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Indiens unwidersprochene Widersprüche

Impressionen einer Reise

Wenn eine eine Reise tut, dann kann sie was erzählen… Doch was lässt sich aus gut drei Monaten Delhi-Erfahrung, gekoppelt mit ein paar Reiseeindrücken aus dem nördlichen Indien, berichten? Ich war zu lange da, um lediglich Eindrücke zu beschreiben – ganz abgesehen davon, dass diese Gefahr laufen zu langweilen und Oberflächenklischees zu bedienen. Allerdings war ich auch zu kurz da, um mit viel Hintergrundwissen analytisch über die indische Gesellschaft zu resümieren. Vor allem aber habe ich heute mehr Fragen als Antworten im Kopf. Die zum Alltag gewordenen Eindrücke und Wahrnehmungen mischen sich wild mit unausgegorenen Analysen und meiner ganz subjektiven Brille. Aber deshalb schweigen? Nein – denn mein Blick über den Tellerrand, kann auch für euch an der Welt interessierte Menschen interessant sein, kann zum Nachdenken über Kapitalismus und Kaste, Tradition und Moderne, transkulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede, subjektive Wahrnehmung und objektive Realität anregen. Das ist es auch, was diesen Text vielleicht lesenswert macht – egal ob ihr Indien und Delhi schon mal selbst erlebt habt oder nur vom Hörensagen kennt.

Die Arm-Reich-Bandbreite

Was mich vor allem an der indischen Gesellschaft bewegt und mir ins Auge sticht, ist die Spanne zwischen armen und reichen Menschen. Denn sie scheint mit europäischen Verhältnissen verglichen sowohl offensichtlicher, als auch größer zu sein. Auf den Hauptstraßen in Delhi hat man die seltene Gelegenheit, alles auf einmal beobachten zu können. Denn da drängelt sich der dicke, große und sauber glänzende Schlitten (natürlich mit getönten Scheiben) zwischen verbeulten kleineren Autos, abgeranzten uralten Linienbussen, unzähligen Auto-Rikschas, Motorrädern und manch mutigem Fahrradfahrer hupend seinen Weg frei. Das Ende der Kette bilden dort wohl die Straßenhändler und verstümmelte Bettler oder Kinder, die an den Ampeln umher laufen, um Kleingeld zu schnorren.

Ansonsten wird die Arm-Reich-Bandbreite nur sichtbar, wenn man unterschiedliche Stadtviertel besucht – denn die Menschen leben hier eher segregiert, v.a. anhand der Tätigkeitsart und dem entsprechendem Einkommen. Die Wohngegenden unterscheiden sich v.a. durch den Grad der Sauberkeit, Architektur und Größe der Häuser, Breite der Straße, Höhe der Mauern, Anzahl der Autos im Hof, Menge an postierten Wachpersonal sowie der Anzahl an Menschen, die auf einen Schlag sichtbar sind. Vis a vis betrachtet, bilden v.a. der Kleidungsstil, die Schmuckdichte und die Dominanz im Auftreten im öffentlichen Raum gute Indikatoren für die Dicke des Portemonnaies und den Status der Menschen. Und im Haus drin ist es neben der Inneneinrichtung v.a. die Anzahl der Hausangestellten, die darüber Aufschluss geben.

So weit so gut. Klingt gar nicht so besonders und anders als bei uns, sagt ihr vielleicht. Mag sein, sofern wir die riesige Menge an Menschen, die in extremer Armut leben müssen, hier ausklammern. Und dementsprechende Gegenmaßnahmen wie hohe Mauern und Wachpersonal bei den extrem Gutverdienenden.

Wieso, weshalb, warum?

Dennoch habe ich das Gefühl, dass diese Gegensätze hier offener ausgelebt werden und sichtbarer sind. Auch und vielleicht weil sie unwidersprochener nebeneinander stehen können? Denn außerhalb der Universitätskreise höre ich nichts von sozialen Kämpfen. Sehe keine Demos auf den Straßen. Zudem habe ich erfahren, dass sich nur Wenige bspw. in Gewerkschaften organisieren. Woran liegt also die scheinbar geringe Bereitschaft gegen diese soziale Ungleichheit aktiv zu werden?

Liegt das nur am Fehlen eines großen klassischen „Industrieproletariats“ zugunsten eines riesigen informellen Sektors voller Einzelkämpfer? Oder gibt es keinen Glauben an mögliche Veränderungen durch aktives und gemeinsames Handeln einer Zivilgesellschaft? Inwiefern ist eine solche bisher überhaupt gewachsen (jenseits parteipolitischer Seilschaften)? Oder ist die gesellschaftliche Fragmentierung und das Reproduzieren von extremer Ungleichheit eine Nachwirkung des immer noch eine Rolle spielenden Kastensystems? Oder der ebenso sehr ausgeprägten Clan-Identitäten aufgrund von Regions- und Familienzugehörigkeiten? Oder liegt es am inzwischen verinnerlichten kapitalistischen Versprechen, dass jeder den materiellen Aufstieg schaffen kann, wenn er nur hart genug dafür arbeitet?

Arbeit ist das ganze Leben

Ohne Zweifel, die Leute hier arbeiten ziemlich viel und vor allem lang – in jeder Gesellschaftsschicht. Alle Geschäfte und Straßenstände in meinem Viertel haben täglich von 8 oder 9 Uhr morgens (so genau weiß ich Langschläferin das leider gar nicht….) bis 22 Uhr geöffnet – und das sieben Tage die Woche. Es stehen auch immer die selben Leute hinterm Ladentisch. Eine Autorikscha kannst du rund um die Uhr ziemlich leicht finden, denn oftmals ist sie zeitgleich auch Schlafplatz ihrer Fahrer. Und selbst die ärmsten Omas versuchen bspw. durch Süßigkeitenverkauf vor der Haustür ganztägig zum Familieneinkommen durch Kleinstbeträge beizutragen (siehe Bild). Aus einem spannenden Buch von Rana Dasgupta (1) habe ich gelernt, dass auch in der aufstrebenden Mittelklasse der Arbeitsplatz zum Familienersatz und neuen Zuhause geworden ist. Was lange Arbeitszeiten und eine sehr hohe Identifikation mit dem Beruf und dem dazugehörigen Status impliziert. Nicht zuletzt seien auch noch die vielen Hausangestellten erwähnt, die ab mittlerem Einkommen eigentlich in allen Haushalten zu finden sind und das Putzen, Kochen, Waschen, Abräumen usw. übernehmen. Je nach Status und Einkommen in unterschiedlicher Anzahl. Oftmals leben diese auch dauerhaft bei ihren Arbeitgebern und sind dementsprechend auch rund um die Uhr verfügbar.

Kurzum, die Arbeit und Erwerbstätigkeit definiert hier das Leben der Menschen in besonderem Maße – und die Menschen definieren sich selbst über diese. Auch eine Auswirkung des Kastensystems, in dem die Menschen nach ihrer Tätigkeit unterteilt wurden? Oder liegt es eher an den wirtschaftlichen Veränderungen, die mit der Marktöffnung Anfang der 90er begannen und derzeit das Land in einen extremen Wirtschaftsboom versetzen? Oder doch einfach an den existenziellen materiellen Notwendigkeiten der Bevölkerung, die bei uns dank (marodem) Sozialnetz zumindest nicht so extrem sind? Aber was treibt die Leute aus höheren Schichten an, ihr ganzes Lebensglück über ihre Erwerbsarbeit und dementsprechende Luxusgüter und Status zu definieren?

 

Arrangierte Ehen

Eine Erklärung könnte die starke Bindung an und traditionelle Identifikation über Clan-/Kasten-Familienzugehörigkeit sein, die sich meist über das Tätigkeitsfeld definiert. Generell spielt die familiäre Bindung in Indien eine große Rolle, meist leben verschiedene Generationen unter einem Dach und Söhne treten oft in die beruflichen Fußstapfen ihrer Väter.

Eine weitere Erklärung könnte ich in der (zeitgleichen) Flucht vor der eigenen Familie finden. Aber stopp, da muss ich aufpassen, nicht mit meiner eurozentristischen Brille den Leuten was unterzujubeln, was sie vielleicht gar nicht fühlen. Und dennoch ist folgendes wichtig, um die indische Familie besser zu verstehen: Die allermeisten Ehen werden noch immer durch die Familie initiiert und arrangiert. Und die allermeisten werden auch verheiratet während ihrer 20er. Oftmals lernen sich die zukünftigen Paare bei zu diesem Zweck veranstalteten Familienzusammenkünften zum ersten Mal kennen. Unterschiede gibt es jedoch in der Art, wie viel Mitspracherecht die zu verheiratenden Menschen selbst haben. Und wie viele potentielle Partner_innen sie sich angeschaut haben. Und wie lange sie vorher miteinander Zeit verbringen dürfen, bis es entschieden wird. Was aber nicht heißt, in dieser Zeit miteinander leben zu dürfen.

Insgesamt fühlen sich die Eltern dafür verantwortlich, ihr Kind unter die Haube zu bringen, machen Vorschläge (ggf. unterstützt durch unzählige Kuppelbörsen), arrangieren Treffen und achten v.a. darauf, dass möglichst Status-/Clan-/Kasten-/Einkommensgleich geheiratet wird. Neben dem Materiellen spielen auch Äußerlichkeiten – wie die Helle der Hautfarbe – nicht selten eine sehr wichtige Rolle. Ich bekam die Gelegenheit für zwei Tage bei einer indischen Hochzeit eingeladen zu sein und allen Ritualen beizuwohnen (meine helle Hautfarbe machte mich dort quasi zum erwünschten Ehrengast (2)). Generell zählen Hochzeiten zu den größten Feierlichkeiten in einem indischen Menschenleben und werden dementsprechend groß und lang zelebriert und treiben (insbesondere die Familie der zu verheiratenden Frau) nicht selten an die Grenzen des Ruins. Die bei dieser Hochzeit zu verheiratende Frau aus einer auf dem Land lebenden Jat-community hatte ihren Zukünftigen zweimal zusammen mit den Eltern getroffen – weiterer Kontakt war unerwünscht. Spannend und befremdlich zugleich waren auch die etlichen (streng ein­gehaltenen) Ri­tuale und Zeremonien – die al­le irgendwie mit dem Ge­ben und Neh­men von Geld ver­bunden waren. Das öffentliche Küssen hingegen ist in Indien verboten – selbst auf der eigenen Hochzeit. Während also die Frau bis auf wenige Auftritte den Haupttag der Hochzeit abgeschirmt im Zimmer verbrachte, feierten mehr als 1000 Gäste auf einem riesigen Gelände – bis der Bräutigam auf einer Kutsche gegen 22 Uhr mit seiner Familie in die Feststätte geritten kam. Danach schrumpfte die Gemeinschaft auf ca. 100 Familienangehörige, die gegen Null Uhr der hinduistischen Trauungszeremonie beiwohnen durften. Der Bräutigam saß davor und danach v.a. mit den männlichen Familienmitgliedern beider Familien zusammen, um Geld und Juwelen in diversen Ritualen entgegenzunehmen – inklusive Mitgift. Am Ende gegen 4 Uhr nachts fuhr das Brautpaar dann mit dem Auto in die Heimat des Ehemannes. Ein tränenreiches Abschiednehmen, denn damit verschwindet auch die Tochter aus dem Elternhaus zur Familie des Mannes. Zwar ist sie dort nicht zwangsweise zur Hausfrau und Mutter verdammt – zunehmend mehr Frauen bleiben auch nach ihrer Hochzeit erwerbstätig (oder sind schlichtweg aufgrund ihrer Armut gezwungen zu arbeiten), aber bleiben dennoch hierarchisch dem Mann und auch dessen Eltern untergeordnet.

