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„Anders ist so unpolitisch“

Im Gespräch über Aktivismus, Widerstand und Selbstorganisation

Hanna Poddig ist nicht nur seit Jahren in der antimilitaristischen und Umweltbewegung aktiv. Wegen ihrem Buches „Radikal mutig: Meine Anleitung zum Anderssein“ und dem dadurch geweckten medialen Interesse wird sie in Zeitungsinterviews, Radiosendungen und Talkshows geradezu als neues Aushängeschild der Aktivist_innenszene präsentiert. Davon fühlte sich wiederum die Leitung des Centraltheaters animiert, sie nach Leipzig einzuladen. An einem sonnigen Samstag im April trafen wir uns mit den „Vollzeit-Aktivistinnen“ Hanna und Franzi am weißen Haus des Centraltheaters, wo eine Woche lang Workshops und Aktionen zu Themen wie Atomkraft oder staatliche Repression ihren Ausgang nehmen sollen. Wir warten gemütlich, bis die beiden von oben aus den Bäumen, wo sie gerade ein Anti-Atom-Transparent befestigt haben, zu uns herabsteigen und Rede und Antwort stehen.

FA!: Wie seid Ihr zum Centraltheater gekommen und was erhofft Ihr Euch davon?

Hanna: Ich bin vom Centraltheater eingeladen worden, weil die auf mich aufmerksam geworden sind durch die Medien. Die haben mich angesprochen, ob ich nicht Lust hab zur Buchmesse eine Veranstaltung zu machen und hier aus meinem Buch zu lesen. Und dann haben sie gesagt, sie hätten da so eine Idee und da war mal Öff Öff da und ob ich nicht vielleicht auch Lust hätte. Ich seh das immer erstmal als Chance – solche Anfragen sind bei mir gar nicht verknüpft mit einer großen Hoffnung, ich glaube nicht, daß hier die Weltrevolution ausbrechen wird, auch wenn es jetzt nicht schlimm wäre. Ich sehe das als Chance an Leute ranzukommen, an die ich sonst nicht rankomme, mit meinen politischen Inhalten ein bißchen aus dem politischen Ghetto rauszukommen und nicht nur im eigenen Saft zu schmoren.

FA!: Klingt überzeugend. Wie seht Ihr Euch in der Reihe mit Öff Öff, der ja vor Euch Gast des Centraltheaters war?

Hanna: Was Öff Öff macht, finde ich grundsätzlich nicht falsch. Aber es reicht in meinen Augen nicht. Also ich glaube, daß er schon vorlebt, daß viele Dinge gar nicht so zwanghaft sind, wie viele Leute glauben. Daß ganz viel möglich ist, von dem viele Leute glauben, das geht gar nicht. Dafür schätze ich ihn, auch für Ideenreichtum und für so Recyclinggedanken und Selbstorganisation, da ist er schon ganz schön gut. Aber ich glaube, daß manche Dinge nicht beseitigt werden dadurch, daß ich sie nicht mache. Also dadurch, daß ich keine Gentechnik anpflanze, wächst sie trotzdem. Und dann muss ich sie kaputtmachen. Und an der Stelle glaube ich, daß dieses Nischendenken, sich eine eigene heile Welt aufzubauen, eben nicht reicht und mehr passieren muss. Das ist, glaube ich, was mich sehr zentral von Öff Öff unterscheidet. Ich hatte mal eine längere Email-Debatte mit ihm über das Thema „Hab ich einen Ausweis oder nicht“. Öff Öff legt ja viel Wert darauf  keinen Ausweis zu haben, weil er damit  das Konzept von Nation und Staat nicht legitimiert. Aber wenn ich keinen Ausweis hätte, wären politische Aktionen immer fünfmal so anstrengend, weil ich jedes Mal mitgenommen würde. Wer keine Aktionen macht, wird natürlich auch nicht mitgenommen, deswegen ist es für Öff Öff nicht so wild, keinen Ausweis zu haben. Mir ist es das nicht wert, ich mach’ lieber Genfelder kaputt und stopp’ Atomtransporte. Ich find’ das die cooleren Aktionen.

