Prekärer Weihnachtsmarkt

Anja lebt von Sozialhilfe. Wegen ihres Kindes bekommt sie Kindergeld, das aber mit in der Sozialhilfe verrechnet wird – umso höher das Kindergeld steigt, desto niedriger wird also der Sozialhilfesatz. Letztes Jahr zog sie nach Sachsen, genauer gesagt nach Leipzig. Ummelden durfte sie sich allerdings nicht, denn das Sozialamt verbot ihr den Wegzug aus dem Kreis. Sie würde angeblich in ihrem Heimatkreis die gleichen (Berufs-)Chancen haben, wie in Leipzig. In Leipzig fand Anja dann auch eine befristete Stelle als Verkäuferin auf dem Weihnachtsmarkt. Sie verbrachte allerdings nicht die gesamten vier Wochen dort, sondern nur drei, als Ersatz für ihre erkrankte Vorgängerin in diesem Job. Krank machen ist verboten. Diese schleppte sich demzufolge jeden Tag zum Stand, bis sie schließlich umkippte und vom Krankenwagen abgeholt werden musste. So etwas kommt übrigens nicht selten vor. Aber nicht nur krank sein ist verboten. Ebenso durfte Anja während ihrer täglichen zehnstündigen Arbeitszeit, am Freitag und Samstag sogar elf, keine Mittagspause machen, nicht auf Toilette gehen und auch sonst keine Pausen machen. Von Urlaub ganz zu schweigen. Wenn sie einen Tag ausgefallen wäre, hätte sie 150 Euro Strafe zahlen müssen.

Um das zu verhindern, ließ sich Anja daher einmal von ihrer Schwester vertreten. Von dem Verdienst von etwa 4 Euro pro Stunde BRUTTO (!) hat sie monatelang keinen Cent gesehen. Am Verkauf der angeblichen in Deutschland, aber in Wirklichkeit in Osteuropa (1) produzierten Ware bekam sie Provision. Aufgrund ihrer Sieben-Tage-Arbeitswoche sah Anja ihr Kind kaum noch und konnte nur wegen der längeren Öffnungszeiten im Hauptbahnhof ihre wöchentlichen Einkäufe erledigen. Und weil sie im Dezember gearbeitet hat, wird ihr vom Sozialamt der Sozialhilfesatz für Dezember einschließlich Weihnachtsgeld und anderer Zulagen entzogen. Im Grunde wäre es egal, ob Anja ihre Arbeitskraft verkauft hätte oder nicht. Das Einkommen hätte in etwa die selbe Höhe gehabt.

Das ist kapitalistischer Alltag für eine immer größere Anzahl Menschen in den „reichen“ Industrieländern. Das ist Alltag für die meisten Menschen im größten Teil dieser Welt. Und mit den verschärften Drohungen gegen Schwarzarbeit wird es auch hier in der „Ersten Welt“ in Zukunft für sozial schwache Menschen noch schwieriger sein, ein menschenwürdiges Einkommen zu haben. „Damit es allen besser geht, müssen wir unsere Freiheit noch mehr einschränken“ könnte der Slogan der neoliberalen Weltordnung lauten.

(Dawn, mit Unterstützung von Anja, bei der ich mich nochmals bedanke. Name geändert.)

(1) Dies soll nicht so verstanden werden, dass ich den „Standort Deutschland“ bevorzuge. Standortdenken ist immer und überall problematisch.

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