Interessanterweise erfährt diese Tradition wenig hörbaren Widerstand von jungen Menschen – obwohl sie alle von der Liebesheirat träu­men, was auch in vielen Bolly­wood-Filmen kolpor­tiert wird. Einige Leute (eher jun­ge Bildungselite) berichten auch von einem gesellschaftlichen Wandel hin zu reinen Love-marriages. Andere erzählen, dass die Liebe dann mit der Zeit gewachsen ist, und dass sie dementsprechend eine Mischung aus love-marriage und arranged-marriage haben (3). Warum lassen sich eigentlich so viele darauf ein? Ist es der Wunsch nach Familie und Sicherheit? Die geringeren Möglichkeiten, jenseits familiärer Beobachtung vorher mit dem anderen Geschlecht Zeit zu verbringen und herum zu experimentieren? Oder die starke familiäre Bindung, verbunden mit finanziellen Abhängigkeiten, der man sich nicht zu widersetzen traut? Oder wird einfach auf das Schicksal und die Weisheit der familiären Entscheidung vertraut? Heißt das aber dann nicht auch, dass die jungen Leute ebenso implizit dem Identitätsdenken gemixt mit religiösen Schicksalsvorstellungen folgen? Oder rebellieren sie nicht (lautstark), weil sie es einfach nicht anders kennen? Und weil ein Ausbruch mit gesellschaftlicher Missachtung und Diskreditierung bestraft werden würde? Auch Scheidungen sind leider gesellschaftlich verpönt. Zwar sind diese prinzipiell legal, dennoch haftet danach – vor allem an der Frau und der dazugehörigen Familie – ein großer Makel. Demzufolge ist der familiäre Druck oftmals sehr groß, und viele nehmen lieber ihre Ehe als unglückliches Schicksal an, als sich zu trennen. Flucht aus dem tristen Liebesschicksal könnte dann entweder eine geheime Liebschaft sein (ich habe mehrfach vernommen, dass das sehr stark verbreitet ist, aber eben streng geheim) – oder eben die Erfüllung durch Arbeit und kollegiales Miteinander.

Aber vielleicht ist solch eine Kausalkette zwischen Arbeit und Familie auch nur ein Konstrukt meiner westlich geprägten Weltsicht? In jedem Falle ist sie weder monokausal noch pauschal zu ziehen – denn für die allermeisten Menschen in Indien ist der permanente Verkauf der Arbeitskraft schlichtweg notwendig, um sich und die Familie ernähren zu können.

Kapitalismus trifft Kaste

Zusammenfassend ist also das, was mir hier in Delhi ins Auge sticht, einerseits die stark ausgeprägte Bindung zur eigenen Familie und die Identifizierung mit einer bestimmten community oder Gesellschaftsschicht/Kaste. Und andererseits die Auswüchse eines kapitalistischen Systems ohne soziales Auffangnetz.

Ersteres führt allerdings auch zu Abgrenzung und Misstrauen gegenüber Inder_innen, die nicht zur Familie oder gleichen Berufsgruppe/ Gemeinschaft/ Kaste gehören. Egal ob arm oder reich. Wie oft ich gehört habe, dass ich keinem vertrauen soll, weil 70-90% der Inder böse/ schlecht/ hinterhältig seien…Stimmt aber nicht – so viel kann ich mit Sicherheit sagen! Derlei Misstrauen aber könnte ein tatsächlicher Grund sein, dass größere soziale Bewegungen schwer organisierbar sind.

Das stark ausgeprägte kapitalistische Wirtschaftssystem hingegen beeinflusst nicht nur den (Arbeits-)Alltag, sondern auch die formulierten Bedürfnisse – die abgesehen von der Liebesheirat ziemlich materialistisch sind, insbesondere bei der jungen Generation. Da ist es irgendwie extrem wichtig, welche Marke die Kleidung hat, dass das Handy ein Smartphone ist und dass man sich irgendwann mal einen Mercedes Benz leisten kann. Genährt wird die Sehnsucht nach dem materiellen Glücksgefühl wohl durch die allgegenwärtige Werbung (vorzugsweise mit weißen Models), riesige Shopping-Malls und einen Präsidenten, der zu den Apologeten des indischen Aufschwungs durch Wirtschaftswachstum gehört.

Vielleicht ist das, was ich hier wahrnehme aber gar nicht so ungewöhnlich und vielleicht ist es auch gar nicht so viel anders als bei der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Vielleicht fällt es mir nur deshalb so auf, weil ich selbst zu Hause meine Zeit meist in einer kleinen Blase voller toleranter Idealist_innen verbringe… Anyway, es fällt mir hier auf. Und Rana Dasgupta bestärkt das, wenn er die aktuelle Delhi-Gesellschaft als materialistisch und egoistisch (außerhalb der Familie) beschreibt.

Aber stopp, das so stehenzulassen und mit meinen Eindrücken zu bestätigen, widerstrebt mir total. Und es stimmt so auch nicht. Denn die Diversität der Menschen ist überall auf der Welt so groß wie hierzulande, und ich habe auch ziemlich idealistische (bettelarme) Künstler_innen kennengelernt, für die Geld zwar ein tägliches Thema ist (aus der Notwendigkeit heraus), die aber dennoch ihr Lebensglück in der Zwischenmenschlichkeit suchen und große Idealist_innen sind. So bleibt am Ende also die Einsicht, dass die Gesellschaft in Indien sich von unserer strukturell zwar an einigen Punkten stark unterscheidet, und sie auch prägt, die Menschen als solche hingegen doch überall gleich und zugleich ganz unterschiedlich sind. Und wenn man ihnen mit offenem Herzen begegnet, dann sind sie ebenso offen herzlich.

Zugleich steht das, was die indische Gesellschaft meines Erachtens nach strukturell so prägt – die gruppenspezifische (traditionelle) Identität und der (moderne) Kapitalismus – an vielen Stellen auch konträr zueinander und trägt sicher maßgeblich zu Konflikten in Familien und Lebensplanung bei. Beispielsweise, wenn junge Frauen sich aus der traditionellen Abhängigkeit und Hierarchie zur Ehemannfamilie durch eigene Berufstätigkeit befreien wollen. Oder wenn die Verfolgung des kapitalistischen Traumes, dass jede_r reich werden könne, mit der Haltung kollidiert einen beruflichen Weg einzuschlagen, den schon die Ahnen beschritten haben. All diese Konflikte und noch viel mehr davon gibt es auch. Zugleich ist die Gesellschaft auch in stetiger Bewegung und Veränderung.

Leider stoße ich hier wieder an die Grenzen meines Tellerrandblickes. Nicht nur, weil ich zu kurz da war, um wirklich tiefgründig all die vielen Zusammenhänge zu verstehen und noch immer zu wenig Hintergrundwissen habe. Sondern auch, weil ich immer von meinem Teller aus auf das Außen blicke, ich eine ganz andere Sozialisation erfahren habe und dementsprechend das, was ich wahrnehme, immer eine Konstruktion der Wirklichkeit aus meiner Sicht bleibt. Eine objektivere Wirklichkeit darzustellen, ist (wenn nicht von vornherein als methodologisch unmöglich abgelehnt) hier nicht leistbar. Dennoch war dieser Artikel nicht umsonst (auch wenn eine grundlegende Unzufriedenheit mindestens bei mir bleibt). Denn durch ihn konnte ich all die verschiedenen Eindrücke mal sortieren, reflektieren, mit meiner Sozialisation in Beziehung setzen. Auch wenn sich dabei mehr Fragen als Antworten auftun, bringen sie mich weiter. Und dem Verständnis anderer Welten näher. Ich hoffe euch geht es auch ein wenig so. Egal ob Indien, Ghana oder Nicaragua: Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben – nicht nur mit dem faszinierenden Außen, sondern auch mit sich selbst.

momo

(1) Rana Dasgupta (2014): „Capital“. Darin porträtiert er anhand zahlreicher Interviews die Menschen in Delhi quer durch alle Schichten im 21.Jahrhundert.

(2) Eine Form der „positiven Diskriminierung“, die mir hier begegnet ist und sicherlich auf das von den Briten implementierte Kastensystem zurückzuführen ist. Denn die Zuordnung dieser bemaß sich auch an der Helle der Hautfarbe.

(3) Ich denke auch, dass die weitestgehende Alternativlosigkeit zum besiegelten Eheleben einen großen Einfluss auf die positive (liebenswertes suchende) innere Einstellung gegenüber dem Partner hat und die Bereitschaft dafür die eigenen Grenzen weit zu dehnen. Demgegenüber bringt uns hierzulande die stärker gelebte Individualität und Autonomie viel mehr dazu solche Bünde in Frage zu stellen, wenn das Gefühl der Liebe schwindet.

Israel im Krieg

Ansichten aus einer Israel-Reise während der Gaza-Offensive „Protective Edge“, Juli 2014

Der folgende Text ist eine Reisebericht und kein journalistischer Report. Er ist kaum recherchiert und beschreibt hauptsächlich eigene Erfahrungen und die Aussagen bestimmter Personen in Israel. Er kann keine Beschreibung der Leiden und Zerstörungen, Emotionen und Stimmungen auf der Seite der Palästinensergebiete liefern, da der Autor Julian Bindewald nicht dort war.

Der Luftschutzalarm wirft mich aus dem Bett. Okay, es ist schon später Vormittag hier in Tel Aviv, aber es war auch spät gestern. Weniger als 30 Sekunden haben wir um uns ins Treppenhaus zu flüchten und zu warten bis die Rakete unter dumpfen Explosionen zerstört wird. Bis jetzt ist noch jede auf israelische Städte gefeuerte Hamas-Rakete getroffen worden, aber die Raketenteile haben doch einige Schlagkraft. „Gehen der Hamas die Raketen nicht bald mal aus?“ fragt meine israelische Gastgeberin Gehudert (1). Und ich hoffe, dass dem israelischen „Iron Dome“ die Abwehrraketen nicht ausgehen, denn so fühle ich mich doch relativ sicher. Der Spuk ist jeweils schnell vorbei – und doch könnte es jederzeit passieren und mich irgendwo draußen oder auf dem Klo erwischen.

Die Angst der Israelis ist spürbar. Erst bei genauerem Hinsehen und Hinhören, aber sie ist da. Schaut man oberflächlich scheint es die ideale Reisezeit – wenig Menschen am Strand, wenig Menschen an den Sehenswürdigkeiten. Das Leben scheint normal weiter zu gehen an diesen Orten, die weiter weg liegen vom unmittelbaren Geschehen in Gaza. Kontrollen gibt es fast keine, Angst vor persönlichen Angriffen muss ich keine haben.

Der Krieg wirkt weit weg, hat aber deutlichen Einfluss auf das Leben: Menschen gehen nicht zur Arbeit, Kulturveranstaltungen werden abgesagt, Einnahmen aus dem Tourismus brechen ein. Jede_r Israeli_n hat nahestehende Menschen in der Armee, kennt zumindest über Ecken auch einen der über 50 gestorbenen Soldaten. Das Fernsehen ist voll von Expert_innenrunden zum Krieg, Bildern von abgeschossenen Raketen, verletzten Soldat_innen im Krankenhaus, von der bildschirmgesteuerten Zerstörung von Häusern in Gaza, Soldat_innen in der Bodenoffensive und Zerstörungen der Hamas-Tunnel. Leichen werden nur unkenntlich dargestellt, Zahlen von getöteten Palästinenser_innen selten genannt.

Auf der Friedensdemo in Tel Aviv sehe ich ca. 3000 Menschen (die Medien sprechen von 1000), die die militärischen Operationen verurteilen, die wollen, dass Palästinenser und Israelis in Frieden zusammen leben und andere Lösungen für den Umgang mit der Hamas suchen. Mehr sind es nicht. Mehr Menschen haben nicht mehr den Mut und die pazifistische Überzeugung um hier auf die Straße zu gehen. Zu Zeiten Yitzhak Rabins waren es noch hunderttausende. „Die Angst seine Meinung frei zu äußern besteht jedoch nicht wegen der Gesetze“, so Chana, eine Aktivistin für Feminismus und LGBT-Rechte, die ich auf der Demo tref­fe. Das Recht auf freie Mei­nungs­äußerung werde auch in diesem „demokratischen“ Land gesetzlich geschützt.

Es ist der größer und aggressiver werdende rechte Mob, der nach linken Demonstrationen durch die Straßen zieht. Eine aus unserer Gruppe hätte fast ein Ei getroffen, das aus einem fahrenden Auto geworfen wird. Eine andere Gruppe hat es schlimmer getroffen: Prügel mit Gesichtshämatomen und Verletzungen durch Pfefferspray. Ich habe leider kein Maalox und keine Milch dabei um zu helfen. Ein T-Shirt mit politischem Aufdruck anzuziehen („Arabs and Jews refuse to be Enemies!“, „Combatants for Peace“, „Free Gaza“) sei undenkbar, sagt Chana. Schilder und Fahnen versteckt man lieber schnell, und wir sind nur in größeren Gruppen unterwegs. Jede noch so kleine Provokation gegenüber der Polizei werde von den Teilnehmer_innen dieser „extrem linken“ Demo vermieden, aus Angst vor Prügel und Verweigerung des Demonstrationsrechts, schätzt Chana die Situation ein.