FA!: Was ist denn Eure Perspektive von gesellschaftlicher Veränderung? Wie stellt Ihr Euch gesellschaftliche Veränderung vor und wie denkt Ihr, daß Euer Handeln dazu beiträgt?

Franzi: Ich hab natürlich so ‘ne Utopie im Kopf, wie die Welt aussehen könnte. Ich möchte z.B. keine Hierarchien. Ich möchte, daß alle Leute möglichst Zugriff auf alle Ressourcen haben und es trotzdem möglich ist, daß Leute an einzelnen, persönlichen Dingen hängen können. Die Veränderung sollte schon irgendwie in die Richtung gehen. Mir reicht es z.B. nicht zu sagen ich bin gegen Atomkraft oder ich bin gegen Gentechnik. Sondern das sind für mich alles Symptome dieser ziemlich krassen Welt, in der wir leben. Veränderung beginnt für mich in den Köpfen von Leuten. Es kann nur passieren, indem ich praktisch Dinge verhindere, weil’s einfach nicht anders geht. Aber meiner Ansicht nach muss sich erstmal etwas in den Köpfen verändern, auch in der Hinsicht, daß ich versuche das in meinem Alltag umzusetzen und dafür zu kämpfen.

Hanna: Ich würde sagen, der wichtige Punkt ist Organisierung. Also nicht nur Inhalte vermitteln – das ist sicherlich auch wichtig, aber bei einigen Themen gar nicht notwendig. Z.B. Gentechnik: Da sind schon 80% der Leute dagegen und trotzdem wächst es auf den Feldern. Das heißt, es geht gar nicht um Überzeugung, sondern darum die Leute zu aktivieren, auf die Felder zu gehen und den Scheiß da weg zu machen. Das heißt, ich will schon erreichen, daß Menschen sich zusammentun und gemeinsam überlegen, was denn ihre Art und Weise sein könnte, dagegen aktiv zu werden. Ich sage jetzt nicht, daß alle Leute Genfelder plattmachen müssen. Sondern mir wär’s wichtig, daß Leute sich im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten und Kapazitäten organisieren, sich selber wieder was zutrauen.

FA!: Du bist ja nun „Vollzeit-Aktivistin“ – zumindest wirst Du so verkauft oder verkaufst Dich vielleicht auch selber so. Denkst Du, daß das Leben, das Du führst, ein Modell für andere sein könnte?

Hanna: Jein. Solange es noch eine Gesellschaft gibt, die ganz viel Scheiß abwirft, der als Müll sonst vernichtet wird oder vergammelt, den ich noch brauchen kann, versuche ich natürlich möglichst von diesen Dingen zu leben und keine neue Nachfrage zu schaffen. Das ist natürlich keine Utopie für alle Menschen. Es können nicht alle Menschen vom Müll leben, den würde dann ja keiner mehr produzieren. Trotzdem glaube ich, daß viele der Ansätze, die ich vorzuleben versuche, schon ein Modell für mehr Menschen sein können. Aber ich will nichts aufzwingen. Das heißt, es gibt schon Sachen, die ich so gar nicht will – ich würde jetzt nicht sagen, ich überlasse es meinem Nachbarn, ob er ein Atomkraftwerk betreibt oder nicht, da ist schon eine Grenze. Aber im Grunde will ich Leuten nicht vorschreiben, wie sie leben und worauf sie Lust haben sollen, oder was sie machen sollen …

Franzi: Ich würde auch unterscheiden zwischen Modellen, die vielleicht für hier und jetzt irgendwie passend sind und Modellen, die ich mir in der Utopie wünsche. Das Containern zum Beispiel, das passt, solang’s diese Welt gibt. Aber wenn’s diese Welt so nicht gäbe, dann müsste für alle, also auch für die jetzigen Vollzeitaktivist_innen, eine wie auch immer geartete Selbstversorgung oder Gemeinschaftsversorgung her.

FA!: Wie, denkt Ihr, kann die gesellschaftliche Veränderung am besten vonstatten gehen? Langsam, Stück für Stück, weil bei immer mehr Menschen das Bewusstsein geschaffen wird und die partizipieren an der Selbstorganisation? Oder auf den großen Knall hinaus?

