Schlagwort-Archive: 2011

Wandern für den Standort

Arbeitsmigration und Migrationspolitik in Deutschland

Eigentlich schien es kaum jemand zu interessieren, als am 1. Mai diesen Jahres nach siebenjähriger Verzögerung auch in Deutschland die sog. Arbeit­neh­merfreizügigkeit für Lohnabhängige aus osteuropäischen EU-Staaten in Kraft trat. Diese brauchen nun keine Arbeitserlaubnis mehr, um hierzulande eine Tätigkeit aufnehmen zu können. Na gut, die Gewerkschaften warnten vor möglichem Lohndumping, und in mehreren Städten demonstrierten am 1. Mai Neonazis unter dem Motto „Fremdarbeit stoppen!“ für ihr Recht, als Deutsche von deutschen Kapitalist_innen bevorzugt ausgebeutet zu werden.

Zu einem großen Ansturm osteuropäischer Arbeitssuchender kam es aber nicht. Kein Wunder, denn Deutschland hat sich auch so schon längst zum Europameister in Sachen Lohndumping entwickelt: Während die Reallöhne in allen anderen EU-Staaten stiegen, sanken sie hier­zulande von 2000 bis 2010 um etwa 4%. Mittlerweile haben sich deswegen z.B. die polnischen und die deutschen Durch­schnitts­löhne soweit angeglichen, dass sich die Auswanderung nach Deutsch­land schlicht nicht mehr lohnt.

Und wo ein besonderer saisonaler Bedarf an Hilfskräften bestand (etwa bei der Spargel- oder Erdbeerernte), konnten die Unternehmen auch vorher schon Saison­arbeiter_innen für bis zu sechs Monate anstellen – Deutschland schloss schon in den 90er Jahren entsprechende Verwal­tungs­absprachen u.a. mit Tschechien, Polen, Ungarn, Rumänien, Slowenien und Kroatien ab. Dies betraf vor allem niedrig qua­lifizierte Tätigkeiten, für die sich auf­grund der schlechten Bezahlung nicht ge­nug inländische Arbeitskräfte finden ließen.

Der gemeinsame europäische Arbeitsmarkt ver­größert nun zwar kurzfristig die Zahl der potentiellen Bewerber_innen, dürfte aber auch dazu beitragen, dass sich die Le­bensverhältnisse in den einzelnen EU-Staaten langfristig angleichen. Und damit schwin­den für die Lohnabhängigen die An­reize zur Migration, während für die Un­ternehmen die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte immer weniger Vorteile bringt. Schon jetzt klagt z.B. der Verband Süd­­deutscher Spargel- und Erdbeeranbauer, dass es immer schwieriger werde, Arbeitskräfte aus EU-Vertrags­staa­ten zu gewinnen und fordert darum, die be­­stehenden Anwerbeprogramme auch auf Weiß­­russland und die Ukraine auszudehnen.

Weitere Vorschläge kommen vom Sach­verständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), einem regierungsnahen Think Tank. Im September 2011 veröffentlichte dieser eine Studie, mit der „Chancen, Grenzen und Zukunftspers­pek­tiven für Programme zirkulärer Mi­gration“ ausgelotet werden soll­ten. Zirkuläre Migration, die durch Abkommen mit anderen Staaten geregelte, zeitlich begrenzte (auch mehrmalige) Ein- und Auswanderung von Arbeitskräften, böte nicht nur die Möglichkeit einer verbesserten Zu­wan­­derungs­steu­­e­­rung, son­dern soll auch die wirtschaftliche Entwicklung der Herkunftsländer befördern. Ziel sei also „eine Triple-Win-Situation, in der Herkunfts-, Aufnahmeländer und Migran­ten gleichzeitig von den mehrfachen Wanderungen profitieren.“

Entsprechende Programme sollten, so der Vorschlag des SVR, in einem Pilotprojekt getestet und wissenschaftlich evaluiert werden. Daran sollen zu­nächst 500 bis 1000 Per­sonen teilnehmen, vor allem „Migran­ten mitt­lerer Qua­lifikation in Branchen, die für Deutsch­land und ein potenzielles Her­kunfts­land interessant sind: Gesundheitssek­tor […] Tourismus, Metall verarbeitende Industrie, KFZ-Sektor.“ Eine mehrfache Ein- und Ausreise sei aus entwicklungspoli­tischer Perspektive erwünscht. Die Dauer des Aufenthalts sollte aber jeweils nicht mehr als zwei Jahre betragen und vor allem „eine maximale Dauer von fünf Jahren nicht überschreiten, da sonst gemäß EU-Daueraufenthaltsrichtlinie (2003/109/EG) ein Anspruch auf dauerhaften Aufenthalt entsteht.“

Während bei nicht oder niedrig qualifizierten Arbeitskräften also Wert darauf gelegt wird, dass sie das Land irgendwann wieder verlassen, sieht das bei Fachkräften anders aus. Hier werden seitens der Wirtschaft dauerhafte Möglichkeiten des Aufenthalts gefordert, da sonst zu viele Bewerber_innen abgeschreckt würden und es zudem unnötige Kosten erzeugen würde, ständig neue Expert_innen einzuarbeiten.

Seitens der Politik wird bereits Entgegenkommen signalisiert. „Die Fachkräftesicherung wird die zentrale Herausforderung der kommenden Jahrzehnte werden. Wenn wir nicht handeln, wird der Mangel zur Wachstumsbremse“, erklärte Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) auf einer Pressekonferenz, bei der eine neue Studie der Unternehmensberatung Mc­Kinsey vorgestellt wurde. Dieser Studie zufolge sollen bis zum Jahr 2025 etwa 6,5 Mio. Arbeitskräfte fehlen, davon 2,4 Mio. Aka­de­mi­ker_in­nen.

Als Antwort darauf erklärte von der Leyen am 22. Juni, beim sog. „Fach­kräfte­gip­fel“ in Mese­berg, dass für Metall-, Fahr­­zeug­bau- und Elektroingenieure sowie Ärzte künftig die sog. Vor­rangprü­fung (also der Nachweis, dass es für die betreffende Stelle keine geeignete Be­wer­ber_in mit deutscher Staatsangehörigkeit gibt) entfallen solle.

Aber auch der sächsische Innenminister Markus Ulbig sorgt sich um Zukunft des Standorts: Schon im April brachte er eine Gesetzesinitiative in den Bundesrat ein, die Fachkräften aus Nicht-EU-Ländern den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtern soll. Während diese bislang ein jährliches Mindesteinkommen von 66.000 Euro nachweisen müssen, um eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, soll nach Ulbigs Plänen diese Summe künftig bei 40.000 Euro im Westen und 35.000 im Osten liegen. Fachkräfte mit Arbeitsvertrag sollen zunächst für zwei Jahre bleiben und nach deren Ablauf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen können. Zudem soll das Genehmigungsverfahren beschleunigt werden. Schon seit Herbst sind die sächsischen Ausländerbehörden angewiesen, das Verfahren in maximal vier Wochen zu erledigen.

Ein grundlegender Wandel der deutschen Einwanderungspolitik ist das allerdings nicht – die altbekannte Unterscheidung zwischen „Ausländern, die uns nützen, und solchen, die uns ausnützen“ soll künftig nur ein wenig effizienter getroffen werden.

justus

Schlandort

Occupy Everything!

Soziale Bewegung in den USA

Ein Text über die amerikanische Occu­py-Bewegung? Wurde dazu nicht schon genug geschrieben? Und ist das überhaupt eine richtige Bewegung und nicht nur ein Medien-Hype?

Das sind berechtigte Einwände. Trotz all seiner fragwürdigen Seiten ist das Phänomen aber immer noch viel zu interessant, um es einfach zu ignorieren. Natürlich ist der Protest inhaltlich diffus, oft von geradezu rührender Naivität geprägt, mitunter auch einfach nur doof. Anderer­seits bewegt sich hier noch viel zu viel, als dass sich schon ein abschließendes Urteil fällen ließe – positive Überraschungen sind längst nicht ausgeschlossen. Auch der folgende Text ist also ein Patchwork, selektiv und ganz und gar voreingenommen. Ein Versuch, interessante Punkte aufzuzeigen, die sonst in der Berichterstattung eher zu kurz kommen, und zu schauen, wo sich hier vielleicht etwas wirklich Revolutionäres anbahnt…

Baby, We´re All Anarchists Now

Ein interessanter Aspekt ist zweifellos der Internationalismus der Bewegung: Die Protestierenden in New York, Baltimore oder Oakland verfolgen sehr genau, was auf dem Tahrir-Platz in Kairo passiert. Und umgekehrt ebenso: Nachdem Ende Oktober die Camps in Oakland und Atlanta gewaltsam von der Polizei geräumt wurden, demonstrierten ägyptische Akti­vist_innen vor der amerikanischen Botschaft in Kairo, um ihre Solidarität zu zeigen. Als es wiederum Ende November in Ägypten heftige Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant_innen und Sicher­heitskräften gab, wurde in den USA vor ägyptischen Botschaften gegen die Repression demonstriert. Dass sich die Proteste weltweit in dieser Weise aufeinander beziehen, ist ein wichtiger und ermutigender Aspekt.

Zweitens: Neben der medialen Öffentlichkeit schaffen die Platzbesetzungen auch eine innere Öffentlichkeit. Menschen, die sich sonst kaum begegnet wären, treffen aufeinander, arbeiten über Wochen hinweg zusammen, debattieren… Die Besetzungen schaffen ein Umfeld für kollektive Lernprozesse – und es ist noch nicht abgemacht, was dabei am Ende herauskommt.

Ein dritter interessanter Aspekt ist, dass die Be­wegung klassisch anarchistische Elemente aufgreift. Das betrifft nicht nur die Ab­grenzung gegenüber Parteien, sondern vor allem die basisdemokratische Ent­scheidungsfindung durch Vollversamm­lun­gen und Konsensbeschlüsse. Auch der Anth­ropologe David Graeber (der sowohl bei den Industrial Workers of the World als auch bei Occupy Wall Street aktiv ist) weist auf diesen Punkt hin. In einem Artikel (1) be­tont er die anarchistischen Grundprinzi­pien der Bewegung und das neue Verständnis von Demokratie, das sich hier zeige.

Die Aktivist_innen, schreibt er, „weigerten sich, die Rechtmäßigkeit der politischen Autoritäten dadurch anzuerkennen, dass sie For­derungen an diese Autoritäten richten; sie weigerten sich, die Legitimität der herrschenden Rechtsordnung anzuerkennen, indem sie einen öffentlichen Raum besetzten, oh­ne um Erlaubnis zu fragen; sie weigerten sich, Repräsentant_innen zu wählen, die hät­ten bestochen oder korrumpiert werden können; sie bekundeten, wenn auch gewaltfrei, dass das System als ganzes korrupt und abzulehnen sei; und sie waren bereit, der unausweichlich gewalttätigen Antwort des Staates zu trotzen.“ Gerade diese anar­chistischen Prinzipien hätten wesentlich zum Erfolg der Bewegung beigetragen.

Dass in Zusammenhang mit dem Protest so offen und positiv von Anarchismus geredet und die vage Formel der „echten Demokratie“ in diesem Sinne gefüllt wird, ist immerhin bemerkenswert. Über die zentrale These Graebers lässt sich aber streiten. Basisdemokratische Entschei­dungs­struktu­ren bieten eben nur die Möglichkeit, keine Garantie für wirkliche Selbstermächtigung. Ein beträchtlicher Teil der Bewegung, so ließe sich sagen, kämpft mit anarchistischen Mitteln für sozialdemokratische Ziele.

Jedenfalls beschreibt z.B. Malcolm Harris, ein Autor des libertären Jacobin Mags, die Lage deutlich anders als Graeber. Es gäbe zwar einen anarchistischen Anteil bei den Protesten, aber es sei auffällig, dass „Anarchist_innen und Occupier mittlerweile zu zwei getrennten – wenn auch überlappenden – Gruppen geworden sind. Auf der Straße wird das noch offensichtlicher. Als ich übers Wochenende bei Occupy DC war, erzählte mir ein Kerl, den ich dem Äußeren nach als Anarcho eingestuft hätte, wie ein anderer Demonstrant ihn von der Fahrbahn zurück auf den Bürgersteig, in den von der Polizei kontrollierten Demozug gestoßen hatte. Das gleiche habe ich in New York erlebt, und ich wette, anderswo passiert Ähnliches. Aus Chicago gab es Gerüchte, dass einige Occupier Flugblätter mit Namen und Fotos von ´bekannten Anarchisten´ gedruckt hätten, und gewisse Komitee-Mitglieder von OWS haben angedeutet, man müsse die autonomen Gruppen aus der Bewegung herausdrängen.“ (2)

Solche selbsternannten Ordnungshü­ter_in­nen scheinen ein typisches Phänomen bei den Protesten zu sein. Dabei werden oft schon banale Ordnungswidrigkeiten als Verstoß gegen den Grundsatz der Friedfertigkeit gewertet und mit teils recht rabiaten Mitteln dagegen vorgegangen. Auch aus Oakland wurde wiederholt über solche Demons­trant_in­nen berichtet, die sich als Hilfs­sheriffs aufführen und z.B. versuchen, vermeintliche „Unruhestifter“ auf eigene Faust festzuhalten und der Polizei zu übergeben. Die Forderung nach regelkonfor­mem Verhalten übt aber auch diskursiven Druck aus – so werden mit dem stetig wiederholten Hinweis, man wolle einen „friedlichen Protest“, auch notwendige Debatten über den Umgang mit Polizeigewalt unterbunden.