Die Stimmung auf dem rechten Flügel, der Gegendemonstration, ist furchterregend und grotesk: wie in Deutschland nach einem Fußballspiel. Es werden Israel-Fahnen geschwenkt, muskelbepackte kahlrasierte Männer laufen durch die Straßen, das Hupen der beflaggten Autos erfolgt im Rhythmus der Fangesänge („Ole-eh, ole, ole, oleeh“). Absurd und doch irgendwie Augen öffnend ist diese Sportfeststimmung angesichts von über 1000 tausend getöteten Menschen in diesem bewaffneten Konflikt. Und der Ruf „Tötet alle Araber!“ wird hier laut und ohne Angst vor Konsequenzen skandiert.

Die Struktur rechter und linker Gruppierungen in Israel zu charakterisieren fällt schwer. Chana beschreibt die „echte“ Linke Israels als eher intellektuelle, weiße Elite deren Ursprung eher europäischen Aschkenasim-Juden (2) entspricht, deren Sozialstatus eher ein akademischer und Wohnort ein urbaner ist. Die Anhänger der rechten Kriegs-Parteien (nicht unbedingt religiöse Juden!) seien offenbar eher den orientalischen Mizrachim (3) oder den arabischen Sfaradim (4) zuzuordnen, die auf dem Lande lebten und in die Stadt kämen, um Tel Avivs Linken zu zeigen, wo es lang gehe, so Chana.

Aber die Unterstützung des Militärs sitzt tiefer in der israelischen Gesellschaft und wird nur von wenigen hinterfragt. Fast jeder in Israel muss zwei Jahre (Männer drei Jahre) dem Militär dienen, ausgenommen sind bspw. Muslime, Christen und ultraorthodoxe Juden. Jahrzehnte lang hat man als Reservist jährlich wochenlange Übungen und muss sich bereit halten. Einfach verweigern geht nicht, es bleibt bspw. sich eine schwere körperliche oder eine psychische Krankheit attestieren zu lassen. Die soziale Außenseiterstellung die man durch eine Verweigerung einnimmt, sei nicht zu vernachlässigen, sagt die israelische Musikerin Yael, die sonst in Berlin lebt. Ein Freund von ihr müsse bei der Rückkehr nach Israel eine Gefängnisstrafe wegen der Verweigerung fürchten.

Anfangs wundert mich eine Aussage der eher linksliberalen Aktivist_innen und Personen, die ich hier treffe: dass Gaza zwar unter Israel leidet, aber noch mehr unter der Hamas. Meine Gastgeberin sieht einerseits die Ursachen auf Seiten der israelischen Führung: die Besatzung, das „Freiluftgefängnis“, die Einschränkung des Zugangs zu Wasser, Elektrizität, Nahrung, die permanente militärische Überwachung. Und dennoch kritisiert sie auch die perfiden, brutalen und chauvinistischen Methoden der Hamas: Raketen werden in Schulen gelagert, Zivilisten werden als Schutzschilder missbraucht, UN-Gelder werden in den Bau von Tunneln und militärische Zwecklosigkeiten investiert. Zumindest ein Sohn aus jeder palästinensischen Familie werde zum Kämpfer ausgebildet und zur Auslöschung der Israelis erzogen („Werft die Juden ins Meer!“). Dinge, die in westlichen Medien selten genauer beleuchtet werden. So äußert Jehudith auch den Wunsch nach einem Eingreifen der USA gegen die Hamas – in einem Atemzug mit dem Ruf nach einem Kriegsverbrechertribunal gegen Netanjahu und seine Helfer und dem Wunsch nach einem Regimewechsel.

Woher kommt der tiefsitzende Patriotismus und Militarismus der israelischen Gesellschaft, und die Unterstützung des (wie Chana es nennt) „Apartheid-ähnlichen“ (5) Regimes gegen die Palästinenser? Die linke/feministische Aktivistin Leah, bei der wir nach der Demo zu Gast sind, beschreibt eine Ursache in der kollektiven Erinnerung des Holocaust. Schon von Kindesbeinen an werde gelehrt, dass Juden zu allen Zeiten in allen Ländern verfolgt waren und die Hilflosigkeit der jüdischen Glaubensgemeinschaften in die Verbrechen der Schoah mündeten. Ohne einen schützenden Staatsapparat, einer Nation und einer Armee, die gegen die Angriffe der Gojim (6) schützen konnten, seien Juden immer wieder ausgeliefert gewesen. Es solle nie wieder passieren, dass das jüdische „Volk“ nicht geschützt und das heilige Land nicht von diesem bewohnt sei, das ist offenbar Staatsräson und common sense. Und so erzeuge hier jede Kritik am Militär und am Staate Israel Wut und teils heftige Reaktionen beim Gegenüber, sagt Leah.

Ich kann mir den Blick auf den Nahostkonflikt nicht leicht machen. Beide Seiten sind zu verstehen, beide Seiten verurteile ich innerlich, auf beiden Seiten sehe ich auch Potential zu Veränderung. Es ist ein unheimlich emotionaler Konflikt, bei welchem mich schon einzelne Worte tierisch auf die Palme bringen können und ich ganz schnell überschießend reagiere. Und dann erst hinterher feststelle, dass ich zu weit gegangen bin und meine Aussagen relativiere. Ich kann mir keine feste Meinung zu dem Konflikt machen – aber ich kann empfehlen mit den Menschen hier ins Gespräch zu kommen und sich ein Bild von der Situation zu machen. Israel ist (neben seiner Schönheit) eine Reise wert.

Julian

(1) Alle Namen von der Redaktion geändert.

(2) Aschkenasim: Juden, die seit der Spätantike in Nord- und Mitteleuropa gelebt haben.

(3) Mizrachim: Juden aus asiatischer, insbesondere kleinasiatischer Herkunft.

(4) Sfaradim: nordafrikanische und südeuropäische Juden.

(5) „Als Apartheid wird jede institutionalisierte Form einer Politik der Rassentrennung zur Unterdrückung einer Rasse durch eine andere bezeichnet“. Otto Trifterer, Bestandsaufnahme zum Völkerrecht in Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, Hamburg 1995, ISBN 3-930908-10-7, ISBN 3-930908-10-7

(6) Gojim: Nichtjuden/Andersgläubige

Manchester United? FC United of Manchester? Was mach ich nur?

Ist das noch mein Manchester United?

Die Leidenschaft für einen Fußballverein kann etwas sehr Erfüllendes sein. Zu wissen, dass man mit Menschen durch dick und dünn geht und seine Mannschaft auch in schlechten Zeiten unterstützt. Was aber macht man, wenn etwas geschieht, mit dem man sich aus politischen Gründen gar nicht identifizieren kann?

Seit neun Jahren stelle ich mir diese Frage. 1998 begann ich mich für den englischen Fußball zu interessieren. Als mein Vater dies bemerkte, brachte er mir Manchester United (Man United) näher. Der Grund war ganz simpel: er hielt zur dieser Zeit auf den 1. FC Kaiserslautern, welcher wie United ein roten Teufel als Wappentier hat. 2003 war ich das erste Mal im Old Trafford, der Heimspielstätte von Manchester United, und auch wenn es die berühmte englische Stimmung zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr gab, war es doch für ein Jungen meines Alters ein sehr beeindruckendes Erlebnis. Im Jahr 2005 kaufte der US-Milliardär Malcolm Glazer Manchester United. Der Verein war damit offiziell Privateigentum eines einzigen Mannes. Ein Club der sich zuvor vor allem durch sein Arbeiterimage und seine linke Fanbasis ausgezeichnet hatte, wurde nun zur reinen Kapitalanlage. Aus diesem und anderen Gründen stellten sich viele Fans die Frage: Ist das noch unser United? Manche fanden ihre Antwort, einige sind noch auf der Suche, wieder andere sind einfach ignorant und wollen nur guten Fußball. Das Gewirr in der Manchester Fanszene ist groß. Dieser Artikel soll versuchen, es für Außenstehende etwas übersichtlicher zu machen und vielleicht auch den Autor seine Frage beantworten: Ist das noch mein Man United!?

Kurze Historie

Manchester United wurde 1878 als Newton Heath L&Y Railway Football Club von einer Gruppe Arbeitern gegründet, die auf dem Bahnhof in Newton Heath arbeiteten. Anfangs wurden Spiele gegen andere Eisenbahnfirmen abgehalten. Zu Beginn gab es starke finanzielle Probleme, die fast zur Insolvenz geführt hätten – wäre da nicht John Henry Davies, ein örtlicher Brauereibesitzer gewesen. Die Legende besagt, dass Davies von den finanziellen Problemen des Vereins erfuhr, als er den entlaufenen Hund des damaligen Mannschaftskapitäns Harry Stafford fand. Die Unterstützung von Davies führte nicht nur zu einer Änderung des Vereinsnamens – am 28. April 1902 wurde der Verein in Manchester United umbenannt –, sondern auch der Vereinsfarben von Gold-Grün zum heutigen Rot-Weiß.

Manchester verbrachte seine Anfangsjahre fast ausschließlich in der 2. Englischen Liga und konnte erst 1938 in die 1. Liga aufsteigen. 1958 ereignete sich die bisher größte Tragödie der Vereinsgeschichte: Am 6. Februar flog die Mannschaft von einem Europacupspiel in die Heimat, als das Flugzeug während eines Schneesturms verunglückte. Acht Spieler starben, zwei erlitten Verletzungen, die das Ende ihrer Karriere bedeuteten. Ab 1986 wurde Manchester von Alex Ferguson trainiert. Ferguson, der sich selbst immer als Sozialist bezeichnete, leitete die bis heute erfolgreichste Ära des Vereins ein, die 1999 im sog. „Triple“-Sieg (Gewinn der Meisterschaft, des Pokals und der Champions League) mündete.

1991 ging Manchester United an die Börse, um eine Kapitalerhöhung für den Verein zu erreichen. Bereits 1998 versuchte Rupert Murdoch sich die Mehrheit der Vereinsanteile zu sichern. Die Anhängerschaft von United befürchtete, ihr ohnehin schon geringes Mitspracherecht durch den Verkauf des Clubs komplett zu verlieren – im Falle einer Übernahme planten sie, einen eigenen Verein zu gründen. Da die Übernahme jedoch scheiterte, wurden die Pläne auf Eis gelegt.

Leider mussten sie bald wieder ausgegraben werden, da 75% der Aktienanteile seit dem 16. Mai 2005 Malcolm Glazer gehörten, was diesem erlaubte, den Verein von der Börse zu nehmen. Zwei Monate später, am 28. Juni gehörten ihm bereits 98 % der Aktien, womit eine Zwangsabfindung der restlichen Kleinaktionäre ermöglicht wurde. Dadurch wurde der Club nun Privateigentum der Glazer-Familie. Malcolm Glazers Söhne wurden in den Vorstand berufen. Mit Protestaktionen hatten viele Fans bis zuletzt versucht, die Übernahme zu verhindern. Fans des Vereins, die schon vorher mit der zunehmenden Kommerzialisierung, den hohen Kartenpreisen und der schwindenden Einflussnahme unzufrieden waren, gründeten daraufhin einen neuen Club: den FC United of Manchester.

Der FC United of Manchester

Am 19. Mai 2005 trafen sich United-Fans, die sich schon vorher gegen den Verkauf ihres Vereins gewehrt hatten, in der Manchester Methodist Hall. Vor der „offiziellen“ Übernahme ihres Clubs wurden verschiedenste Demonstrationen unter dem Motto „Manchester United – Not for Sale“ durchgeführt. Zugleich wurden die Pläne zur Gründung eines eigenen Vereins neu aufgenommen und in verschieden Fanzines diskutiert. Bei einem Treffen am 30. Mai wurde dann ein Beschluss gefasst: Ein neuer Verein sollte gegründet werden, wenn bis Ende Juli 2005 mindestens 1.000 Personen eine Spende geleistet hätten. Da dieses Ziel weit überschritten wurde, gründete sich im Sommer 2005 der FC United of Manchester.