Hanna: Ich glaube nicht an diese Logik von, ich sag mal, traditionellen Marxisten, die sagen mensch muss nur genug Marx-Lesekreise veranstalten und genug Leute müssen das Wissen haben,  dann kommt die Revolution von selber. Und wenn alle Leute das Kapital gelesen und verstanden haben und wir sind die einzigen die wissen, wie man’s zu deuten hat, dann macht es plötzlich ‘knall’ und die Welt ist ‘ne bessere. Ich glaube Menschen müssen Umgang miteinander lernen. Die Verhältnisse sind vom Menschen gemacht. Das heißt, es muss sich schon was am Verhalten ändern und das müssen Menschen auch üben. Das geht nicht von jetzt auf sofort, denn natürlich haben die Leute auch ganz viel Scheiße verinnerlicht. Trotzdem will ich auch nicht so mißverstanden werden, daß es heißt: Ach, die findet es auch gar nicht so schlecht, den Weg durch die Institutionen zu gehen. Das Gegenmodell heißt ja nicht Parteiarbeit. Sondern das Gegenmodell ist sowas wie radikale Transformation. Der Begriff ist ein bißchen sehr künstlich, aber das beschreibt noch am ehesten ein Hinarbeiten auf eine bessere Welt, ohne daß man mit den Einzelschritten den bestehenden Scheiß stabilisiert. Trotzdem kann ich mich natürlich über einzelne Sachen freuen und auch irgendwelche Detailkämpfe führen.

FA!: Hanna, Du hast da dieses Buch geschrieben und bist dadurch relativ medial präsent. Wie kamst Du dazu, dieses Buch zu schreiben und was war die Resonanz der Presse bzw. was für Erfahrungen hast Du damit gemacht?

Hanna: Also es war nicht meine Idee, das Buch zu schreiben, sondern die Idee des Verlags, der auf mich zugekommen ist und mich gefragt hat. So daß ich gedacht hab’, vielleicht kann das eine Chance sein, meine politischen Inhalte Leuten näherzubringen, die ich sonst nicht erreichen würde, weil das Medium Buch irgendwie eine andere Glaubwürdigkeit hat als ich als Person. Ich glaube, der Erfolg liegt zum einen an der sehr professionellen Marketingabteilung im Verlag und zum anderen daran, daß es schlicht Produkteigenschaften an mir gibt, die vermarktbar sind. Also klein, blond, weiblich und mehr oder weniger rhetorisch vorzeigbar. Das ist auch der mediale Hunger nach Protest, Exoten oder dem Vorführen von Menschen. Von daher weiß ich insgesamt nicht, ob ich sagen würde, es ist ein großer Erfolg. Nach einer Talkshow hat sich mal jemand bei mir auf ein Praktikum beworben und da hatte ich zwei Wochen lang einen Praktikanten. Das war für den  eine ganz neue Welt und auch ganz spannend, was er gelernt hat. Und das ist ein Erfolg, finde ich, weil dort jemand was neues gesehen hat, was er vorher nicht kannte, und das nicht nur einen Abend konsumiert, sondern wirklich zwei Wochen gelebt hat.

FA!: Glaubst Du, dadurch eine Vorbildfunktion zu haben und andere auch zum Mitmachen zu animieren?

Hanna: Ich bin schon eingeladen worden zu Veranstaltungen aufgrund der Medienberichterstattung. Ich hab dann immer gesagt, ich würde viel lieber Aktionstrainings machen als Lesungen. Ich hab schon an einer besetzten Uni Aktionstraining gemacht und die Leute haben danach Aktionen gemacht. Das sind schon Sachen, die mir Hoffnung machen, denn an diese Studis wäre ich sonst nicht rangekommen. Die haben mich wirklich im Fernsehen gesehen und gesagt: Ey, die wollen wir hier haben!

FA!: Es ist doch aber schon problematisch, wenn man als Superaktivistin so auf einen Sockel gestellt wird. Dadurch, daß man medial so präsent ist und zu einer Repräsentationsfigur wird, die andere Leute repräsentiert, auch wenn man eigentlich nur für sich selbst sprechen will.