In einem anderen Text kommentiert Malcolm Harris dazu sarkastisch: „Ich weiß, dass Occupy Wall Street Leitlinien für das Verhalten bei Demonstration entwickelt hat. Und obwohl ich das generell nicht mag, sollten wir doch gemeinsam ein paar Regeln aufstellen, wie wir auf der Straße mitein­ander umgehen. Wenn Gewaltlosigkeit dazugehört, dann sollten wir auch klarstellen, dass es ein inakzeptables Verhalten ist, jemanden anzugreifen, nur um Privateigentum zu schützen. Das gilt auch für andere Verhaltensweisen, die den Grundsatz der Gewaltlosigkeit verletzen, z.B. der Polizei bei Verhaftungen zu helfen oder Leute auf die vorgeschriebene Marschroute zurückzuschubsen. Diese Diskussion würde vielleicht helfen, sich darüber klar zu werden, wer wirklich eine interne Bedrohung für die Besetzungen darstellt.“ (3)

Der „Generalstreik“ in Oakland

Nicht alle Demonstrant_innen wollen sich freilich mit der Polizei verbrüdern. Als am 10. Oktober in Oakland zwei Camps errichtet wurden, benannten die Akti­vist_innen den von ihnen besetzten Platz in Oscar Grant Plaza um – Oscar Grant, ein farbiger Jugendlicher, war Anfang 2009 in Oakland von einem Polizisten erschossen worden. Also eine klare Ansage an die Polizei…

Die Cops bemühten sich, ihrem schlechten Ruf gerecht zu werden: In der Nacht vom 25. zum 26. Oktober wurde sowohl die Oscar Grant Plaza als auch ein zweites, in einem Park in der Nähe gelegenes Camp mit brachialer Gewalt geräumt. Der Irakkriegs-Veteran Scott Olson wurde von einer Tränengaskartusche getroffen, die ein Polizist in Kopfhöhe in die Menge gefeuert hatte. Er erlitt einen Schädelbruch und lag mehrere Tage im Koma.

Die geräumten Plätze wurden mit Zäunen abgesperrt. Allerdings kehrten die Beset­zer_innen bald zurück, die Zäune wurden demontiert und die Camps wieder aufgebaut. Als Antwort auf die staatliche Repression riefen sie zum Generalstreik auf: Am 2. November sollte die gesamte Stadt lahmgelegt werden. Unterstützung für dieses Vorhaben kam nicht nur von der örtlichen Lehrergewerkschaft, sondern auch von der ILWU (International Long­shore and Warehouse Union), der Gewerkschaft der Hafenarbeiter_innen.

Obwohl klar war, dass bei einer Vorlaufphase von gerade mal einer Woche kein Generalstreik im vollen Sinne des Wortes herauskommen würde, war der Aktionstag doch ein großer Erfolg. Viele Inha­ber_innen kleinerer Läden unterstützten den Streik. Eine Reihe von Banken hatte der erwarteten Ausschreitungen wegen geschlossen, bei anderen Filialen zertrümmerten im Laufe des Tages autonome Grüppchen die Fensterscheiben. Auch das Gebäude von Oakland Whole Foods, einem Lebensmittelunternehmen, das für seine gewerkschaftsfeindliche Politik bekannt ist, wurde mit Farbbeuteln beworfen.

Am frühen Nachmittag machte sich ein Demonstrationszug (nach Polizeiangaben etwa 7000, nach Presseberichten bis zu 20.000 Menschen) auf den Weg zum Hafen von Oakland, um dort die Zufahrten zu blockieren. Dieses Vorgehen hatte vor allem rechtliche Hintergründe: Eine Klausel in den Arbeitsverträgen untersagt den Hafenarbeiter_innen Solidaritätsstreiks jeder Art (4). Sie können aber die Arbeit niederlegen, wenn durch unvorgesehene Ereignisse ihre Sicherheit nicht mehr gewährleistet scheint – die Demonstration sollte also einen Vorwand für die Arbeitsniederlegung schaffen und so juristische Repressalien zu vermeiden helfen.

Schon seit den Morgenstunden ging der Hafenbetrieb nur schleppend voran, weil viele Arbeiter_innen sich krank gemeldet hatten. Nachdem die Zufahrten mit Streikpostenketten blockiert waren, war der Hafen (immerhin der fünftgrößte Frachthafen der USA) bis spät in die Nacht hinein gänzlich lahmgelegt – für die Stadt und die Reedereien bedeutete das einen Verlust von etwa 8 Mio. Dollar! Das ist nicht nur deshalb wichtig, weil es weit über bloß symbolische Aktionen hinausgeht. Auch die Trennung von „sozialen Bewegungen“ und „Klassenkampf“, wie sie in den letzten Jahrzehnten vorherrschte, wird dadurch ein Stück weit aufgehoben.

Mittlerweile wird geplant, die Aktion in größerem Maßstab zu wiederholen und am 12. Dezember die Häfen der gesamten Westküste zu blockieren (5). Damit soll nicht nur gegen die Repression der vergangenen Wochen demonstriert werden. Zugleich wollen die Besetzer_innen damit die streikenden Hafen­arbei­ter_in­nen in Longview (Washington) unterstützen.

Besetzen!

In der Nacht zum 3. November wurde zudem ein leerstehendes Gebäude besetzt. Dieses hatte ehemals der Traveller´s Aid Society gehört, einer Non-Profit-Organisation, die sich für Obdachlose einsetzt, war aber wegen der Kürzung der staatlichen Zuschüsse geschlossen worden. In einem Statement erklärten die Akti­vist_innen: „Uns ist klar, dass nach dem Eigentumsrecht so ein Akt als unbefugtes Betreten oder gar Einbruch gilt […] Aber während die Blockade des Hafens – eine Aktion, die millionenschwere Verluste verursachte – ungehindert ablaufen konnte, wur­de der Versuch, ein einziges leeres Gebäude zu besetzen, von der Polizei umgehend brutal unterbunden. Warum? Weil sie diesen nächsten logischen Schritt der Bewegung mehr fürchten als alles andere […] Sie sagen: Ihr könnt in eurem rattenverseuchten Park campen, solange ihr wollt. Aber in dem Moment, wo ihr das Eigentumsrecht antastet, werden wir euch mit all unseren Mitteln bekämpfen.“ (6)

Das ist sicher ein gutes Statement. Die Aktion selbst lief aber nicht ganz so glorreich ab, wie es hier dargestellt wird. Eine Beobachterin kritisiert z.B. in einem anonymen Kommentar, dass das Ganze „eher wie eine anarchistische Glamour-Pose aussah, und nicht wie ein gezielter revolutionärer Akt mit dem Ziel, das Gebäude wirklich zu übernehmen und zu halten. Es hängt mir zum Hals raus, dass direkte Aktionen nur der schönen Pressebilder wegen gemacht werden. Es hängt mir zum Hals raus, wenn Barrikaden nur gebaut werden, um sie dann auf der Stelle zu verlasse, sobald die Polizei das Feuer eröffnet.“

Die Beobachterin kritisiert auch das Verhalten des schwarzen Blocks am Streiktag und in der folgenden Nacht: „Die Scheiben von Geschäften einzuschlagen, die den Streik unterstützt haben, war einfach nur dumm und kontraproduktiv. Und zu sehen, wie Leute aus dem schwarzen Block vor der Polizei flüchteten, statt das Camp zu beschützen, das sie mit ihren Aktionen gefährdet hatten, wobei sie viele kranke Menschen, Straßenkids und Obdachlose wehrlos zurückließen, war dermaßen mies, dass ich es gar nicht ausdrücken kann…“ Der Kommentar endet: „Ich möchte, dass die Leute sich der Polizei entgegenstellen […] Ich möchte, dass Häuser dauerhaft besetzt und nicht binnen Stunden geräumt werden […] Ich möchte eine bessere Taktik und ein Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Leuten, die von unserem Verhalten betroffen sein könnten – und davon habe ich letzte Nacht nichts gesehen.“ (6)

Wie dem auch sei: Hausbesetzungen werden auch an anderen Orten als logischer nächster Schritt der Bewegung gesehen. Auch im nordkalifornischen Chapel Hill besetzten Aktivist_innen ein Haus, wurden aber bald von schwer bewaffneter Polizei geräumt. Und drei Wochen nach dem eher unrühmlichen ersten Versuch gab es in einem Außenbezirk von Oakland eine weitere, scheinbar erfolgreichere Besetzung.

Andernorts haben sich weniger spektakuläre, aber nachhaltigere Initiativen entwickelt, die in eine ähnliche Richtung zielen – so z.B. die seit 2009 bestehende Anti-Eviction Campaign in Chicago. Diese unterstützt Menschen und Familien, die aus ihren Häusern vertrieben wurden, weil sie die Hypotheken nicht mehr zahlen konnten. Die Kampagne organisiert nicht nur juristische Unterstützung und öffentliche Proteste, sondern unterstützt auch Aktionen, bei denen sich die Menschen den benötigten Wohnraum einfach aneignen.

Solche Initiativen kommen vor allem aus den nicht-weißen Communities, die von den Folgen der Wirtschaftskrise besonders schwer betroffen sind. Und obwohl Occupy nach wie vor eine weitgehend „weiße“ Veranstaltung ist, erhalten auch die sozialen Bewegungen in den schwarzen und Latino-Communities neuen Auftrieb und Unterstützung durch den Protest.

In einem Interview erklärt J.R. Fleming von der Chicagoer Kampagne dazu: „Wir werden eine größere Beteiligung der Schwarzen sehen, wenn wir anfangen, die tausenden Häuser und Wohnungen zu besetzen, die jetzt im Besitz der Banken sind. Du kannst den ganzen Tag in der Innenstadt verbringen und demonstrieren, aber wenn du hier ins Viertel zurückkommst, bist du immer noch obdachlos oder nah dran, es zu sein. Wenn wir diese Häuser hier in der Nachbarschaft besetzen, dann wäre das die Art von Besetzungen, die wirklich was bedeutet für die Leute, die wirklich einen Unterschied macht.“ (8) Das ist ein wichtiger Punkt: Der öffentliche Protest mag wichtig sein, ändert aber wenig an den alltäglichen Problemen der Leute.

Ein ähnliches Ziel wie die Chicagoer Kampagne verfolgt die Initiative Take Back The Land aus Miami, die schon 2006 von dem Anwalt Max Rameau gegründet wurde. In einem Interview beschreibt Rameau das Vorgehen bei der Aneignung von Wohnraum: „Wir gingen dort hin, machten uns mit den Verhältnissen im Viertel vertraut, schauten uns das Haus an und fanden es in gutem Zustand. Dann sprachen wir mit den Leuten im Viertel und meinten: Schaut, dieses Haus steht leer. Wir haben eine Familie, die eine Bleibe braucht. Wir würden sie gern hier unterbringen. Das wäre gut für die Familie und auch gut fürs Viertel, wenn hier nicht so viele Häuser leer stehen. Wir hätten gern eure Unterstützung dafür. Und wir machten eine Pressekonferenz und brachten die Familie dort unter, und alle Nachbarn unterstützten das. Die Familie lebt jetzt seit etwa drei Monaten dort. Und die Nachbarn haben sich bereit erklärt, dass sie, wenn die Polizei kommt um diese Familie zu räumen, dass sie dann die Räumung verhindern, durch Blockaden.“ (9)

Das eröffnet eine wichtige Perspektive: Immerhin wurden im Zuge der Immo­bilienkrise Zehntausende Menschen aus ihren Häusern geworfen. Und umgekehrt ist die Wall Street zwar ein symbol- und öffentlichkeitsträch­tiger Ort – aber mehr als öffentliche Aufmerksamkeit lässt sich dort eben nicht erreichen. Nur wenn der Protest sich mit konkreten sozialen Kämp­fen verbindet, wird hier eine Bewegung entstehen, die auch über den medialen Hype hinaus von Bedeutung ist. Dieser Hype lässt sich ohnehin nicht ewig aufrechterhalten. Irgendwann ist der Protest eben keine Neuigkeit mehr, und jeder Versuch, mit immer noch spektakuläreren Aktionen etwas daran zu ändern, führt unvermeidlich in eine Sackgasse.