Bereits bei der Namenswahl wurde der basisdemokratische Anspruch des Vereins deutlich, da die Spender_innen selbst über den Namen ab­­stimmen durf­ten. Sportlich ge­sehen startete der FC United in der zehnt­höchsten Spiel­klasse und be­legte in der abgelaufen Saison den 2. Platz in der siebthöchsten Spielklasse. Soviel zur Entstehungsgeschichte des Vereins. Doch was unterscheidet diesen Club so sehr von anderen englischen Vereinen und macht ihn für viele so attraktiv, dass er sogar eine eigene wöchentliche Fernsehsendung bekommt, die in keinem Verhältnis zu seinem fußballerischen Niveau steht?

Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Übernahme von Man United leider kein Einzelfall ist. Fast alle Profivereine Englands sind aktuell Privatbesitz, so z.B. der FC Chelsea und der FC Liverpool. Im Gegensatz dazu funktioniert der FC United nach dem Prinzip „Ein Mitglied – eine Stimme“, unabhängig von der Position im Verein oder der Höhe des Mitgliedsbeitrags. Eine Struktur, nach der sich viele Fans sehnen, da sonst meist der Eigentümer allein die Entscheidungen fällt. Weiterhin ist die viel beschworene Gemeinschaft um den Club zu nennen – der FC ist festverwurzelt in Manchester, unterstützt soziale Projekte und ab und an sieht man auch schon mal Kinder aus dem Viertel auf dem Trainingsgelände kicken – dagegen würde kein Kind, das Fan von Arsenal London ist, auf die Idee kommen, auf dem Trainingsgelände der Profis bolzen zu gehen. Dieser starke Bund zwischen der ansässigen Bevölkerung und dem Verein ist etwas, was sich viele Leute im heutigen Fußballgeschäft nur wünschen können. Besonders in England wird Fußball häufig als Arbeitersport propagiert, was für die meisten einfach nur bedeutet, dass der Verein eine Gemeinschaft darstellen soll, bei der die Grenzen zwischen Spielern und Fans möglichst niedrig sind. All das und noch mehr findet sich beim FC United of Manchester. So wird z.B. das „Working Class“-Image des Vereins durch verschiedene Logos stark nach außen getragen. In der Vereinssatzung befindet sich eine Passage, dass Diskriminierung jeder Art nicht geduldet wird, und ein weiterer Punkt, dass der Club ver­sucht, Kom­mer­zialisierung zu vermeiden. So ist z.B. die BMW Williams Group zwar Hauptsponsor des Vereins, jedoch wurde es abgelehnt, das Firmenlogo, wie eigentlich üblich, auf den Trikots zu tragen. Dies sind einige der Gründe, warum viele Fans, nicht nur auf der Insel, Sympathien für den FCUM haben.

Sind nun also alle „guten“ Personen FC-United-Mitglieder und alle „bösen“ Manchester-United-Fans? Da die Welt nicht einfach schwarz-weiß ist, kann sich der/die Leser_in die Frage vermutlich selbst beantworten: Natürlich nicht! Der Film „Looking for Eric“ beschreibt den Zwiespalt vieler Personen sehr gut. Hier werden die Streitigkeiten zwischen beiden Fanlagern deutlich beschrieben, aber vor allem die Gemeinsamkeiten gut dargestellt. Denn es ist mittlerweile als United-Anhänger in Manchester nicht mehr unüblich, auf zwei Vereine zu halten. Viele Personen, die ebenfalls gegen die Übernahme durch Malcolm Glazer protestiert haben, besuchen bis heute die Spiele von Manchester United bzw. beider Clubs. Sie sehen sich allerdings nicht als reine Konsument_innen, sondern organisieren sich und wollen sich Manchester United zurückerkämpfen. Wer die Fankurven Im Old Trafford aufmerksam beobachtet hat den wird nicht entgangen sein dass man vermehrt Leute mit gold-grünen Fan-Utensilien im Stadion sieht. Was hat das nun wieder zu bedeuten? Die Vereinsfarben von Man United sind doch eigentlich Rot und Weiß?

Der Manchester United Supporters’ Trust

Als United den Spielbetrieb unter den Namen Newton Heath L&Y Railway Football Club aufnahm, waren die offiziellen Vereinsfarben Gold und Grün, erst später wurden diese zu Rot und Weiß geändert. Dies machte sich der Supporters‘ Trust zunutze, um seinen Protest gegen den Verkauf des Clubs auch optisch im Stadion zu untermalen.

Doch beginnen wir wie üblich am Anfang: Die Geschichte des Supporters‘ Trust beginnt im Jahr 1998, als die Fans – damals noch unter den Namen Shareholders United – versuchten, den Verkauf ihres Clubs an Rupert Murdoch zu verhindern. Mit Demonstrationen, Treffen und Flugblättern sensibilisierten sie einen Großteil der Fanszene für das Thema.

Damals wurde die Übernahme noch vom Kartellamt verhindert, aber im Jahr 2005 wurde der Verein dann wirklich verkauft. Am ersten Treffen am 19. Mai 2005 in der Manchester Methodist Hall, aus dem später der FC United hervorgehen sollte, nahmen auch viele Mitglieder des Shareholders United teil – sie sprachen sich jedoch gegen eine Vereins-Neugründung aus: Ih­rer Meinung nach sollte man den Verein von „in­­nen“ heraus ver­­ändern und sich nicht von ihm ab­wenden. Aus diesem Grund setzten die Shareholders United ihre Arbeit auch nach der Übernahme fort und besuchten weiterhin die Spiele von Manchester United. Im Jahr 2006 wurde der Name dann in Manchester United Supporters Trust geändert. Da zu diesem Zeitpunkt bereits viele englische Clubs in Privatbesitz waren, wurden landesweit die sogenannten Supporters Trust gegründet. Kurz gesagt, versuchen diese Trusts Leute zu organisieren, die ihre Clubs nicht als Privat-, sondern als Gemeineigentum sehen wollen. Sie organisieren sich bereits jetzt in dieser angestrebten Vereinsstruktur, nach dem Prinzip „Ein Mitglied – eine Stimme“. Ihr langfristiges Ziel ist es, den Verein wieder selbst zu übernehmen und ein demokratisches Beschlussprinzip einzuführen, in dem Aktionäre wie auch Vereinsmitglieder gleiches Stimmrecht haben. Da die Shareholders United all diese Punkte schon anstrebten, bevor die Supporters Trust aus dem Boden schossen, fiel ihnen die Namensänderung nicht schwer. Der Grund für die Umbenennung war also eher ein symbolischer, um eine vereinsübergreifende Solidarität zu den Trusts zu zeigen. Aktuell hat die Organisation bei Man United 204.025 Mitglieder. Am auffälligsten ist ihr Wirken für Außenstehende wahrscheinlich durch die Unmengen an grün-goldenen Schals, die bei weiten kein Einzelfall mehr im Old Trafford sind. Auch wenn es noch ein sehr langer Weg ist, bleibt doch zu hoffen das Manchester United bald wieder seinen Fans gehört. Aber auch wenn damit gezeigt wurde, dass es durchaus Man-United-Anhänger gibt, die sich zur Wehr setzen, bleibt die Anfangsfrage doch noch offen: Manchester United oder FC United of Manchester?

Manche Fragen benötigen keine Entscheidung!

Durch die erwähnten Ereignisse verfolgte ich ab dem Jahr 2005 Man United zunächst gar nicht mehr. Die Identifikation ging verloren, es entstand aber auch das Gefühl, „dass man sich doch nicht einfach kampflos geschlagen geben kann“. Schließlich bemerkte ich, dass ich beim Fußballschauen in der Stammkneipe um die Ecke doch nicht so einfach emotional objektiv sein kann, wenn Man United spielt. Also begann ich mich zu Informieren. Schnell bemerkte ich, dass sich viele Leute ähnlich fühlten wie ich und sich engagierten. Auch der von mir erwartete Konkurrenzkampf zwischen der „aktiven“ Fanszene von Manchester United und den Anhängern des FC United of Manchester ist in der Realität kaum vorhanden. Im Gegenteil: Man unterstützt sich gegenseitig bei seinen jeweiligen Projekten, und häufig kommt es sogar vor, dass die Spiele beider Vereine besucht werden. Die größere Kluft besteht zwischen Personen, die einfach nur guten Fußball sehen wollen und denen das Vereinsleben egal ist, und den Mitgliedern des FC United, sowie den organisierten Fans von Manchester United. Jede_r ist diesbezüglich natürlich frei in der Entscheidungsfindung, und mit großer Sicherheit gibt es beim FC United, aber auch bei Manchester United Personen, deren Meinung zu dieser Thematik eindeutiger ausfallen. Aber ich fand meine Leidenschaft durch die Aktivitäten der Fans für beide Vereine! Allen Fans eines englischen Vereins, die Ähnliches durchmachen mussten, hoffe ich ein wenig Hoffnung gemacht zu haben. Vielleicht motiviert es euch, auch selbst bei euren eigenen Verein aktiv zu werden – das geht, auch wenn man nicht in England wohnt! Aus diesen Gründen möchte ich diesen Artikel mit einem Dank an meinen Vater beenden, der es auch einmal geschafft hat, mir einen bzw. zwei gute Fußballvereine näher zu bringen. 😉

klaus canzely

Weißrussland: Repression gegen antifaschistische Fußballfans

Die Regierung Lukaschenko in Weißrussland ist bekannt für autoritären Führungsstil. Doch scheint sich die Repression im Zuge der bevorstehenden Eishockey-Weltmeisterschaft nochmals zu verschärfen. Einige Anhänger von Partizan Minsk traf es dabei besonders hart. Am Morgen des 6. Mai 2014 wurden vier Ultras des Fußballklubs in Minsk festgenommen und im Laufe des Tages zu mindestens 10 Tagen Arrest verurteilt. Ihnen wird „Hooliganismus” vorgeworfen, was als strafrechtliche Begründung für sämtliche politische Aktionen oder simples vermeintlich „ungebührliches” Verhalten steht. Bis zum heutigen Tag ist nicht bekannt, dass eine der verhafteten Personen wieder frei gelassen wurde.

Die Fans von Partizan traten zuletzt am Samstag den 3. Mai in Erscheinung, als durch ihre Intervention ein Propaganda-Kampfsport-Turnier russischer Nazis der Organisation Rus’ Molodoja (Junges Russland) in Minsk abgebrochen wurde. Die herbeigerufene Miliz nahm allerdings am Wochenende keine an der Aktion beteiligten Personen fest.

Die Frau eines der Inhaftierten betonte deshalb gegenüber der weißrussischen Wochenzeitung Nasha Niva, dass sich die Ultras mit dieser Aktion offenbar als „aktive” Bürger_innen in Erinnerung gerufen haben und deshalb inhaftiert wurden. Gerade vor dem Beginn der Eishockey-Weltmeisterschaft wolle das Regime für Ruhe sorgen.

Zivilcourage gegen Nazis wird somit nicht nur in Deutschland kriminalisiert und kollektiv bestraft. Um die Freund_innen und Genoss_innen in Minsk zu unterstützen, solltet ihr auch während der Sommerpause durch kreative Aktionen eure Solidarität mit den Ultras von Partizan Minsk zeigen!

Antiracist Fans Standing Together!

Klaus Canzely

Gegen den Stillstand

Die Proteste in Bosnien und Herzegowina

Im Februar diesen Jahres gingen in Bosnien und Herzegowina mehrere Tausend Menschen auf die Straßen. Gegen die korrupte politische Elite des Landes, gegen Privatisierungen und gegen Massenarbeitslosigkeit. Ausgang nahmen die Demonstrationen in Tuzla. Anlass waren dort die Privatisierungen von fünf Fabriken, wogegen Arbeiter_innen demonstrierten, die seit mehr als einem Jahr keinen Lohn erhalten haben und nicht mehr krankenversichert sind. Später weiteten sich die Proteste auf Sarajevo, Mostar, Bihac, Zenica und weitere Städte aus.

