China: Ein Koloss in der Krise

Nicht nur in Großbritannien, auch auf der anderen Seite des Globus´ gibt es Riots, genauer gesagt in China. Wie die Nachrichtenagentur Reuters meldete, kam es Anfang Juni 2011 zu Unruhen in der südchinesischen Fabrikstadt Zengcheng. Auslöser war dabei das Gerücht, Sicher­heits­beamte hätten eine schwangere Straßen­händlerin getötet (tatsächlich war die Händlerin „nur“ geschlagen und zu Boden gestoßen worden). Es folgten drei­tägige Straßenschlachten, an denen sich tausende Arbeiter_innen beteiligten, die Polizeiautos umwarfen, Schaufensterscheiben einschlugen und Regierungsgebäude belagerten und in Brand setzten. Bewaffnete Polizeieinheiten rückten schließlich in die Stadt ein und gingen mit Tränengas und Panzerfahrzeugen gegen die Demonstrant_innen vor. Zengcheng ist ein wichtiges Zentrum der chinesischen Exportindustrie – von dort kommen etwa ein Drittel (!) aller weltweit produzierten Jeans. Mehr als 140.000 Wander­ar­beiter_innen sind in den etwa 3000 Fabriken der Stadt beschäftigt.

Schon einige Tage zuvor war es in der Stadt Chaozhou zu einem ähnlichen Aufruhr gekommen – dort hatte ein Firmenchef einen Arbeiter und dessen Sohn zusammenschlagen lassen, weil diese ihren ausstehenden Lohn verlangten. In der Stadt Lichuan stürmten etwa 2.000 Demons­trant_innen ein Regierungsgebäude. Auslöser war hier der Tod eines Beamten, der u.a. wegen des Vorwurfs illegaler Landenteignung gegen die Lokalregierung ermittelt hatte. Im Gegenzug wurde gegen ihn ein Verfahren wegen angeblicher Annah­me von Bestechungsgeldern eröffnet. Bei einem Polizeiverhör wurde der Mann of­fensichtlich misshandelt, er starb am 4. Ju­ni an seinen Verletzungen. An den folgenden Protesten und Unruhen beteiligten sich bis zu 20.000 Menschen.

Auch in der Stadt Anshun in der südwestlichen Provinz Guizhou kam es zu Riots. Anlass war hier der Tod eines Straßenhändlers, der anscheinend von Sicherheitskräften auf offener Straße zusammengeschlagen und getötet worden war. Darauf­hin versammelte sich eine Menge von mehreren tausend Einwoh­ner_innen, Autos wurden umgeworfen und die Polizeikräfte mit Steinen angegriffen. In zwei Städten wurden Bombenanschläge gegen Regierungseinrichtungen verübt.

Schon im Mai war es in mehreren Städten der Inneren Mongolei zu Protesten gekommen, nachdem zwei Mongolen von einem LKW überfahren worden waren – sie waren an der Blockade einer Zufahrtsstraße zu einem Kohlerevier beteiligt gewesen, um gegen die Zerstörung ihres Weidelandes zu demonstrieren. Mitte Juli kam es in der Provinz Xinjang im Westen des Landes zu „ethnischen Unruhen“.

Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen. Proteste sind in China an der Tagesordnung. Schätzungen zufolge gab es im vorigen Jahr in China 180.000 „Massenzwischenfälle“, also Streiks, Demonstrationen, Straßenblockaden und andere „Störungen der öffentlichen Ordnung“. 2004, als zum letzten Mal eine offizielle Statistik veröffentlicht wurde, waren es nur knapp halb so viele. So wurde die chinesische Automobilindustrie im Sommer 2010 von einer Welle von wilden Streiks erschüttert, die vor allem von Wander­arbei­ter_innen getragen wurde. Das Zentrum bildete damals das südchinesische Perlflussdelta – die Region um die Städte Hongkong, Shenzhen und Guangzhou ist eines der wichtigsten Industriezentren des Landes. Betroffen waren u.a. Zuliefer­firmen von Honda, Toyota und anderen multinationale Konzerne. Man könnte die jetzigen Riots als zweiten Akt dieser Streikwelle betrachten.