Es wäre also Zeit, die Strategie zu wechseln, die Bewegung in eine Richtung fortzusetzen, in der die Medien lieber nicht mehr darüber berichten. Die Anti-Eviction Campaign zeigt, wie das geht: In einer unaufgeregten, alltäglichen Weise wird hier die gesellschaftliche Ordnung im Ganzen in Frage gestellt. Dort, wo die Bedürfnisse der Menschen nach einem schönen Leben mehr gelten als das Eigentumsrecht, wird es wirklich gefährlich für den Kapitalismus.

justus

(1) „Occupy and Anarchism’s Gift of Democ­racy“, libcom.org/library/occupy-anarchisms-gift-democracy-david-graeber
(2) jacobinmag.com/blog/2011/10/baby-were-all-anarchists-now/
(3) jacobinmag.com/blog/2011/11/people-who-hit-people/#more-2118
(4) Das US-amerikanische Streikrecht ist ohnehin sehr rigide. So erlaubt es der Taft-Hartley-Act von 1947 dem Präsidenten, jeden Streik zu beenden, wenn dieser das „nationale Interesse“ gefährdet. Aufgrund dieses Gesetzes stoppte George W. Bush z.B. 2002 einen Streik der Hafenarbeiter_innen (siehe FA! #3).
(5) www.occupyoakland.org/strike/
(6) www.bayofrage.com/from-the-bay/statement-on-the-occupation-of-the-former-travelers-aid-society-at-520-16th-street/
(7) www.indybay.org/newsitems/2011/11/04/18697383.php
(8) www.democracynow.org/2011/11/11/occupy_homes_new_coalition_links_homeowners
(9) chicagoantieviction.org/2011/11/media-chciago-anti-eviction.html#more

Nachbarn

Weihnachtszäsur eines Versandriesen

AMAZON: prekäre Beschäftigungspolitik, fragwürdiges Sortiment und skandalöse „Geschäftsbeziehungen“

Der Global Player Amazon.de beliefert die ganze Welt. Logistikcenter und Internet-Shops konzentrieren sich zwar auf industrialisierte Länder. Aber um den Profit weiter nach oben zu treiben, ist Amazon mittlerweile nicht mehr nur Großhändler, sondern auch sein eigener Warenproduzent – das allerdings in den weniger kaufkräftigen Ländern dieser Welt. Denn klar, je mehr Eigenprodukte billig produziert und unter erdachtem Namen verkauft werden, um so aggressivere Preispolitik lässt sich betreiben und der Mehrfachverdienst erhöht sich.

Wer sich dadurch nicht beirren lässt und die Gaben unterm Baum beim Giganten bestellt, sollte sich die Tatsache der großflächig gefälschten Produkt- und beson­ders Bücherrezensionen durch den Kopf gehen lassen. Und sicherlich hat auch Amazon Richtlinien über den Umgang mit anstößigen Inhalten. Was jedoch gilt im Sinne des Unternehmens als „anstößig“ und wird vom Verkauf ausgeschlossen? Sicher sind das nicht tierquälerische Produkte wie Pelze, denn die werden weltweit unkom­mentiert gehandelt. Genauso wie in Deutschland Thor-Steinar-Artikel sowie haufenweise Bücher und Tonträger des NPD-eigenen „Deutsche Stimme-Verlag“. Dermaßen anzüglich, dass sie nicht in den Warenkatalog gehören, sind hingegen bestimmte „linke“ Bücher. Oder aber jegliche homosexuelle Buch-Titel, die in den USA zeitweise ganz und gar aus dem Sortiment verschwunden waren.

Nun ja, dafür ist Amazon jetzt ganz groß im Lebensmittelgeschäft. Liefern sich Supermärkte und Discounter um die Ecke noch harte Preiskämpfe auf dem Nah­rungs­mittelmarkt, erfreut sich der Magnat trotz spärlicher Produktinformationen, hoher Versandkosten und langer Lieferzeiten eines reißenden Absatzes.

Wen das nun immer noch immer nicht hindert, Einkäufe fürs bevorstehende Schenkfest via e-commerce bei Amazon zu tätigen, sehe sich doch mal die Beschäf­ti­gungs­politik näher an:

Die globalen Geschäftsziele setzt netterweise die US-Führung fest: mehrheitlich befristete Verträge bei 50 bis 60 Wochenarbeitsstunden, Nachtschichten, Überstunden und Abmahnungen bei Nicht-Erreichung von Zielvorgaben. All das zum freundlichen Tarif von Leiharbeitsfirmen, deren Gehaltsordnung noch unter der von LIDL liegt. In Großbritannien reicht schon eine Woche Grippe zur Entlassung trotz ärztlicher Bescheinigung, da Strafpunkte für jeden Fehltag erteilt werden.

In Deutschland hingegen werden speziell in der Vorweih­nachtszeit Deals mit Job­centern eingegangen: In den Versand- und Lo­gistikzentren werden für das Weihnachtsgeschäft tausende Arbeitslose als Saisonkräfte für drei Monate eingestellt. Aber erst nachdem in einer zweiwöchigen Trainingszeit auf Probe und ohne Lohn gearbeitet wurde. Von genau jenen Personen, die als Saisonkräfte schon in vergan­genen Jahren unter denselben Bedingungen beschäftigt waren und die die Betriebsabläufe eigentlich kennen. All das bei circa sieben Milliarden Jahresumsatz des Konzerns.

Und wer nun noch immer eine weihnachtliche Konsum-Orgie bei Amazon abhalten will, sollte sich zu­mindest noch der be­sonders neugierigen und datenhung­rigen Methoden des Konzerns bewusst sein. Mitt­lerweile werden nicht mehr nur die Bestelldaten der Kun­den für eigene Mar­ke­tingzwecke genutzt, sondern ein gigantischer Datendeal mit Face­book wurde geschlossen. Bestellvorlieben, Freun­des­netzwerke, Grup­pen, Mitglied­schaften und gefällt-mir-Buttons – alles kommt in einen Topf. Schade nur, dass diese Transparenz WikiLeaks nicht zu Gute kam, sondern Ama­zon hier den Server abschaltete.

Naja, wohl dem, der ger­ne super günstig knisternde Synthetikjacken online bestellt. Es gibt NICHTS, was sich nicht bei Amazon kaufen lässt. Merry X-MAS!

mona d.

Schlandort

Zur Sicherheit Nazis

Seine Mitarbeiter_innen kann man sich nicht immer aussuchen. Das zeigt auch der Zwischenfall, zu dem es am 18. 11. kam, bei einer Konzertveranstaltung der Leipzi­ger Band­community (ein Verein mit dem Ziel, die lokale Musikszene zu unterstützen) kam. Ein Mitglied der Band­commu­nity beschreibt den Ablauf so:

„Gegen 20 Uhr stürmten einige vermummte Menschen in die Halle D und begannen einen der von der Firma Idecon geschickten Security anzuschreien und zu bedrohen. (…) Dass es sich bei der Situation um eine politisch motivierte Aktion handelte, war offensichtlich. Trotz der etwas nebulösen Aktion und Informa­tionslage wurde der Mann durch uns sofort von der Tür ent­fernt. Ich hätte mir gewünscht, dass einer der Akteure die Möglichkeit gesehen hät­te, sich gesprächsbereit zu zeigen, um auch uns über die Motivation der Aktion aufzuklären.“

Bis die Vorgänge geklärt waren, wur­den sowohl der Security-Mann als auch sein von der selben Firma angeheuerter Kollege unbezahlt nach Hause geschickt. Eine richtige Entscheidung, wie sich zeigte: Der Security-Mann, der von den Vermummten angegangen worden war, ist aus der Chemnitzer Hooli­gan­szene gut bekannt und machte dort z.B. wiederholt durch öffentliches Zeigen des Hitlergrußes auf sich aufmerksam. In einer Stellungnahme vom Folgetag äußerte sich die Bandcommunity dazu: „Im Vorfeld zur Buchung der Security wurde deutlich und speziell Wert darauf gelegt, dass es sich um ´saubere´ Security handelt und dass sie weder in Kleidung, noch in Gesinnung dem extrem rechten Spektrum zuzuordnen sind. Dass uns die Firma Idecon, wie sich später herausstellen sollte, auf diese Anfrage hin gleich 2 (!!!) Angehörige der rechten Szene schickt, ist aus unserer Sicht nicht im Geringsten nachvollziehbar (…) Es ist seit dem ersten Tag der Vereinsarbeit klar, wo die BC politisch einzuordnen ist und was wir von unseren Security erwarten. Gerade vor diesem Hintergrund ist mir sowohl die Herangehensweise, als auch das Signal, welches die Firma Idecon mit dieser setzt, äußerst suspekt.“

Daher werde es keine weitere Zusammenarbeit mit dieser Firma geben, denn: „Weder die Bandcommunity, noch die komplette Nachwuchs-/Musik-/Underground-Szene in Leipzig braucht Nazis, welcher Couleur oder welches ´Härtegrades´ auch immer.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

justus

Queere Radikalität – eine kurze Einführung

Warum queer nicht lesbischwul und auch keine akademisches Gedankenspiel ist, sondern radikale Praxis, die nicht immer mit Sex (1) und Gender (2) zu tun hat.

Bevor in den kommenden FA!-Ausgaben der queeren Szene Leipzigs auf den Grund gegangen werden soll, möchte dieser Artikel den Versuch wagen, das kritisch-radikale Potential von queer vorzustellen. Da queer vieles ist, nur nicht abschließend definierbar, kann dieser Text selbstverständlich nicht alle Facetten des Themas abdecken oder jede Interpretation des Begriffs berücksichtigen.

Beiträge zu queer strotzen oft nur so von Fremdworten und Fachvokabular – und schließen damit von vorneherein Leser_innen aus, die sich nicht bereits mit dem Thema beschäftigt haben. Unsolidarisch soll dieser Artikel nicht sein, weshalb das Ziel ist, möglichst wenig Fachvokabular zu nutzen, bzw. dieses wenigstens zu erklären.

Geschichtliches

Die Bezeichnung queer findet sich oftmals auf Flyern von diversen Partys und Clubs – gemeint ist in diesem Zusammenhang meistens schwul-lesbisch, wobei queer kürzer, schnittiger und moderner wirkt als die altbackene Sammel­bezeichnung. Der Ursprungs des Wortes ist jedoch alles andere als aktuell: im 16. Jahrhundert entwickelte es sich im englischen Sprachraum – wenig überraschend – aus dem deutschen Wort „quer“. Queer wurde wesentlich abwertender genutzt als das deutsche Pendant, bezeichnet wurden damit alle möglichen Querulant_innen, die nicht in gängige Normen passten, unter anderem Schwule, Lesben und andere „Perverse“.

In den 1960er Jahren etablierte sich die Lesben- und Schwulenbewegung, die Ende der 60er, Anfang der 70er einige Erfolge erzielte und zu einem liberaleren Klima gegenüber Homo- und Bisexuellen beitrug. In den 80er Jahren begann in den USA, mitbedingt durch die AIDS-Krise, eine konservative, christliche und homofeindliche Politik zu erstarken. AIDS wurde als Strafe Gottes bezeichnet, Schwule als Seuchenherde gebrandmarkt und Analverkehr als ausschließlich schwule und tödliche Sexpraktik gesehen. In dieser feindlichen Atmosphäre rückte die LGBT-Community näher zusammen.

Gleichzeitig wurden auch Teile der LGBT-Community (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans*-Gemeinschaft (3)) auf Normen aufmerksam, die in der Szene herrschten. Die Community war nach außen schon immer mehr schwul als lesbisch, eher homo als trans* – nach und nach wurden auch vermehrt diese Kategorien in Frage gestellt. Welche Normen mussten erfüllt sein, um bspw. als „richtige“ Lesbe zu gelten? Durften Lesben lange Haare haben? Sex mit Männern, Trans*personen, etc. (gehabt) haben? Transfrauen(4) sein? BDSM (5) oder gar Pornographie mögen?

Queer Movement gegen den Homo-Mainstream

Es begannen Menschen nach Sichtbarkeit und Solidarität zu streben, die sich in der LGBT-Community nicht zu Hause fühlten. Zu diesen zählten jene, die sich nicht als LGBT definierten, aber trotzdem von der Mehrheitsgesellschaft geächtet wurden: bspw. Heteros mit polyamorösen (6) Beziehungen, Asexuelle (7) oder BDSMler_innen.

Andere waren zwar schwul, lesbisch, bi und/oder trans*, wurden von der Mehrheit der Szene aber nicht angenommen. Gründe für eine solche Ablehnung waren bspw. Hautfarbe, Alter, Behinderungen oder positiver HIV-Status.

