Besitzen und Kontrollieren

Eine neue Kampagne gegen Videoüberwachung in Leipzig gestartet

Gern sonnt sich die Stadt Leipzig im Ruhm, Ausgangsort der „friedlichen Revolution“ gegen einen Unterdrückungs- und Überwachungsapparat zu sein. Unter ÜberwachungskritikerInnen ist sie jedoch, scheinbar ganz gegensätzlich, als eine der führenden Städte in Sachen Videoüberwachung – neben Mannheim, Stuttgart, Heilbronn – bekannt. Dieser zweifelhafte Ruhm gründet im Pilotprojekt der polizeilichen Videokontrolle des öffentlichen Raums, dessen Ausgangsort 1996 die Richard-Wagner-Straße am Leipziger Innenstadtring wurde. Dieses Projekt hat mit der erneuten Installation einer Kamera am Connewitzer Kreuz im Frühjahr 2003 eine Erweiterung und Aktualisierung gefunden. Diese Entwicklung wird flankiert von einem immer weiter um sich greifenden Kameraboom in Läden, in öffentlichen Einrichtungen, an Klingeln und Geldautomaten. Im Gegensatz dazu sind kritische Stimmen gegenüber Video- und anderer Überwachung seit der Kampagne der AG Öffentliche Räume (2000) in Leipzig ziemlich verstummt. Diesen Mißstand nahmen wir zum Anlaß, überwachungsablehnende und -kritische Stimmen wieder öffentlich zu machen.

„Ich habe ja nichts zu verbergen“

Kritik an Videoüberwachung gibt es aus vielen Richtungen. Zum einen gibt es keine Erkenntnisse, dass Kameras ihr vorgebliches Ziel, nämlich Verbrechen zu vermeiden, erfüllen. Sie verdrängen es lediglich in nicht überwachte Bereiche. Diese Analyse bietet zwei Auswege an: entweder lückenlose Überwachung oder die Lösung der Probleme, die hinter den „Verbrechen“ stehen. Meist handelt es sich bei diesen um Armut, Migration, Drogenkonsum oder einfach anderes Aussehen. Entscheiden Sie selbst…

Ein weiteres Argument gegen Videoüberwachung ist die Gefährdung der Grundrechte, die den Bürgern ein gewisses Maß an Freiheit gegenüber dem Staat gewähren sollen. Zu diesen gehört beispielsweise das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die generelle Unschuldsvermutung. Doch so etwas kennt die Videotechnik nicht. Im Blickfeld einer ständig installierten Kamera ist prinzipiell jedeR verdächtig. Mit ihrer Hilfe werden nicht nur straffällig Gewordene verfolgt, sondern ein Klima der Kontrolle erzeugt, dass zur Normierung des Verhaltens führt. Zum Verbotenen zählen für gewöhnlich langes Herumsitzen ohne zu konsumieren (Herumlungern, „nichtbestimmungsgemäßes Verweilen“), Betteln, Rollschuhfahren, fliegender Handel, Alkoholkonsum, Verteilen von Handzetteln (Ausübung von Meinungsfreiheit!) u.v.m.

Mag sich heute noch jemand trösten, dass den Datenberg, den Kameras anhäufen, niemand überblicken kann, die Überwachung also ihre Schlupflöcher hat, dann sei er/sie gewarnt vor der nächsten Generation. Sind die meisten Kameras heute schon 360° schwenkbar, farbig und hoch auflösend, teilweise mit Restlichtverstärkern und Bewegungsmeldern ausgestattet, gehört die Zukunft „Thinking Cameras“ und „Algorythmic Surveillance“. Hier erlaubt es die Kombination aus Software, Biometrik und Videotechnik, aus großen Menschenmengen bestimmte Personen bzw. verdächtiges Verhalten herauszufiltern und aufzuzeichnen. Schon heute können in britischen Städten Menschen lückenlos durch das ganze Stadtgebiet verfolgt werden. Der Urgrund der Überwachung und die Legitimierung für die weitaus meisten Kameras ist die gesellschaftliche Verteilung des Eigentums. Wer über Eigentum verfügt, hat das Bedürfnis dieses vor dem Zugriff durch dritte zu schützen und den Gebrauch zu regulieren. Eigentum an und Kontrolle von Raum bedeutet Kontrolle über das gesellschaftliche Leben, Kontrolle der Menschen, die diese Räume nutzen. Videoüberwachung ist ein Symptom für die Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft – wer nichts hat oder sich nicht genehm verhält, wird kontrolliert und normiert.