Boom & Blasen

China hat bislang die Krise recht gut überstanden. Das liegt vor allem an den Niedriglöhnen, durch die sich das Land zum Exportweltmeister aufgeschwungen hat – und somit vor allem an den Wander­ar­bei­ter_innen. Diese werden durch das offizielle Haushaltsregister-System der Landbe­völ­kerung zugerechnet. Sie haben damit zwar Anspruch auf die Zuteilung von Ackerland, aber keinen Zugang zu städtischen Sozialleistungen. Da diese „Bauern-Ar­beiter“ (mingong, so die offizielle Be­zeich­nung) eine zusätzliche Subsis­tenz­grundlage auf dem Land haben, können die Unternehmen die Löhne niedrig halten.

Das Haushaltsregister-System wurde 1955 ein­geführt und beinhaltete damals eine Art Re­sidenzpflicht – die Bauern durften das Dorf, in dem sie registriert waren, nicht verlassen. Die­se Regelung kam erst in den 80er Jahren ins Wanken. Im Zuge der schrittweisen öko­nomischen Liberalisierung (insbeson­dere der Lebensmittelversorgung) strömten Millionen Bauern in die Städte und die neu entstandenen Sonderwirtschaftszonen. Der Staat versuchte erfolglos diese un­geregelten Bevölkerungsbewegungen mit „Säuberungsaktionen“ in den Griff zu be­kommen. Unerwünschte Wanderarbeiter­_innen wurden zurück aufs Land deportiert und waren auch sonst vielfältigen Diskri­mi­nierungen (etwa durch die Polizei) ausgesetzt. In den letzten zehn Jahren hat sich die rechtliche Situation der Wander­arbei­ter­_innen ein wenig verbessert – die Regierung hat eben erkannt, wie wichtig die billige Arbeitskraft der min­gong für die Wirtschaft ist.

Die jüngere Generation der „Bauern-Arbeiter“ hat allerdings mitt­lerweile ihre Erfahrungen mit der Lohnarbeit in den Fabriken gemacht und ist nicht mehr bereit, sich zu jeden Bedingungen ausbeuten zu lassen. Und obwohl es geschätzt etwa 150 bis 200 Millionen Wander­arbeiter_innen gibt, ist das Reservoir an billigen Arbeitskräften keineswegs unerschöpflich. Während manche Unternehmen im Zuge der internationalen Wirtschaftskrise massenhaft Entlassungen durchführten, haben sie nun Schwierigkeiten, ihren Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Und wenn sich Streiks und Riots weiter häufen, dann dürfte dies die Preise für die Ware Arbeitskraft langfristig nach oben treiben.

Auch die derzeitige Schuldenkrise der USA wird wohl das chinesische Wachstum beeinträchtigen und so die sozialen Konflikte langfristig verschärfen. Die US-amerika­nische und die chinesische Wirtschaft pfleg­ten bislang eine geradezu symbiotische Beziehung, die ungefähr so aussah: Die USA importieren im großen Stil chine­sische Waren. Daraus ergibt sich auf ame­rikanischer Seite ein gigantisches Außen­handelsdefizit. Auf chinesischer Seite häufen sich große Dollarsummen. China leiht diese dann wiederum der US-Regierung und erhält dafür Staatsanleihen.

Seit 1995 profitierte China dabei auch von den festen Wechselkursen zwischen Dollar und Yuan. Zwar kündigte die chinesische Zentralbank schon 2010 eine Reform der Wechselkurspolitik an. Zugunsten besserer Chancen auf anderen Absatzmärkten soll­­te die einseitige Orientierung am US-Dol­lar aufgeweicht werden. Trotz solcher An­kündigung sind die USA aber nach wie vor der wichtigste Abnehmer chinesischer Waren.

