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Stadt, Land – Schluss???

Der ländliche Raum: Schier unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2016. Dies sind die gedanklichen Abenteuer eines jungen Anarchisten und Dorfjungen, der nun für einige Jahre unterwegs ist, um in Leipzig neue Welten zu erforschen, neues Leben und fremde Subkulturen. Drei Zugstunden von seiner Heimat entfernt, dringt er in Galaxien vor, die kein einziger seiner alten Nachbarn je zuvor gesehen hat…

So ist es, liebe GefährtInnen, GenossInnen und Freunde. Mit diesem „Outing“ reihe ich mich in die kurze Schlange derer ein, die zwar für ihre politische Weiterentwicklung die Nähe zum urbanen Aktivismus suchen, sich jedoch längerfristig auf eine praktische Umsetzung emanzipatorischer Projekte in ihrer Region konzentrieren möchten. Und mit Region meine ich das, was im städtischen Raum oft belächelt und gerne mit Begriffen wie „Provinz“, „Outback“ oder schlichtweg „Hinterland“ bedacht wird.

Das ebendieses keineswegs ruhig ist, bekommt unsereins zwar andauernd zu hören, allerdings scheint es oftmals bei dieser pathetischen Feststellung zu bleiben, ohne anschließend mit wirklich produktiven Ansatzpunkten rechnen zu können, was die Polit-Arbeit in solchen Gefilden betrifft.

Fest steht: Die regionalen Aktivisten sind mit völlig anderen Schwierigkeiten konfrontiert, auch wenn ihnen gleichzeitig eine breite Fülle an Protest- und Ausdrucksformen zur Verfügung steht, derer sie sich im engeren städtischen Raum nicht bzw. nur beschränkt bedienen können.

Es soll, anbei bemerkt, keine Aufgabe dieser theoretischen Episode sein, universell geeignete Antworten und Aktionsmöglichkeiten ausfindig zu machen. Der Großteil der gezogenen Schlüsse basiert generell auf persönlichen Betrachtungen und Überlegungen.

Richten wir zuallererst unser Augenmerk auf das soziale Gefüge, in dem sich unsere Archetypen, also ortsansässige und politisch engagierte Menschen, (bestenfalls) bewegen, also in einem ländlichen Gemeindeverband von höchstens mehreren tausend Einwohnern und einer pokalförmigen Alterspyramide. In solch einer Umgebung sind die bedeutendsten Probleme der ländlichen Aktivisten eindeutig die zu überwindenden Distanzen, das fehlende Publikum vor Ort, fehlende Anonymität innerhalb des Dorfes und mangelnde politische Bildung bzw. die konservativ-kleinbürgerliche Einstellung vieler Landbewohner.

 

Zu überwindende Distanzen: Da sich der öffentliche Verkehr in erster Linie auf die Zug- und Busverbindungen zwischen größeren Verkehrsknotenpunkten konzentriert und oftmals nur Dörfer, die auch direkt an solchen Streckenverläufen liegen, mit eingebunden werden, sind zahlreiche Gemeinden schwer bzw. nur durch hohen Eigenaufwand zu erreichen. Eine Alternative hierzu bildet natürlich der Transport mit Schulbussen, allerdings ist dieser zeitlich äußerst begrenzt und an den Wochenenden praktisch nicht zugänglich.

Damit politische Aktionen/Projekte/Veranstaltungen also auch entlegenere Ortschaften tangieren können, kommen für die An- bzw. Abreise in erster Linie nur eigene Mittel (Kfz, Fahrrad, etc.) oder Fahrgemeinschaften infrage, die allerdings zeitlich und kostentechnisch entsprechend organisiert werden müssen.

In diesem Sinne sind Aktivisten in einer derartigen Umgebung mit der erheblichen Schwierigkeit konfrontiert, sich angemessen organisieren und die gemeinsame Kraft für Aktionen bündeln zu können. Die vielfältigen Möglichkeiten moderner Telekommunikation sind zwar präsent und nützlich, aber für eine dauerhafte Kooperation, die die unmittelbare Umgebung aller Mitglieder einer politischen Gruppe betrifft, ist und bleibt der direkte, menschliche Kontakt unabdingbar!

 

Fehlendes Publikum: Selbstredend sieht man sich in Siedlungen von wenigen hundert Einwohnern keiner breiten Gesellschaft gegenüber, die man mit spektakulären oder groß angelegten Polit-Aktionen (Kunst, Demos, Workshop-Wochen, Konzerte, etc.) effektiv ansprechen oder gar mobilisieren könnte. Dabei ist es natürlich möglich Workshops, Vorträge, Kulturabende, usw. zu brisanten Themen aufzustellen, die direkt mit der alltäglichen Erfahrungswelt der Landbewohner korrelieren, allerdings sieht das bei Themenkreisen grundsätzlich anders aus, die sich in überregionalen oder globalen Kontexten bewegen.

Beispielsweise könnte ich die Menschen mit einer Veranstaltung zu den ökologischen Folgen der Biogasproduktion im lokalen Ökosystem ansprechen, während die gleiche Präsentation zum Thema von Kinderarbeit in Indien das öffentliche Interesse kaum streifen dürfte.

Die politische Botschaft kann also zum einen, aus rein quantitativen Gründen, deutlich weniger Menschen als in der Stadt erreichen und selbst bei medialem Interesse schnell in den Lokalnachrichten versacken. Zum anderen sind die Menschen auf dem Land deutlich weniger politisiert, weil sich die größten sozialen Brennpunkte und Unterschiede heutzutage, derart nur im urbanen Raum manifestieren.