Der Videokamera-Stadtplan

Die Grundlage unserer Arbeit sollte ein möglichst genaues Bild der Videoüberwachung vor Ort sein, weshalb wir uns entschlossen – in guter alter Tradition der NYC Surveillance Camera Players – einen Kamerastadtplan der Leipziger Innenstadt zu erstellen. Die so erhaltenen Zahlen übertreffen selbst unsere schlimmen Erwartungen: 194 Kameras überwachen allein Straßen, Passagen u.a. öffentliche oder halböffentliche Plätze. Exzessive Ausmaße nimmt die Videoüberwachung in Innenbereichen an, die eine quasi-öffentliche Nutzung erfahren. So kommen allein im Bahnhof nochmals 106 Kameras in den verschieden Verkaufsräumen dazu. Insgesamt zählten wir 408 Kameras in Innenbereichen von Kaufhäusern, Supermärkten, Läden und Banken. Mit ziemlich großer Sicherheit gehen wir davon aus, dass das nicht die vollständigen Zahlen sind. Mensch denke z.B. an die vielen verspiegelten Flächen in den Konsumzonen oder an die immer öfter als Bewegungsmelder und Lampe verkleideten Kameras. Einen Überblick über die Kameras in den Straßenbahnen der LVB konnten wir uns noch nicht verschaffen. Die Kameras, die an Bankautomaten jedeN NutzerIn registrieren, wurden gar nicht erst gezählt.

In unserem Ansatz unterscheiden wir uns von manchen anderen Initiativen gegen Videoüberwachung. Aus gewichtigen Gründen thematisieren wir nicht nur Kameras, die den öffentlichen Raum scannen, denn: Alle Kameras haben normierenden Einfluss auf das Verhalten der Personen im überwachten Raum. Alle Kameras können personenbezogene Daten sammeln, die der Kontrolle der überwachten Person entzogen sind – was der informationelle Selbstbestimmung zuwider läuft. Die Polizei kann bei Ermittlungen auf Daten privater Überwachungssysteme zurückgreifen. Die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum sind diffus. Der Hauptbahnhof bspw. ist Privatgelände mit öffentlicher Bestimmung, die Peterhofspassage ist privat. Die Privatisierung öffentlicher Räume erweist sich geradezu als Strategie, immer schärfere Kontrollmaßnahmen durchzusetzen. Die relativ kostengünstige Kameratechnik ermöglicht auch exzessive Überwachung von Orten für die Wachpersonal z.B. zu teuer oder überflüssig wäre – und damit eine immense Zunahme an Kontrolle. Nicht zuletzt, das zeigen unsere Zahlen, ist private Videoüberwachung gerade ein Bereich, der sich der öffentlichen Kontrolle (Datenschutz) auf besondere Weise entzieht. Das alles heißt jedoch nicht, das es keine immensen Unterschiede zwischen den verschiedenen Kameras gibt, etwa zwischen einer Kamera, die den Zugang zu einem Mietshaus kontrolliert, und einer Polizeikamera, mittels derer ganze Plätze kontrolliert werden. Aus diesem Grund achteten wir auf eine hohe Differenzierung bei der Kartographie der Kameras.

Gesellschaft für eine lustigere Gegenwart und Bündnis gegen Krieg

leipziger-kamera.cjb.net

Lokales

Schreibe einen Kommentar