Dass dieser nun ins Wanken gerät, ruft offenbar Nervosität bei der chinesischen Regierung hervor. Eine am 6. August durch die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua veröffentlichten Stellungnahme geißelte in harschen Worten die ameri­kanische “Schul­den­sucht”: “Die US-Regierung muss sich endlich der schmerzlichen Tatsache bewusst werden, dass die guten alten Tage vorbei sind, wo sie sich aus dem selbstver­schuldeten Schlamassel einfach herausschnorren konnte.“ Die Vereinigten Staaten müssten, so die Forderung, nun endlich ihr strukturelles Schuldenproblem beheben und die Sicherheit der chinesischen Dollar-Reserven gewährleisten. Zudem müsse eine „internationale Überwachung der Ausgabe von US-Dollars“ her, und ebenso eine „neue, stabile und sichere globale Reservewährung“, um „eine von einem einzelnen Land verursachte Katastrophe abzuwenden“.

Die Unruhe kommt nicht von ungefähr: Von den großen Wirtschaftsmächten steht China (mit einer stetigen Wachstumsrate von jährlich 8 bis 10% im letzten Jahrzehnt) zwar noch am besten, aber keines­wegs sicher da. Schon 2003 hat Alan Greenspan, der Chef der amerikanischen Notenbank Fed, vor einer möglichen „Überhitzung“ des chinesischen Marktes gewarnt, also davor, dass Kredite im Übermaß in Bereiche gepumpt werden, wo keine entsprechenden Gewinne erzielt werden können.

Eine solche Kreditblase scheint es z.B. beim chinesischen Immobilienmarkt zu geben: Seit 2002 war dort ein Preisanstieg von 800% zu verzeichnen, von 400% allein zwischen 2008 und 2010. Diese Steigerung der Immobilienpreise wird vor allem von den lokalen Behörden vorangetrieben. Das Land ist in staatlichem Besitz, und der Verkauf von Baugrund­stücken bildet die wichtigste Einnahmequelle der Lokalregierungen und der Kommunen. Das führt nicht nur zur widerrechtlichen Enteignung von Ackerland (und damit zu Protesten der Bauern), sondern auch zu krassen Gentrifizierungs- und Verdrängungsprozessen in den Städten, bei denen Millionen Miet- zu Eigentumswohnungen wurden. Und während derzeit eine solche Eigentumswohnung in Peking das 20fache eines durchschnittlichen Jahreseinkommens kostet, stehen gleichzeitig geschätzte 65 Millionen Wohnungen leer.

Die Regierung versucht der Gefahr der Blasenbildung zwar durch gesetzliche Beschränkungen der Kreditvergabe entgegenzuwirken. Eine solche wirksame Kontrolle der Banken kündigt sie allerdings schon seit Jahren an, sie ist also offensichtlich nicht allzu erfolgreich dabei. Die Frage ist auch, ob sie sich eine wirkliche Kontrolle überhaupt leisten kann und will: Ein Stopp der Kreditvergabe würde wohl für einige dubiose Millionenprojekte den Zusammenbruch bedeuten.

Bilanzen & Skandale

Der Crash hat möglicherweise schon begonnen: In den letzten Monaten fielen die Aktienkurse bislang hochdotierter chinesischer Firmen reihenweise in den Keller. Das betrifft in erster Linie sog. Reverse Merger, also Unternehmen, die eine ban­krotte ausländische Firma als rechtlichen „Mantel“ übernommen und sich so „durch die Hintertür“ Zugang zum Aktienmarkt verschafft haben.

Gegenüber solchen von vornherein ein wenig halbseidenen Unternehmen ist der Fall von Longtop Financial ein anderes Ka­liber. Das Unternehmen galt lange Zeit als ei­ner der größten Software-Entwickler Chi­nas. Beim Börsengang im Oktober 2007 erzielte Longtop einen Erlös von 182 Mio. Dollar, am ersten Handelstag ging der Kurs um 85 Prozent in die Höhe. Der Ge­samtwert der Longtop-Aktien wurde im No­vember 2010 auf 2,4 Milliarden US-Dol­lar geschätzt. Das Who-is-who der internationalen Investmentbranche war mit an Bord. Der Börsengang von Longtop wur­de von Goldman Sachs und der Deutschen Bank abgewickelt (1). JP Morgan Chase hält immer noch fast zwei Millionen Aktien, die Ende März 62 Mio. Euro wert waren.