Der LGBT-Mainstream war größtenteils weiß und kam aus der Mittelschicht, was sich auch in den politischen Forderungen und dem Ignorieren von Mehrfachdis­kri­mi­nie­run­gen zeigte. Die Forderung der Mainstream-LGBTs nach „Gleichstellung“ mit Heteros zog von Teilen der Szene die Frage nach sich, wer denn mit wem gleichgestellt werden sollte. Während bspw. weiße Männer es gewohnt waren, dass sie der Standard waren und ihnen allein aufgrund ihrer Homosexualität die üblichen Privilegien verwehrt blieben, war eine schwarze Lesbe in einer ganz anderen Situation. Sie musste nicht nur die Hürde der Homofeind­lichkeit überwinden, sondern auch noch gegen Sexismus (8) und Rassismus kämpfen – nicht nur im Alltagsleben, sondern auch innerhalb der Szene! Die Vielschichtigkeit der Wünsche und Ausgangspunkte der unter „LGBT“ zusammengefassten Menschen wurde unter dem Sammelbegriff unsicht­bar, es schien als sei Homofeindlichkeit das einzige Hindernis, das alle LGBT von der Teilnahme am schönen Leben der „Normalbürger“ trennte. Die Probleme der nicht privilegierten Menschen und ihre Unzufriedenheit mit dem herrschenden System, das neben Heterosexualität und dem Zwei-Geschlechter-Modell auch weiße Hautfarbe, „normales“ Sexualverhalten, Monogamie, gesunde, nichtbehinderte Körper, Vermögen, usw. als Norm voraussetzte, wurden kein Teil der medial wahrgenommenen Äußerungen und Forderungen der LGBT-Community.

Den Kampf für jene vernachlässigten Gruppen nahmen Bewegungen wie „ACT UP“ auf, die sich vor allem für die Belange von HIV-positiven Menschen einsetzten und der Ächtung von selbstbestimmten Lebensweisen und lustvollem Sex ebenso entgegentraten wie geldgierigen Pharmakonzernen, die von der AIDS-Krise profitierten. In diesem Umfeld wurde wiederholt auch queer als Gruppenname oder als positive Selbstbezeichnung genutzt, mit der sich auf kritische Weise vom heterosexuellen wie auch mitunter vom LGBT-Mainstream abgegrenzt wurde.

Queer wurde immer häufiger zur Beschreibung von Handlungen und Personen genutzt. Zudem entwickelten sich im akademischen Bereich zu Beginn der 1980er aus den „Gay and Lesbian Studies“ die „Queer Studies“ als fächerübergreifende Disziplin. Anfang der 90er kam das Theorienbündel „Queer Theory“ hinzu, das sich aus der queer-feministischen Kritik an der Gleichsetzung von biologischem und sozialem Geschlecht entwickelte.

Und heute?

Heute ist der Begriff queer ebenso umstritten wie vielfältig interpretiert. Die Bedeutungsspanne reicht von lesbischwul bis zum Hinterfragen jeder vermeintlichen Gewissheit.

Einen Einblick aus der queeren Praxis, der zeigen kann, dass queer nicht gleich queer ist, fand sich im 35. heiter-scheitern-Podcast.

Im diesem queeren Podcast stellten die Podcaster_innen, die sich vornehmlich in der Hamburger Queerszene bewegen, sogar lokale Unterschiede im Verständnis von queer fest. Bei einer queeren Performance, auf einer dezidiert queeren Veranstaltung in Bremen, wurden sie vom Publikum schlichtweg nicht verstanden, obgleich ihre Auftritte im ähnlichen Rahmen in Hamburg großen Anklang fanden. Sie führten den Unterschied in der Wahrnehmung auf die Zusammensetzung und Einflüsse der lokalen queeren Gruppen zurück. Während es in Hamburg unter anderem einen großen Einfluss der akademischen Queers auf die Szene und Veranstaltungen gäbe, sei das Publikum der Bremer Veranstaltung vor allem aus dem lesbischwulen Bereich gekommen.

Die Soziolog_innen Hieber und Villa beschreiben die kom­plizier­te Beziehung von queer zu „lesbischwul“: „Queer steht nicht für die schlichte Binde-strich-Zusammenführung von „schwul-lesbisch“, obwohl auch dies eine Dimension queerer Praxis darstellt, sondern für eine vielfältige, herrschafts-kritische, um prozessuale Reflexivität bemühte Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken moderner Identitätslogiken und ihrer historischen Materialisierung vor allem im Bereich von Sexualitäten und Geschlechtern.“ (9) (Hieber, Villa (2007) S.8)

Ihrer Meinung nach gehört zu queer also immer auch die Auseinandersetzung mit der Herstellung von Identitäten und die Frage, in welche Machtstrukturen diese Identitäten eingebettet sind. Lesbischwul kann ihrer Meinung nach also sowohl queer als auch dezidiert unqueer sein.

Wenn Bisexuelle, Lesben und Schwule heterosexuelle Normen in Frage stellen, wenn bspw. lesbische Pärchen zusammen eine (primär heterosexuelle) Tanzstunde besuchen, so kann dies als queere Praxis bezeichnet werden, Normen („der Herr führt“…) werden in Frage gestellt.

Gleichzeitig kann die Zuschreibung „schwul“ oder „lesbisch“ auch vor­herr­schen­­de Normen stärken, wenn bei­spielsweise durch das Festlegen der eigenen Geschlechtsidentität und dem Begehren einer einzigen anderen Geschlechtsidentität das System der Zwei­ge­schlecht­lichkeit und die Annahme des unveränderlichen, angeborenen Geschlechts untermauert wird. Die Praxis, Homosexualität und Heterosexualität als angeboren und unveränderlich darzustellen, führt dazu, dass Menschen ausgegrenzt und in ihrer Entfaltung eingeschränkt werden, bei denen die Lage nicht so eindeutig ist. Wer sich folglich nicht nur zu einem bestimmten Geschlecht hingezogen fühlt, wer schwul ist und auch gerne Sex mit Genderqueeren10, Tunten, Frauen und Heterokerlen hat, läuft Gefahr kein „richtiges“ Mitglied der Szene zu gelten und mit der Forderung konfrontiert zu werden, sich endlich mal zu entscheiden.

Zur Auseinandersetzung mit Identität gehören im queeren Kontext auch das Hinterfragen der Verbindung von bei der Geburt zugewiesenem und gelebtem/n Geschlecht/ern, sowie die Verquickung von Geschlecht und Begehren. Während Schwule Frauen (GirlFags) und Lesbische Männer (GuyDykes) in lesbischwulen Zusammenhängen oft nicht verstanden werden, wenn dort bestenfalls Transgender bekannt sind, können sie in queeren Räumen darauf hoffen, niemanden durch ihre Existenz zu verängstigen und daraus resultierende Diskriminierung zu erleben. Sicher ist aber auch dies nicht, da jede_r ein eigenes Verständnis von queer hat.

In dem Artikel „Lieber ein Fähnchen im Wind“ in der Zeitschrift Phase 2 beschreibt die Autorin Katrin Köppert das ständige Hinterfragen jeder Norm, das Nichtakzeptieren von „Natürlichkeiten“ (wie bspw. Geschlechtsidentität) und das Sichtbarmachen von Macht und Privilegien als wichtigste Teile von queer. Queer könne nicht greifbar sein, da es sich selbst immer wieder verändere, die queeren Aktivist_innen zur andauernden Reflexion der eigenen Position zwänge. Sie vertritt die Ansicht, dass queer auf diese Weise nie so konsumierbar werden könne wie es lesbischwul teilweise sei, was sich auf teuren Parties und kommerziellen Chris­topher Street Days zeige. Queer könne nie zu einer starren Identität verkommen, die man mit Normen und Annahmen füllt. Queer bleibe stets das Infragestellen jeder Norm – und auch das Hinterfragen der eigenen Positionen, das Analysieren der eigenen Verstrickung in Machtver­hältnisse. Sie fordert dazu auf, sich nicht an überholte Positionen und Identitäten zu klammern und lieber ein „Fähnchen im Wind“ zu sein, sich neuen Erkenntnissen anzupassen. Auch das Verweigern einer festen Identität könne eine queere Handlung sein, vielleicht die pro­vo­zierendste von allen.

Ferner äußert sie Kritik an der Homo­normativität der LGBT-Community, also die in der Szene herrschenden Normen und die Annahme, dass alle die gleichen Forderungen hätten. Sie lenkt das Augenmerk auf das aus den 1980ern bekannte Problem der Unsichtbarkeit vieler Bisexueller, Lesben und Schwuler, die nicht die gleichen Privilegien genießen wie ein Großteil der Szene. Wenn homonormative Personen die Gleichstellung von Homos und Heteros forderten, so würde der zweite Schritt vor dem ersten gegangen. Die Herrschaftsverhältnisse und die Ausschlüsse der (weißen, heterosexuellen, „gesunden“, wohlhabenden,…) Mehrheitsgesellschaft würden einmal mehr als Ideal gesetzt und reproduziert, mehrfach diskriminierte Menschen sich selbst überlassen. Von queerer Seite aus könne so nicht gehandelt werden, vielmehr sei eine Kritik an den bestehenden Machtverhältnissen (und ihrer angeblichen Natürlichkeit) notwendig, um die Situation aller Menschen zu verbessern. Solches Hinterfragen beschränkt sich nicht auf die Kategorien Geschlecht und sexuelles Begehren, sondern kann auch die Natürlichkeit von Lohnarbeit, Landesgrenzen usw. betreffen. Für Köppert steht fest, „dass queer sich niemals auf gegebene, natürliche, selbstverständliche Verhältnisse bezieht, sondern auf konstruierte und produzierte Verhältnisse im Gewand des Natürlichen.“ (Köppert, 2009)

Obgleich queer also nichts Unumstößliches kennt, setzen Queere sich nicht dafür ein, alle Menschen ihrer Identität/en zu be­­rau­ben. Die heiter-scheitern-Podc­aster_innen betonen, dass Identitäten von queerer Seite zwar hinterfragt und analysiert werden, aber nicht abgeschafft. Allein das Fremdzuweisen von Eigenschaften anhand von Identitätsmerkmalen (bspw. die Idee, alle Schwule wären einerseits Männer mit normierten, männlichen Körpern und interessierten sich ausschließlich für ihresgleichen und hätten keine sonstigen Identitäten neben der des Schwulen) und die damit einhergehende Unsichtbarkeit von anderen Identitätsfacetten wird abgelehnt. Gleichzeitig möchte queer nicht Gefahr laufen, ebenfalls eine Identität zu sein. Im heiter-scheitern-Podcast wird argumentiert, dass queer Handlung ist, nicht Sein. Wenn queer doch als Identität genutzt wird, so ist zu befürchten, dass der_die Queere sich in dieser Identität ausruht, das kritische Betrachten der eigenen Position und damit einhergehender Normierungen, Ausschlüsse und Machtstrukturen einschläft.

Fazit

Bei aller Kritik an lesbischwul sollte noch erwähnt werden, dass Homosexualität weiterhin eine wichtige und eigenständige Kategorie bleibt, da queer oftmals zu niedlich, zu ungefährlich ist, als zu unpolitisch wahrgenommen wird – irgendwie hip, aber doch nichts, was die heterosexuelle Norm und den Status quo gefährden würde. Sowohl queer als auch „lesbisch“, „schwul“ und „bisexuell“ werden weiterhin gebraucht, sind keineswegs deckungsgleich.

Die queere Community zieht sich teilweise zu häufig in universitäre Schutzräume zurück, anstatt ihr kritisches Potential auszuspielen. Außerdem beschäftigt sie sich vorrangig mit weißen Mittelschichtspositionen und wenig mit marginalisierten Positionen, die nicht alle in der Community gleichermaßen betreffen.

Queer ist also radikaler als es oftmals gelebt wird – das muss nicht so bleiben. Denn queer ist keine Identität – sondern die Praxis des immerwährenden Hinterfragens und Dekonstruierens.

Und auch dieses Fazit ist, wie zu Beginn des Textes bereits angekündigt, nur eine Möglichkeit queer zu verstehen.

gundel

Verwendete Texte und Podcasts:
· heiter scheitern (2011): 35 – antiqueer, scheitern.org/?p=265.
· Köppert, Katrin (2009): Lieber ein Fähnchen im Wind, phase2.nadir.org/rechts.php?artikel=677.
· Hieber, Lutz; Villa, Paula-Irene (2007): Images von Gewicht. Soziale Bewegungen, Queer Theory und Kunst in den USA. Bielefeld: Transcript.
· Voß, Heinz-Jürgen (2011): Weg mit dem Queer Ding. Ansätze für eine queere Kapital­ismus­kritik, leipziger-kritiken.de/2011/01/queer-ding.
(1) Englisch für „körperliches Geschlecht“.
(2) Englisch für „soziales Geschlecht“, je nach Zusammenhang ist damit gefühltes Geschlecht und/oder von anderen wahrgenommenes Geschlecht gemeint.
(3) Seit Bestehen dieser Bezeichnung wird kritisiert, dass die Szene das „T“ für Transgender oftmals nur als schmückendes Beiwerk benutze. Transgender würden letztlich häufig in Forderungen nicht mitgedacht und innerhalb der Szene diskriminiert.
(4) Frauen, die bei der Geburt dem männlichen Geschlecht zugeordnet wurden.
(5) BDSM ist die Abkürzung der Begriffspaare „Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism“ und dient als Überbegriff für vielfältiges sexuelles Begehren, das sich unter anderem mit Machtgefällen und Schmerz beschäftigt
(6) Polyamory steht für das Begehren oder die Praxis, Beziehungen zu mehreren Menschen gleichzeitig zu haben/haben zu können.
(7) Als asexuell bezeichnen sich Menschen, die kein Interesse an Sexualität mit anderen Menschen haben, wobei es verschiedene Abstufungen und Ausprägungen des Sexualtriebes und der emotionalen Zuneigung zu anderen Menschen gibt.
(8) Die Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund von Geschlecht.
(9) Hieber, Lutz; Villa, Paula-Irene (2007): Images von Gewicht. Soziale Bewegungen, Queer Theory und Kunst in den USA. Bielefeld: Transcript.
(10) Menschen, die sich im rigiden Zweigeschlechtermodell nicht wiederfinden.

