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Leipzig schwarz-rot (Teil 5)

Ein Rückblick auf 20 Jahre autonome Linke in Leipzig

Der rechtliche Status der besetzten Häuser in Connewitz war lange Zeit unsicher gewesen – ein Umstand, der regelmäßig zu Konflikten mit den städtischen Behörden führte. Ab 1997 wurde diese Frage geregelt. Mit der sog. „Connewitz-Vorlage“ überließ die Stadt die Häuser der Alternativen Wohngenossenschaft Connewitz zur Erbpacht. Damit war zwar ein Problem gelöst, aber Friede, Freude, Eierkuchen herrschte deswegen noch lange nicht.

Fascholalarm

Denn zur selben Zeit gingen die Neonazis in Leipzig wieder verstärkt in die Offensive. Die Faschos waren schon in den Wendejahren eine alltägliche Bedrohung für Leipziger Punks, „Alternative“ und Migrant_innen gewesen. Nach 1993 hatte sich die Situation, auch aufgrund der antifaschistischen Gegenwehr, ein wenig beruhigt. Ab 1996 war nun aber wieder ein Zuwachs an Neonazi-Aktivitäten zu verzeichnen. So kam es nicht nur im Innenstadtbereich verstärkt zu Angriffen auf Punks und Skater, auch vor Mord schreckten die Leipziger Neonazis nicht zurück. So wurde im Mai 1996 in Wahren ein Mann seiner Homosexualität wegen von mehreren Faschos erst misshandelt und dann ermordet. Im Oktober des selben Jahres wurde der Migrant Achmed Bachir vor seinem Laden in der Leipziger Südvorstadt von zwei Neonazis erstochen. (1)

Trotz dieser Vorfälle konnte z.B. OBM Lehmann-Grube jedoch „kein rechtsextremistisches Potential“ in Leipzig erkennen. Das änderte sich erst mit den NPD-Aufmärschen am Völkerschlachtdenkmal, die auch für die Leipziger Antifaschist_innen zu einer Herausforderung wurden. Der für den 1. Mai 1997 geplante Aufmarsch, bei dem die NPD mit Teilnehmerzahlen im fünfstelligen Bereich rechnete, scheiterte noch an einem kurzfristigen gerichtlichen Verbot. Nur etwa 200 bis 300 Nasen verirrten sich folglich nach Leipzig und konnten von Polizei und Antifa leicht in Schach gehalten werden. Das sollte sich aber schon im folgenden Jahr ändern. Auch 1998 versuchte die Stadt Leipzig die für den 1. Mai geplante NPD-Kundgebung am Völkerschlachtdenkmal zu verbieten. Diesmal misslang das Manöver: Zum geplanten Termin versammelten sich 4000 Neonazis am Kundgebungsort. Ihnen standen etwa 8000 Gegendemonstrant_innen gegenüber, die aber angesichts der massiven Polizeipräsenz und dem rabiaten Vorgehen der Beamt_innen die Kundgebung nicht verhindern konnten. (2)

Und auch abseits der Großaufmärsche blieben die Nazis gefährlich. So kam es im Oktober 1997 zu einem Brandanschlag auf das Werk II. (3) Unmittelbar zuvor hatte dort eine Veranstaltung zu dem ein Jahr zurückliegenden Mord an Achmed Bachir stattgefunden, was die Vermutung nahe legte, dass die Brandstifter aus der Neonazi-Szene stammten. Nur wenige Tage später wurde das Plaque von einem etwa 30 Mann starken Fascho-Mob angegriffen. Ein Cee-Ieh-Artikel (4) führt diese Entwicklung auf mangelnden antifaschistischen Widerstand zurück:

