Pjotr Kropotkin – Die Eroberung des Brotes

Heute leben wir Seite an Seite, ohne einander überhaupt zu kennen. An einem Wahltag treffen wir einander bei den Wahlveranstaltungen; dort hören wir das lügenhafte oder phantastische Wahlprogramm eines Kandidaten an und gehen wieder nach Hause. Der Staat hat die Aufsicht über alle Fragen von öffentlichem Interesse; er allein hat die Aufgabe, darüber zu wachen, dass wir nicht das Interesse unseres Nächsten verletzen und gegebenenfalls den Schaden wiedergutzumachen, indem er uns bestraft.“ [S. 45] (5)

 

Nachdem im letzten Heft der Klassenbegriff im Zentrum stand (der Diskurs wird auf S. 14/15 fortgesetzt), wollen wir in diesem wieder ein Schlaglicht auf die Geschichte und Ideen anarchistischer Theoriebildung werfen. Neben einem einführenden Exkurs sollen dabei in erster Linie Anregungen zur eigenständigen Beschäftigung geboten werden.

Wie bei vielen Anarchisten des 19. Jahrhunderts finden wir auch bei Pjotr Kropotkin, der zwischen 1842-1921 lebte, eine bewegte und von Höhen und Tiefen gekennzeichnete Biographie. Einer russischen Hochadelsfamilie entsprungen, diente er zuerst dem Pagenkorps Alexander des II., war dann mit dem Kosakenheer des Zaren in Sibirien unterwegs, bevor er Mathematik und Geographie in Moskau studierte. Durch seine geographischen. Arbeiten erlangte Kropotkin einige wissenschaftliche Reputation und von hieraus speist sich auch seine Vorstellung einer auf naturwissenschaftlicher Methodik fußenden Gesellschaftstheorie. Während seiner ersten Europareise knüpfte er Kontakt zur damals erstarkenden anarchistischen Arbeiterbewegung, ein Umstand, der sein sozialrevolutionäres Engagement weiter verstärkte. Nach seiner Festnahme und Inhaftierung (ohne Prozeß) 1874 und der späteren Flucht von der Peter-Paul-Festung, hatte die russische Tyrannei aus einem hochadligen „Gardeoffizier“ einen der glühendsten Verfechter der anarchistischen Bewegung gemacht. Wie viele der damaligen Anarchisten genötigt, ruhelos durch Europa zu ziehen (immer wieder verfolgt und verhaftet), findet er bei den Schweizer Uhrmachern aus dem Jura und den Tuchmachern aus Verviers (Belgien), damals dem Leitbild kommunaler Produktion und anarchistischer Organisation verpflichtet, immer wieder fruchtbares Asyl, um in Untersuchungen, Reisen, unzähligen Vorträgen, Zeitungsartikeln und Texten. sein Denken zu entfalten. Wie auch schon bei Proudhon, scheint der ganze Werkkorpus in wenig zufriedenstellender Form für die deutschsprachige Leserschaft aufbereitet. Was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass Kropotkin sowohl in russisch und französisch als auch deutsch und englisch schrieb. Ein Großteil der Artikelsammlungen ist vergriffen oder wird nicht mehr verlegt, auch sollen einige mehr schlechte als rechte Übersetzungen aus dem Französischen umherschwirren. Trotz alledem lassen sich, im Unterschied zu Proudhon die systematischen Eckpunkte der Philosophie Kropotkins ziemlich klar entdecken und beschreiben.

