„‚Religion ist Scheiße‘-Rhetorik nervt“

Interview über Christlichen Anarchismus

FA!: Hallo, Sebastian Kalicha. Du hast ja Ende 2013 ein Buch zum Christlichen Anarchismus im Verlag Graswurzelrevolution herausgegeben. Was hat dich motiviert, ein derartiges Buchprojekt in Angriff zu nehmen?

SK: Ich komme aus der nicht-religiös anarchistischen Ecke und verstehe mich gleichzeitig als gewaltfreien Anarchisten. Durch meine Beschäftigung mit verschiedenen Traditionen des gewaltfreien Anarchismus stieß ich relativ früh notgedrungen auch auf Leo Tolstoi, der ja einer der bekanntesten gewaltfreien Anarchisten ist, dies dabei jedoch christlich begründet. Von da aus habe ich mich weiter und intensiver mit christlich-anarchistischen Theorien und Ideen – auch fernab von Tolstoi – beschäftigt und begann mich mehr und mehr dafür zu interessieren; wohlgemerkt ohne selbst gläubig zu sein. Gleichzeitig wurde mir auch schnell bewusst, dass christlich-anarchistische Literatur im deutschsprachigen Raum nur sehr spärlich gesät ist und man, will man sich näher in das Thema einlesen, relativ rasch auf fremdsprachige Bücher und Artikel angewiesen ist. Daher kam die Motivation, einen aktuellen Sammelband zum Thema für eine deutschsprachige LeserInnenschaft zusammenzustellen, um dieses Defizit zu beheben.

FA!: Wer sollte dein Buch lesen, und was kann der_die Leser_in inhaltlich von deinem Buch erwarten und erfahren?

SK: Zuallererst hoffe ich, dass das Buch ein Beitrag ist, um den christlich-anarchistischen Diskurs zu verbreitern und zu intensivieren. Daher hoffe ich, dass der Sammelband für die kleine Gemeinde der christlichen AnarchistInnen im deutschsprachigen Raum von Interesse ist. Desweiteren gibt es eine Reihe progressiver christlicher Strömungen wie die Theologie der Befreiung, Religiöser Sozialismus, die christliche Friedensbewegung, etc., bei denen es bestimmte Überschneidungen zum christlichen Anarchismus gibt. Auch für VertreterInnen dieser Richtungen ist das Buch hoffentlich von Interesse. Es ist aber auch ein Buch, das sich sowohl an eine nicht-religiös anarchistische, als auch an eine nicht anarchistische, christlich-religiöse LeserInnenschaft bzw. an TheologInnen richtet. Bei beiden Lagern stößt man immer wieder auf Ablehnung oder Skepsis wenn der christliche Anarchismus zur Sprache kommt, was ich für bedauernswert halte. Es geht hier darum den christlichen Anarchismus wieder verstärkt ins Gespräch zu bringen, Vorurteile abzubauen, reflexartige Schnellschüsse zu vermeiden und Pauschalurteile durch differenzierte Betrachtungen zu ersetzen. Diese Berührungsängste zwischen Anarchismus und Christentum sind, wenn man sich der Thematik von einer bestimmten Richtung her nähert und die inhaltlichen Schnittmengen analysiert, meiner Ansicht nach unbegründet.
Inhaltlich ist der Sammelband als Einführung in den christlichen Anarchismus konzipiert. Er beinhaltet einen generellen Überblick über christlich-anarchistische Thematiken und eine Diskussion zum Verhältnis von Anarchismus und Christentum, Beiträge, die sich mit einer anarchistischen Lesart und Interpretation der Bibel beschäftigen, Reflexionen zu christlich-anarchistischem Aktivismus sowie Porträts bedeutender christlicher AnarchistInnen. Jacques Ellul, dessen Buch Anarchie et christianisme (Anarchie und Christentum) behandelt wird, ist einer davon. Weiterhin werden Dorothy Day und Ammon Hennacy von der Catholic-Worker-Bewegung vorgestellt. Peter Chelchicky, ein Frühreformator und „Ketzer“ der im Tschechien des 14./15. Jahrhunderts lebte, wird ebenfalls porträtiert und dessen christlich-anarchistische Dimension diskutiert.