Hanna:
Ich seh’ das Problem auch schon. Ich versuche auch bei Anfragen das weiterzuleiten an andere Leute. Das liegt schon genau daran, daß ich keinen Bock hab, die eine Stellvertreterin des neuen, hippen, jungen Aktivismus zu sein. Ich seh auch, daß ich da gar nicht so viel Einfluß drauf hab, was die aus mir machen. Im Nachhinein würde ich auch dem Buchtitel so nicht mehr zustimmen.  „Anders“ ist als Begriff einfach so inhaltsleer. War sowieso nicht meine Idee, sondern vom Verlag. „Anders“ ist zu unpolitisch, „anders“ ist grade alles.

FA!: Wie lange seid Ihr schon politisch aktiv? Seid Ihr jung politisiert worden?

Franzi: Bei mir überhaupt nicht. Ich war schon immer so’n bißchen Öko, aber Handlungen sind daraus nicht so richtig erfolgt. Irgendwann nach meiner Lehre hab ich immer mal bei einer attac-Gruppe vorbeigeschaut, bin darüber dann auf G8-Gipfel gekommen, Klimacamp-Orga, hab ‘ne eigene Rebel Clown Army gegründet, mit Gendreck weg! oder x-tausend zu tun gekriegt. Auf dem Weg zu einer Anti-Gentechnik-Kampagne in Portugal bin ich dann aber im Kelsterbacher Wald hängengeblieben. Und damit war ich dann auch schon in dieser Szene hier.

Hanna: Ich bin da auch reingewachsen. Am Anfang war ich mal auf ‘ner Demo und dann war ich häufiger auf ‘ner Demo. Nach dem Abi hab ich ein freiwilliges ökologisches Jahr gemacht bei Robin Wood und bin da hängengeblieben. Dann kannte ich da tausend Leute und hab’ da irgendwelche Jobangebote gekriegt. Dann habe ich für Gendreck weg! was gemacht, zum G8-Gipfel, und bin so irgendwie von einer Kampagne zur nächsten gewandert, bis ich dann irgendwann fand: Ich brauch gar keine feste Kampagne, für die ich arbeite. Ich bin jetzt einfach meine eigene Chefin.

FA!: Freischaffende Aktive …

Hanna:
Ja, das war für mich tatsächlich ein wichtiger Schritt, mich zu lösen von Verbänden, Vereinen und festen Kampagnen, zu sagen: Ich kann das alleine, ich hab das Know-How und ich find’s sinnvoller alleine. Natürlich nicht ganz allein, ich mach’ meine Aktionen ja nicht ohne andere Menschen… Aber eben ganz klassisch mit freien Menschen in freien Kooperationen. Was mir daran so wichtig ist ist, daß mich nicht irgendein Label mit irgendwem verbindet, sondern jedesmal auf’s neue irgendeine Absprache über irgendwas, worauf ich halt Lust hab’ oder sinnvoll und wertvoll finde.

FA!: In der „linken Szene“ ist Mackertum mittlerweile ja (zurecht) ein Thema, wobei mensch da noch mal zwischen  Bewegungsmackern und intellektuellen Mackern unterscheiden könnte. Gibt es bei den Aktionisten denn Aktionistenmacker?

Hanna: Ja, definitiv. Es gibt Leute, die nach Kletteraktionen immer wieder betonen wie cool die Kletteraktion war und dabei nicht erwähnen, daß es auch ein Bodenteam gab, ohne das sie nicht hätten klettern können. Da gibt es schon immer wieder. Leute, die nicht ausreichend häufig sagen, daß sie nicht alleine agieren. Immer wieder prolliges Heldengetue, daß das alles gar nicht so schlimm ist, daß die sich mal nicht so haben sollen. Ein unsensibler Umgang mit Ängsten, Befürchtungen, sowas.

Franzi: … die Erfahrenheit raushängen lassen und andere nicht daran ranführen.

FA!: Hat das was mit dem Geschlecht bzw. der Sozialisierung nach dem Geschlecht zu tun?