Die natürlichen Voraussetzungen für eine sensibilisierte Gegengesellschaft und eine emanzipierte Protestkultur sind in der „Region“ also kaum auszumachen und wenn, dann nur sehr schwer zu bündeln.

 

Fehlende Anonymität: Vor allem wenn man in eine Dorfgemeinschaft hineingeboren wird, ist die soziale Bindung zu den Nachbarn, im Regelfall, sehr eng, was bedeutet das man sich vertraut ist, sich (bestenfalls) im Sinne eines nachbarschaftlichen Verantwortungsgefühls unterstützt und gemeinsam Aktivitäten, Vereine oder Feste organisiert.

Allerdings läuft dieses soziale Gefüge nicht selten Gefahr, durch Missverständnisse, Zwistigkeiten, Tratsch und Cliquen-Bildung in die Brüche zu gehen, weshalb die Dorfgemeinschaft als sozialer Raum viel empfindlicher und enger an die eigene Existenz gekoppelt ist, als dass etwa bei Städten der Fall ist.

Speziell im Sinne der Widerständler und Querköpfe wird hier ersichtlich, dass ebenjene sich also nicht ohne Weiteres im Sortiment provokativer bzw. offensiver Aktionsformen bedienen können (die im urbanen Raum evtl. geläufiger sind), ohne tiefgreifende Konflikte, verhärtete Fronten und somit die eigene Isolation zu provozieren.

Käme es nämlich soweit, wären nicht nur der Verlust der (mikro-)gesellschaftlichen Stellung in der Dorfgemeinschaft und die dadurch entscheidend verschlechterte Lebensqualität fatal, sondern auch der breite Wegfall potenziell empfänglicher Köpfe und Einflussmöglichkeiten. Die entsprechenden Akteure würden sich selbst als Nachbarn und als Aktivisten schlichtweg ins „Aus“ katapultieren.

 

Mangelnde politische Bildung // Konservativkleinbürgerliche Einstellung: Was im vorhergehenden Punkt bereits angedeutet wurde, ist der anspruchsvolle Balanceakt zwischen der Vertretung eigener Ideale und dem Tolerieren konservativer oder gar menschenverachtender Ansichten. Ebendieser kann eine große Belastung darstellen, der nicht alle Gemüter gewachsen sind und die die Kraft produktiver Wut und energetischer Empörung leicht zerstreut oder in Resignation umwandelt.

Die wichtigste Frage lautet hier, wie man sich angemessen mit dem klassischen Dorf-Nazi, lokalen CDU-Kadern oder ähnlichen Meinungsträgern befassen muss, denen man auf dem Land schließlich fast tagtäglich über den Weg läuft, ohne seine politischen Ideale und Ansprüche zu verraten, aber gleichzeitig ein halbwegs gesundes Miteinander zu gewährleisten?

Um an dieser Stelle einem zu pessimistischen Bild von durchschnittlichen Dorfgemeinschaften vorzubeugen, muss fairerweise gesagt werden, dass der gemäßigte und sogar recht liberal denkende Teil der lokalen Bevölkerung sehr wohl überwiegen kann! Leider herrscht aber auch unter solchen Mitbürgern eine allgemeine Verwirrung und Unklarheit, insbesondere bezüglich politischer Begrifflichkeiten und Strömungen, was unseren Archetypen in ihren Bestrebungen behindern und sogar gefährlich werden kann.

Ohne auf das Paradebeispiel des Begriffes „Anarchismus“ näher eingehen zu wollen, sind es generell negativ konstruierte Bilder, die in der Öffentlichkeit mit der Bezeichnung zahlreicher emanzipatorischer Ansätze und Aktionsformen verbunden sind. Viele Termini können beim gemeinen Publikum Befremden, Angst oder gar offene Ablehnung hervorrufen, weil sie entweder in einen durchweg falschen Kontext gesetzt werden oder ihre Vielschichtigkeit unterschätzt wird. Einige Beispiele hierfür wären Begrifflichkeiten wie:

„Freie Liebe“ und „Kommune“, die gerne mit zügellosem und hedonistischem Sexualleben bzw. einer „Jeder-mit-Jedem“-Mentalität erklärt werden, häufig in Erinnerung an die zweite und skandalumwitterte Phase der Westberliner Kommune I.

„Sozialismus“, „Kollektivismus“ oder „Revolution“, an denen für viele immer noch der bittere Beigeschmack der letzten Jahrhunderthälfte klebt, die vor allem im ehemaligen Ostblock für eine Epoche repressivster Staatsgewalt und politischer Indoktrination steht.

„Antifa“, „Autonome“ und „Hausbesetzer“, also Bezeichnungen für Personengruppen im linken Spektrum, die in der Öffentlichkeit mit diversen Beschuldigungen konfrontiert sind, zumeist aber auf randalierende Steinewerfer, asoziale Unruhestifter oder linksextremistische Gewalttäter heruntergebrochen werden.

Doch auch so gestaltet sich der Umgang mit gängigeren, undifferenzierten Vorurteilen in der Dorfgemeinschaft schwierig, die sich häufig in passiver Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder Homophobie äußern, vor allem, wenn engste Beziehungen von derart drastischen Meinungsverschiedenheiten betroffen sind (Freundschaften, eigener Familienkreis, etc.).

Wie haben schwarz-rot oder schwarz-grün gestreifte Aktivisten also vorzugehen, wenn sie sich nicht in ihren Elfenbeinturm einschließen oder in die Stadt umziehen wollen?