„Auch in Plagwitz hatten sich die Nazis nach und nach an das Plaque herangearbeitet und dessen Widerstandspotential ausgelotet. Erst wurden im Haus Aufkleber und in unmittelbarer Nähe NPD-Plakate verklebt. Dann gingen die ersten Autos der BewohnerInnen zu Bruch und als daraufhin immer noch keine Sanktionen der Antifa den Faschos Einhalt oder wenigstens größere Vorsicht geboten, durften sie sich auch nicht mehr vor dem direkten Angriff scheuen. Ganz in diesem Sinne sind die Nazi-Aktionen in Connewitz zu betrachten. In der Nacht vom 17.10. klirrten die Scheiben einer Kneipe in der Biedermannstr. und die eines Autos in der Stöckartstr. (ehemaliges Herzstück der Hausbesetzerszene). Als Bekennerbrief hinterließen die Täter jeweils Aufkleber der JN (Junge Nationaldemokraten). Am Sonntag darauf wurden dann NPD-Plakate am Conne­witzer Kreuz verteilt. Noch vorsichtig zwar, aus einem fahrenden Kleinbus, aber noch können die Faschos nur ahnen, dass sie ihren Fuß in eine Tür setzen, die kaum jemand mehr zuhält.“

Aber nicht nur der mangelnde Kampfgeist der Antifa führte zu diesem Erstarken der rechten Szene. Auch die Planlosigkeit bzw. Ignoranz der städtischen Instanzen trug dazu ihren Teil bei. So konnte sich dank „akzeptierender Sozialarbeit“ der Jugendclub Treff 2 im Grünauer Kirschberghaus ab 1995 zu einem wichtigen Zentrum der rechten Szene entwickeln. Nicht genug, dass NPD- und Kameradschafts-Kader dort unbehelligt Propaganda machten – auch die Naziband Odessa konnte im Kirschberghaus proben. Es dauerte bis Ende 1998, bis das Problem bemerkt wurde. Und auch dann war man sich nicht einig, wie damit umzugehen sei. So forderte die Grünen-Fraktion im Leipziger Stadtrat die Schließung des Jugendclubs, da dieser von „organisierten Rechtsextremen beherrscht“ sei. Dieser zutreffenden Einschätzung der Lage mochte sich die LVZ nicht anschließen, ein Kommentar spricht in vermeintlich guter Ausge­wogenheit von Krawallen, „die auf politisch motivierte Zwistigkeiten zwischen rechts- und linksextremen Gruppen zurückzuführen“ seien. Im dazugehörigen Artikel wird der CDU-Landtagsabgeord­nete Volker Schimpff so zitiert: „Hier arbeitet eine un­hei­lige Allianz von randalierenden Chaoten und linksradikalen Ideologen daran, mit dem rechten Treff 2 auch das unpolitische Jugendzentrum im Kirschberghaus zu zerstören.“ Der Artikel selbst will in den Grünauer Neonazis nur pers­pektivlose Jugendliche erkennen und dichtet eine von Linken und Rechten gleicher­maßen vorangetriebene „Gewaltspirale“ herbei. Diese fortgesetzte Verharmlosung war nicht nur einigen Leser_innen zu viel, auch das Conne Island richtete sich in einem offenen Brief (5) an die LVZ, um die Verhältnisse klarzustellen. 2000 bekam das Kirschberghaus einen neuen Träger und musste letztlich schließen.

„Kriminelles“ Kreuz

Die Debatte um den „rechtsfreien Raum Connewitz“ flammte Anfang 1999 wieder auf, nachdem es in der Silvesternacht zu Ausschreitungen am Connewitzer Kreuz gekommen war. Laut der LVZ zogen dabei „etwa 50 jugendliche Randalierer“ eine „Spur der Verwüstung“ hinter sich her, „warfen Brandsätze in ein kurz vor der Eröffnung stehendes Café, brachen in eine Kaufhalle ein und plünderten die Regale.“ Als die Polizei anrückte, „bauten sie Barrikaden (…) Mit einem Steinhagel empfingen sie die Polizeibeamten.“ Anschließend „flüchteten die Täter in Richtung Stockartstraße“ (mit diesem Satz wollte der Autor wohl suggerieren, sie seien in die Stö geflüchtet). „Vor ihrer Flucht zertrümmerten die Chaoten noch Scheiben an einer Sparkassenfiliale und ein Wartehäuschen (…) Ob diese Randa­lierer auch für das Zerstören weiterer 24 Wartehäuschen gestern in Leipzig verantwortlich sind, konnte noch nicht ermittelt werden.“ Trotz gegenteiliger Absicht rückt der letzte Satz die Perspektive ein wenig zurecht – offenbar waren in dieser Silvester­nacht nicht nur in Connewitz Chaoten unterwegs.