Gegenseitige Hilfe – ein Entwicklungsfaktor menschlicher Evolution

Laut Theoriegeschichte stellt der Ansatz Kropotkins den dar, den Anarchismus (natur-)wissenschaftlich zu begründen; Wie ist das zu verstehen? Im Streit mit dem damals heraufziehenden Sozialdarwinismus, der mit der Darwinschen Terminologie des „Kampfes ums Dasein“ die zeitgenössischen Praktiken der Ausbeutung und Unterdrückung legitimierte, wollte Kropotkin die evolutionstheoretischen Ansätze Darwins vertiefen, die Idee der gegenseitigen Hilfe, wir sie schon bei Proudhon in Form des Mutualismus kennengelernt haben, verstärken, die Gegenseitigkeit zweifelsfrei als Entwicklungsfaktor der Evolution nachweisen und somit die Theorie Darwins umgewichten. Hinter diesen hehren Absichten indes versteckt sich im Wesentlichen das anarchistische Argument gegen die liberalen Staatstheorien: dass nämlich der Mensch immer schon in Gesellschaft ist und nicht aus dem Naturzustand (Krieg aller gegen alle) via Vertrag in eben diese eintritt. Kropotkin versucht nun einen solchen Naturzustand zu konstruieren, in welchen neben dem Selbsterhaltungstrieb auch ein „Sozialtrieb“ („Sozialinstinkt“) ambivalent angelegt ist. Dabei macht er ihn für die hauptsächlichste Anpassungsleistung des Menschen als Art verantwortlich. Kooperations- und Selbstbehauptungswillen prägen ein natürlich ambivalentes Feld, aus dem der zwischen Individuation und Sozietät schwankende Mensch erwächst. Ein sehr naturalistisches Weltbild, wenn man es mit dem „vernünftigen“ (1) seiner Zeit vergleicht. Aber ohne Zweifel, der liberale Naturzustand war durchbrochen, zugunsten einer sozialen (libertären) Natürlichkeit. Dadurch allerdings scheint die Trennlinie zwischen Natur und Gesellschaft merkwürdig verschoben: Ist es denn nicht natürlich, dass mensch Natur korrumpieren lässt? Kann mensch sich nicht via Vernunft gegenüber der Natur emanzipieren?

Unkritischer Idealismus

Der wissenschaftliche Idealismus, welcher Kropotkins Schriften prägt, ist so unkritisch, dass ihn nur sein Forscherethos und seine guten Ideen vor einer vernichtenden Kritik bewahren. Er übertrug Beobachtungen aus dem Tierreich auf das Verhalten von Menschen, verglich Physik mit Gesellschaftstheorie und proklamierte eine naturwissenschaftlich exakte Methode (2). Ein Positivist sondersgleichen! Und damit bei weitem nicht der einzige seiner Zeit. Aber dennoch einer der einflussreichsten Theoretiker des Anarchismus. Im Widerspruch von Inhalt und Form hat sich doch der Inhalt über die Zeit getragen. Ich lass´ ihn am besten selbst reden:

[Die anarchistische Gesellschaft] sucht die vollständige Entwicklung der Individualität, verbunden mit der höchsten Entwicklung der unter allen Gesichtspunkten freiwilligen Verbindung für alle möglichen Stufen, für alle denkbaren Ziele: eine stets wandelbare Verbindung, die in sich selbst die Grundlagen für ihre Dauer trägt und die Formen annimmt, die in jedem Augenblick am besten den mannigfachen Bestrebungen aller entsprechen.“ (3)

Bei diesem Geschichtsidealismus wird auch deutlich, dass Kropotkins Untersuchungen und Studien keine kritische Geschichte der Idee der „gegenseitigen Hilfe“ darstellen. Geschichte ist für ihn empirische Forschung und dementsprechend nur die Suche nach Belegen für eine ‚richtige‘ These. Im Erkenntnissubjekt Pjotr Kropotkins verbinden sich empiristischer und idealistischer Geist zu einem Gemenge, aus welchem die Qualitäten der Texte (Subtexte) ihre innere Spannung entfalten. Der Charakter seiner Arbeiten ist wohl am ehesten mit dem Begriff ‚Anthropologie einer Idee‘ umschrieben. Sozietät ist immer vorausgesetzt. Kropotkin untersucht unsere Geschichte der Gesellschaftsformen, indem er formal freiheitliche (libertäre) von herrschaftlichen trennt. Dementsprechend findet sich bei ihm ein Geschichtsfaden, der die Horde, mit der Gemeinde, der freien Stadt und modernen Kommunen verbindet und ein zweiter, der von der Familie, dem Römischen Reich, der Römischen Kirche bis zu den Ausprägungen des modernen Staates im 16. Jahrhundert reichen soll. Kropotkins Schriftwerk ist voll von Parallelen und Vergleichen und in diesem Sinne lesenswert, weil sich die geneigte Leserin dem Glauben stärken kann, gegenseitige Hilfe sei zur kulturellen Ausprägung fähig. Und dass es so ist, dafür liefert Kropotkin viele gute Gründe, Beispiele und Anekdoten. Aber ist bei einem solchen unkritischen Idealismus die Vorstellung einer anarchistischen Gesellschaft überhaupt haltbar?

