor ich hier her kam und das erste und wahrscheinlich einzige Mal in meinem Leben „fest“ arbeitete, hatte ich alles versucht, um mich „frei“ zu machen und einer unangenehmen familiären Abhängigkeit zu entkommen. Deshalb nahm ich jede Arbeit, die ich bekommen konnte, an. Und obwohl ich dabei nur an Arbeit dachte und versuchte mich unsichtbar in der Küche, in der ich zeitweise arbeitete, zu verstecken, rettete mir letztlich nicht nur die Arbeit, sondern die Menschen, die tatsächlich mich dort sahen, eines Tages das Leben.

Also nahm ich die Zeit der Arbeitslosigkeit nach der festen Stelle als Geschenk an und begann mich umzusehen nach den Menschen und den Möglichkeiten. Auf diese Weise stolperte ich eines Tages in meiner Nachbarschaft in einen Ort, der es sich zum Ziel gemacht hat, denjenigen zu dienen, die Hilfe brauchen. Hier gibt es eine Küche die ihnen jeden Tag eine warme Mahlzeit serviert.

Ganz unbedarft meldete ich mich also bei der Leiterin an. Sie lächelt, legt sich ein Blatt Papier zurecht und schreibt sich meinen „Lebenslauf“ auf. Dann schickt sich mich runter in den Essraum mit der offenen Küche. Ein schmuckloser Raum, aber mit einem wunderschönen Klavier. Das ist Annas Reich und eines Tages erfahre ich ihre Geschichte.

Sie hält mir ihren Arm entgegen, schiebt den Ärmel hoch und deutet auf die 4 cm-langen Narben an ihrem Unterarm: Messerstiche. Sie ist dazwischen gegangen „Damit sie sich nicht gegenseitig tot stechen. Damals hatte ich noch keine Angst“.

Anna ist fünfzig, 20 Jahre älter als ich. Sie kann es nicht verstehen wenn Menschen nicht über sich selbst lachen können. Sie ist sehr großzügig, aber nicht maßlos, denn sie versucht fair zu teilen. Ich sage auch nichts als sie der jungen Frau den Nachtisch nicht schenkt. Trotzdem kommt sie zu mir „Normalerweise bin ich ja nicht so, aber sie versucht es jedes Mal, und am Ende ist nichts mehr für die anderen da“. Ich nicke. Ich vertraue ihrer Erfahrung.

„Es ist so still hier. Wollt ihr keine Musik bei der Arbeit hören?“ Frage ich. „Ja, früher hatten wir mal ein Radio, aber die Chefin sagt, dass die GEMA einfach zu teuer ist“. Der Ort bleibt still und wird jeden Tag ein wenig leerer.

Am Mittwoch bin ich alleine mit dem Koch. Anna ist nicht da. Die Stimmung drückt, die Stille erst unerträglich, dann plötzlich unterbrochen von lautem Gelächter „Was ist mit dem Klavier?“ ruft ein Mann mit leichter Fahne.

„Das hat schon seit Jahren keiner gespielt. Versuch es doch!“ ermutigt ihn der Gärtner.

„Oh nein, oh nein, das gibt Ärger“ murmelt der Koch, „Die Chefin hat es verboten.“

„Weshalb?“ frage ich ihn, aber er schüttelt nur den Kopf und beugt sich tief über seine Schüssel.

Und dann schallt die Musik durch den Raum und überflutet die Stimmung mit Fröhlichkeit. Am Ende kommt der Spieler zu mir an den Tresen. Er besingt erst mich, dann den Koch für seine Feigheit. Zum Abschied winkt er mir zu und zwinkert „Wenn ihr hier eine Gitarre rein stellt, komme ich gerne wieder.“ „Das wäre schön. Dann bis bald.“ Und zum Abschied tauschen wir ein Lächeln.

Der Koch beugt sich tiefer über den Topf, schüttelt noch immer mit dem Kopf. Er ist einer der 400-Euro-Jobber der Einrichtung, genau wie Anna. Dann kommt der Gärtner zu mir. Er lacht und freut sich noch immer über die Musik. „Endlich hat sich mal einer getraut.“ Er gibt mir seine Karte, dann können wir gemeinsam etwas pflanzen. Auch er ist ein Ehrenamtlicher. Etwa die Hälfte der Leute die hier arbeiten sind ehrenamtlich tätig, die andere ist geringfügig beschäftigt. Die Chefin ist keines von beidem.