In fast denselben Worten wurde berichtet, als es Ende Oktober 1999 erneut zu Ran­­­dale am Kreuz kam: Wieder wurde eine „Spur der Verwüstung“ hinterlassen, „etwa 30 Vermummte“ zerstörten Schaufensterscheiben und Wartehäuschen und errichteten „aus Müllcontainern brennende Barrikaden“. Die reißerische Überschrift: „Anwohner in Angst“, ergänzt durch die Frage „Was sind das nur für Menschen, die einfach alles zerstören?“ Genau das blieb ungeklärt, da die Täter auch diesmal unerkannt entkommen konnten – der Artikel unterstellt trotzdem, es hätte sich um Connewitzer Linksradikale gehandelt.

Schon am 3. November installierte die Leipziger Polizei eine Überwachungskamera am Connewitzer Kreuz. Aufgrund der Proteste, die vor allem von der AG Öffentliche Räume vorangetrieben wurden, wurde die Kamera jedoch schon im April 2000 wieder abmontiert. Dabei handelte es sich weniger um ein Einlenken der Stadt oder eine Geste des guten Willens. So wurden nicht nur zeitgleich zwei neue Kameras am Roßplatz und am Martin-Luther-Ring angebracht, auf einer Pressekonferenz der Stadt wurde auch angekündigt, die Polizeipräsenz am Conne­witzer Kreuz zu erhöhen. (6)

Im Juni 2003 wurde dann auch dort wieder eine Kamera installiert, nachdem „Randa­lierer“ diverse Bauzäune umgeworfen und Fensterscheiben eingeworfen hatten (siehe FA! #17). Der ebenfalls betroffene Marktfrisch am Kreuz reagierte, indem er für einige Monate das Sternburg-Bier aus dem Sortiment nahm, womit er vermutlich mehr bewirkte als die polizeiliche Überwachung. Deren Erfolg hielt sich sichtlich in Grenzen, in den Folgejahren arteten die Silvesterfeiern am Connewitzer Kreuz (und die mitt­lerweile auch schon traditionellen Schnee­ballschlachten) mit schöner Regelmäßigkeit zu Straßenschlachten aus – trotz oder besser gesagt wegen der starken Polizeipräsenz vor Ort. Denn, wie es z.B. ein Connewitzer „Chaot“ schon in der Incipito (7) treffend bemerkte: Wenn die Polizei da ist, steigert das auf „mysteriöse Weise“ die Brisanz der Situation. Der polizeiliche Status des „Krimi­nalitätsschwerpunkts“ bzw. „gefährlichen Ortes“ (der z.B. verdachts­unab­hängige Personenkontrollen erlaubt) wird dem Kreuz also noch eine Weile erhalten bleiben.