GRUNDLEGEND GILT, dass im post-bäuerlichen Mikrokosmos „Dorf“ der Fokus politischer Arbeit auf den klassischen Denk- und „Stammtisch“-Strukturen liegen sollte, die den Weg zu einer lokal getragenen, solidarischen Protestkultur versperren. Derartige Gebilde müssen stückchenweise aufgebrochen werden, um der dortigen (inter-)kulturell, wie politisch meist isolierten Gesellschaft emanzipatorische Möglichkeiten aufzuzeigen.

Bis auf die Randgebiete der Metropolen sind besonders „oppositionell“ gesinnte Bevölkerungsschichten nämlich in dünn besiedelten, ländlichen Gegenden kaum auffindbar (oder beschränken sich auf nahegelegene Industrie- und Kulturzentren). Damit meine ich ebenjene Personen- und Interessengruppen, auf denen normalerweise großangelegte Aktionen (Demons-trationen, Streiks, Blockaden, Straßenfeste, etc.) fußen könnten. Regionale Aktivisten sind in diesem Fall also von überregionalen Solidaritätskampagnen und Unterstützern abhängig, die, nicht selten, kostspielige und zeitraubende Wegstrecken auf sich nehmen müssen, um sich angemessen am Widerstand beteiligen zu können. Erfolgreiche Beispiele hierfür sind natürlich vorhanden, wie bspw. Blockaden von Kohlebaggern und Castor-Transporten, Demos gegen unterirdische CO2-Einspeicherungen, Streikaktionen von Landwirten oder „Sit-In`s“ gegen Waldrodungen.

Dennoch tragen, wie gesagt, nur in den seltensten Fällen die Dorfgemeinschaften selbst derartige Aktionsformen mit, die ohne lokale Einzelkämpferinnen schlichtweg nicht in die Wege zu leiten wären. Ob Politikverdrossenheit, altersbedingte Resignation oder der Mangel an betroffener Jugend hier entscheidend ist, bleibt sicherlich von Fall zu Fall verschieden gewichtet, allerdings ist es an dieser Stelle auch wichtiger zu fragen, wie sich ebenjene Einzelkämpfer oder verschworene Cliquen einen Zugang zur, weitläufig apathisch gestimmten, Bevölkerung des ländlichen Raumes verschaffen können.

Wie kann so eine geistige Minderheit also mit ihren eigenen, „beschränkten“ Mitteln in einem Raum wirken, der von großen Teilen des links-alternativen Spektrums nicht beachtet wird, da schließlich ein nahezu einhelliger Konsens (unter engagierten Köpfen in der Stadt und besonders auf dem Land) darüber besteht, dass der politische/soziale Kampf nur in den bedeutenden Protestzentren, also den Metropolen entschieden werden kann?

Das soziale Dilemma, in dem sich unsere Archetypen befinden, ist ein schwerwiegendes und gern übersehenes Problem, das nur mit besonders behutsamen Strategien angegangen werden kann. Denn um sich am berüchtigten „Stammtisch“ behaupten zu können, als Widerständler und als Teil der Dorfgemeinschaft, ist es entscheidend, sich vermehrt auf Kompromisse einzulassen und ein größeres Verantwortungsgefühl zu entwickeln: Einerseits für die eigene moralische Position und Andererseits für die Notwendigkeit friedlicher Koexistenz.

Im Fazit ist es für die erfolgreiche Einflussnahme von Aktivisten im Hinterland also unabdingbar, sich geduldig dem verschränkten, konservativen oder gar rechten Gedankengut bzw. deren Trägern zu widmen, um sich im Dissens auszutauschen und festgefahrene Vorurteile (linke Steinewerfer vs. harmlose Polizei, etc.) mindestens zu lockern und irgendwann vielleicht sogar überwinden zu können. Erst dann würde überhaupt die Aussicht auf einen breiten, solidarischen Schulterschluss für lokale Initiativen bestehen und sich ein entscheidendes Fundament formieren können!

 

Abschließend zu der Thematik „Dorfaktivismus“, ist es angebracht zu erwähnen, dass die „Verstädterung“ der ländlichen Lebenswelten (seit ca. Ende des Zweiten Weltkriegs) die soziale Interdependenz in den Dörfern enorm verdünnt hat, autonome Grundstrukturen deshalb immer mehr verschwunden sind und die Menschen zusehends voneinander entfremdet werden. Der (klein-)städtische Raum ist heute (im globalen Norden) für die Menschen Arbeits-, Lebens- und Entwicklungssphäre geworden, weshalb wir auf dem Land schlichtweg nicht mehr das Potenzial ausmachen können, dass solche Bewegungen, wie z.B. die ukrainische Machnowtschina oder die mexikanische EZLN möglich gemacht hat.

Natürlich steht diese Bemerkung im Widerspruch zu den Punkten, die ich vorhergehend angeführt habe und die auf ein ungebrochen enges Verhältnis der Dörfler untereinander verweisen. Tatsächlich ist diese paradoxe Situation aber Programm, denn wo einerseits die älteren Generationen und auch einige jüngere Heimatfreunde zusammentreffen, um zumindest ein halbwegs intaktes Kulturleben auf ihrem Dorf aufrechtzuerhalten, finden sich oftmals auch genug Anteilslose oder Eremiten, die sich mit ihrem eigenen Traum vom Landleben zufriedengeben und sich freiwillig isolieren.

Bis auf einige ungebrochene Freizeitbauern ist dabei allerdings allen gemein, dass sie längst nicht mehr „mit“ dem Land, sondern nur mehr „auf“ dem Land leben. Hier liegt auch die Erklärung der sozialen Interdependenz, die schlichtweg nicht mehr gegeben ist: Mobilität und Wohlstand erlauben praktisch jedem Menschen in Zentraleuropa, sein Leben nach der nächstgelegenen Stadt zu richten, ohne von dem abhängig zu sein, was er im Garten anbaut oder was gerade in der Dorfkneipe, beim Fleischer, Bäcker, Schmied, etc. angeboten wird.