Franzi: Mir fallen meist männlich sozialisierte Personen ein, wo mir das auffällt. Ich kenne auch ein paar Frauen, die ich  als sehr mackerig empfinde. Wobei das eher was anderes ist als das gerade beschriebene… Es muss nicht unbedingt was mit dem Geschlecht zu tun haben, aber ich sehe es häufiger an Männern.
Hanna: Wobei es vielleicht auch wirklich was mit dem Sehen zu tun hat. Also daß es weniger auffällt bei Frauen, weil wir bei Männern eher drauf geeicht sind, kritisch drauf zu gucken. Uns eher mal zu freuen, wenn es auch mal ‘ne dominantere Frau gibt, die sich durchsetzt. Weil ist ja cool, daß sie das macht. Daß das in Szenekreisen viel mehr gedeckt wird, als daß es kritisch gesehen wird, weil es halt mit bestehender Normalität bricht. Was ich ein stückweit auch richtig finde. Eine Unterdrückung erstmal über eine Überprivilegierung eine zeitlang zu bekämpfen, finde ich in Ordnung. Sowas wie Frauenredequote und solche Sachen finde ich durchaus legitime Mittel.

Franzi: Wobei ich es spannender finde z.B. eine Redequote für Leute einzuführen, die wenig reden. Mir fällt’s schon auch an Frauen auf, wenn die so krass dominant sind …

An dieser Stelle wird das Gespräch langsam ausgeblendet. justus & shy im Außendienst geben zurück ins Studio.

Jugendkultur? Aber bitte mit Sahne!

Vom Kampf um ein Alternatives Jugenzentrum in Wittenberg

Echte Probleme erkennt mensch oft daran, daß (vermeintlich) Ungewöhnliches geschieht. Hausbesetzungen von Jugendlichen, die so ihren Bedarf nach kulturellem, sozialem und politischem Wirkungs- und Selbstverwirklichungsraum hinausschreien, gehören „hier­zulande“ definitiv dazu. Nach dem Niedergang eines dieser Räume, des Topf Squat in Erfurt (FA! #32, #33), und der kurzen Geschichte zum Magdeburger besetzten Haus (FA! #34) widmen wir uns heute einer Luther­stadt und ihrem Problem mit der (fehlenden) Jugendarbeit.

Wie viele Städte in Ost­deutschland ist Wit­ten­berg dabei zu überal­tern und bietet seinen Ein­wohner_innen kaum mehr als eine Tourismusindustrie rund um Martin Luther, Philipp Me­lanch­thon und Lucas Cranach; mit vielen Sehenswürdigkeiten vor allem für Reformationstouristen, die täglich von 9 bis 6 durch die Stadt gejagt werden, bevor die Bordsteine wieder hochgeklappt werden können. So ist für Engagement und Investitionen in Kultur und bitter notwendige Jugendarbeit in der knapp 50.000-Ein­wohner_innen-Stadt im östlichen Zipfel Sachsen-Anhalts eher wenig Platz. Die wenigen übriggebliebenen Einrichtungen Wittenbergs, in denen noch Jugendarbeit stattfindet, bangen regelmäßig um ihre Existenz. Doch trotz ihrer Dienste haben viele junge Menschen keine Räume um kulturellen und sozialen Aktivitäten nachzugehen bzw. welche zu entfalten. Kein Wunder also, daß es Leute gibt, die diese Arbeit in die eigenen Hände nehmen, Orte des Miteinanders und der politischen Betätigung etwas abseits staatlicher und städtischer Strukturen schaffen wollen.

So hatte sich der Verein Kultur mit Sahne (KumS) schon 2004 die Aufgabe gestellt, Wittenbergs Jugendlichen ein alternatives Jugendzentrum zu besorgen und trat im letzten Jahr verstärkt in Verhandlungen mit dem Stadtrat, dem Jugend­hilfe­aus­schuß und dem Bürgermeister Wit­tenbergs. Es handelt sich bei dem Verein um eine „alternative Jugendgruppe, in der sich Menschen im Alter von 16 bis 30 Jahren bewegen“, die sich „für mehr Toleranz und Aufklärung jeglicher Art im Landkreis Wittenberg“ einsetzen. Um solch hehre Ziele verwirklichen zu können, bedarf es allerdings einer geeigneten Immobilie mit genügend Platz für Konzerte, Kreativwerkstätten, einen Infoladen und was es eben sonst noch so alles braucht für ein selbstverwaltetes soziokulturelles Zentrum.