Schon im Juni 2013 war es zu größeren Protesten gekommen. Anlass damals war die lahmgelegte Bürokratie, die keine Personenregisternummern für Neugeborene ausstellen konnte, weil sich die Politiker aus Föderation und serbischer Republik in Bosnien und Herzegowina nicht einigen konnten. Konsequenz: keine Geburtsurkunden, keine Pässe. Ein Baby benötigte eine dringende Knochenmarktransplantation, welche nur im Ausland möglich ist, konnte aber nicht ausreisen. Die Proteste wurden daher mancherorts als „Bebolucija“ (Baby-Revolution) bezeichnet.

Die Proteste diesen Februar haben jedoch eine andere Qualität erreicht. Mehr Menschen, mehr Aggressivität. Regierungsgebäude wurden gestürmt und in Brand gesetzt, Demonstrant_innen und Polizist_innen verletzt. Vier Kantonsregierungen sind in Folge aufgelöst worden: in Tuzla, Una-Sana, Sarajevo und Zenica-Doboj.

Die Ursachen für den Ärger in der Bevölkerung liegen in einem Netz zwischen politischen und wirtschaftlichen Stillstand, getragen von geschichtspolitischen Auseinandersetzungen und ethno-nationalistischer Propaganda in der Politik.

Das politische System in Bosnien und Herzegowina ist zementiert auf dem Gerüst des „Daytoner Friedensabkommens“. Dieses beendete zwar 1995 die kriegerischen Auseinandersetzungen, übertrug jedoch die Konflikte auf die politische Ebene. Vorwiegend als ethnischer Konflikt verstanden, handelten die Diplomat_innen ein ethnisch fundamentiertes politisches System aus. Bosniaken, bosnische Serben und Kroaten sollten sich die Macht teilen. Andere Gruppen in Bosnien und Herzegowina, etwa Roma oder Juden, fanden in dieser Sichtweise keinen Platz. Das Land wurde in zwei Entitäten geteilt, die bosnisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska, sowie den entitätsfreien Bezirk Brcko.

Dieser politische Stillstand paart sich mit einer anhaltenden wirtschaftlichen Misere. Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit ist immens hoch, liegt bei über 63%(1). Korruption in Politik, Verwaltung und Gerichtswesen ist weit verbreitet.(2) Die Anti-Korruptionsbehörde hat erst letztes Jahr ihre Aktivitäten aufgenommen und bisher keine erkennbaren Ergebnisse geliefert. Die zahllosen Privatisierungen von ehemaligen Staatsbetrieben nach Ende des Krieges verliefen oftmals völlig intransparent. Das Auswärtige Amt betrachtet die Privatisierungen als abgeschlossen und fügt auf seiner Webseite in einem Nebensatz hinzu: „rund 90 Prozent des Eigenkapitals liegen in ausländischer Hand“.(3)

Das Vertrauen in die „internationale Gemeinschaft“ ist ebenfalls gering. Die NGOs, die nach dem Krieg wie Pilze aus dem Boden schossen, werden oftmals nur noch als eigener Wirtschaftszweig ohne Bedeutung für die Bevölkerung gesehen. Die internationalen Organisationen als Garant des Status Quo. Der Beitritt in die Europäische Union steht in weiter Ferne, und auch hier wächst die Skepsis, ob sich mit diesem denn auch wirklich positive Veränderungen verbinden.

Die Proteste gehen in verschiedensten Städten weiter, auch wenn nur noch mit wenigen Menschen, regelmäßig in Sarajevo, aber auch punktuell, wenn Arbeiter_innen ihre lang ausstehenden Löhne einfordern. Die täglichen Abendnachrichten sind voll davon. Am 9. Mai trafen sich bis zu 500 Menschen in Sarajevo, die zuvor in Protestmärschen aus der ganzen Föderation nach Sarajevo gelaufen waren. In mehreren Städten wurden Plena eingerichtet, auf denen aktive Bürger_innen über das weitere Vorgehen beraten und konkrete Forderungen formuliert haben. Einige dieser Forderungen wurden bereits auf lokaler Ebene umgesetzt, wie beispielsweise die Abschaffung von Jahresgehältern an schon abgewählte Politiker. Diese Plena fanden in riesigen Sälen statt und brachten mancherorts hunderte Menschen an einem Abend zusammen. Gegen den Stillstand und für neue Perspektiven.

tung

(1) UNDP, Human Development Report 2013

(2) Transparency International; www.transparency.org/country#BIH. Bosnien und Herzegowina befinden sich auf dem Corruption Perception Index auf Platz 72, zusammen mit Serbien, hinter Kroatien und Montenegro, aber vor Kosovo und Albanien, und auch vor Ländern wie Griechenland oder Bulgarien.

(3) www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/BosnienUndHerzegowina/Wirtschaft_node.html

Leere Orte

Antifaschistische  Erinnerungskultur in Kosovo

Den antifaschistischen Denkmälern in Kosovo ist die Bedeutung abhanden gekommen. Die ehemaligen Orte der Erinnerung sind leer. Der Zweite Weltkrieg spielt dort in den aktuellen Diskussionen um Vergangenheitsarbeit keine Rolle. Eindimensionale Konfliktanalysen haben zu eindimensionalen Ansätzen im Bereich der Vergangenheitsarbeit geführt. Die sogenannte internationale Gemeinschaft hat Vergangenheitsarbeit als wichtige Komponente des State-Building vorgegeben. Sich selbst stilisieren die internationalen Akteure lieber als Helfer statt als Konfliktakteur und damit Teil dieses Prozesses.

Zwei Themen, zwei Perspektiven – zum Einen die Vergangenheitsarbeit, zum Anderen die antifaschistischen Denkmäler in Kosovo. Eigentlich sollte das Eine ein Sammelbecken für das Zweite sein. Ist es aber nicht. Ich möchte im Folgen­den die zwei Themen aneinanderreihen, auf leeren Seiten, ohne vorschnelle Schlüsse zu ziehen, aus unterschiedlichen Perspektiven, ohne zu argumentieren. Deswegen springt der Text.

Antifaschistische Denkmäler

Wir sitzen im Büro des Partisanenverbandes in Pristina. Offiziell nennt sich dieser LANC – Vereinigung der Veteranen des antifaschistischen nationalen Befreiungskampfes. Wir – das ist die Forschungsgruppe Reconstructing the Past in Kosovo: Cultural Memory between Facts and Fiction (1), bestehend aus jungen WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen, die sich vergessenen oder tabuisierten Themen im Bereich Vergangenheitsarbeit widmet und die ei­gene damit verbundene Geschichtskonstruktion kritisch hinterfragt. Als Ausgangspunkt und Orientierung für die Archivarbeit dienen uns dabei dokumentarische Verfahren in der Kunst. Das erste Atelier in diesem Rahmen widmete sich den antifaschistischen Denkmälern und deren Rolle in der heu­tigen Erinnerungskultur in Kosovo.

Das Statut des Partisanenverbandes nennt den Schutz, die Sanierung und auch die Errichtung antifaschistischer Denk­mäler als Ziele – neben der Bewahrung antifaschistischer Traditionen, Werte und Ideale, sowie der Förderung der historischen Wahrheit über den antifaschistischen Befreiungskampf und dem fortführenden Gedenken an herausragende Persönlichkeiten aus dieser Zeit. (2) Die Zerstörung antifaschistischer Denkmäler, die von 1953 bis 1989 in der autonomen Region/Provinz Kosovo als Teil Jugoslawiens erbaut wurden (mehr als 300, wenn man Büsten und Schilder mitrechnet), unterteilt der Verband in 3 Phasen: von 1989 bis 1999 (unter serbischer Besatzung), 1999 bis 2001 (von albanischen Aufständischen), und von 2001 bis heute (eine Erklärung bleibt hier aus). (3)

Wir trinken Macchiato und Rakia. Neben Vahide Hoxha, die das Gespräch mit ihren 87 Jahren als Präsidentin leitet, sitzen noch sechs weitere Mitglieder um den Tisch und berichten aus ihrer Arbeit. Das Durchschnittsalter liegt bei geschätzten 80 Jahren. Der Verband habe es verpasst, die Jugend für die Ideale des antifaschistischen Kampfes zu gewinnen. Das Problem scheint ein altes. Das jüngste Mitglied am Tisch ist 74 Jahre alt. Eine Büste von Fadil Hoxha, verstorbener Ehemann von Vahide Hoxha und einer der führenden Partisanen während des Zweiten Weltkrieges, steht in der äußersten Zimmerecke. Sie hätten keine Genehmigung bekommen, die Büste in Gjakova/Gjakovica aufzustellen, seinem Geburtsort. Deswegen stände sie nun hier. Es sei eine Schande.

Ob der Partisanenkampf für Ehre oder Verrat steht, darüber ist man sich nicht einig in Kosovo. Das Gebiet war während des Zweiten Weltkrieges zwischen Italien, Deutschland und Bulgarien in drei Besatzungszonen aufgeteilt. Unter faschistischer Besatzung genossen die Albaner weitreichende nationale und kulturelle Rechte. Den Partisanen fiel es deshalb schwerer als in anderen Teilen Jugoslawiens, die Bevölkerung für den antifaschistischen Kampf zu rekrutieren. Führende Persönlichkeiten unter den kosovarischen Partisanen proklamierten das Recht Kosovos auf Selbstbestimmung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kosovo jedoch Autonome Region Jugoslawiens. Deshalb fällt es auch heute den „letzten“ Partisanen nicht leicht, sich als Helden in die Kämpfe um die Unabhängigkeit Kosovos einzureihen.

Vergangenheitsarbeit in Kosovo

Seit der Unabhängigkeitserklärung am 17. Februar 2008 haben 101 UN-Staaten Kosovo als Staat anerkannt. Andere Staaten wie Russland, China oder Indien, und EU-Staaten wie Spanien, Griechenland und Slowakei erkennen Kosovo dagegen nicht an. Der Ahtisaari-Plan, Grundlage für die kosovarische Verfassung, beinhaltet die explizite Empfehlung, dass Kosovo einen umfassenden und gender-sensiblen Ansatz für Vergangenheitsarbeit etablieren sollte, welche die breite Auswahl an Transitional-Justice-Initiativen berücksichtigt (§ 2.5.). Der Bereich der Vergangenheitsarbeit oder auch Transitional Justice beinhaltet dabei strafrechtliche Verfolgung und Wahrheitsfindung, ebenso wie institutionelle Reformen, Reparationen sowie Erinnerungs- und Traumaarbeit. Das International Civil­ian Office hat kurz vor seinem Abzug letztes Jahr eine Arbeitsgruppe formiert, welche eine solche Strategie ausarbeiten soll. Die Gruppe besteht aus Vertretern unterschiedlicher Ministerien, Zivilgesellschaft, Opfergruppen und internationalen BeobachterInnen.

Während der gewaltsamen Konflikte in Kosovo sind mehr als die Hälfte der Bevölkerung vertrieben und 13.100 Menschen getötet worden (HLC 2011; 01/1998 bis 12/2000) (4). Noch immer gelten 1.754 Personen als vermisst (ICRC 2013) (5).

Für die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen ist der Internationale Strafgerichtshof für das Ehemalige Jugoslawien (ICTY) zuständig, sowie nationale Gerichte in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien. In Kosovo gehört die nationale Rechtsprechung in solchen Fällen weiterhin zu den Aufgaben der EU-geführten Rechtsstaatsmission EULEX. Der Bereich Wahrheitsfindung wird vor allem von der regionalen Fact-finding-Koalition REKOM geprägt. In dieser haben sich vor sieben Jahren die wichtigsten Dokumentationszentren der Region des ehemaligen Jugoslawien zusammengeschlossen. Heute besteht das Netzwerk aus mehr als 1800 nicht-staatlichen Organisationen, Verbänden und Individuen. (6) Ziel ist es, Druck auf die Regierungen auszuüben, damit diese eine regionale Kommission zur Investigation und Dokumentation von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zwischen 1992 und 2001 einsetzen. Mehr als eine halbe Million Unterschriften konnten die Organisationen vor zwei Jahren sammeln. Nationale und lokale Konsultationen vergrößern den Unterstützungskreis und erlauben fortwährende Diskussionen, wie eine solche Kommission aussehen sollte.