Theorie & Praxis

„On ne lâche rien!“

Widerstand gegen Flughafenbau in der Bretagne

Auf 2000 Hektar sollen Wälder, Kuhweiden und kleine Dörfer für einen neuen Luftverkehrsknotenpunkt weichen. Die Opposition dagegen hält nach vier Jahrzehnten bis heute an – und verwandelt das Gebiet in die „Zone, die es zu verteidigen gilt“ („Zone A Defendre“), kurz ZAD. Ein kurzer Abriss über die Hintergründe und die derzeitige Situation vor Ort.

Ein Flughafen, an dem man die Vögel der umgebenden Felder zwitschern hört, die Parkplätze vor saftig grünem Rasen strotzen, das Warten mit dem Besuch eines Landlebenmuseums verkürzt wird und die Empfangshalle mit dem Holz aus den Wäldern, die für den Bau des Flughafens weichen mussten, beheizt wird. Und Solarzellen auf dem Dach, logo. Da dürfte das gute Öko-Gewissen trotz Vielfliegerei befriedigt sein. Ein Flughafen im Grünen.

So zumindest die Vision des multinationalen Konzerns Vinci (1), dem im Juli 2010 der Vertrag für Bau und Inbetriebnahme des Großprojektes „Aéroport Grand-Ouest“ im Nordwesten Frankreichs zugespielt wurde. Neben einem internationalen Flughafen soll dieser einen neuen Autobahnzubringer sowie eine Hochgeschwindigkeitszugstrecke enthalten. Seit 40 Jahren ist das Projekt auf der Agenda der regierenden Politiker­_innen. Dabei wird vor allem damit argumentiert, dass der bestehende Flughafen bald ausgelastet sein könnte. Das bisher nur knapp 300.000 Einwohner zählende Nantes will zum wirtschaftlichen Drehkreuz im Westen Frankreichs aufsteigen und sich mit Metropolen wie Paris und Marseille messen können. Um die etwas angestaubten und unaktuell gewordenen Pläne der 60er Jahre wieder neu auflegen zu können, brauchen sie einen grünen Anstrich: „Ökometropole“ will man jetzt sein, und somit sind auch sämtliche größenwahnsinnigen Infrastrukturprojekte machbar, solange sie unter „hohen Umweltstan­dards“ vermarktet werden.

Résistance

Doch dagegen regte sich Widerstand. Ende der 60er Jahre, als die Anwohner_innen eines Morgens von den Plänen aus der Zeitung erfuhren, gründeten sich vor allem Zusammenschlüsse aus Bauern, die mit zahlreichen Aktionen ihren Widerstand demonstrierten. Dieser knüpfte zum Teil an eine Tradition von sozialen Kämpfen an, in der streikende Arbeiter_innen und Landwirt_innen sich insbesondere hier in der Region stark vernetzten.

Nachdem das Projekt infolge der Ölkrise (Anfang der 70er) eingemottet und imJahr 2000 neu aufgelegt worden war, hat sich diese Situation jedoch erheblich verändert. Viele Bauern sind nicht mehr aktiv, viele Bewoh­ner_innen haben resigniert. Eine Bürgerinitiative versucht eher auf legalis­tischem Wege vorzugehen. Der Widerstand radikalisierte sich jedoch erneut, als 2009 dann tatsächlich die ersten Vorarbeiten für das Projekt auf dem Gelände stattfanden. Teile der lokalen Bevölkerung, aber auch Aktivist_innen aus Nantes und Umgebung, die davon erfuhren, versuchten sich den Bohrungen für Bodenproben teilweise direkt in den Weg zu stellen, was verschiedene Gegner_innen des Projektes neu zusammenbrachte. Die seitdem bei ähnlichen Ereignissen starke Po­li­zei- und Militärpräsenz, die die Ar­beiten schützen soll, verstärkte zu­dem die Wut bei vielen. Als im Sommer 2009 das erste französische „Camp Action Climat“ stattfand, kam vor allem aus den Reihen der lokalen Bevölkerung der Anstoß, kollektiv und massenhaft leerstehende Häuser und brachliegende Felder der ZAD zu besetzen. Bauernhöfe wurden wieder in Stand gesetzt, Baumhäuser und Lehmhütten gebaut, Wägen und Jurten aufgestellt. Seit über zwei Jahren intensivierten sich so Leben und Aktivitäten auf dem Land, das ansonsten der Zerstörung ausgeliefert wäre. So entstand ein weitläufiges Dorf mit Gemeinschaftsküchen und kollektiven Gärten, Bäckerei und Bibliothek, Fahrradwerkstätten und vielem mehr. Die Menschen, die diesem Aufruf folgten, kamen von nah und fern, und viele blieben.

Während anfangs die Zusammenarbeit mit der ansässigen Bevölkerung oftmals schwierig war, gab es nach vielen Diskussionen und gemeinsamen Aktionen mehr Annäherung und gegenseitiges Verständnis – und die Erkenntnis, dass der Kampf (nur) über verschiedene Wege gewonnen werden kann. Dabei läuft natürlich nicht immer alles glatt. Eine große Schwierigkeit ist es, eine gemeinsame Strategie zu finden, die Gruppe der Besetzer_innen ist heterogen und wechselhaft. Doch so oft man zweifelt, ob all das effektiv ist, so entschlossen ist man dennoch, „on ne lâche rien“, „wir geben nicht nach“… Das Verhindern des Projektes ist nach wie vor möglich. Dabei sind die Motivationen vielfältig: Für die einen geht es darum, ein Experimentierfeld und konkrete Alternativen zu schaffen, für andere darum, vor Ort zu sein und so die Bauarbeiten direkt verfolgen und behindern zu können. Für viele geht es nicht oder nicht nur um den Flughafen, sondern auch um die gesellschaftlichen Verhältnisse, die solch ein Bauprojekt erst möglich machen: Urbani­sierung, eine kapitalistische Logik des ständigen Wachstums und Profit­strebens, und eine Entscheidungsfindung über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Die einen stellen sich gegen das Flughafenprojekt, weil das Haus ihrer Familie vom Abriss betroffen wäre, die anderen, weil sie die eindrucksvolle Artenvielfalt erhalten wollen, die sich nicht zuletzt aufgrund der jahrelangen wirtschaftlichen Vernachlässigung des Gebietes zwischen Hecken, Mischwäldern und Feuchtgebieten entwickelt hat.

Attention

Doch seitdem die Finanzen für das Projekt bewilligt sind und die vom Staat seit Jahrzehnten angekauften Ländereien an Vinci überschrieben wurden, spitzt sich die Lage zu: Gerichtsprozesse wurden gegen die Besetzer_innen angestrengt, Hausdurchsuchungen und Festnahmen durchgeführt und in den Medien wird die Bewegung in die zwei üblichen Gruppen geteilt, die Friedlichen und die Gewaltbereiten. Dabei sind die Aktionen offensiver geworden und vielschichtiger. Sie reichen von temporären Besetzungen von Büros involvierter Firmen und Regie­rungs­­institutionen über eine Traktor-Fahrrad-Karawane nach Paris bis zu Kletter­aktionen in den Bäumen eines öffentlichen Parks in Nantes. Öffentliche Anhörungen werden begleitet von Farbeiern und Dudelsackmusik, und zerstochene Autoreifen gibt es für diejenigen, die kommen, um die obligatorischen Umwelt-Gutachten durchzuführen. Bei Landvermessungen versperren auch mal brennende Straßenblockaden den Weg für die Maschinen, und von zahlreichen Sabotageaktionen hat mindestens eine zum Rückzug eines Vertragspartners geführt.

Das kommende Jahr wird wohl ein sehr entscheidendes sein, in dem Vinci das Gebiet leerklagen, -kündigen, räumen und roden lassen will, zynischerweise als „liberation de la terre“ bezeichnet. Die Repression hat in den letzten Monaten zugenommen, und die anstehenden Präsident­schaftswahlen bringen zusätzliche Brisanz.

Die Räumungsbedrohungen, die viele besetzte Häuser im Gebiet der ZAD ab Januar und März 2012 betreffen, werden nicht einfach so hingenommen. So entstand der Aufruf zu einer Demonstration am vierten Samstag nach einer eventuellen Räumung, um gemeinsam einen Ort neu zu besetzen. Diese Idee knüpft an eine kollektive Aktion im Mai 2011 an, bei der mit 1.000 Menschen eine Brache urbar gemacht und anschließend eine Gemüsegärtnerei angelegt wurde. Die Absicht ist, sich gemeinsam den Versuchen zur Räumung des gesamten Gebietes entgegenzustellen und die Dynamik des kollektiven politischen Handelns aufrechtzuerhalten. Jedwede Unterstützung, auch in Form von Solidaritätsaktionen und Vernetzung mit anderen Kämpfen sind herzlich erwünscht!

mika

Wenn ihr Euch auf dem Laufenden halten und mehr erfahren wollt: zad.nadir.org (französisch/englisch).
(1) Vinci, nach eigenen Angaben weltweit größte Konzessions- und Baukonzern, ist außerdem emsig tätig im Bau von Knästen, Kernkraftwerken und Hochgeschwindigkeitszugstrecken und erwirtschaftet saftige Gewinne durch das Betreiben von Mautautobahnen und Parkhäusern. stopvinci.noblogs.org dokumentiert die landesweite Kampagne „Vinci degage!“.

Biotopia

Kriegspropaganda statt Sportjournalismus

Fußballdeutschland macht´s möglich

Es gab sie schon immer – hysterische und reißerische Mediendebatten, in denen vor lauter Aufbauschen und Skanda­lisieren jede Differenzierung vergessen wird. Müßig also, mit Plädoyers für besonnenen und reflektierten Journalismus mal wieder an die Verantwortung der Medien zu appellieren. Müßig – aber nichtsdestotrotz notwendig. Womit das Fazit vorweggenommen wäre. Jetzt also zur Einleitung:

Bevor der Nationalsozialistische Untergrund seinen direkten Durchmarsch an die alleinige Spitze, den Thron der medialen Öffentlichkeit vollzog, beherrschte für mehrere Wochen ein Thema die Berichterstattung der Republik, welches ansonsten eher marginal in der Presse auftaucht: Fußballfans. Gewalttätige Fußballfans. Zündelnde Fußballfans. ‘Sogenannte’ Fußballfans. Gefährliche Fußballfans. Eine ganz schlimme Sache, der plötzlich vom hinterwäldlerischen Käseblatt bis zur renommierten überregionalen Wochenzeitung, vom öffentlich-Rechtlichen bis zum Privatsender nachgegangen wurde. Innerhalb kürzester Zeit wurde die Gefährdung unser aller Sicherheit sowie der Fortexistenz des Lieblingssports der Nation in Gestalt des marodierenden Fans zum vielbeschworenen Horrorszenario, dem sich dann folgerichtig nicht mehr nur das Medieninteresse widmete. Auch Politi­ker_innen allerorts richteten ihre empörten Blicke auf die besorgniserregenden Bilder. Gefordert wurde resolutes Durchgreifen und man überbot sich in Ankündigungen harter Sanktionen, die schnell den Rahmen des geltenden Rechts zu sprengen drohten.

Anstoß für diesen Hype gaben die Vorkommnisse im Rahmen des DFB-Pokalspiels zwischen Dynamo Dresden und Borussia Dortmund. Hier wurde vor, bei und nach dem Spiel recht kräftig randaliert, es gab gewaltsame Auseinandersetzungen vorwiegend zwischen Fans und Polizei, es gab kaputtes Stadioninterieur und Verletzte, verstörte Unbeteiligte und unschuldig Betroffene. Das soll als Zusammenfassung reichen. Sich damit ganz bewusst dem Vorwurf der Relativierung und Verharmlosung aussetzend, kann man anfügen: solche Szenarien hat fast jeder Fußballfan und regelmäßige Stadion­besucher egal welcher Liga, welches Vereins und welchen Alters schon erlebt. Was der ganzen Sache jetzt aber eine, vermutlich sogar die, besondere Dosis Brisanz verlieh, war der Fakt, dass das Spiel live im ZDF übertragen wurde und damit jeder Fernsehzuschauer Zeuge des „Gewalt-Wahnsinns“ werden konnte. Das Spiel war ohnehin sehr gut besucht, die Livesendung vergrößerte das Publikum dann aber doch ganz wesentlich und lud die Krawallmacher nochmal extra ein, diese Bühne auszunutzen. Wofür? Um ihre sinnlose Gewalt quasi in die Wohnzimmer der Menschen zu tragen. Schließlich handelt es sich bei diesen Fußballfans um ausgemacht rücksichtslose Gestalten. Bestes und viel bemühtes Beispiel dafür: der Umgang mit Pyrotechnik. Verwerflich genug, dass diese Personen Feuerwerkskörper benutzen, obwohl dies verboten ist und sie damit gegen die geltenden DFB-Vorschriften und die Stadionordnungen verstoßen. Sie nehmen auch die Gefährdung von Gesundheit und Leben ihrer Mitmenschen in Kauf, indem sie eben dieses illegal eingeschmuggelte pyrotechnische Teufelszeug während ihrer Gewaltorgien abfackeln und umherschleudern. Da wird der Fanblock zum Schützengraben.