Damit möchte ich enden. Nicht nur, weil die Entwicklung der Nuller-Jahre in den älteren Feierabend!-Ausgaben schon gut dokumentiert ist und auch sonst für viele bekannt sein dürfte. Hatte nicht zuletzt die anhaltende Bedrohung durch Neonazis in den 90er Jahren die „Szene“ zusammengehalten, brachen ab 2001 neue Gräben zwischen den einzelnen Fraktionen auf, die sich nach dem 11. September und im Zuge des Irakkriegs 2003 zusehends vertieften. Vor allem die Antideutsch-kommunistische Gruppe machte durch ihre Pro-Kriegs-Position und wüste Polemik auf sich aufmerksam und erntete dafür, mal gut, mal weniger gut begründete Kritik. Die entsprechenden Kontroversen sind noch nicht abgeschlossen – die Geschichtsschreibung würde also schnell zu einer Erörterung der jeweiligen Positionen und Gegenpositionen ausarten. Nun, ich hoffe, die Serie hat auch so ein wenig Erkenntnisgewinn gebracht. Auf die nächsten 20 Jahre schwarz-rotes Leipzig!

(justus)

 

(1) www.conne-island.de/nf/38/10.html

(2) www.conne-island.de/nf/45/14.html

(3) www.conne-island.de/nf/38/17.html

(4) www.conne-island.de/nf/39/13.html

(5) www.conne-island.de/nf/53/13.html

(6) www.conne-island.de/nf/67/20.html

(7) www.left-action.de/incipito/text/110.htm

Arge, Job und Klassenkampf – Was viele nicht zu fragen wagen

EINEN GANZEN MONAT OHNE GELD?

JULE, 27: Der letzte Feierabend! war ja schon to­­tal schnell ausverkauft! So habe ich die Tipps zur Arbeitsverweigerung erst zu spät bei einer Freundin auf dem Klo gelesen und hatte meinen neuen Job leider schon. Ich dachte, wenigstens gibt es zum Trost mehr Geld – aber das Gegenteil war der Fall! Mein Chef bezahlt mir den Lohn immer erst am 1. des Folgemonats, die Arge hat mir aber bereits für den Monat als ich angefangen habe gar kein Geld mehr gezahlt. Wie soll ich denn jetzt nur die Miete und das Essen bezahlen?

Ich verstehe Deine Sorgen, Jule! Daß die Arge Dir Deinen SGB-II-Anspruch schon für den Monat gestrichen hat, in dem Du angefangen hast zu arbeiten, aber noch kein Geld bekamst, ist nicht nur gemein, sondern zum Glück auch rechtswidrig!

Wichtig!: Es gibt im Hartz IV nämlich die grundsätzliche Regel, dass Einkommen nur in dem Monat angerechnet werden darf, in dem es auch tatsächlich zufließt! Das heißt, alles, was Dir zwischen dem 1. und letzten des Monats zufließt, wird in dem Monat auch angerechnet. In Deinem Fall hast Du also Glück gehabt, dass Dich Dein Chef so spät bezahlt und Du Dein Gehalt nicht schon immer am Monatsletzten bekommst.

Zu deinem Geld kommst Du, wenn Du bei der Arge Widerspruch gegen den Bescheid einlegst. Diesen kannst Du innerhalb von vier Wochen nach Erhalt des Bescheids bei der Arge zu Protokoll geben oder schriftlich gegenüber der Arge erklären, z.B. „Hiermit lege ich gegen den Bescheid vom xy Widerspruch ein“. Achtung!: An Deine Unterschrift musst Du unbedingt denken! Am besten, Du bringst das Schreiben persönlich vorbei und hast vorher eine Kopie gemacht, auf die Du Dir einen Posteingangsstempel der Arge zum Beweis geben lässt. So geht Dein Widerspruch nicht in den Weiten des Argehimmels verloren.

Der Monat, in dem Du keine Hartz-IV-Leistungen bekommen hast, dürfte nach dem was Du schreibst schon abgelaufen sein. Daher kannst Du leider keinen einstweiligen Rechtsschutzantrag mehr stellen. Wichtig!: Für die Zukunft denke bitte daran, daß Du möglichst schnell einen solchen Antrag stellst! Was das genau ist und wie Du das machst erfährst Du im nächsten Feierabend!