Die Zweck- und Lebensgemeinschaft „Dorf“, so wie sie den Menschen seit Jahrtausenden bekannt war, ist, zumindest in Europa, fast vollständig der Massen- und Konsumgesellschaft gewichen, die sich heute in den Städten entfaltet.

Und obwohl der Landmensch also seine alte Unabhängigkeit verloren hat, gibt es in seinem sozialen Umfeld dennoch genügend gesundes Misstrauen und eine „Do-it-Yourself“-Mentalität, die durchaus guten Nährboden für die Entwicklung neuer autonomer und alternativer Strukturen bilden könnten. Vielleicht ist es demnach nicht illusorisch zu erwarten, dass der soziale Kampf eines Tages auch wieder in den Dorfgemeinschaften Ausdruck finden wird, ungeachtet aller Hürden und Gegenbewegungen.

Natürlich ist das bis hierher nur meine persönliche Thesenkonstruktion bzw. Herangehensweise und das Bild der Zusammenhänge mag sehr subjektiv ausfallen, aber fest steht, dass ein gesellschaftlicher Wandel nicht zustande kommen wird, wenn (in der Stadt und auf dem Land) nur ausgewählte Kreise Gleichgesinnter an der großen Emanzipation arbeiten.

Diese Kreise sind grundsätzlich zu klein und in einer zu geschlossenen Position organisiert, um den sozialen Kampf dauerhaft organisieren und tragen zu können, weshalb sie sich zwangsläufig für die breite Bevölkerung öffnen müssen, auch wenn diese sich mehrheitlich nicht mit links-alternativem Gedankengut identifizieren kann.

Dabei ist es natürlich leichter gesagt als getan, den „einfachen Menschen“ auf der Straße oder hinter dem Hoftor zu erreichen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Sturköpfe nicht zwangsläufig offensive Reaktionäre sein müssen. Alle Menschen bleiben grundsätzlich lernfähig, selbst wenn sie einer vermeintlichen Alternativlosigkeit, destruktiven Weltanschauungen und mangelnder politischer Bildung unterliegen.

Projektorientierter Aktivismus in Form von Landkommunen, alternativen Landwirtschaftszentren (Permakultur), kreativen Protestgruppen oder freien Bildungsprojekten könnte hierbei entscheidend sein, um in der lokalen Öffentlichkeit eine größere politische Empfänglichkeit und Bewusstwerdung zu entfachen.

Meiner Meinung nach brauchen wir deshalb eine neue, unverbrauchte und antiautoritäre Avantgarde, aktive Kleingruppen also, die nicht einfach in ihrer Subkultur verharren, sondern die dörflichen und regionalen Mikrogesellschaften, aktiv und gleichzeitig mit aller Behutsamkeit, komplementieren und mitformen.

balu

Interview mit Bon Courage

Beispiel und Vorbild für linken Aktivismus im Landkreis Leipzig

Bon Courage e.V. ist ein Bornaer Verein, der in Form von politischer Öffentlichkeits-, Aufklärungs- und Bildungsarbeit in die Gesellschaft hineinwirken möchte, um diese für ein solidarisches, von gegenseitigem Respekt geprägtem Miteinander zu sensibilisieren. Der Schwerpunkt vieler Projekte liegt zum einen auf der Unterstützung und Beratung von Asylsuchenden und zum anderen auf der Durchführung gedenkstättenpädagogischer Bildungsangebote.“

— Vorstellung aus Vereins-Homepage (www.boncourage.de, 16.05.16)

 

FA!: Wie würdest du eure Anfangszeit beschreiben?

Angefangen hat unser Projekt ungefähr 2006 in Borna. Damals waren die Leute, die an der Gründung des Vereins beteiligt waren, zwischen 16 und 18 Jahren alt. Wir hatten damals jedes Wochenende Probleme mit Nazis, weshalb wir uns glücklich schätzen konnten, Beistand von Leuten wie Frau Simone Luedtke (Die Linke) zu bekommen, die momentan in Borna als Oberbürgermeisterin amtiert. Persönlichkeiten wie sie haben uns entscheidend bei der Formierung und Gründung unseres Vereins unterstützt, der dann schließlich am 06. Januar 2007 ins Vereinsregister aufgenommen werden konnte.

 

FA!: Kann man euch einer besonderen politischen Bewegung zuordnen?

Als sich unser gemeinnütziger Zusammenschluss damals aus einem großen Freundeskreis und verschiedenen Einzelpersonen bildete, sahen wir uns als keine homogen gepolte politische Gruppe. In den grundlegenden Fragen stimmten wir natürlich überein, aber tatsächlich war es in erster Linie unsere gemeinsame Bestrebung, die Bevölkerung hinsichtlich der Neo-Nazi-Szene in Borna und der näheren Umgebung zu sensibilisieren. Dass der damalige Oberbürgermeister selbstbewusst verlauten ließ, dass es keine Nazis in Borna gäbe, hat uns da natürlich noch zusätzlich empört, aber selbstverständlich auch motiviert.

Natürlich hat sich dieses vielfältige Gefüge in unserem Verein nicht großartig verändert und wir führen manchmal immer noch sehr interessante Debatten über den Umgang mit brisanten gesellschaftlichen Themen, politischen Fragen, etc.

Nichtsdestotrotz würden wir uns generell als „linksgerichteter“ Verein beschreiben, der seinen Schwerpunkt auch in diesem Sinne bestimmt, also in Richtung von Themen wie Globalisierungs-, Gesellschafts- und Kapitalismuskritik oder eben auch Antirassismus und Öffentlichkeitsarbeit.