FA!: Dieses Sammelwerk verdeutlicht ja vor allem, dass christlicher Glaube und Anarchismus nicht zwangsweise ein Gegensatz sind, sondern, dass es auch Anarchist_innen gab und gibt, die beides miteinander verbinden können. Wo siehst du die Schnittstellen zwischen christlichem Glauben und anarchistischem Denken? Was haben beide gemein?

SK: Ich kann das hier nur ansatzweise und stichwortartig erörtern und es gibt natürlich auch innerhalb der christlich-anarchistischen Bewegung immer wieder unterschiedliche Meinungen und Ansätze. Prägnant auf den Punkt gebracht würde ich sagen: Christliche AnarchistInnen gehen prinzipiell davon aus, dass das, was im Evangelium geschrieben steht und was uns von Leben und Wirken Jesu überliefert ist, unter den politischen Vorzeichen von heute am ehesten mit „Anarchismus“ beschrieben werden kann. Dabei finden wir laut christlichen AnarchistInnen im Evangelium alles, was auch den „klassischen“ Anarchismus ausmacht: eine Kritik und Ablehnung von Klassenstrukturen und unterdrückerischen Herrschaftsformen; eine egalitäre und inklusive Alternative dazu; eine Ablehnung von Gewalt, Zwang und Machtausübung; eine Anprangerung ungerechter und ausbeuterischer ökonomischer Verhältnisse und der Versuch diese zu überwinden. In diesem Sinne ist es nur konsequent und logisch, dass die erste Bewegung, die sich direkt auf all das berufen hat, in der Apostelgeschichte in einer Art beschrieben wird, die uns AnarchistInnen sehr bekannt vorkommen und sympathisch sein müsste: „Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte.“ (Apg 2,44-45) Und weiter zur Gütergemeinschaft in dieser sog. Urgemeinde: „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam.“ (Apg 4,32) Viele sehen also in diesem Idealzustand, das in der Bibel als „Reich Gottes“ bezeichnet wird, letztendlich eine Entsprechung zur „Anarchie“ von der die AnarchistInnen reden. In diesem Sinne meinte Nicolai Berdyaev bereits: „Das Reich Gottes ist die Anarchie.“

FA!: Ich habe den Eindruck, dass die theoretischen Ansätze und die (wenigen) Aktivist_innen, die sich als christliche Anarchist_innen verstehen, in der anarchistischen Szene wenig Bedeutung erfahren, mitunter sogar tabuisiert werden. Weil es viele Anarchist_innen gibt, die sagen, dass der Gottesglaube prinzipiell nicht mit der anarchistischen Idee vereinbar ist, fällt es gläubigen Politaktivist_innen entweder schwer sich als anarchistisch denkend zu beschreiben, oder sie verbergen weitestgehend ihren Glauben in ihrer politischen Aktivität. Woher kommt dieser weitverbreitete Gedanke an die Unvereinbarkeit? Und wo siehst du Grenzen zwischen christlichem Glauben und anarchistischem Denken?

SK: Woher dieser weitverbreitete Meinung nach Unvereinbarkeit zwischen Anarchismus und Christentum kommt ist für mich insofern eher schwer verständlich, da selbst in den anarchistischen „Klassikern“ von Kropotkin über Rocker und de Cleyre bis hin zu Bookchin und Woodcock ein sehr differenziertes Bild des Christentums aus anarchistischer Perspektive gezeichnet wird. Da wird natürlich einerseits von den unterdrückerischen und reaktionären Ausformungen dieser Religion (zumeist im Sinne der institutionalisierten Form dieser) geschrieben, die ja unleugbar existierten und auch weiter existieren. Diese Ausformungen werden auch von christlichen AnarchistInnen heftig kritisiert, weshalb es in dieser Frage ohnehin keinen Unterschied zu den nicht-religiösen AnarchistInnen gibt. Gleichzeitig wird aber auch stets betont, dass dies nur eine Seite der Medaille ist und dass es im Christentum, um es mit Kropotkin zu sagen, „ernstzunehmende anarchistische Elemente“ gibt. Es ist wichtig, dies zur Kenntnis zu nehmen. Diese anarchistischen Elemente finden aber leider eher wenig Beachtung und werden gerne im Zuge einer fundamentaloppositionellen Haltung gegenüber Religion schlicht ausgeblendet. Grenzen in dem Sinn wie ich sie verstehe sehe ich daher nicht wirklich. Ich würde sagen, dass es Sinn macht klarzustellen, dass die historischen und ideengeschichtlichen Wurzeln des Christentums und des Anarchismus natürlich andere sind und es von daher falsch wäre zu sagen, Anarchismus und Christentum seien im Grunde genommen das gleiche. Auch die Frage des Glaubens ist letztendlich eine, wo sich klarerweise Unterschiede auftun können. Das rechtfertigt meiner Ansicht nach aber nicht das Aufziehen von undurchlässigen Grenzen oder dergleichen. Wenn gläubige und nicht-gläubige AnarchistInnen in einen Diskurs treten, halte ich es vor allem für wichtig, dass das Ganze polemikfrei und mit gegenseitigem Respekt von statten geht. Reflexartige und polemische „Religion ist Scheiße“-Rhetorik geht mir eher auf die Nerven.