Um dies zu verwirklichen, ging der Verein den Weg durch die Instanzen – wurde nach Selbstauskunft von der Stadt letztlich aber nur „verarscht“. Die Jugendlichen, für welche Kultur mit Sahne mühselig den Amtsschimmel ritt, nahmen die Sache schließlich in die eigenen Hände und besetzten am 14. August kurzerhand das ehemalige Gesundheitsamt in der Wallstraße, eine schöne, seit drei Jahren leerstehende Immobilie in Stadteigentum, nicht mal 5 Minuten vom Marktplatz entfernt. Die Besetzer_innen bezeichneten sich als solidarisch zu KumS und wollten diesem so ein Objekt beschaffen bzw. die Mitwirkung der Stadt und des Kreises ein wenig vitalisieren. Oberbürgermeister Naumann (SPD) signalisierte auch sofort Verhandlungsbereitschaft und hielt die Polizei im Zaum; stellte allerdings von Anfang an klar, daß es Regeln gäbe, an die sich auch die ja illegal handelnden Jugendlichen zu halten hätten. So war auch diese Besetzung nur eine auf Zeit, die Räumung von Vorherein absehbar. Es galt nur Aufmerksamkeit zu schaffen und mit dieser illegalen Aktionsform auf die Dringlichkeit des lobenswerten Anliegens in möglichst breiter Öffentlichkeit hinzuweisen. Und so wurde sich von Seiten der Besetzer_innen auch redlich um ein medientaugliches Bild ihres kulturellen und politischen Engagements bemüht. Von Beginn an gewaltfrei und auf Dialog bedacht, präsentierten sie schon vom Abend der Inbesitznahme an aufgeräumte Gemeinschafts- und Partyräume, einen Infoladen mit kleiner Bibliothek sowie eine provisorisch eingerichtete Küche für den „Mampf zum Kampf“.

Am 18. August kam es im Neuen Rathaus der Lutherstadt zu Verhandlungen zwischen Vertreter_innen der Besetz­er_in­nenfraktion, des Vereins Kultur mit Sahne und der Stadt Wittenberg. An diesen seitens der Stadt von Ausreden und Lavieren geprägten Gespräche war das einzig Greifbare die Aussage, daß das Haus so schnell wie möglich geräumt werden müsse, um „eine verfassungskonforme Situation“ zu erhalten. Und natürlich der Clou: Die Stadt schloß mit dem Verein einen „‘moralischen’ Vertrag“ ab, in der eine intensive Suche nach Räumlichkeiten seitens der Stadt Wittenberg zugesichert wurde. Weiterer Inhalt war aller­dings, daß sowohl die Stadt als auch KumS die Besetzung missbilligten. Mit dieser Klausel machten die Vertreter_innen der Stadt wiederum deutlich, wer in den Verhandlungen das Sagen hat. Zusätzlich setzten sie den Hausbesetzer_innen ein Ultimatum zum „freiwilligen“ Verlassen bis zum 25. August (also eine ganze Woche) und drohten KumS mit der Einstellung aller sonstigen Verhandlungen, sollte es zu einer gewaltvollen Räumung kommen müssen. In den Augen mancher Besetz­er_innen vielleicht eine Art Verrat am Kampf um das Squat in der Wallstraße, sahen die Vertreter_innen von Kultur mit Sahne jedoch nur durch die abgepresste Distanzierung die Möglichkeit, sich langfristig einen Weg zu einem alternativen Zentrum in der Lutherstadt offen zu halten.

Die anfängliche Zusage Naumanns am Besetzungstag („Wir veranlassen hier keine Räumung, solange alles normgerecht läuft.“) löste sich so nur vier Tage später in Luft auf, als er direkt nach den Verhandlungen die Räumungsaufforderung verschickte. Freilich wie immer mit der Zusicherung der Gesprächsbereitschaft.