Anna ist seit fünf Jahren als Köchin in der Einrichtung tätig. Jeden Tag könnte der Brief vom Amt kommen und sie weg schicken. „Gestern hat die Chefin mich gefragt was mir helfen könnte mit dem Rauchen aufzuhören.“ erzählt sie mir weiter ihre Geschichte. „Da sagte ich ihr direkt: eine feste Stelle. Ich glaube es gibt Hoffnung.“

Ich nicht. Das sage ich ihr aber nicht, und vielleicht ist das „jugendlicher“ Skeptizismus, aber meine Einschätzung ist anders.

Die Chefin war auch überrascht als Anna ihr darlegte – ganz offen – wie wenig sie tatsächlich im Monat zum Leben braucht. Vielleicht war sie auch einfach überrascht, dass jemand nicht sinnlos versucht noch etwas mehr als nötig für sich selbst raus zu schlagen.

„Ich habe ihr gesagt, was du mir erzählt hast, dass die GEMA für die Hintergrundmusik die wir uns wünschen nur 100 Euro im Jahr kosten würde, aber es geht wirklich nicht. Sie tut schon was sie kann, dreht jeden Pfennig um.“

Jedes Mal wenn wir sprechen, kommen wir auf das Gleiche: Wir möchten nicht mit Politikern darüber reden und dann ist da noch das Geld.

„Früher war ich Mal richtig glücklich, an meiner Tanke“

Bis zum Raubüberfall.

Knarre am Kopf, Knie auf dem Boden, Stirn gegen die Wand.

„An einer anderen Tanke ist die Frau gestorben. Das war sicher keine Absicht, aber sie hat geschrien, ich habe mich solidarisiert.“

„Normalerweise hat mein Chef das Geld abends immer weggebracht. An diesem Abend nicht.“

„Erst habe ich einfach normal weiter gearbeitet. Die Angst kam später“.

„Ich möchte nur so viel, dass ich wieder mehr Achtung vor mir selbst habe. Genug, um nicht ein Bittsteller beim Amt zu sein“, schließt Anna ihre Geschichte.

Sie reicht mir ein Glas Wasser „Ich kann nämlich Gedanken lesen und du hast Durst“. Ich lache: „Das denke ich mir, dass du das kannst.“ Sie packt mir die Reste von Gestern fürs Abend­­essen ein.

Ich hinterlasse ihr meine Nummer. Es macht mir Angst, dass so ein liebevoller Mensch, der sich ohne etwas dafür zu erwarten um mich kümmert als wäre sie meine Mutter, zwei Wochen lang alleine und krank in ihrer Wohnung liegt. Aus der Einrichtung war in dieser Zeit niemand bei ihr.

Unter die Nummer schreibe ich „Jederzeit!“ und sie ist gerührt. Ich finde das eigentlich gar nicht mehr rührend, eher elend, dass sie das für etwas besonderes hält.

In meinem eigenen Leben haben mich Menschen gerettet. Aussätzige, Punker, Verlierer, Versager, Diebe. In meiner Not und in meiner Angst haben sie sich um mich geschlossen wie eine Mauer bis ich wieder sicher war. Ich habe niemals um ihre Hilfe gebeten. Ich war einfach nur zufälligerweise zur richtigen Zeit am richtigen Ort – als Köchin, illegal, großzügig je nach belieben bezahlt mit viel lauter Musik jeden Tag, an einem Ort der Unzuverlässigkeit und des Trotz, geprägt vom Egoismus der Selbstverwirklichung. Aber gesehen haben sie mich irgendwie trotzdem.

„Was sollen wir tun?“ frage ich meinen Freund den Musiker. Er besitzt einen Plattenladen und gab mir die GEMA-Info als ich ihm davon erzählte, dass die schlecht-bezahlten Mitarbeiter der Einrichtung keine Musik mehr hören dürfen wenn sie arbeiten.

Ich lasse meiner Wut freien Lauf.

„Ständig dieses ‘das kann ich nicht, weil…’. Ich kann es nicht mehr hören. Das ist doch totaler Quatsch.“

Er nickt. Er hat den gleichen Traum. Und er versteht es auch nicht.

„Warte noch ein bisschen,“ beschwichtigt er mich. „Vielleicht haben wir bald alle zusammen. Dann schaffen wir hier so einen Ort“.

„Ich finde ja bemerkenswert mit wie wenig Geld ihr jungen Leute heute auskommt“ sagt meine Mutter.

„Am liebsten mit keinem“, sage ich.

Ist das Utopie, Naivität oder letztlich unsere einzige Chance? Was macht denn das Geld? Austauschbar?

Keine Kasse

Kein Geld

Keine Knarre

Keine Angst?

(isobel)

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