 

FA!: Was für Projekte und Aktionen konntet ihr in dieser Richtung denn schon verwirklichen?

Wir haben uns durchweg, aber vor allem in unserer Anfangszeit auf Bildungsprojekte konzentriert, um den Menschen der Bornaer Gegend ein detaillierteres Bild von der Nazi-Zeit und den Gefahren des Neofaschismus zu eröffnen. Besonders die Gedenkstättenfahrten zu ehemaligen KZs in Polen spielen dabei eine große Rolle, die wir seit 2008 regelmäßig organisieren. Außerdem haben wir noch zahlreiche andere Aktivitäten wie Filmvorführungen, Aktionstage, Schulungen oder auch Workshops in die Wege geleitet.

Allerdings mussten wir unglücklicherweise über die Jahre hinweg feststellen, dass es wirklich sehr schwierig ist, in einer Kleinstadt wie Borna gewisse Bildungsveranstaltungen durchzuführen, auch wenn manchmal Leute kommen und sich offen interessieren. Das ist uns insbesondere bei einer Workshop-Reihe aufgefallen, die wir von 2008 bis 2011 über mehrere Monate hinweg angeboten haben. Dort lag das Interesse nämlich buchstäblich bei null Prozent. Auch die geplante Etablierung eines öffentlichen Raumes oder Zentrums, in dem sich Jugendliche treffen und austauschen können, ist in den ersten Jahren nach unserer Vereinsgründung ein wichtiges Thema gewesen, bislang aber einfach an einigen praktischen Hürden gescheitert (Raum, Mithelfer, usw.).

Wir mussten also lernen, dass der Öffentlichkeit und den Regionalpolitikern oft genug mehr daran gelegen ist, ihre eigene, kleine Lebenswelt aufrechtzuerhalten, anstatt sich mit Kulturangeboten zu befassen oder diese gar zu fördern. Was das Thema „Sport“ betrifft, sieht die Situation schon wieder ganz anders aus, weshalb wir uns beispielsweise schon mit einigen „Refugees-Welcome-Turnieren“ in Borna eingebracht haben.

 

FA!: Also ist auch die Zusammenarbeit mit Geflüchteten ein wichtiges Thema für euch?

Ja, das auf jeden Fall, und ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass seit 2009 die Asyl-Frage mittlerweile sogar zu unserem Hauptthema geworden ist. Im Landkreis Leipzig waren wir sogar einer der ersten Vereine, die sich offen mit der aktuellen Problematik von Flucht und Vertreibung beschäftigt haben, auch wenn das öffentliche Interesse anfangs generell gering ausfiel. Trotzdem konnten wir uns schon bald entsprechender Solidaritätsbekundungen sicher sein, wie beispielsweise von lokalen Kirchenvertretern, was für uns auch einen gewissen Erfolg darstellt. So oder so ist und bleibt das aber nur die eine Seite der Medaille…

 

FA!: Es gibt also auch entsprechende Schwierigkeiten mit einigen Personen oder Interessengruppen?

Natürlich gibt es die. Mittlerweile werden wir von einem großen Teil der lokalen Gesellschaft akzeptiert. Manche loben uns ab und zu hinsichtlich unserer „guten Arbeit“, während andere unsere Aktivitäten natürlich dementsprechend kritisieren.

Das Feedback fällt also im Regelfall sehr unterschiedlich aus, und doch scheinen wir insbesondere einigen hiesigen CDU-Vertretern ein Dorn im Auge zu sein. Bis heute wurde gegen uns meinungstechnisch wirklich extrem in der Öffentlichkeit rumgeschossen. Uns wurden bei der Organisation von Programmen andauernd Steine in den Weg gelegt und wir mussten uns auch zur Genüge mit dem Vorwurf auseinandersetzen, eine linksextremistische Gruppierung zu sein. Zugegebenermaßen kann man auch durchweg andere böse Zungen hören, die einen hinterrücks oder auf offener Straße als „Bombenleger“ bezeichnen, aber die massivsten Gegendarstellungen werden scheinbar ständig von einigen Mitgliedern der CDU in die Welt gesetzt.

Besonders ein Workshop den wir damals mit der Roten Hilfe organisierten und einer mit dem Titel „Richtiges Verhalten auf der Demo“ haben für reichlich Aufregung gesorgt. Obwohl diese Meinungsmache gegen uns besonders in den ersten Jahren extrem war, ist dieser „Linksextremismus“-Stempel eine Sache die uns manchmal nahegeht, weil Vorwürfe dieser Art einfach völlig unbegründet sind.

Wirklich schwerwiegend geschadet hat uns das zwar noch nicht, aber potenzielle Kooperationspartner_innen können durch so ein aufgesetztes Image einfach ein falsches Bild bekommen. Ich glaube, dass wir mittlerweile dennoch ganz gut mit unserer Arbeit und den angegangenen Projekten überzeugen konnten, aber dieses Schubfach-Denken nach Links- und Rechtsextremismus kritisieren wir generell.


FA!: Besteht denn Aussicht darauf, dass der Konflikt in Zukunft beigelegt wird?

Ich glaube schon, dass das rein theoretisch gehen würde, aber vor allem hinsichtlich der lokalen CDUler bezweifle ich stark die Stabilität so einer Verständigung, obwohl es sogar in den Reihen dieser Partei einige Leute gibt, die sich hinter uns stellen und für deren Unterstützung wir auch dankbar sind.