Am Abend des 25. dann verließen die Besetzer_innen „heimlich“ das Haus, um sich der drohenden Räumung sicher zu entziehen. Das alte Gesundheitsamt wurde nur Stunden später von der Polizei wieder in den Stadtbesitz zurückgeführt, dezente Hinweise auf Besetzungsaufgabe bekamen sie dabei durch ein paar um­ge­stoßene Mülltonnen und einen an­gezündeteten Papierkorb rund um den geschichtsträchtigen Marktplatz.

Genau dort zog einige Wochen später, am 19. September, eine Freiraumdemon­stration an den Denkmälern Luthers und Melanchthons vorüber. Allerdings völlig ohne den Verein Kultur mit Sahne, der sich weder als Veranstalter, Teilnehmer noch Supporter dieser Demo die „gute Ver­handlungsbasis mit der Stadt“ verderben wollte. Worüber mensch nun denken kann wie mensch will.

Was blieb übrig von einer kurzen, aber ereignis- und hoffnungsreichen Zeit im ersten offiziell besetzten Haus Wittenbergs des neuen Jahrtausends? Sieben Anzeigen wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung zum Beispiel, entgegen dem Versprechen OB Naumanns, bei Aufgabe der Besetzung auf diese zu verzichten. Oder unzumutbare Ersatzobjekte, die die Vereinsmitglieder besichtigen durften. Die Krönung jedoch waren wohl die Erfahrungen vor’m Jugendhilfeausschuß im Landratsamt am 8. Oktober. Dort mussten sich die Vereinsmitglieder sagen lassen, daß finanzielle Unterstützung für ein Zentrum gerade sowieso nicht drin sei, die Stadt im Jugendbereich eher einsparen muss als neue Mittel freizumachen für „Dilletanten“, die eh keine Jugendarbeit machen und nur ihre Szene ansprechen würden. Freilich wie immer mit der Zusicherung von Bürgermeister Zugehör, daß sich schon irgendwie eine Möglichkeit finden werde.

Eine Lösung für ein alternatives Jugendzentrum in Wittenberg fanden die engagierten jungen Menschen aber wahrscheinlich in Eigenregie. Die Zeichen stehen allerdings gut, daß die Verhandlungen um das alte Kreiswehrersatzamt mit seiner den Anforderungen mehr als entsprechenden Lage* von Erfolg gekrönt sein wird. Als „Traumobjekt“ bezeichneten sie das Haus und das dazugehörige Grundstück schon, erschwingliche 99.000 Euro (plus Maklercourtage) soll es kosten und so hat Kultur mit Sahne die Kampagne „Zwölf + Zwei = Wir ziehen in unser Haus“ gestartet. Zwölf Bürgen werden noch gesucht, um die vom Eigentümer geforderte Kaution von 25.000 Euro aufzubringen, und – vorrangig um die monatlichen Kosten zu decken – zusätzlich zu den schon vier Mieter_innen noch zwei Personen, die gerne einziehen möchten in’s neue alternative Zentrum.

Bleibt KumS und allen Mitstreiter_innen noch zu wünschen, daß diese Bedingungen bald erfüllt sind und der Unterzeichnung des Kaufvertrages auch sonst nichts im Wege steht. Nicht zu wünschen ist ihnen nach all den Erfahrungen allerdings jegliche Abhängigkeit von Stadt oder Land, denn nur so werden sie es noch weit schaffen, die sympathischen Akti­vist_in­nen rund um den Verein Kultur mit Sahne.

shy

 

* Fast direkt gegenüber befindet der ehemalige berüchtigte „Schweizer Garten“, das besetzte Haus und Autonome Zentrum Wittenbergs in den 90ern. Weichen musste es schlussendlich u.a. wegen dem Neubau der Hauptsparkasse und anderen Aufwertungsprozessen im unmittelbaren Umfeld des rauhen „Zeckenhauses“. Auch wenn sich die Menschen um das neue Alternative Zentrum um einiges moderater darstellen, birgt diese „exponierte“ Lage evtl. doch Zündpotenzial …