Das Humanitarian Law Center in Pristina hat darüber hinaus letztes Jahr ein Buch herausgegeben, welches die Namen und Todesumstände der Getöteten und Vermissten zwischen 1998 und 2000 dokumentiert. Besonders große gesellschaftliche Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang gilt den Familienverbänden der vermissten Personen. Viele Familien warten nun seit mehr als 13 Jahren darauf zu erfahren, was mit ihren Angehörigen geschehen ist. Noch immer werden Massengräber aufgedeckt, Überreste entlang von DNA-Material identifiziert und an die Familien übergeben.

Auch im Bereich Erinnerungs- und Traumaarbeit sind viele unterschiedliche nicht-staatliche und kulturelle Organisationen aktiv (z.B.: YIHR, Alter Habitus, CRDP). (7) Immer mehr KünstlerInnen thematisieren den Umgang mit der Vergangenheit – in Theaterstücken (DramaturgInnen wie Doruntina Basha oder Jeton Neziraj), in Rocksongs (etwa der Band Jericho) und in der Kunst (KünstlerInnen wie Dren Maliqi, Flaka Haliti, Sokol Beqiri oder Albert Heta). Auch viele Kulturfestivals in Kosovo wie das regionale Dokumentarfilmfestival DOKUFEST oder das Internationale Literaturfestival polip haben heute einen Schwerpunkt zum Thema Vergangenheitsarbeit.

Antifaschistische Denkmäler

Vahide Hoxha zeigt uns ihr Album, ihre Dokumentation zu den antifaschistischen Denkmälern in Kosovo – die einzige, die der Verband besitzt: vergilbte Blätter, manchmal mit Fotos, manchmal ohne, gespickt mit leeren Seiten und handschriftlichen Notizen zum Jahr der Einweihung und zur Person des Architekten. Mit zitternden Händen blättert sie von Seite zu Seite und diskutiert mit unserem Fotografen Marko Krojac, ob dieses und jenes Denkmal noch steht. Marko verspricht, ihr die fehlenden Fotos nachzuliefern. Leider kam es nie dazu, zwei Monate später stirbt sie.

Marko Krojac ist spomeniac, eine Verbindung aus dem serbischen Wort für Denkmal „spomenik“ und dem englischen Wort „maniac“. Seit Jahren reist er durch die Landschaften des ehemaligen Jugoslawiens, um auch die kleinsten antifaschistischen Denkmäler aufzuspüren und zu fotografieren. Bisher umfasst seine Sammlung mehr als 500 davon. (8) Bekannt sind vor allem die utopischen Denkmäler von Bogdan Bogdanovic in Jasenovac, Mostar, Bihac oder Prilep. Ein Denkmal, das Marko 2011 in Peja/Pec (im Westen Kosovos) fotografierte, steht zwei Jahre später nicht mehr. (siehe Foto) Die Gemeinde hat sich entschieden, das Denkmal umzusetzen, weg aus dem Stadtpark, hinaus in die Berge an einen Ort, der an Partisanenkämpfe erinnert. Diese Entscheidung sei in Absprache mit dem Partisanenverband getroffen worden, versichert uns Zija Mjulhaxha, Verbandsmitglied und ehemaliger Bürgermeister der Stadt Peja/Pec zu Zeiten Jugoslawiens. Er könne es verstehen, dass sich die Menschen seiner Stadt nach einem Denkmal sehnen, welches alle „Kämpfer“ für das unabhängige Kosovo symbolisiert, einfach sei es dennoch nicht für ihn, bei Spaziergängen nun einen leeren Ort vor sich zu sehen.

Ein Mann, der in unmittelbarer Nachbarschaft zum besagten Ort wohnt, hat eine andere Erklärung: Das sei ein serbisches Denkmal gewesen, deswegen ist es gut, dass es weg ist. Ein anderer Nachbar berichtigt ihn, dass es kein serbisches, sondern ein antifaschistisches Denkmal gewesen sei. Aber auch er meinte, es sei besser, nach vorn zu schauen. Und bei allem, was Deutschland für Kosovo getan hat, müsse man die Deutschen nicht mehr als Faschisten in Erinnerung behalten. Im Jahr 2003 wäre schon einmal eine Granate am Sockel des Denkmals explodiert. Die Fenster der umliegenden Häuser seien zerstört worden, das Denkmal selbst habe aber kaum etwas davon abbekommen.

Zija Mjulhaxha zeigt uns ein Foto, welches das Denkmal während des Abrisses vor wenigen Monaten zeigt. Marko ist sich sicher, dass es eine Fotomontage ist. Ich frage mich, aus welchem Grund jemand eine Montage gestalten sollte. So richtig real sieht das Bild aber wirklich nicht aus. Die ehemals vier metallenen, abstrakten Statuen mit erhobenen Fäusten liegen im sauberen Schnitt meterhoch vor dem Sockel und hinter drei Männern, die sich lachend vor dem entzweiten Denkmal zeigen. Hilfe bei der „Abtragung“ des Denkmals hat die Gemeinde Peja/Pec von der italienischen KFOR-Einheit bekommen, die in der Region stationiert ist. Italienische KFOR-Soldaten hätten das technische Gerät gebracht und die Arbeiten am Denkmal verrichtet. Wo die zwei Teile des Denkmals jetzt aufbewahrt werden, bevor sie an die alternative Stelle in den Bergen gebracht werden, konnte uns keiner sagen. Wer weiß, ob es sie noch gibt. Mjulhaxha beschwichtigt, das Denkmal sei an einem sicheren Ort. Ein Anruf beim KFOR-Pressesprecher mit der Frage, ob wir Bildmaterial und Informationen von der Aktion und ein Interview mit einem beteiligten Soldaten bekommen könnten, blieb ohne Erfolg. Er könne gar nicht verstehen, was ich wollte, und warum die KFOR ein solches Forschungsprojekt unterstützen sollte. Deutschland und Italien waren neben Bulgarien die faschistischen Besatzungsmächte in Kosovo im zweiten Weltkrieg – knapp 70 Jahre später helfen italienische KFOR-Soldaten, antifaschistische Denkmäler abzureißen.

Es lassen sich viele andere Geschichten zu antifaschistischen Denkmälern in Kosovo erzählen. Das antifaschistische Grab auf dem Märtyrerhügel Pristinas, welches auf der einen Seite von UCK-Gräbern und auf der anderen Seite von Rugovas Grab umringt ist, welches erst letztes Jahr renoviert wurde, aber mit völlig neuen Farben und ohne die Namenstafeln der gefallenen Partisanen. Anstelle der Namenstafeln sieht man heute Zeichnungen von kiffenden Aliens oder ejakulierenden Penissen. Anstelle der Erinnerung an den Kampf gegen den Faschismus dient der Ort heute vorwiegend der schönen Aussicht, als Spielplatz und als Dunkelkammer für Drogen und Stunden zu zweit. Oder der Obelisk auf dem Platz der Brüderlichkeit und Einheit im Zentrum Pristinas, dessen Bedeutung sich vom Monument der Revolution zum Monument der Ethnien gewandelt hat. Eine Statue im Umfeld symbolisiert nicht mehr die Partisanen, sondern erinnert durch eine Graffiti-Intervention vor einigen Jahren nun an die „internationalen Helfer“ Kosovos. Neueste Pläne der Stadt sehen eine Umbenennung des Platzes in Adem-Jashari-Platz (nach einem UCK-Kämpfer), den Abriss des Obelisken und den Bau einer Tiefgarage vor.

Vergangenheitsarbeit in Kosovo

Was will ich sagen? Dass antifaschistische Denkmäler nicht einfach abgerissen werden sollten? Sag ich das als Deutsche, oder weil das für den kosovarischen Diskurs über den Umgang mit Vergangenheit unumgänglich ist? Ich fühle mich weder als Deutsche noch als jemand, der so allgemeine Aussagen treffen wollte. Also keins von beiden. Sag ich das als Antifaschistin? Was bedeutet eigentlich Antifaschismus, was antifaschistische Geschichtsschreibung und wie ändern die sich in diesem Rahmen gewonnenen Interpretationen von Geschichte über die Zeit? Und was ist Antifaschismus gekoppelt an nationale Identitäten? Sag ich das, weil ich die Denkmäler schön finde oder schöner als UCK-Monumente oder Bill-Clinton-Statuen? Ja, ich finde das Utopische schöner als das männlich Heroische. Aber Denkmäler generell stehen gegen meine Auffassung, dass Erinnerungskulturen ständig im Wandel begriffen sind, und somit dem Material Stein völlig widersprechen. Was ist es denn dann?

Es geht mir um die verschriebene Objektivität internationaler Akteure in Kosovo. Deutschland ist und war Akteur des Konflikts in Kosovo, und sollte sich daher nicht als globales Vorbild für Vergangenheitsarbeit stilisieren, sondern eine aktive selbstreflexive Rolle in den Diskussionen um Vergangenheitsarbeit in Kosovo einnehmen. Der Rekurs auf Deutschlands Rolle im Zweiten Weltkrieg in Kosovo ist dafür unumgänglich. Und dies sollte nicht erst dann geschehen, wenn die Denkmäler abgerissen und die letzten Partisanen gestorben sind, sondern jetzt.

tung

(1) betweenfactsandfiction.wordpress.com/
(2) veteranet-lanc.org/index.php?option=com_content&view=article&id=50&Itemid=55
(3) veteranet-lanc.org/index.php?option=com_content&view=article&id=46&Itemid=53
(4) www.kosovomemorybook.org
(5) www.icrc.org/eng/resources/documents/feature/2013/05-31-kosovo-missing.htm
(6) www.zarekom.org/The-Coalition-for-RECOM.en.html
(7) Für einen Überblick über aktuelle und vergangene Initiativen: www.dwp-kosovo.info
(8) Galerie auf Flickr zu den Monumenten der Revolution: www.flickr.com/photos/23162282@N05/sets/72157610619105737/
*Die fehlende Erklärung und Nennung von Akteuren des gewaltsamen Konfliktes in Kosovo ist Intention. Anstatt eindimensionaler Konfliktanalysen und des Wiederholens von Klischees ist es manchmal besser zu schweigen.

Nachbarn

revolutionshop@craiova

In Craiova, im Süden Rumäniens, sind derzeit 10 bis 15 Leute dabei, einen Infoladen aufzubauen. Da es erst der zweite Infoladen dieser Art in Rumänien ist und diese Entwicklungen noch sehr jung sind, verdient es besondere Aufmerksamkeit. Wir wollten mehr darüber wissen und haben die Leute vor Ort besucht und ein Interview gemacht.

FA!: Erzählt uns etwas über eure Situati­on rund um den Infoladen. Habt Ihr Pro­bleme mit Polizei und Behörden?

Wir haben den Raum für den Infoladen seit fünf Monaten und sind sehr glücklich darüber, da wir keine Miete zahlen, son­dern nur Wasser und Strom. Es ist außer­dem sehr praktisch, weil er im Zentrum der Stadt liegt. Wir hoffen, dass wir viele Leute damit ansprechen und die Idee von einem anderen Leben und Denken rüber­bringen können.

Bisher haben wir keine Probleme mit Polizei und Behörden, da es noch kein ge­öffneter Raum ist und nur wenige Leute davon wissen. Im Moment ist es also o.k.. Nach der Eröffnung könnten wir mög­licherweise Probleme mit Polizei und Geheimpolizei bekommen, da schon jetzt Telefone abgehört werden und so zukünf­tige Aktionen schon im Vorfeld bekannt sind.

Solch ein Projekt wie der Infoladen ist neu in Rumänien. Es gibt nicht viele Akti­onen, daher auch nicht viele Probleme. Es ist wichtig zu sagen, dass Anarchisten ein schlechtes Image in Rumänien haben und es werden jede Menge Lügen über uns verbreitet, denn wir wer­den Stalinisten genannt, Drogen­dealer, wir würden die Schule schmeißen und nur Lärm auf der Straße machen.

FA!: Tragen auch die lokalen und natio­nalen Zeitungen zum schlechten Ruf bei?

Ja, wir haben große Probleme mit der Presse. Sie nennt sich unabhängig, holt ihre Informationen aber von Polizei, Regierung und einflussreichen Leuten. Interessant ist, dass die Geheimpolizei letztes Jahr auf ihrer Home­page einen Artikel über Anarchismus in Rumänien veröffentlichte, in dem sie wieder Lügen verbreiteten. Die meis­ten Zeitungen, lokale und nationale, druckten daraufhin genau denselben Arti­kel ab.