Praktisch kann ich mir das allerdings nicht bzw. überhaupt nicht vorstellen, weil es eben wirklich einige Personen gibt, die wiederum sehr schrecklich sind. Dass sich gewisse Parteivertreter vor einiger Zeit sogar dazu herabgelassen haben, die Wohnorte von Bon Courage-Mitgliedern im Internet zu veröffentlichen, ist uns immer noch unverständlich. Wir haben Gesprächsangebote gemacht, aber es wurde leider nicht weiter darauf eingegangen. Obwohl man soviel gemeinsam rocken könnte, wenn man sich nur mal zusammenreißen würde, werden wir immer noch ignoriert oder auf einem Niveau angegriffen, das meistens weit unter der Gürtellinie liegt.

 

FA!: Wie würdest du die weitere Lage des politischen Aktivismus in der Provinz um Borna einschätzen?

Obwohl wir uns mittlerweile verstärkt landkreisbezogen engagieren wollen, konzentrieren sich unsere Aktionen und Projekte immer noch in erster Linie auf die Kreisstadt Borna. Deswegen kann ich keine besonders detaillierten Angaben zur Situation von Aktivisten in den kleinsten Einheiten machen, obwohl ich schon durchaus einige interessante und positive Unterschiede in kleineren Gemeinden beobachten konnte.

Beispielsweise kommen in der Kleinstadt Zwenkau eher Standard-Projekte, Unterstützerkreise, usw. zusammen, was eben sicher auch mit dem vertrauteren Verhältnis zusammenhängt, das dort und in überschaubareren Ortschaften existiert. Natürlich ist die Bevölkerungsdichte in Borna auch nicht so erheblich, aber es herrscht trotzdem ein relativ hoher Grad an Anonymität, selbst wenn man regelmäßig die gleichen Gesichter auf der Straße sieht.

 

FA!: Wie sieht die Zukunft von Bon Courage deiner Meinung nach aus?

Das ist schwer zu sagen. Ein brisanter Punkt ist die Tatsache, dass fast niemand der originalen Vereinsmitglieder in Borna geblieben ist. Wir sind zwar fast alle in Borna zur Schule gegangen und dort auch aufgewachsen, aber der überwiegende Teil von uns ist längst weggezogen (viele nach Leipzig) und mittlerweile berufstätig. Das schlägt sich natürlich auch in unserer aktuellen Mitgliederzahl nieder, die zu Anfangszeiten um die 60 betrug, mittlerweile aber bei ca. 40 Personen liegt.

Der Anteil, der nicht unterstützend, sondern aktiv den weiteren Werdegang von Bon Courage gestaltet, lässt sich wiederum auf 10 Personen herunterbrechen, die aber alle eben nicht in Borna wohnen.

Selbstverständlich bringt diese relativ geringe Größe des harten Kerns auch einige Vorteile mit sich, aber wir suchen trotzdem durchweg nach Interessenten und Ehrenamtlichen, die uns bei kommenden Aktionen, aber auch direkt in Borna helfend zur Hand gehen würden.

Solidarische Grüße an alle Mitglieder von Bon Courage e.V.!

balu

Anmerkung: Insbesondere nach dem Anschlag auf das neue Vereins-Büro, der in der Nacht vom 03. zum 04. Mai 2016 stattfand, ist Bon Courage e.V. über jede weitere Form finanzieller oder beratender Unterstützung dankbar. Die Täter, die dem Verein unbekannt sind, haben die Fensterscheiben der Räumlichkeiten mit Steinen zerschlagen und mithilfe von Stinkbomben (aus Buttersäure) versucht, die Zimmer unbenutzbar zu machen.

Für weitere Informationen, besucht bitte ihre Homepage: www.boncourage.de

 

Ein Redebeitrag der ASJ Leipzig

Der folgende Redebeitrag der anarchosyndikalistischen Jugend Leipzig wurde anlässlich der revolutionären 1.-Mai-Demo 2016 verfasst, konnte jedoch leider nicht verlesen werden.

Auch wir als syndikalistische Linke sind der Meinung, dass der Kampf gegen rassistische Verhältnisse mit dem Kampf gegen kapitalistische Verhältnisse zusammen gehört und auch zusammen gedacht werden muss. Denn der Rechtsruck in der sogenannten bürgerlichen Mitte und die Radikalisierung der Rechten sind für uns Ausdruck eines sich zuspitzenden Verteilungskampfes. Der Sprech von den angeblich erreichten Obergrenzen für Geflüchtete, der Überlastung und Überforderung macht dies unter anderem deutlich.

Für die Rechte oder die besorgten Bürger*innen spielt sich der Kampf um das bessere Leben zwischen ihnen selbst und den Neuankommenden ab. Wir sehen es als Aufgabe, daraus einen Kampf gegen Ausbeutung zu machen.

Dafür jedoch, so scheint es, muss erst einmal die eigene Position reflektiert werden. Wir sind Antifaschist*Innen und wir sind lohnabhängig. Ersteres ist selbstverständlich und äußert sich in einer bestimmten Politik, einer bestimmten Sprache bis zum Dress Code. Die eigene Position im kapitalistischen Produktionssystem hingegen wird nicht selten als nebensächlich abgetan. Dabei ist die Frage nach einer Gesellschaft frei von Unterdrückung und Ausbeutung unmittelbar damit verknüpft, wie stark sich im Betrieb gegen eben diese gewehrt wird.

Die Fragen an uns selbst lauten also: Inwiefern wird linke Politik in den eigenen Betrieb getragen? Inwiefern weiß ich über meine eigenen Rechte Bescheid, aber vor allem über die Möglichkeiten, solidarische Strukturen auf der Arbeit aufzubauen und die eigene Position zu stärken? Und daran anknüpfend: Wie kann es gelingen eine umfassende Solidarität aufzubauen? Bspw. bei Repression im Job entgegen zu wirken?