Dass Dresdner Fans beim besagten Skandalspiel dann auch neben all den anderen Exzessen bengalische Fackeln zündeten, bot somit auch zuerst dem ZDF und dann vielen anderen eine hinreichende Grundlage für Diffamierung und Kriminalisierung.

Die mehrwöchige „Krawall-Krise“ führte mitunter zu absurden Höhepunkten: So wurde das Kreisligaspiel Westfalia Weth­mar – Blau-Weiß Alstedde irgendwo im Ruhrgebiet aufgrund der aufgedeckten Ankündigung von Bengalos durch Weth­marer Fans zum Hochsicherheitsspiel: „Im Internet sollen die Ultras zum Bengalo-Einsatz aufgerufen haben. Die Vereine reagieren geschockt“, so die Lünener Regionalausgabe der Ruhrnachrichten. Hier schmunzelt man noch, während einen andere Meldungen dann doch ärgern.

So schafft es der Autor in einem Kommentar der Süddeutschen, die Zwickauer Fans, die beim Spiel mit dem Gesang „Terrorzelle Zwickau, olé olé olé“ ihrer rechten Gesinnung Ausdruck verschafften, als „Brandstifter“ zu bezeichnen, gegen die eben genauso couragiertes Vorgehen vonnöten sei, wie gegen solche Fans, die Pyrotechnik nutzen – gegen „Brandstifter“ eben, die unseren schönen Sport kaputtmachen.

Und gänzlich verfehlt kommt zwischen­zeitlich der Focus daher, der unter dem unsäglichen Titel „Zeichen gegen Gewalt. Dortmund schickt Ultras nach Ausch­witz“ vom vorbildlichen pädagogischen Umgang der Borussia zu berichten weiß. Deren Geschäftsführer erläutert die bewährte Methode, den offenbar problematischen Anhänger_innen, die sich als nicht ganz so regelkonform erweisen, eine Bildungsfahrt nach Auschwitz zu zahlen und wird mit den Worten zitiert: „Dort haben alle vor Augen geführt bekommen, wo Ge­waltexzesse hinführen.“ Hallo?

Wie eingangs festgestellt: Das ist alles nichts Neues. Empörungsjournalismus und dumme, undifferenzierte, hysterische, skandalisierende, verallgemeinernde mediale Ausgeburten sind alltäglich. Die Themen ändern sich, die Methoden bleiben. Aber das ist nicht nur kein Grund, es ist vielleicht sogar der Grund, sich immer wieder damit auseinanderzusetzen. Und einen besseren Journalismus einzufordern, der auch der Aufgabe gewachsen ist, sich der realen Probleme in den Fußballstadien anzunehmen, die es tatsächlich gibt und die sich eben nicht auf Gewalt und Feuerwerk herunterbrechen lassen. Ein Nazi, der nicht zuschlägt oder mit Böllern herumspielt, ist immer noch ein Nazi. Der Familienvater, der den Schiedsrichter als „schwule Sau“ beschimpft, braucht immer noch Nachhilfe in Sachen Homofeind­lichkeit und Diskriminierung. Und die Presseleute, die in ihrer VIP-Lounge von afrikanischen Spielern als „schwarzen Perlen“ schwärmen, während Affenrufe durch Fanblocks schallen, ja, die sind leider auch immer noch da.

teckla

Schlandort

Trojanische Pferde aus Berlin

Als am 9. November 2006 im Bundestag das „Programm zur Stärkung der Inneren Sicherheit“ verabschiedet wurde, hielten viele die darin enthaltenen Maßnahmen zur Überwachung der Kommunikation auf Computern (sogenannte Quellen-Tele­kommunikations­über­wa­chung, kurz Quellen-TKÜ) noch für nicht realisier- oder anwendbar.

Mit der geplanten Spionagesoftware (auch oft als Bundes- oder Staatstrojaner bezeichnet) sollte es Ermittlungsbehörden ermöglicht werden, die Kommunikation (z.B. über Internettelefonie wie Skype oder via E-Mail) auf Computern noch vor dem Versenden bzw. Verschlüsseln abzugreifen. Begründet wurde die Notwendigkeit immer wieder mit der Verlagerung der Kommunikation krimineller und v.a. terroristischer Organisationen in das Internet und der Nutzung von bislang schwierig zu umgehenden Verschlüsselungsmethoden. Man wollte nicht schulterzuckend vor der Kryptographie kapitulieren und ließ sich so auf einen tiefgehenden Eingriff in die Privatsphäre der Bürger, nämlich deren Computer, ein.

Staatlicher Virus

Dabei sollte diese Software wie auch sonst bekannte Computertrojaner agieren, die ohne das Wissen der Computer­besit­zer_innen installiert werden und anschließend Informationen (z.B. Eingaben auf der Tastatur) an die Gegenstelle liefern. Anti-Viren-Software hätte also versucht, den Staatstrojaner ebenso zu bekämpfen wie jeden anderen Virus. Der Anfrage von Sicherheitsbehörden an verschiedene Hersteller solcher Anti-Viren-Software wie z.B. Kaspersky Labs, den Bundestrojaner doch „privilegiert“ zu behandeln, wurde jedoch eine Ablehnung erteilt. Somit ist nach aktuellem Stand meist ein physischer Zugriff auf den Zielrechner durch Er­mittlungsbehörden vorausgesetzt (z.B. bei Flugha­fen­kontrollen oder Hausdurchsuchungen) um den Trojaner installieren zu können.

Im Februar 2008 urteilte dann das Bundesverfassungsgericht anlässlich einer Klage nordrhein-westfälischer Abgeordnete gegen das nordrhein-westfälische Lan­des­verfassungsschutzgesetz und die dort verankerte Regelung zur Online-Durchsuchung, dass bei diesen Maß­nahmen die Kernbereiche privater Le­bensgestal­tung zu schüt­zen seien. So dürften bei der Anordnung einer Quellen-TKÜ nur die wirklichen Kom­muni­kations­vor­gänge (also etwa Skype, Chats oder E-Mail) überwacht wer­den. Alle anderen Bereiche müssten jedoch unangetastet und das „Grundrecht auf Ge­währ­­leistung der Vertraulichkeit und Integrität infor­ma­­tions­techni­scher Systeme“ gewahrt bleiben. Mit diesem Urteil war der formale rechtliche Rahmen für die Anwendung der Quellen-TKÜ ziemlich eng umrissen.

Multifunktionsüberwachung

Im Verlauf der Diskussion um den Staatstrojaner wurde den besorgten Bürgern auch immer wieder versichert, dass es nur eine handvoll solcher Maßnahmen bei Straftaten erheblichen Ausmaßes geben sollte. So blieb es dann in den kommenden drei Jahren bis zum Herbst 2011 relativ ruhig um das Thema „Staatstrojaner“. Erst als am 8. Oktober 2011 der Chaos Computer Club (CCC) die Analyse eines ihm zugespielten Staatstrojaners veröffentliche, flammte die öffentliche Diskussion wieder auf.

In der Analyse wurde v.a. deutlich, dass die vom Bundesverfassungsgericht verfügte Trennung von überwachbarer Telekommunikation und zu schützendem Kernbereich nicht angedacht war und die Über­wachungs­software „von Haus aus“ eine enorme Funktionsvielfalt mitbrachte. Die vorliegende Version konnte neben dem Abhören von Skype und vergleichbaren Programmen auch Dateien lesen und schreiben, sowie Bildschirmfotos (nicht nur z.B. des E-Mail-Programms sondern des gesamten Arbeitsumfelds, also womög­lich auch Inhalte aus dem besonders schützenswerten Kernbereich des Lebens) anfertigen und an die Ermittlungsbehörden übertragen. Durch die Funktion des Dateizugriffs war außerdem auch die Mög­lich­keit zum Platzieren falscher Beweise gegeben. Weitergehend wur­den eklatante Mängel bei der Sicherung der Soft­ware und in der An­wen­dung branchenüblicher Ver­schlüs­­selungs­methoden diagnostiziert. Diese führte so weit, dass der CCC mit einem eigenen kleinen Programm den Trojaner fernsteuern und Informationen vom infiltrierten Rechner abrufen konnte.

Nach ersten Dementi und ausweichenden Äußerungen von Bundes- und Landesbehörden zum Einsatz der Software, kamen nach einigen Tagen Details über die tatsächlichen Ausmaße der Nutzung der Spionagesoftware zu Tage. So soll diese in den Jahren 2008 bis 2011 bei knapp 100 Ermittlungsverfahren zum Einsatz gekommen sein. Das Verfahren, aus dem der dem CCC zugespielte Trojaner stammte, war im Bereich der Betäubungsmittel angesiedelt und in Bayern geführt worden – thematisch also weit von vermeintlich terroristischen Aktivitäten entfernt.

Regierende Sicherheitsbeamte?

Im Nachhinein wurde die Schuld für die schlechte Qualität und den ausufernden Funktionsumfang des Staatstrojaners zwischen Ermittlungsbehörden, den gesetzgebenden Stellen sowie dem technischen Dienstleister DigiTask hin- und hergeschoben. Auffallend oft ist dabei von staatlichen Stellen die Auffassung vertreten worden, das technisch Mögliche auch stets umsetzen zu wollen. Zweifel an der Kon­for­mität mit der Rechtsprechung wurden dabei recht forsch beiseite gewischt, so wie es Hans-Peter Uhl (Vorsitzender der Arbeitsgruppe Innenpolitik der CDU/CSU im Bundestag) anschaulich darlegte: „Es wäre schlimm, wenn zum Schluss unser Staat regiert werden würde von Piraten und Chaoten aus dem Computerclub, er wird regiert von Sicherheitsbeamten, die dem Recht und dem Gesetz verpflichtet sind.“ (Anlässlich der Debatte um die Trojaner-Analyse des CCC)

Die „regierenden Sicherheitsbeamten“ lassen das Bild eines Polizeistaats dann schon recht plastisch werden.

Aus dem bisherigen Kenntnisstand um das Thema „Staatstrojaner“ lassen sich somit vor allem oftmals bemühte Ermahnungen um vorsichtigen und kritischen Umgang mit der Kommunikation über Computer und Internet erneuern – Verschlüsselung von E-Mails und Daten sollten dabei zum Standard gehören.

Auch ein Bezug auf das Bundesverfassungsgericht als Schützerin grundlegender Bürgerrechte scheint im vorliegenden Fall nur für die nachträgliche juristische Auseinandersetzung von Bedeutung, wenn Ermittlungsbehörden ungeachtet vorliegender Urteile überbordend ausspionieren. Dass im Nachhinein die Maßnahme als unrechtmäßig verurteilt wird, macht die zuvor womöglich erfolgte Durchleuchtung von z.B. linken Strukturen, das Brechen von Vertrauen und die Bindung von Kräften für beispielsweise Antirepressionsmaßnahmen nicht ungeschehen. Also kann wieder mal nur geraten werden, sich nicht auf den „Rechtsstaat“ zu verlassen, sondern gerade in Bezug auf politische Arbeit selbst für die Sicherheit der eigenen Daten Sorge zu tragen.

Rote Hilfe Leipzig

China: Ein Koloss in der Krise

Nicht nur in Großbritannien, auch auf der anderen Seite des Globus´ gibt es Riots, genauer gesagt in China. Wie die Nachrichtenagentur Reuters meldete, kam es Anfang Juni 2011 zu Unruhen in der südchinesischen Fabrikstadt Zengcheng. Auslöser war dabei das Gerücht, Sicher­heits­beamte hätten eine schwangere Straßen­händlerin getötet (tatsächlich war die Händlerin „nur“ geschlagen und zu Boden gestoßen worden). Es folgten drei­tägige Straßenschlachten, an denen sich tausende Arbeiter_innen beteiligten, die Polizeiautos umwarfen, Schaufensterscheiben einschlugen und Regierungsgebäude belagerten und in Brand setzten. Bewaffnete Polizeieinheiten rückten schließlich in die Stadt ein und gingen mit Tränengas und Panzerfahrzeugen gegen die Demonstrant_innen vor. Zengcheng ist ein wichtiges Zentrum der chinesischen Exportindustrie – von dort kommen etwa ein Drittel (!) aller weltweit produzierten Jeans. Mehr als 140.000 Wander­ar­beiter_innen sind in den etwa 3000 Fabriken der Stadt beschäftigt.

