Utopie oder Zwangsneurose?

Wie realistisch sind wir, können wir, müssen wir sein?

Die Grundlinie der streikenden Studierenden war klar: Nicht nur zeigen, dass die Pläne zur Umstrukturierung und Kürzungen an den Hochschulen auf Missfallen stoßen, sondern sie verhindern. Am Anfang standen ganz persönliche Bedürfnisse der aktiven Studierenden, die sich in einem sogenannten Streikkomitee organisiert hatten. Inhaltlich beschränkte sich die Zielsetzung der Mehrheit auf Hochschulpolitisches. Wer mit der Analyse der Verhältnisse etwas weiter ging, merkte jedoch, dass es einen grundlegenden Zusammenhang mit anderen Politikfeldern gibt. Fraglich bleibt, ob das bei allen angekommen ist. Bei dem Einen oder der Anderen scheint die Reflektion über den „konstruktiven“ Streik allerdings den Anstoß zu radikalerer Kritik gegeben zu haben.

Zu Beginn beschränkten sich die Inhalte des Protestes auf Slogans wie: „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut!“ Trotz relativ wenigen aktiven Leuten verlief er aber durchaus erfolgreich. Die Kreativität der Studierenden dominierte den öffentlichen Raum. Nach einigen Wochen Aktionismus sah das Ganze schon anders aus. Mehr und mehr blieben die Leute aus, die wenigen, die noch versuchten, etwas auf die Beine zu stellen, gingen auf dem Zahnfleisch. Die große Frage war nun: Woran lag‘s? Wenig verwunderlich, dass viele die Schuld nicht bei sich suchen wollten, selbst war man ja schließlich ordentlich dabei gewesen. Die anderen, die nicht mitmachten, waren also schuld und damit hatte es sich. Von inhaltlichen Fehlern war dagegen wenig zu hören, obwohl Unsicherheiten hierbei überall anzutreffen waren. Parallel war im Streikkomitee zu beobachten: Veranstaltungen und Flugblätter wurden als vollkommen ausreichendes Mittel gesehen, um an Nichtstreikende heranzutreten.

Die Verbindung von eigenen inhaltlichen Unsicherheiten und dem Ausbleiben weiterer MitstreiterInnen liegt auf der Hand: Wer nicht in der Lage ist, Ahnungslosen konkrete Hintergründe zu vermitteln, soll sich nicht wundern, wenn sich diese dann nicht interessieren. Woher kamen also diese Unsicherheiten? Möglicherweise war die große Hürde die gebetsmühlenartig zu vernehmende Vorgabe, „realistisch“ oder „konstruktiv“ bleiben zu müssen. Verbaute man sich dadurch doch den Weg zu jeder weitergehenden Kritik an den Verhältnissen, gegen die man sich doch zur Wehr setzen wollte.

„Realistisch“ hieß hier, sich von „Utopien“ fernzuhalten, sich allem zu verweigern, was die herrschende Politik radikal hinterfragen könnte. „Konstruktiv“ bedeutete, mit seinen Forderungen im Rahmen des „Machbaren“ zu bleiben, auf die Politik zuzugehen. Vielleicht sollte mensch sich klarmachen, dass das politisch Mögliche im Wesentlichen von Parteiprogrammen bestimmt wird: Von der PDS über Rot/Grün bis zur NPD, alles ist wählbar. Forderungen, die über Vorstellungen einzelner Parteien hinaus- oder an ihnen vorbeigehen, sind schlichtweg unmöglich. Für die aktuelle Kürzungsorgie ist aber keine bestimmte Regierung verantwortlich, sie findet überall statt – ob Rot/Rot in Berlin regiert oder Schwarz in Sachsen. Ist es nicht gerade utopisch, mit „realistischen“ Forderungen an die Regierenden heranzutreten? Ist es nicht vielmehr realistisch, den Zusammenhang zum um sich greifenden Sozialabbau herzustellen und solidarisch mit den anderen Betroffenen dagegen zu kämpfen?

Bleibt die Frage, warum diese Politik betrieben wird. Offizielle Begründung: Die desolate wirtschaftliche Lage sei schuld. Jetzt müsse überall gekürzt werden, nicht nur an den Unis, sondern an allen sozialen Leistungen und Einrichtungen. Die längst laufende Sparpolitik betrifft also alle, nicht nur die Studierenden. Auch Teile des Streikkomitees waren sich der offensichtlichen Verbindung zwischen Bildungs- und Sozialabbau nach drei Wochen Streik bewusst: so wurde von der Vollversammlung am 29.1. etwa der Stopp der neoliberalen Entwicklung von Bildungs- und Sozialpolitik gefordert und die Agenda 2010 abgelehnt. Spätestens jetzt ist mit „konstruktiv“ nichts mehr anzufangen.

Wenn von offizieller Seite die schlechte Wirtschaftslage als Rechtfertigung für politische Entscheidungen genannt wird, ist das gar nicht mal so falsch. Politik ist Ausdruck der gesellschaftlichen Zustände. Besser wird sie dadurch nicht, im Gegenteil – stimmt etwas in einer Gesellschaft nicht, kann es auch mit der von ihr abhängigen Politik nicht weit her sein. Zu kritisieren ist gerade das, was das Streikkomitee inhaltlich derart in die Ecke treibt: diese Verhältnisse! Es sollte eigentlich nicht schwer sein, das zu begreifen, scheint es aber. Zum Ausdruck kam dies in den Protesten selten. Zu sehr zielten Aktionen auf Verständnis hin, zu sehr waren sie vom Wunsch geprägt, von den Verantwortlichen „angehört“ zu werden. Nochmal: die Politik hört nur, was sie hören will – das, was „realistisch“ ist, sich also im von ihr gesteckten Rahmen abspielt.

Und genau deshalb ist es wichtig, eine grundsätzliche Kritik an den herrschenden Verhältnissen und ihrer Politik zu formulieren, um durch öffentlichen Druck eine breite Auseinandersetzung mit den hier aufgeworfenen Fragen zu erzwingen. Wie sonst kann etwas erreicht werden?

fi & freunde

Bildung

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