FA!: Was waren für dich persönlich in der Beschäftigung mit dem Thema die beeindruckendsten Erkenntnisse, die du mitgenommen hast?

SK: Als jemand, der klassisch katholisch sozialisiert wurde, ist eines der beeindruckendsten Dinge beim christlichen Anarchismus für mich die anarchistische Lesart und Interpretation der Bibel, die anarchistische Exegese, aber auch historische Fragen zu dieser Zeit, in der sich diese Geschichten, von denen wir in der Bibel lesen, abspielten. Dieser Zugang ist auch hilfreich, das Geschriebene anders einordnen zu können. Aber nicht einmal ein explizit anarchistischer Zugang ist notwendig, um das Offensichtliche feststellen zu können: Das Evangelium ist ein Text, der sich radikal auf die Seite der Marginalisierten, Armen, Ausgestoßenen und Subversiven stellt, die gegen die Mächtigen aufbegehrten und Ungerechtigkeiten anprangerten. Wenn das Ganze dann noch mit anarchistischen Theorien in Verbindung gebracht wird, ist es noch spannender. Das ist es, was den christlichen Anarchismus ausmacht und so beeindruckend für mich macht.

FA!: Was gibt es darüber hinaus für inhaltliche Aspekte beim Christlichen Anarchismus, die wichtig bei der Auseinandersetzung mit dem Thema sind und die nicht vergessen werden sollten?

SK: Ein Aspekt, der mir wichtig und interessant erscheint, ist die Frage zum christlich-anarchistischen Aktivismus. Wie können christliche AnarchistInnen aktiv werden, um gegen Ungerechtigkeiten anzukämpfen angesichts der bekannten Maxime: „Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ (Mt 5,39) Vor allem Tolstoi hatte diesen Aspekt stark betont und schrieb viel über Nicht-Widerstand in diesem Sinne. Gleichzeitig gibt es viele christliche AnarchistInnen, die sehr wohl für sich in Anspruch nehmen, aktiven gewaltfreien Widerstand zu leisten, ohne dabei unchristlich zu handeln. Christlich-anarchistische AktivistInnen gehören mitunter zu den mutigsten und radikalsten, die mir je begegnet sind. Die verschiedenen Interpretationen und Diskussionen zu diesem Thema sind sehr spannend.

FA!: Wie war eigentlich die bisherige Resonanz auf das Buch und/oder wie haben die Leute in deinen Lesungen und Veranstaltungen zu dem Thema reagiert?

SK: Die Resonanz war gut. Ich habe Lesungen sowohl in eher nicht-religös anarchistischen, als auch in eher christlich-theologischen Rahmenbedingungen gemacht und von beiden Seiten kamen überwiegend positive Rückmeldungen. Auch die Rezensionen waren gut bislang. Teils hatte ich bei Veranstaltungen auch das Gefühl, dass die anarchistische Szene weit weniger zu einer strikten Anti-Haltung was Religion anlangt tendiert, als ich das zuvor angenommen hatte. Das freut mich natürlich.

FA!: Vielen Dank für das Interview!

momo

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