Für diese Zwecke haben sich Initiativen, Basisgewerkschaften und Gruppen gegründet, die sich dieser Themen annehmen. Die Unterstützung ist rar, die Mitglieder zu wenige. Arbeitskampf und Gewerkschaft gilt bei vielen nicht als wahnsinnig schick, auch in der radikalen Linken und das trotz aller Class-struggle-Rhetorik.

Dabei braucht der Kampf gegen Faschismus und Rassismus nicht nur eine antiparlamentarische und politisch autonome Basis, sondern auch eine Basis in den Betrieben. Erstens, um auch bisher unpolitische Menschen in unsere Kämpfe einzubinden. Zweitens, um auch hier Ausgrenzungsformen direkt zu begegnen und Menschen vor ihnen zu schützen. Drittens bringt eine Organisierung im Betrieb nochmal ganz andere Möglichkeiten politischer Wirksamkeit zu Stande: So können wirtschaftliche Abläufe gestört werden.

Darüber hinaus: Die Forderung nach einem Wohnraum für alle, nach ausreichender Gesundheitsversorgung, nach humanitären Arbeits- und Lebensbedingungen sind Forderungen wie sie von einer antikapitalistischen und ebenso antirassistischen Linken und darum von beiden gemeinsam gestellt werden müssen. Es müssen gemeinsam Alternativen formuliert und Kämpfe geführt werden. Dass sich die autonome Linke für gewerkschaftliche Themen und eine syndikalistische Politik öffnet, ist dabei ein wichtiger Schritt.

Wir glauben darum: Es ist ohne Zweifel wichtig, emanzipatorische Parallelstrukturen aufzubauen, um dort den Karren aus dem Dreck zu ziehen, wo der sogenannte Sozialstaat versagt hat. Doch genauso wichtig ist es auch politische Ansätze mit auf die Arbeit zu nehmen. Selbstorganisierung, Allianzen und Selbstermächtigung sind Schlagwörter, die im Betrieb genauso Anwendung zu finden haben wie in den Social Centers.

Deshalb: Solidarisiert Euch in sozialen Kämpfen, werdet Mitglied in gewerkschaftlichen Gruppen, kennt Eure Rechte, tut Euch mit euren Kolleg*Innen zusammen und tragt linke Politik in die Bereiche, in denen sie am meisten weh tut!

ASJ Leipzig

Klassenkampf, Organizing und das Verbinden der Kämpfe

Interview mit der Ortsgruppe Leipzig der Industrial Workers of the World

FA!: Aus welchen politischen Zusammenhängen und Berufsgruppen kamen die zu anfangs Beteiligten? Woher kam die Bewegung, eine IWW-Gruppe Leipzig/Halle zu gründen?

Die Leipziger Gruppe ist relativ studentisch bzw. akademisch geprägt. Viele von uns sind noch an der Uni als Studierende oder wieder an der Uni als Promovierende oder Dozierende. Wir haben aber auch Mitglieder, die gerade eine Ausbildung machen (im sozialen Bereich) oder bereits lohnarbeiten (bspw. im Callcenter oder als NachhilfelehrerIn).

Die Idee, eine Gruppe zu gründen, entstand, als wir genügend Wobblies (so werden die IWW-Mitglieder auch genannt) dafür zusammen hatten. 2014 waren wir noch zu zweit, nach einiger Zeit jedoch kamen ein paar Leute dazu. Als wir schließlich zu fünft waren, im Januar 2015, dachten wir uns, dass es nun Zeit ist, eine neue lokale Struktur aufzubauen.

FA!: Was sind eure Ziele für die nächste Zeit und die absehbare Zukunft in Leipzig und Halle? Gibt es einen bestimmten Bereich, in dem organisiert werden wird?

Unser primäres Ziel ist es natürlich zu organizen! Dafür haben wir uns die IWW als unsere Gewerkschaft ausgesucht. Wir wollen nicht von außen oder stellvertretend Arbeitskämpfe führen, wir wollen dort, wo wir arbeiten auch gewerkschaftlich tätig werden. Es gibt einige erste Ideen sich im Hochschulbereich zu organisieren – die Inspiration kommt dafür unter anderem aus Frankfurt am Main, wo sich eine basisdemokratische Gewerkschaftsinitiative („unter_bau“ heißt sie) für diesen Bereich gegründet hat.

FA!: Für diejenigen, die sich bisher noch nicht mit der Frage der Organisierung an der Arbeitsstelle beschäftigt haben – an wen richtet ihr euch und was sind eure konkreten Handlungsangebote und Möglichkeiten der Ermächtigung?

Als eine basisdemokratische Gewerkschaft gehen wir davon aus, dass es zum Organizen am Arbeitsplatz nicht wahnsinnig viel braucht, sondern jeder und jede dazu in der Lage ist. Natürlich braucht es Tipps und die richtigen Werkzeuge, die Unterstützung und Beratung aus den Ortsgruppen.

Genau das stellen wir bereit.

Innerhalb der IWW gibt es die sogenannten Organizing Trainings. Dort vermitteln wir unseren Mitgliedern wie sie an ihrem Arbeitsplatz erste Betriebsgruppen aufbauen können. Darüber hinaus wird der Prozess von der Gruppe vor Ort begleitet. Für die überregionale Vernetzung (bspw. mit Fellow Workers, die in der selben Branchen organisieren) gibt es das sogenannte OrganizingKommitee.

Für uns ist der Erfahrungsaustausch, da wir selbst aktiv werden wollen (und müssen), das A und O. Aus diesem Grund schauen wir auch immer, was die Wobblies in Nordamerika oder Großbritannien gerade machen und wie sich ihre Kämpfe entwickeln.