Anarchistischer Kommunismus

Aus den Wirren seiner Zeit, der Französischen Revolution und ihrer Nachbeben, dem krassen Elend vieler Menschen, der Ausbeutung und Unterdrückung trotz steigender Produktion, letztlich aus dem Organisierungswillen der ohnmächtigen Massen zog Kropotkin den Schluss, dass die nächste revolutionäre Phase auf jeden Fall kommen würde. Dabei kritisierte er die sozialistische bzw. marxistische Strategie vor allen Dinge dahingehend, dass sie sich immer auf Machtübernahme und Agitation zuspitzte, anstatt in den ersten Stunden der „Revolution“ vor allen Dingen an die Neuorganisation der stillstehenden Produktion, an die Versorgung der Bevölkerung mit Brot, Kleidung und Nahrung zu denken. Hier liegt seines Erachtens der Hauptgrund dafür, dass solche politischen Restrukturierungsprozesse immer wieder vor nennenswerten Erfolgen verebbten, von der Reaktion eingeholt wurden, der Rückhalt in der Bevölkerung sank. Um in solchen revolutionären Phasen eine freiheitliche anstelle einer herrschaftlichen Organisation zu etablieren, bedurfte es vor allen Dingen der sofortigen Expropriation (Enteignung), der Produktionsmittel, Produkte und des Bodens (Wohnraum) und damit einhergehend der Abschaffung jeder Entlohnung. Dabei denkt Kropotkin sehr konkret und schon in diesem Sinne ist sein Buch „Eroberung des Brotes“ (4) lesenswert. Gegen abstrakten Kollektivismus und zentralistische Bürokratie (wesentlich kritische Punkte des Staatssozialismus sind hier schon vorweggenommen) beharrt er auf lokaler Autonomie. Konkrete Bedürfnisse können nur in konkreten Verhandlungen, konkret befriedigt werden. Nach Kropotkins Meinung würde der revolutionäre Impuls eine Freiwilligkeit aufdecken, die zu einer verantwortlichen Neuorganisierung der kommunalen Strukturen in weitestgehend autonome Kommunen führen könnte, wenn man sie denn nur ließe. Dabei kommt sein von Idealismus durchdrungenes Menschenbild wieder zum Tragen. Der Mensch in seiner Ambivalenz von Egoismus und Geselligkeit, ließe sich schon zur Freiwilligkeit bewegen, würde er nur der individuellen und sozialen Vorteile ansichtig. Die Organisationsüberlegungen Kropotkins sind deshalb auch eher als Faustregeln formuliert. Ist es soweit, schließt euch zusammen, die einen werden schon Gefallen daran finden, die Warenhäuser einer Inventur zu unterziehen, andere die Wohnungen listen, dritte die Produktion in der Fabrik wieder aufnehmen, vierte aufs Land zu den Bauern fahren. Jeder bekommt das aus den Lagern, dessen er bedarf, gibt´s wenig, zu wird egalitär rationiert, gibt´s zu viel, deren Kommunen getauscht.