Schon einige Tage zuvor war es in der Stadt Chaozhou zu einem ähnlichen Aufruhr gekommen – dort hatte ein Firmenchef einen Arbeiter und dessen Sohn zusammenschlagen lassen, weil diese ihren ausstehenden Lohn verlangten. In der Stadt Lichuan stürmten etwa 2.000 Demons­trant_innen ein Regierungsgebäude. Auslöser war hier der Tod eines Beamten, der u.a. wegen des Vorwurfs illegaler Landenteignung gegen die Lokalregierung ermittelt hatte. Im Gegenzug wurde gegen ihn ein Verfahren wegen angeblicher Annah­me von Bestechungsgeldern eröffnet. Bei einem Polizeiverhör wurde der Mann of­fensichtlich misshandelt, er starb am 4. Ju­ni an seinen Verletzungen. An den folgenden Protesten und Unruhen beteiligten sich bis zu 20.000 Menschen.

Auch in der Stadt Anshun in der südwestlichen Provinz Guizhou kam es zu Riots. Anlass war hier der Tod eines Straßenhändlers, der anscheinend von Sicherheitskräften auf offener Straße zusammengeschlagen und getötet worden war. Darauf­hin versammelte sich eine Menge von mehreren tausend Einwoh­ner_innen, Autos wurden umgeworfen und die Polizeikräfte mit Steinen angegriffen. In zwei Städten wurden Bombenanschläge gegen Regierungseinrichtungen verübt.

Schon im Mai war es in mehreren Städten der Inneren Mongolei zu Protesten gekommen, nachdem zwei Mongolen von einem LKW überfahren worden waren – sie waren an der Blockade einer Zufahrtsstraße zu einem Kohlerevier beteiligt gewesen, um gegen die Zerstörung ihres Weidelandes zu demonstrieren. Mitte Juli kam es in der Provinz Xinjang im Westen des Landes zu „ethnischen Unruhen“.

Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen. Proteste sind in China an der Tagesordnung. Schätzungen zufolge gab es im vorigen Jahr in China 180.000 „Massenzwischenfälle“, also Streiks, Demonstrationen, Straßenblockaden und andere „Störungen der öffentlichen Ordnung“. 2004, als zum letzten Mal eine offizielle Statistik veröffentlicht wurde, waren es nur knapp halb so viele. So wurde die chinesische Automobilindustrie im Sommer 2010 von einer Welle von wilden Streiks erschüttert, die vor allem von Wander­arbei­ter_innen getragen wurde. Das Zentrum bildete damals das südchinesische Perlflussdelta – die Region um die Städte Hongkong, Shenzhen und Guangzhou ist eines der wichtigsten Industriezentren des Landes. Betroffen waren u.a. Zuliefer­firmen von Honda, Toyota und anderen multinationale Konzerne. Man könnte die jetzigen Riots als zweiten Akt dieser Streikwelle betrachten.

Boom & Blasen

China hat bislang die Krise recht gut überstanden. Das liegt vor allem an den Niedriglöhnen, durch die sich das Land zum Exportweltmeister aufgeschwungen hat – und somit vor allem an den Wander­ar­bei­ter_innen. Diese werden durch das offizielle Haushaltsregister-System der Landbe­völ­kerung zugerechnet. Sie haben damit zwar Anspruch auf die Zuteilung von Ackerland, aber keinen Zugang zu städtischen Sozialleistungen. Da diese „Bauern-Ar­beiter“ (mingong, so die offizielle Be­zeich­nung) eine zusätzliche Subsis­tenz­grundlage auf dem Land haben, können die Unternehmen die Löhne niedrig halten.

Das Haushaltsregister-System wurde 1955 ein­geführt und beinhaltete damals eine Art Re­sidenzpflicht – die Bauern durften das Dorf, in dem sie registriert waren, nicht verlassen. Die­se Regelung kam erst in den 80er Jahren ins Wanken. Im Zuge der schrittweisen öko­nomischen Liberalisierung (insbeson­dere der Lebensmittelversorgung) strömten Millionen Bauern in die Städte und die neu entstandenen Sonderwirtschaftszonen. Der Staat versuchte erfolglos diese un­geregelten Bevölkerungsbewegungen mit „Säuberungsaktionen“ in den Griff zu be­kommen. Unerwünschte Wanderarbeiter­_innen wurden zurück aufs Land deportiert und waren auch sonst vielfältigen Diskri­mi­nierungen (etwa durch die Polizei) ausgesetzt. In den letzten zehn Jahren hat sich die rechtliche Situation der Wander­arbei­ter­_innen ein wenig verbessert – die Regierung hat eben erkannt, wie wichtig die billige Arbeitskraft der min­gong für die Wirtschaft ist.

Die jüngere Generation der „Bauern-Arbeiter“ hat allerdings mitt­lerweile ihre Erfahrungen mit der Lohnarbeit in den Fabriken gemacht und ist nicht mehr bereit, sich zu jeden Bedingungen ausbeuten zu lassen. Und obwohl es geschätzt etwa 150 bis 200 Millionen Wander­arbeiter_innen gibt, ist das Reservoir an billigen Arbeitskräften keineswegs unerschöpflich. Während manche Unternehmen im Zuge der internationalen Wirtschaftskrise massenhaft Entlassungen durchführten, haben sie nun Schwierigkeiten, ihren Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Und wenn sich Streiks und Riots weiter häufen, dann dürfte dies die Preise für die Ware Arbeitskraft langfristig nach oben treiben.

Auch die derzeitige Schuldenkrise der USA wird wohl das chinesische Wachstum beeinträchtigen und so die sozialen Konflikte langfristig verschärfen. Die US-amerika­nische und die chinesische Wirtschaft pfleg­ten bislang eine geradezu symbiotische Beziehung, die ungefähr so aussah: Die USA importieren im großen Stil chine­sische Waren. Daraus ergibt sich auf ame­rikanischer Seite ein gigantisches Außen­handelsdefizit. Auf chinesischer Seite häufen sich große Dollarsummen. China leiht diese dann wiederum der US-Regierung und erhält dafür Staatsanleihen.

Seit 1995 profitierte China dabei auch von den festen Wechselkursen zwischen Dollar und Yuan. Zwar kündigte die chinesische Zentralbank schon 2010 eine Reform der Wechselkurspolitik an. Zugunsten besserer Chancen auf anderen Absatzmärkten soll­­te die einseitige Orientierung am US-Dol­lar aufgeweicht werden. Trotz solcher An­kündigung sind die USA aber nach wie vor der wichtigste Abnehmer chinesischer Waren.

Dass dieser nun ins Wanken gerät, ruft offenbar Nervosität bei der chinesischen Regierung hervor. Eine am 6. August durch die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua veröffentlichten Stellungnahme geißelte in harschen Worten die ameri­kanische “Schul­den­sucht”: “Die US-Regierung muss sich endlich der schmerzlichen Tatsache bewusst werden, dass die guten alten Tage vorbei sind, wo sie sich aus dem selbstver­schuldeten Schlamassel einfach herausschnorren konnte.“ Die Vereinigten Staaten müssten, so die Forderung, nun endlich ihr strukturelles Schuldenproblem beheben und die Sicherheit der chinesischen Dollar-Reserven gewährleisten. Zudem müsse eine „internationale Überwachung der Ausgabe von US-Dollars“ her, und ebenso eine „neue, stabile und sichere globale Reservewährung“, um „eine von einem einzelnen Land verursachte Katastrophe abzuwenden“.

Die Unruhe kommt nicht von ungefähr: Von den großen Wirtschaftsmächten steht China (mit einer stetigen Wachstumsrate von jährlich 8 bis 10% im letzten Jahrzehnt) zwar noch am besten, aber keines­wegs sicher da. Schon 2003 hat Alan Greenspan, der Chef der amerikanischen Notenbank Fed, vor einer möglichen „Überhitzung“ des chinesischen Marktes gewarnt, also davor, dass Kredite im Übermaß in Bereiche gepumpt werden, wo keine entsprechenden Gewinne erzielt werden können.

Eine solche Kreditblase scheint es z.B. beim chinesischen Immobilienmarkt zu geben: Seit 2002 war dort ein Preisanstieg von 800% zu verzeichnen, von 400% allein zwischen 2008 und 2010. Diese Steigerung der Immobilienpreise wird vor allem von den lokalen Behörden vorangetrieben. Das Land ist in staatlichem Besitz, und der Verkauf von Baugrund­stücken bildet die wichtigste Einnahmequelle der Lokalregierungen und der Kommunen. Das führt nicht nur zur widerrechtlichen Enteignung von Ackerland (und damit zu Protesten der Bauern), sondern auch zu krassen Gentrifizierungs- und Verdrängungsprozessen in den Städten, bei denen Millionen Miet- zu Eigentumswohnungen wurden. Und während derzeit eine solche Eigentumswohnung in Peking das 20fache eines durchschnittlichen Jahreseinkommens kostet, stehen gleichzeitig geschätzte 65 Millionen Wohnungen leer.

Die Regierung versucht der Gefahr der Blasenbildung zwar durch gesetzliche Beschränkungen der Kreditvergabe entgegenzuwirken. Eine solche wirksame Kontrolle der Banken kündigt sie allerdings schon seit Jahren an, sie ist also offensichtlich nicht allzu erfolgreich dabei. Die Frage ist auch, ob sie sich eine wirkliche Kontrolle überhaupt leisten kann und will: Ein Stopp der Kreditvergabe würde wohl für einige dubiose Millionenprojekte den Zusammenbruch bedeuten.

Bilanzen & Skandale

Der Crash hat möglicherweise schon begonnen: In den letzten Monaten fielen die Aktienkurse bislang hochdotierter chinesischer Firmen reihenweise in den Keller. Das betrifft in erster Linie sog. Reverse Merger, also Unternehmen, die eine ban­krotte ausländische Firma als rechtlichen „Mantel“ übernommen und sich so „durch die Hintertür“ Zugang zum Aktienmarkt verschafft haben.

Gegenüber solchen von vornherein ein wenig halbseidenen Unternehmen ist der Fall von Longtop Financial ein anderes Ka­liber. Das Unternehmen galt lange Zeit als ei­ner der größten Software-Entwickler Chi­nas. Beim Börsengang im Oktober 2007 erzielte Longtop einen Erlös von 182 Mio. Dollar, am ersten Handelstag ging der Kurs um 85 Prozent in die Höhe. Der Ge­samtwert der Longtop-Aktien wurde im No­vember 2010 auf 2,4 Milliarden US-Dol­lar geschätzt. Das Who-is-who der internationalen Investmentbranche war mit an Bord. Der Börsengang von Longtop wur­de von Goldman Sachs und der Deutschen Bank abgewickelt (1). JP Morgan Chase hält immer noch fast zwei Millionen Aktien, die Ende März 62 Mio. Euro wert waren.

Es dauerte ein paar Jahre, bis die Branche misstrauisch wurde. Erst genauere Nachforschungen des zuständigen Wirtschaftsprüfungsunternehmens, Deloitte Touche Tohmatsu, brachten einen massiven Betrug zum Vorschein: Ein großer Teil des Cashbestandes von angeblich 300 Mio. US-Dollar existierte nur auf dem Papier. Zudem hatte das Unternehmen verschiedene Bankkredite aufgenommen, die in den Bilanzen nicht auftauchten. Das Bedenkliche an dem Betrug (und der Grund, warum er so lange unentdeckt blieb) ist, dass es sich dabei nicht um einen Alleingang von Longtop handelte, sondern mehrere chinesische Banken offenbar daran beteiligt waren: Die gefälschten Bilanzen wurden von diesen bei Nachfragen der Wirtschaftsprüfer durch falsche Angaben bestätigt (2). Das lässt, angesichts der Bedeutung der chinesischen Banken für die Weltwirtschaft, nichts Gutes ahnen… Seit Mitte Mai werden die Longtop-Aktien nicht mehr an der Börse gehandelt. Den Anlegern droht der komplette Verlust ihrer Investitionen.

Ähnlich liegt der Fall bei dem Forstunternehmen Sino-Forest. Nachdem der Wert der Aktien in Spitzenzeiten mit über fünf Milliarden US-Dollar veranschlagt wurde, befindet er sich nun im freien Fall. Der Vorwurf: Sino-Forest habe den Wert seiner Wälder um rund 900 Millionen US-Dollar zu hoch ausgewiesen. Auch bei dem Chemiekonzern ShengdaTech tauchten solche Unstimmigkeiten in den Bilanzen auf. Und China Integrated Energy, nach Eigenauskunft einer der führenden Produzenten von Biodiesel, verweigerte eine Überprüfung seiner Bilanzen, nach­­­dem Vorwürfe laut wurden, die Raffinerien und Tankstellen, die das Unternehmen angeblich be­treibt, würden gar nicht existieren.