FA!: Was ist, wenn ich arbeitslos bin, vielleicht auch aus einer irgendgearteten politischen Überzeugung? Welche sozialen Milieus finden sich in der IWW wieder?

Ob arbeitslos, Studi, prekär beschäftigt, VollzeitarbeiterIn oder SeniorIn. Nach unserer Auffassung sind wir alle Teil der lohnabhängigen Klasse und haben dementsprechend unter dem Lohnsystem mit seiner Ausbeutung und Unterdrückung zu leiden. Und genau darum brauchen alle Lohnabhängigen auch eine Gewerkschaft bzw. brauchen wir sie in der IWW. Und tatsächlich kommen unsere Mitglieder aus ganz unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen, unterschiedlichen Branchen und sozialen Milieus. Da kann schon mal eine Soziologie-Studentin neben dem Hüttenarbeiter, dem Rentner oder der Sozialarbeiterin auf einem Treffen sitzen. Das ist auch der Gedanke hinter unserem Namen: Industrial Workers of the World bedeutet gewissermaßen „eine Gewerkschaft für die Arbeiter und ArbeiterInnen aller Industrien, weltweit“ (wobei Industrien als Berufszweige oder Branchen verstanden werden können).

Dem internationalen Anspruch werden wir auch ganz gut gerecht. Wir haben im deutschsprachigen Raum einige Wobblies, die nach Deutschland oder Österreich emigriert sind und sich bereits vorher oder vor Ort der IWW angeschlossen haben.

Ähnlich divers sieht es auch mit den politischen Überzeugungen aus. Die Leute kommen aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Bedingung ist allerdings, dass sich unsere Mitglieder und die Ortsgruppen zur IWW-Präambel bekennen, also bspw. ebenfalls den Kapitalismus überwinden wollen. Und natürlich gibt es auch für Diskriminierungsformen bei uns keinen Platz. Darüber hinaus jedoch sind die Leute unterschiedlich aufgestellt, was manchmal durchaus zu Konflikten führen kann.
FA!: Was haltet ihr von einer Strategie, wie sie die Solidarity Networks bspw. in den USA, aber auch in Griechenland oder Spanien verfolgen – diese scheint ja eher von einer Art auf alle Bereiche der Gesellschaft ausgedehnten Kampffelds auszugehen?

Wir wollen uns durchaus nicht beschränken auf das Thema Lohnarbeit, weil wir wissen, dass alle gesellschaftlichen Bereiche (wie eben bspw. Wohnen) vom Kapitalismus bestimmt und untereinander eng verknüpft sind. Darum begrüßen wir es, wenn sich die Idee der Selbstorganisierung auch auf andere Kämpfe überträgt oder sogar Kämpfe miteinander verbunden werden.

 

FA!: Was bedeutet es für euch, in der BRD des Jahres 2016 eine revolutionäre Strategie zu verfolgen, auch gerade mit Blick auf die transnationale Ausrichtung der IWW?

Wir merken natürlich, dass wir es als klassenkämpferische Gewerkschaft noch nicht leicht haben. Aber wir merken auch, dass sich Arbeiter und ArbeiterInnen von den etablierten großen Gewerkschaften ungenügend repräsentiert fühlen. Und durch die Erfahrungen der Wobblies in anderen Ländern, wissen wir, dass sich relativ schnell sehr viel entwickeln kann. Plötzlich bspw. werden im Niedriglohnsektor erfolgreich Kampagnen geführt – ein Bereich der bisher bei vielen reformistischen GewerkschafterInnen als unorganisierbar galt! Und es werden Kämpfe selbst organisiert, ohne FunktionärInnen, mit direkten Aktionen geführt. Das zeigt uns, dass klassenkämpferische Gewerkschaftspolitik heute nicht nur notwendig, sondern natürlich auch möglich ist.

Die transnationale Ausrichtung ist hierbei natürlich wichtig. Eine revolutionäre Perspektive kann nur eine globale sein. Langfristig müssen die LohnarbeiterInnen aller Länder ihre Kämpfe gemeinsam bestreiten.

 

FA!: Welche Erfolge konnte denn die IWW in den letzten Jahren verzeichnen?

In der IWW wurden in den letzten Jahren erfolgreich Arbeitskämpfe und Kampagnen geführt. In den USA bspw. gibt es rund 800 Gefangene, die Wobblies sind und in den Knästen durch die IWW unterstützt werden. Sie hat auch an Erfahrungen, an Internationalität und Mitgliedern gewonnen. In Großbritannien sind es innerhalb weniger Jahre über 1000 IWW-Mitglieder geworden und auch im deutschsprachigen Raum machen wir einige Fortschritte hinsichtlich unserer Betriebsarbeit und Zuwachses. Es gibt inzwischen 10 offizielle Ortsgruppen, es gibt unterschiedlich große Betriebsgruppen und es gibt sogar einen IWW-Betriebsrat. Zu tun bleibt natürlich genügend!


FA!: Ein Schlusswort?

Wir möchten uns ganz herzlich für das Interview bedanken! Obwohl wir als strömungsübergreifende Gewerkschaft den Anspruch haben alle Arbeiterinnen und Arbeiter zu organiseren, wundern wir uns immer wieder darüber, dass das Thema Betriebsarbeit innerhalb der autonomen oder libertären Linken so unattraktiv ist. Dabei gibt es mit der IWW oder auch der FAU (Freie ArbeiterInnen-Union) inzwischen Gruppen, die mit ihren basisdemokratischen und klassenkämpferischen Ansätzen die direkte Möglichkeit zur antikapitalistischen Praxis bereit stellen!
infos: www.wobblies.de/leipzig