Generell schreiben die Zeitungen aber Gutes über unsere Aktionen, z.B. über „Food not Bombs" oder Demonstrationen. Aber sobald es um das Wort Anarchismus geht, schreiben sie wieder die schlechtes­ten Sachen. Dieselben Reporter schreiben also gut über unsere Aktionen und schlecht über unsere Idee. Sie wissen nicht was Anarchismus bedeutet.

FA!: Habt ihr Probleme mit Faschisten und Nationalisten in Craiova und in Ru­mänien?

Es gibt eine neue Gruppe mit dem Namen Noua Dreapte (N.D.; Neue Rechte), welche stark in Bukarest vertreten ist, aber sie haben Mitglie­der in allen größeren Städten. In Craiova ist die Antifaschis­tische Bewegung bisher immer größer gewesen. Es gibt vielleicht 5 bis 6 junge Faschisten, aber sie tun nichts und leben im Untergrund. N.D. machen viel Propaganda und bekommen große politi­sche Unterstützung von der Partei Romania Mare (Große Rumänische Partei, Anm.: nicht größte!). Sie helfen ihnen mit Geld. Der Präsident ist ein Stalinist und Hitlerist und schon zu Ceausescu-Zeiten aktiv gewesen und heute gut Freund mit Haider, Berlusconi und Le Pen.

FA!: Welche Art von Propaganda macht die N.D.? Gibt es Pogrome gegenüber Roma oder Juden?

Die Nationalisten sind in erster Linie gegen die Roma, aber auch gegen Juden, Homosexuelle und Ungarn (Anm.: Min­derheit in Rumänien). Letztes Jahr töte­ten Nazis in Timisoara einen Straßenjun­gen. In Bukarest sprühten Nazis an das jü­dische Theater „Arbeit macht frei“. Die Zeitungen reagierten auf die Ak­tionen, verurteilten den Inhalt jedoch nicht.

FA!: Ist die N.D. in der Regierung vertre­ten?

Nein, sie ist bisher nur eine Organisa­tion, möchte aber in naher Zukunft zu ei­ner Partei werden. Neben N.D. gibt es auch noch Blood and Honour in Rumä­nien. Sie sind verboten, haben aber seit ei­nem Jahr eine Internetseite mit viel Pro­paganda. Sie arbeiten aber nicht mit der N.D. zusammen.

FA!: Organisieren sie Konzerte oder an­dere Veranstaltungen?

Es ist nicht möglich für sie, weil sie keine Plätze und Orte dafür haben. Aber sie haben eine Band namens Comandorul Hoissan.

FA!: Wieviele Mitglieder und Sympathi­santen gibt es um die N.D.?

Einige hundert in ganz Rumänien. Ein großer Teil davon ist um das Fußballteam Dynamo Bukarest vertreten und es gibt auch einige Hooligans. Die Clubmanager unterstützen diese Entwicklung, so waren im Fernsehen bei Spielen Keltenkreuze und andere Flaggen zu sehen, obwohl diese illegal sind. Als sie in Craiova spielten, durf­ten wir dagegen mit unseren Flaggen „ge­gen Rassismus" nicht ins Stadion.

FA!: Gibt es Organisationen, Vereine oder Gruppen mit denen ihr zusammenarbei­tet oder von denen ihr Unterstützung er­hoffen könnt?

Vor 2-3 Jahren versuchten wir mit an­deren Gruppen zusammen zu arbeiten, aber die Geheimpolizei kam uns zuvor und sprach mit den NGO’s (Non Governmental Organisations / Nicht-Regierungs-Organisationen), dass sie nicht mit uns kol­laborieren sollten, weil wir Anarchisten wä­ren.

Einige NGO’s, z.B. Frauen- und Menschenrechtsgruppen, bekommen Geld vom Staat aber machen keine Aktionen. Daher kennt sie auch niemand in Rumä­nien. Als wir am ersten März die Antikriegsdemo veranstalteten, fragten wir bei. einer Menschenrechtsorganisation nach Unterstützung für die Anmeldung, aber sie sagten das wäre weder ihr Aufgabenfeld noch ihr Geschäft. Gute Zusammenarbeit findet mit der Gruppe aactivist aus Timisoara statt. Wir arbeiten sehr eng zu­sammen. Über Bukarest, die „anarchist aktion", wissen wir nichts. Und dann gibt es noch in kleineren Städten einige Leute zu denen wir Kontakt haben.

FA!: Habt ihr auch Kontakte außerhalb Rumäniens?

Wir haben enge Kontakte in die USA, nach Deutschland, Ungarn, Frankreich, Italien und Österreich. Nach Bulgarien wollten wir Kontakt aufnehmen, bekamen – aber von dort bisher keine Antwort. Timisoara hat auch noch viele Kontakte nach Serbien, da es nahe an der Grenze liegt.

FA!: Was ist in nächster Zeit rund um den Infoladen geplant, wie geht es voran? Welche Hilfe von außer­halb könnt ihr ge­brauchen?

Momentan sind wir finanziell bank­rott. In einem Monat wollen wir einen Computer auf Raten kaufen, außerdem in Zukunft einen Kopierer und einen Dru­cker. Wir sind alle arbeitslos oder Studen­ten und haben wenig Geld. Das Leben ist hart. Alles was wir benötigen müssen wir von unserem eigenen Geld bezahlen, erst kommt das Überleben und dann der Infoladen. Materielle Hilfe ist besser. als Geld. Ansonsten stre­ben wir an, den Infoladen jeden Tag offen zu haben und uns besser als bisher zu organisieren. Außer­dem wünschen wir uns, dass neue junge Leute dazu kommen werden.

FA!: Erreicht ihr bei eu­ren Aktionen oder bei Konzerten neue Leute?

Bei Konzerten sind meistens immer dieselben Leute (Anm.: Konzerte sind selten, alle paar Monate).

Zum 1. Mai 2002 haben wir eine Ak­tion in der Innenstadt gemacht und ha­ben u.a. Bilder ausgestellt, wofür viel Inte­resse bestand. Dieses Jahr allerdings war es nicht so gut, weil viel Polizei da war, und die Leute sich deshalb nicht zum Stand ge­traut haben. Sie machen Probleme wegen nichts.

FA!: Danke für das interessante Ge­spräch!!!

Falls jemand Bücher, Bro­schüren, Zines oder ähnliches in englischer Sprache über hat, oder nicht mehr braucht, die Craiova-Leute brauchen eine Menge davon. Bisher verfügen sie über ein kleines Regal mit nur wenig Lesestoff

Kontakt:
revolutionshop@hotmail.com

Wenn Premierminister sterben…

Am 12. März diesen Jahres (2003) wurde der serbische Premierminister Zoran Djindjic auf offener Straße, am hellichten Tag erschossen. Die Mainstream-Medien ergingen sich in den folgenden Tagen in Wehklagen, nun stünde es um die Demokratie in Serbien schlecht. Selbstredend, dass dies – wie auch sonst – nur eine stark eingeschränkte Sicht der Dinge ist. Doch gerade zu der „Akte Djindjic“ gibt es noch eine ganze Menge spannender „Details“, die es lohnt zu kennen, da sie viel über diese „Demokratie“ erzählen.

Dies war nicht der erste Anschlag auf Djindjic. Schon am 21. Februar versuchte jemand, den Premier auf dem Weg zum Flughafen zu ermorden. Wer war Djindjic, und wieso hingen die westlichen Demokraten so an ihm?

Unter dem jugoslawischen Präsidenten Tito war Zoran Djindjic Dissident gewe­sen, der mit anderen Gleichgesinnten in der BRD Zuflucht fand. Nachdem er nach Belgrad zurückgekehrt war, war er 1989 einer der Gründer der Demokratischen Partei, welche eine der größten Anti-Milosevic-Parteien war. 1996 erlangte Djindjic internationale Berühmtheit, als er Massendemonstrationen gegen Milo­sevic koordinierte. Der Lohn für dieses Engagement war der Posten des Belgrader Bürgermeisters.

Während des NATO-Angriffs auf Jugos­lawien flüchtete er nach Montenegro. Nach dem Ende des Krieges unterstützte er Kostunica im politischen Kampf gegen Milosevic. Kostunica wurde Präsident von Jugoslawien und Djindjic Premierminister von Serbien. 2001 lieferte Djindjic Milosevic gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung, vieler serbischer Politi­ker und Kostunicas an das Haager Tribu­nal aus.

Djindjic verfolgte eine neoliberale Politik, sein technokratisches Auftreten und sei­ne Medienmanipulation ließen ihn in Serbien, dem ärmsten Staat des Balkans immer unbeliebter werden.

Die Stimmung heizt sich auf

Täglich protestierten damals mehr als 15 000 Arbeiter/innen gegen ihn, 900.000 wurden gefeuert (12,86 Prozent der bei einer Bevölkerung von 7 Millionen), soziale Unruhe kam auf. So­ziale Bewegungen wie u.a. „Another World is possible“ („eine ande­re Welt ist möglich“) nahmen Gestalt an und begannen, sich der Politik des Interna­tionalen Währungsfonds (IWF) zu wider­setzen. Dessen Politik beinhaltet in der Hauptsache Einschränkungen der Staats­ausgaben, was vor allem in sozialen Be­reich umgesetzt wird, Abwertungen der Währung, was die Produkte verteuert, und Privatisierungen im großen Maßstab.

In Bezug auf politische Parteien gab es in den letzten Jahren einen Machtkampf zwi­schen Kostunica und Djindjic. Der Machtkampf wurde zugunsten von Djindjic entschieden, nachdem Jugos­lawien durch die Union von Serbien und Montenegro ersetzt wurde. Kostunica stand nun ohne Amt da, zurückgeworfen auf Oppositionsarbeit. Doch Djindjic konnte sich letztlich nur wenige Wochen an diesem Sieg erfreuen…

Hier setzen die Spekulationen ein, wer den frischgebackenen Premier umgebracht hatte, der den westlichen Demokratien offensichtlich so genehm, weil zutraulich war.

Eine Theorie besagt, er sei ein Opfer sei­ner eigenen Allianzen geworden. Im ehe­maligen Jugoslawien hat sich in den letz­ten Jahren, wie auch in anderen Staaten, eine Klasse von neureichen Oligarchen gebildet, die unter Milosevic, wie Kos­tunica und Djindjic protegiert wurden. Ein anderes Szenario interpretiert die Er­mordung Djindjics als Komplott, der mit den Rivalitäten zwischen Berlin und Was­hington zusammenhängt. Möglicherweise wurde er von albanischen Nationalisten umgebracht, die im Süden Serbiens an Einfluss und Stärke gewinnen.

Gleich, welche Theorie nun mehr Wahr­heit enthält: der Kreis der neoliberalen Technokraten um Djindjic wird daraus zu profitieren wissen. Ebenso könnten sich nun mafiöse Strukturen, sowie die Natio­nalisten ermutigt fühlen. Am wahrscheinlichsten scheint wohl die Annahme, dass die neoliberalen Kräfte die­se Situation nutzen werden, um ihr Pro­jekt voranzutreiben. Insofern hat sich nicht viel geändert…

hannah

Nachbarn

…werden Anarchisten verfolgt

Nach dem Attentat auf den Premierminister am 12. März 2003 begann eine bis heute andauernde At­tacke auf die Anarchosyndikalistische Or­ganisation Serbiens und die Anarchisten im allgemeinen. In deren Verlauf wurde unter anderem der Sekretär der Anarcho­syndikalistischen Initiative Serbiens (ASI) verhaftet und nach drei Tagen aufgrund mangelnder Beweise wieder freigelassen ­nicht einmal für Anschuldigungen nach den Gesetzen des Kriegsrechts reichte es.