Dabei spielt bei ihm die friedliche, auf Freiwilligkeit beruhende Partizipation die größte Rolle. Will der olle Graf auf seinem Schloss hocken bleibt, soll er doch – seine Frau wird spätestens dann Terz machen, wenn niemand mehr gegen Lohn putzen kommt. Und wer sollte das tun, wenn es des Geldes nicht bedurfte, um an die existenzsichernden Güter zu gelangen? In Kropotkins Überlegungen zur Ökononomie einer solchen autonomen Kommune spielte vor allen Dingen die Ökonomie als Ökologie, auch der eigenen Körper eine zentrale Rolle. Handgreifliche und geistige Tätigkeit wechseln sich nach Bedarf des Individuums ab, Arbeitszeitverkürzung steht im Vordergrund. Es ist eher eine soziale als eine politische und eher eine kommunale als eine nationale Ökonomie.

Kropotkins Glaube an die ungeheuren Produktivkräfte seiner Zeit, an den technischen Fortschritt, an die zur Geselligkeit und gegenseitiger Hilfe fähige Natur des Menschen, sein tiefes Misstrauen gegen akkumulierendes (anhäufendes) Privateigentum, gegen das ausbeutende Lohnsystem, seine Inspiration durch die kreative, politische Aktivität seiner damaligen Zeitgenossen, beflügelte seine Gedanken hin zu den Vorstellungen einer Gesellschaftsform, in der der Mensch beides, Individuation (Konkurrenz) und Sozialität (Vertrauen), in Konflikt und Harmonie, freiwillig und friedlich, ohne systematisch physisches und psychisches Elend und Leid ausleben könnte. Eine Möglichkeit in einer Welt, in der an den weiten Rändern eines westlichen Horizontes, das physische Elend ertragen wird, während der „Zivilisierte“ im Zentrum sein psychisches Leid zum Psychiater schafft? Ein Idealismus ohne Zweifel, aber einer, für den es sich zu kämpfen lohnt!

Wenn Sie mit uns wollen, dass die völlige Freiheit des Individuums und damit auch sein Leben respektiert werde, dann müssen sie notwendigerweise die Herrschaft von Menschen über Menschen, egal welcher Gestalt, ablehnen und die so lange verhöhnten Grundsätze des Anarchismus akzeptieren. Sie müssen mit uns nach Gesellschaftsformen suchen, durch die dieses Ideal am besten verwirklicht und jeglichen Sie empörenden Gewaltakten ein Ende bereitet werden kann.“ [S.55] (5)

clov

(1) Geistesgeschichtlich ist es nach Kant und Hegel bürgerliche Konvention, dass Verhalten und Erkenntnis vernunftgesteuert werden. Es gibt keinen Grund, einen Sozialtrieb anzunehmen, gesellschaftliche Organisation ist Ausdruck allgemeiner Vernunft, alle haben die sittliche Pflicht sich anzupassen, und insofern sie zur Vernunft fähig sind, werden sie die rechtmäßige Ordnung schon einsehen… … …???
(2) Kropotkin unterwirft sich damit dem Forschungsideal seiner Zeit, Dinge als tote zu beobachten und ihre Prozesshaftigkeit (Dynamik) mit der eigenen Logik und Kausalität der eigenen Sprache zu erklären und zweitens dem ideologiekritischen Vorwurf, wie er denn seine Beobachtungsperspektive als objektive rechtfertige. Derlei Kontroversen über die „richtige“ Gesellschaftsanalyse finden sich heute im methodischen Streit der interpretativen (qualitativen) und quantitativen Soziologie, wobei erstere vor allen Dingen auf die Beweglichkeit der Forschungsobjekte im Forschungsprozess selbst hinweist.
(3) Pjotr Kropotkin, Der Anarchismus. Seine Philosophie – sein Ideal, Berlin, Der freie Arbeiter, 1923 (Ersterscheinung: 1896), S.6
(4) Pjotr Kropotkin, Die Eroberung des Brotes, Trotzdem-Verlag, Grafenau, 1999
(5) Pjotr Kropotkin, Der Anarchismus – Philosophie und Ideale, in: Ders., Die Eroberung des Brotes und andere Schriften, Hauser, München,1973
Desweiteren: Kropotkin zur Einführung, Junius Verlag GmbH, Hamburg, 1989; * Anm. von mir

Theorie & Praxis

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