Ganz so stark, wie bis­lang geglaubt, steht die chinesische Wirtschaft also nicht da. Oh­ne hier allzu viel aus dem Kaffeesatz lesen zu wollen: Diese Be­trugs­fälle könnten die Vorboten eines künftigen Crashs sein. Es ist kei­neswegs ausgeschlossen, dass es in zwei oder drei Jahren zu einem größeren Einbruch bei den Wachstumsraten kommt. Damit könnten sich auch die schwelenden sozialen Konflikte weiter verschärfen. So gibt es den Schätzungen der staatlichen Kommission für Bevölkerungs- und Familienplanung zufolge bei der Agrar­bevöl­kerung noch immer einen „Überschuss“ von ca. 150 Millionen Menschen, die auf dem Land keine wirkliche Perspektive haben. Die Regierung ist also auf stetige hohe Wachstumsraten angewiesen, um neue Jobs zu schaffen, eine kontrollierte Abwanderung aus den ländlichen Gebieten zu ermöglichen und so die sozialen Spannungen managen zu können. Das ist ihr in den letzten Jahrzehnten auch recht gut gelungen. Wenn sich das Wachstum aber von derzeit jährlich 8-10% auf 4-5% halbiert, dürfte sich diese Politik nicht mehr fortsetzen lassen. Welche Auswirkungen dies hat, bleibt abzuwarten. Die Chancen dafür, dass sich die bisher noch verstreuten und unkoordinierten sozialen Kämpfe dann zu einer breiteren oppositionellen Bewegung zusammenfinden, stehen jedenfalls nicht schlecht.

justus

(1) www.stock-world.de/analysen/nc3810317-China_Aktien_Mega_Crash.html
(2) www.nytimes.com/2011/05/27/business/27norris.html?pagewanted=all

Nachbarn

Verschlafen intervenieren

Jan Ole Arps: „Frühschicht – Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren“

Es scheint ewig her zu sein, dass sich die deutsche Linke mal für´s Proletariat interessierte, aber „was heute kaum vorstellbar klingt, war Anfang der 1970er Jahre weit verbreitet (…) Einige Tausend junge Linke tauschten den Seminarstuhl gegen die Werkbank ein, um sich mit den Arbeitern am Fließband zu vereinen.“ Nach dem Abflauen der 68er-Revolte schien der Gang „vom Seminar in die Fabrik“ neue Perspektiven für die studentische Linke zu eröffnen.

In seinem Buch „Frühschicht“ will Jan Ole Arps die Geschichte dieser Fabrikinter­ventionen der 70er Jahre nachzeichnen. Bei seiner Rekonstruktionsarbeit stützt er sich nicht nur auf Dokumente aus dieser Zeit, sondern vor allem auf Interviews mit ehemaligen Aktiven. Die Auswahl der Interviewpartner_innen engt allerdings auch den Fokus der Untersuchung beträchtlich ein – Arps legt sich damit von vornherein auf die Perspektive der studentischen Linken fest. Eine weitere Einschränkung macht Arps, indem er sich einerseits auf die marxistisch-leninistischen K-Gruppen, andererseits auf jene sponta­neistisch-antiautoritären Gruppen fokussiert, die sich um die Zeitung „Wir wollen alles“ sammelten, wie z.B. der Frankfurter Revolutionäre Kampf, die Hamburger Proletarische Front und die Arbeitersache aus München.

Arps rückt bewusst genau diese beiden Fraktionen in den Fo­kus, weil K-Grup­pen und Spon­tis (bei aller ober­fläch­lichen Ähnlichkeit in der Praxis der Fabrikinter­vention) recht gegensätzlichen Konzepten folgten: So ging es den K-Gruppen vor allem um den Aufbau einer straff organisierten „Arbeiterpartei“ nach lenin­schem Modell – ihre Praxis beschränkte sich folglich vor allem auf klassische Agitation. Dagegen be­zogen die „Wir-wollen-alles“-Gruppen sich auf das operaistische Konzept der Klassen­autono­mie, wie es in den 60er Jahren von der italienischen Linken entwickelt worden war: Durch den Gang in die Fabrik wollte mensch sich zunächst mal selbst Klarheit über die dortigen Verhältnisse schaffen, um im zweiten Schritt in bestehende Konflikte einzugreifen, diese zuzuspitzen und so die Arbei­ter_in­nen zu selbständigen Aktionen anzuregen.

Bei aller Gegensätzlichkeit war es aber für die ML- und Sponti-Aktivist_innen eine gleich große Herausforderung, sich in den maschinellen Arbeitsrhythmus der Fabrik einzufügen. Die im Buch immer wieder eingestreuten O-Töne tragen viel dazu bei, die individuellen Erfahrungen anschaulich zu machen: die Eindrücke beim ersten Betreten der Fabrik, das Verhältnis zu den Kolleg_innen, Gefühle der Frustration ebenso wie die Formen alltäglicher Renitenz innerhalb der Arbeiterschaft.

Sehr anschaulich beschreibt Arps auch die Absurditäten, die die Mitgliedschaft in einer K-Gruppe unvermeidlich mit sich brachte: die Versuche der Aktivist_innen, sich einen „authentisch-proletarischen“ Habitus anzueignen und das aussichtslose Bestreben, die tägliche Praxis mit der vorgegebenen Parteilinie in Einklang zu bringen. Das hat man zwar schon öfter und anders­wo gelesen, trotzdem wirkt diese Selbst­­ver­leug­nung im Diens­te ei­nes völlig welt­frem­den Pro­gramms aus jetziger Perspektive immer noch befremdlich. Die Abneigung, die ein Großteil der deutschen Linken heute gegen „das Proletariat“ hegt, dürfte genau hier ihre Wurzeln haben.

Die Sponti-Gruppen, wie der Frankfurter Revolutionäre Kampf (das einstige Umfeld von Joschka Fischer), waren weniger dogmatisch. Frustrationen blieben aber auch hier nicht aus – der Fabrikalltag bot eben kein Aben­teuer, son­dern die meiste Zeit nur öde Routine. Und wo es zu größeren Aktionen kam, ging die Initiative dazu meist nicht von den Sponti-Aktiven aus. Im Opel-Werk Rüs­selsheim (wo die Frankfurter Spontis ar­beiteten) waren es eher die linksradikalen italienischen Kolleg_innen, die die Militanz in der Belegschaft förderten. Aber auch die un­­organisierten türkischen „Gastarbeiter“ spiel­ten eine große Rolle bei den Ar­beits­kämpfen, etwa bei dem wilden Streik, der im August 1973 bei Ford in Köln begann. Ein Teil des Werks wurde mehrere Tage be­setzt gehalten. Die Arbeitsniederlegung wur­de schließlich durch Streikbrecher (bzw. Zivilpolizisten und bezahlte Schläger) gewaltsam beendet.

Der Versuch, solche Konflikte „zuzuspitzen“, endete für die Aktivist_innen oft genug mit ihrer Entlassung. Während die K-Gruppen aber dank straffer Parteidisziplin eisern bei der Sache blieben, war das Ausscheiden aus dem Betrieb für viele Spontis ein willkommener Anlass, dem „beschränkten Terrain der Fabrik“ den Rücken zuzukehren. Auch diese schrittweise Abkehr zeichnet Arps nach. Viele Spontis wandten sich anderen Konfliktfeldern zu, die mehr Action und rasche Erfolgserlebnisse versprachen. Dem emanzipatorischen Gehalt der jeweiligen Auseinandersetzungen kam das nicht immer zugute: So versackten z.B. die Frankfurter Häuserkämpfe (die 1970 durch Mietstreiks und Besetzungen von „Gastarbeitern“ initiiert worden waren) unter dem Einfluss des Revolutionären Kampfs schnell in quasi-militärischen Scharmützeln von Polizei und hochgerüsteten Aktivisten. Wie die Geschichte weitergeht, sollte bekannt sein: Joschka Fischer und eine Reihe anderer RK-Akti­vist_innen beendeten ihre „revolutionäre“ Phase und begannen eine parlamentarische Karriere bei den Grünen. Andere Aktive zogen sich immer mehr in die Nischen der eigenen Subkultur oder der „Al­ternativökonomie“ zurück. Nur die verbliebenen K-Gruppen mach­ten trotz schwindender Mitgliederzahlen und staatlicher Repression weiter wie zuvor, bis sie nach 1989 in wohlverdienter Bedeu­tungs­losigkeit versanken.

Ansonsten gerieten die Fabrik und die Arbeitswelt insgesamt als zentraler Ort gesellschaftlicher Ausbeutungsverhältnisse zunehmend aus dem Fokus der Linken. Die Initiativen, die sich in den 80er Jahren noch mit diesem Feld befassten (Erwerbslosen- und Wildcat-Gruppen) werden von Arps rasch und relativ oberflächlich abgehandelt.

An dem Punkt, wo er den Bereich der historischen Beschreibung verlässt und die Frage aufwirft, was sich aus den damaligen Erfahrungen für heute lernen ließe, kommt Arps dann allerdings völlig ins Schwimmen.

Sein Fazit ist relativ klar: Das „Fabrik-Experiment“ sei insgesamt fehlgeschlagen, „gute Beispiele für heutige politische Initiativen“ seien hier nicht zu finden (S. 211). Soweit es die K-Gruppen betrifft, ist das sicher richtig. In ihrer Allgemeinheit ist die Aussage aber auch eini­germaßen banal: Revolution ist nun mal ein riskantes Unternehmen mit dem Ziel, et­was grundlegend Neues zu schaffen – dafür kann es eben kein Patentrezept geben. Und was die antiautoritäre Linke an­be­langt, so wären die Gründe des Fehlschlags zumin­dest näher zu überprüfen.

Das tut Arps nur bedingt: Indem er sich darauf beschränkt, die Einschätzungen der Ak­tivist_innen wiederzugeben, übernimmt er unbemerkt auch viele ihrer Fehl­ein­schätzungen. Eine kritische Ausein­ander­setzung mit dem italienischen Ope­raismus fehlt z.B. völlig, obwohl dieser doch der wichtigste theoretische Bezugspunkt für die „Wir-wollen-alles“-Gruppen war. Dabei übernahmen die deutschen Linksradikalen einerseits bestimmte Rezepte, die zwar im italienischen Kontext gut und richtig waren, aber sich eben nicht um­standslos auf die bundesrepu­blika­ni­schen Verhältnisse übertragen ließen. An­de­rer­seits übernahmen die Spontis dabei auch das, was schon im italienischen Kon­text falsch war: Schließ­­lich fielen gerade die ope­ra­istischen Grup­­pen, die den größten Einfluss auf die deutsche Linke hat­ten (Lotta Con­­tinua und Po­tere Ope­­raio), bald in alte Fehler zurück, be­jubelten den be­waff­neten Kampf oder übten sich im Aufbau von Avantgarde-Parteien. Ei­ne genau­ere Aufarbeitung dieses Verhältnisses der deut­­schen zur italienischen Linken leistet Arps leider nicht.

Auch, wo er sich mit den heutigen Arbeitsverhältnissen befasst, ist seine Analyse eher schwach. So übernimmt er im Großen und Ganzen die gängigen Formeln von „Post­for­dis­mus“ und „Dienstleistungsgesellschaft“. Entsprechend fällt auch sein Fazit aus: „Die Fabrik ist nicht mehr die prägende Institution, sie ist eine unter vielen“ – sie könne also auch nicht mehr der zentrale Ort des gesellschaftlichen Antagonismus´ sein. Das stimmt insofern, dass die Fabriken hierzulande heute anders aussehen als vor 30 Jahren. Das heißt aber nicht, dass die Industrie ihre strukturelle Bedeutung für die kapitalistische Wert­schöpfung ver­loren hätte. Diese lässt sich nicht allein aus der Statistik ablesen, wie Arps es ver­­sucht, wenn er darauf verweist, dass heu­­­te 65% der deut­­schen Er­werbs­tätigen in Bereichen arbeiten, „die man dem Dienst­­­leis­tung­­ssektor zu­or­d­net“. So sind die „selbständigen Programmierer“ (die Arps als Beispiel nennt) in weiten Teilen noch im­mer mit Zuarbeit für die Industrie beschäftigt – die IT-Branche macht den Großteil ihrer Gewinne mit Software zur Steuerung von Produktionsvorgängen! In ähnlicher Weise wurden viele Bereiche der Produktion ausgelagert und tauchen nun in der Statistik in der Rubrik „Dienstleistung“ auf. Diese Kategorie verschleiert also mehr, als sie etwas über die realen Veränderungen aussagt. Die Rede von der Dienstleistungsgesellschaft ist, soweit es um Deutschland bzw. Westeuropa geht, zumindest zweifelhaft – im globalen Maßstab ist sie definitiv falsch.

Aber den Anspruch, ein unumstößliches Stan­dardwerk zu schaffen, hatte Arps sicher selber nicht. Diese Einwände sollten also niemand von der Lektüre abhalten. Das Buch ist informativ, gut lesbar geschrieben, und bietet einen guten (wenn auch keineswegs vollständigen) Überblick über die Praxis der Fabrikintervention und die Debatten der 70er Jahre. Schon dafür kann man Arps dankbar sein, schließlich beleuchtet er einen Teil linksradikaler Bewegungsgeschichte, der im heutigen Rückblick gerne ignoriert wird. Und letztlich geht es ja nicht nur darum, die Geschichte aufzuarbeiten, sondern auch darum, sie fortzuführen.

justus

Jan Ole Arps, „Frühschicht – Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren“, Assoziation A, Berlin/Hamburg 2011, 238 Seiten

Ausgelesen