Sein Verbrechen war es, Sekretär des anarchistischen Syndikats zu sein, welches noch am Tag der Ermordung Djincjics eine Stellungnahme verfasst, aber nicht veröffentlicht hatte. Darin war zu lesen, dass die Anarchosyndikalisten den An­schlag weder bedauern noch begrüßen, da es ihnen nicht darum ginge, wer regiert, sondern dass sie keine Regierung brau­chen. Sie schrieben, dass sie auch nach dem Tod des Premiers den Fortgang der Privat­isierungen in Serbien erwarten. Sie riefen die Bevölkerung auf; sich revolutionär zu organisieren, um Kapitalismus und Staa­ten los zu werden und sich nicht um der ausgerufenen Ausnahmezustand zu küm­mern. Dieses Schreiben und unerwünsch­tes Gedankengut mussten herhalten, um Hausdurchsuchungen und Gefängnis zu rechtfertigen. Bis zum heutigen Tag läuft im serbischen Staat eine Kampagne von Gewerkschaftsbürokraten und Repräsen­tanten des Staates und der Regierung zur Denunziation der anarch(osyndikal) istischen Bewegung.

Um sich dagegen zu wehren, ver­öffentlichte das Syndikat folgenden Text, der am 10. Juli 2003 in der größten serbi­schen Wochenzeitung „NIN" (Wöchent­liche Informationszeitung), abgedruckt wurde, den wir in gekürzter Fassung hier abdrucken. Offenbar darf man nun, da der Ausnahmezustand vorbei ist, wieder un­gestraft laut denken…

Der Klassenkonflikt als ein Anreiz für erfolgreiche Kommunikation

[…] Seit einigen Monaten warnt Herr Milenko Smiljanic (1), Präsident der SSSS, die serbische Regierung ständig, dass – würde sie die Zusammenarbeit mit ihm verweigern – sich der Protest radika­lisieren würde, anarchistische Gewerk­schaften entstehen und somit die Mas­sen toben werden.

Jeder, der die Positionen der Anarcho­syndikalisten ein wenig kennt, hier und anderswo in der Welt, weiß, dass dies bil­lige Propaganda eines Bürokraten ohne Unterstützung und Verhandlungsop­tionen ist, dessen Position von un­befriedigten und hintergangenen (Ge­werkschafts)Mitgliedern ernstlich an­gegriffen wird. Anarchosyndikalisten ha­ben nie und nirgends sinnlose Gewalt und Ausschreitungen in den Straßen propagiert. Worauf wir immer wieder hinge­wiesen haben ist, dass wir – wenn wir unsere Rechte nicht auf zivilisierte Weise durchsetzen können – den Barbaren auf der anderen Seite dennoch nicht gestat­ten werden, unser Leben nach ihren Maß­stäben zu gestalten. Im Gegenteil, wir werden auf die einzige Art und Weise ant­worten, die sie verstehen.

Den Politikern ist es ein leichtes, ih­ren kriminellen Aktivitäten nachzugehen, nachdem sie ihrer Posten enthoben sind; aber der Arbeiter, der nach vielen Jahren Arbeit gefeuert wird, hat in dieser Gesellschaft keine Perspektive.

Anarchosyndikalisten wurden wäh­rend aller vergangenen Kriege für ihren Antimilitarismus verleumdet, eingesperrt, gefoltert und ermordet. Gewalt ist für uns kein Fetisch. Das bedeutet aber nicht, dass wir auf unseren Hintern hocken und zu­lassen werden, dass unser Leben unter den Teppich der Privatisierung gekehrt wird.

Um unsere Ziele zu erreichen, werden wir alle brauchbaren Mittel anwenden, die nicht im Kontrast zu unseren ethischen Positionen stehen und tatsächlich zur Ver­besserung der Lebensumstände der Ar­beiter/innen und anderer unterdrückter Menschen beitragen.

Betrachten wir die Sache mal von der anderen Seite: Fragen wir den Staat und die Bosse, was sie über Gewalt denken. Wer beginnt die Kriege und warum? […] Wer holt die, privaten Sicherheitsdienste und Bodyguards, wenn er die Arbeiter/ innen feuert und die Fabrik mit Gewalt übernimmt? […] Das ist Gewalt, die mehr als offensichtlich und sehr brutal ist. […]

Wir erwarten nicht, dass Politiker viel von uns halten, es kümmert uns auch nicht was sie denken (wenn sie überhaupt den­ken). Aber es gibt einen anderen interes­santen Grund, warum die Gewerk­schaftsbürokraten versuchen, unsere Me­thoden für die Rechte der Arbeiter/innen zu kämpfen verfälschen und verzerren. Enttäuschte Mitglieder der „großen" Ge­werkschaften, die sich über die Verknö­cherung der Gewerkschaftsbürokratie im klaren und angewidert sind von den Un­mengen von Lügen, beginnen den Gewerkschaftszentralen massenhaft den Rü­cken zu kehren.

[…] Jedem vernünftigen, zivilisiertem Menschen leuchtet ein, dass seine Stim­me am ehesten in einer nicht-hierarchi­schen, direkt-demokratischen Gewerk­schaft Gewicht hat, in der Entscheidun­gen nur von den Mitgliedern getroffen werden – und nicht von den Bürokraten, die von oben eingesetzt sind und deshalb andere Interessen haben als diejenigen, die sie vertreten sollen.

Anders als bei den Mainstream-Ge­werkschaften werden in unseren Syndikat Entscheidungen nicht von einer bestochenen Führung (SSSS), der ser­bischen Regierung (ASNS) (2) oder aus­ländischen Geldgebern (Nezavisnost (3)) getroffen, sondern nur von den Mitglie­dern. […]

Während des Protestmarsches am 25. Juni versuchten Smiljanic und seine Cli­que ständig, uns von dem Protest zu sepa­rieren, und riefen die Arbeiter/innen auf, uns zu boykottieren. Dennoch wurden sie mit der ungestümen Antwort der Arbei­ter/innen konfrontiert, die die echten Be­weggründe hinter diesem Aufruf durch­schauten. Aufgebrachte Waffenbauer hät­ten die Sache fast handgreiflich mit einem Bürokraten der SSSS geklärt, der geschrien hatte „Schmeißt diese Leute mit den schwarz-roten Fahnen und antistaatlichen Transparenten raus!“

Wiederholen wir noch einmal die Grundlagen unserer Aktivitäten: […] Wir alle leben in einem ständigen Krieg des Staates gegen die Gesellschaft und der Chefs gegen die Arbeiter/innen. Dies wird an der Beziehung des Staates zu den Me­dien sichtbar. (4) Wir reagieren auf ihre Attacken. Wir verteidigen uns.

Die Gesellschaft kann ihren Wider­stand auf verschiedenen Wegen zeigen, aber die einzige Möglichkeit die Aus­beutungsgesellschaft, die Macht von Men­schen über Menschen, das Leiden, den Schmerz, die Armut und die Lügen ein für alle mal zu beenden, ist es, sich hier und jetzt in den revolutionären Syndika­ten zu organisieren, die nicht aufhören werden zu kämpfen, bis wir beginnen in Freiheit zu leben. […]

Lassen wir sie mit ihren Kämpfen al­lein und konzentrieren wir uns auf unsere Ziele: Ein besseres Leben hier und heute. Bedeutet dass, in den Straßen zu protes­tieren? Straßenblockaden? Besetzung der Fabriken bis wir bekommen, was wir ver­langen? Forderungen nach dem Vier-Stun­den-Tag? Generalstreik bis alle unsere Zie­le erreicht sind? Kann uns jemand diese Aktionen verbieten?

Wie auch immer, ein diktatorisches Regime wurde auf diese Weise gestürzt und ein anderes kam an dessen Stelle, in­dem es das Chaos nutzte. Wir sollten nie wieder zulassen, dass Politiker und Bosse unsere Kämpfe für ihre Ziele nutzen. Wir brauchen keine Kooperation mit politi­schen Parteien. […] Um neue soziale Be­ziehungen zu schaffen, gleichberechtigte, nicht-hierarchische Beziehungen zwischen den Menschen, dazu brauchen wir keine Schafherden/Hirten. Aber wie für alle po­sitiven Errungenschaften der Zivilisation, die wir gegen die dunklen Kräfte des Aber­glaubens besitzen, benötigen wir nur ein wenig Selbstbewusstsein. […]

Belgrader Gruppe der Anarcho-Syndika­listischen Initiative

Anmerkungen des Übersetzers:
(1) Führer der größten Zentralgewerkschaft in Serbien (SSSS in serbisch), eine Gewerkschaft, die ihre Wurzeln in der staatskommunistischen Ära Jugoslawiens hat und Milosevic während seiner Regierung unterstützte.
(2) ASNS ist die „gelbe“ Gewerkschaft der Regierung, ihr Kopf ist der Arbeitsminister.
(3) Nezavisnost [Unabhängigkeit] ist die Gewerkschaft, mit engen Verbindungen zur AFL­CIO. dem größten Gewerkschaftsdachverband in den USA.
(4) Die serbische Regierung hat kürzlich verschiedene Gerichtsverfahren gegen mehrere Zeitschriften und Radio-/Fernsehstationen (darunter NIN) angestrengt, da diese die Arbeit der Regierung kritisiert hatten.

Nachbarn

Dik.ta.tor ohne Humor

Satirezeitung und anarchistisches Sprachrohr in Weißrussland vor dem Verbot

Anarchismus ist in der deutschen Medienlandschaft praktisch kein Thema. Ebenso wenig das Land Weißrussland, wel­ches immerhin zu den letzten Überbleib­seln des Stalinismus gehört. Kein Wunder also, dass das bevorstehende Verbot der seit 5 Jahren existierenden, anarchistischen Satirezeitung Navinki totgeschwiegen wird.

Bis zum Jahr 1991 gehörte Weiß­russland zur Sowjetunion. Danach wurde es „unabhängig“. Seit Jahren wird das Volk von Präsident Lukaschenko drangsaliert: Die Todesstrafe wird aufrecht erhalten, das Einkommen von 50 % aller EinwohnerInnen liegt unter dem Existenzminimum, oppositionelle Kräfte verschwinden in re­gelmäßigen Abstän­den spurlos. Dazu kommt, dass 1986 70 % des radioakti­ven Fallouts von Tschernobyl über das Land niedergegan­gen ist. Die tägliche Nahrung ist konta­miniert und hat die starke Verbreitung von Lungenkrebs und Leukämie unter der Bevölkerung zur Folge. Unter Lukaschenko ist auch diese humanitäre Katastrophe ein Tabuthema.

An der Macht hält sich der Präsi­dent durch Wahlbetrug und Korruption. Der Verbot der anarchistischen Satire­zeitung Navinki ist nur eine weitere Maßnahme zum Machterhalt. Ein Wun­der überhaupt, dass sich das anarchistische Blatt so lange gehalten hat. Schließlich sind die Medien im Allgemeinen zentral und staatlich geschaltet.

Für die Anarchisten in Weißrussland bedeutet die drohende Einstellung der Zeitung einen erheblichen Ein­schnitt in die landesweite Vernetzung und Kommunika­tion. Der Navinki ist überhaupt das einzige anarchisti­sche Sprachrohr des Landes.

Angefangen am 20. Mai diesen Jahres, wurde der Navinki-Herausgeber Pauluk Kanavalchuk bereits we­gen „…Verbreitung bewusst falscher, Ehre und Würde des Präsidenten verletzenden Informationen“ zu einer Geldstrafe von 700 Euro verurteilt. Das sind sieben Monats­gehälter in Weißrussland. Der Navinki hatte eine sati­rische Recherche über die Haltung der OSZE zu Lukaschenko vor und nach der Zulassung des weißrussi­schen Parlaments zur PACE, der parlamentarischen Ver­sammlung des Europarats, veröffentlicht.

Am darauf folgenden Tag erteilte der weißrussische Informationsminister dem Magazin eine schriftliche Ver­warnung. Zwei Abbildungen des Präsidenten im Heft Nr. 7 hätten gegen das „Gesetz über die Presse und andere Massenmedien“ verstoßen. Eine weitere Verwarnung dieser Art ging einen Tag später in der Reaktion ein. Die „Moral des Volkes“ sei beeinträchtigt worden, als Arti­kel unter der Überschrift „Opium für das Volk“ erschie­nen. Die Abfolge dieser Verwarnungen lässt auf eine Kam­pagne gegen Navinki schließen. Zwei Verwarnungen reichen in Weißrussland aus um eine Zeitung zu verbieten.

Die Navinki-Redaktion kündigte an, sich gegen das Verbot zur Wehr zu setzen.

Quelle: www.linkeseite.de

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