Es dauerte ein paar Jahre, bis die Branche misstrauisch wurde. Erst genauere Nachforschungen des zuständigen Wirtschaftsprüfungsunternehmens, Deloitte Touche Tohmatsu, brachten einen massiven Betrug zum Vorschein: Ein großer Teil des Cashbestandes von angeblich 300 Mio. US-Dollar existierte nur auf dem Papier. Zudem hatte das Unternehmen verschiedene Bankkredite aufgenommen, die in den Bilanzen nicht auftauchten. Das Bedenkliche an dem Betrug (und der Grund, warum er so lange unentdeckt blieb) ist, dass es sich dabei nicht um einen Alleingang von Longtop handelte, sondern mehrere chinesische Banken offenbar daran beteiligt waren: Die gefälschten Bilanzen wurden von diesen bei Nachfragen der Wirtschaftsprüfer durch falsche Angaben bestätigt (2). Das lässt, angesichts der Bedeutung der chinesischen Banken für die Weltwirtschaft, nichts Gutes ahnen… Seit Mitte Mai werden die Longtop-Aktien nicht mehr an der Börse gehandelt. Den Anlegern droht der komplette Verlust ihrer Investitionen.

Ähnlich liegt der Fall bei dem Forstunternehmen Sino-Forest. Nachdem der Wert der Aktien in Spitzenzeiten mit über fünf Milliarden US-Dollar veranschlagt wurde, befindet er sich nun im freien Fall. Der Vorwurf: Sino-Forest habe den Wert seiner Wälder um rund 900 Millionen US-Dollar zu hoch ausgewiesen. Auch bei dem Chemiekonzern ShengdaTech tauchten solche Unstimmigkeiten in den Bilanzen auf. Und China Integrated Energy, nach Eigenauskunft einer der führenden Produzenten von Biodiesel, verweigerte eine Überprüfung seiner Bilanzen, nach­­­dem Vorwürfe laut wurden, die Raffinerien und Tankstellen, die das Unternehmen angeblich be­treibt, würden gar nicht existieren.

Ganz so stark, wie bis­lang geglaubt, steht die chinesische Wirtschaft also nicht da. Oh­ne hier allzu viel aus dem Kaffeesatz lesen zu wollen: Diese Be­trugs­fälle könnten die Vorboten eines künftigen Crashs sein. Es ist kei­neswegs ausgeschlossen, dass es in zwei oder drei Jahren zu einem größeren Einbruch bei den Wachstumsraten kommt. Damit könnten sich auch die schwelenden sozialen Konflikte weiter verschärfen. So gibt es den Schätzungen der staatlichen Kommission für Bevölkerungs- und Familienplanung zufolge bei der Agrar­bevöl­kerung noch immer einen „Überschuss“ von ca. 150 Millionen Menschen, die auf dem Land keine wirkliche Perspektive haben. Die Regierung ist also auf stetige hohe Wachstumsraten angewiesen, um neue Jobs zu schaffen, eine kontrollierte Abwanderung aus den ländlichen Gebieten zu ermöglichen und so die sozialen Spannungen managen zu können. Das ist ihr in den letzten Jahrzehnten auch recht gut gelungen. Wenn sich das Wachstum aber von derzeit jährlich 8-10% auf 4-5% halbiert, dürfte sich diese Politik nicht mehr fortsetzen lassen. Welche Auswirkungen dies hat, bleibt abzuwarten. Die Chancen dafür, dass sich die bisher noch verstreuten und unkoordinierten sozialen Kämpfe dann zu einer breiteren oppositionellen Bewegung zusammenfinden, stehen jedenfalls nicht schlecht.

justus

(1) www.stock-world.de/analysen/nc3810317-China_Aktien_Mega_Crash.html
(2) www.nytimes.com/2011/05/27/business/27norris.html?pagewanted=all

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