Solltest Du die Widerspruchsfrist auch verpasst haben, dann hilft letztlich ein Überprüfungsantrag, den Du ebenfalls bei der Arge zur Zeit noch innerhalb von vier Jahren nach Bekanntgabe des Bescheides stellen kannst. Aufgepasst: Ab nächsten Jahr sehen die Gesetzesentwürfe eine Verkürzung der Frist für Überprüfungsanträge auf sechs Monate vor!

Gut zu wissen!: Sozialgerichtliche Verfahren, genau wie auch Widerspruchs- und Überprüfungsverfahren im Hartz-IV-Bereich, sind für Dich vollkommen kostenlos, egal ob Du gewinnst oder verlierst. Also lass Dich nicht unterkriegen!

HILFE, DIE ARGE WILL MICH ABZOCKEN!

THOMAS, 36: Hallo Dr. Fla­schenbier, ich habe da ein Problem. Ich habe gearbeitet und die Arge hat mir trotzdem fünf Monate weiter Geld gezahlt, obwohl ich denen das gleich gesagt habe. Zunächst hatte ich mich ja gefreut, mal ordentlich Kohle ausgeben zu können. Jetzt wollen Sie das Geld aber zurück haben, über 3.000 Euro sind das! Von der Knete ist natürlich nix mehr da. Aber jetzt will auch noch die „Regionaldirektion der BA Bayern“ Mahngebühren von mir, weil ich nicht bezahlt habe. Mit denen hatte ich aber nie was zu tun, nur mit der Arge Leipzig. Dürfen die mir Mahnkosten auferlegen?

Hallo Thomas, Du liegst ganz richtig mit Deinen Zweifeln. Die Regionaldirektion der BA Bayern ist tatsächlich von der Arge Leipzig mit der Eintreibung von ausstehenden Zahlungen beauftragt worden. Es ist als Organ der Bundesagentur für Arbeit eine Art „öffentliches Inkassobüro“. Mahngebühren darf die Regionaldirektion der BA Bayern für die Argen jedoch nicht eintreiben, zumindest sieht das das Sozialgericht Leipzig und das Landessozialgericht Sachsen so. Du siehst also, die kriegen viele Schweinereien durch, aber nicht alle. Achtung!: Am besten Du widersprichst der Festsetzung der Mahngebühren schriftlich gegenüber der Regionaldirektion der BA Bayern! Das geht übrigens innerhalb eines Jahres, wenn es bei der Festsetzung der Mahngebühren keine Rechtsmittelbelehrung gegeben hat, was eigentlich so gut wie immer der Fall ist.

Mit der Rückzahlung des Geldes ist es allerdings so eine Sache. Grundsätzlich musst Du von der Arge zuviel gezahlte Leistungen schon zurückzahlen oder bleibst zumindest auf den Schulden sitzen. Allerdings gibt es mitunter einige Tipps und Tricks, wie Du da vielleicht drumherum kommst! Also nicht verzagen und vor allem …

Überarbeite Dich nicht!

Dein Dr. Flaschenbier

Denken schadet der Erleuchtung

Die Sri-Chinmoy-Bewegung in Leipzig

Bei „Esoterik“ denkt mensch meist an etwas Verborgenes – sagen wir mal, an eine Gruppe von Menschen, die sich von der Außenwelt abgrenzt, um ein geheimes, tiefes Wissen zu behüten. Ein Wissen, das so geheim und tief ist, dass diese Menschen meist selbst nicht so genau wissen, worum es geht. Weil Esoteriker_innen sich also meist eher von der Öffentlichkeit fernhalten, fällt es der Öffentlichkeit leicht, sie zu übersehen.

Trotzdem hinterlassen sie Spuren im öffentlichen Raum. Wer aufmerksam durch Leipzigs Straßen läuft, hat sie vermutlich schon einmal bemerkt, die auf farbiges Papier kopierten Plakate, die mit Überschriften wie „Die 7 Geheimnisse der Medita­tion“ oder „Meditation – Die innere Erfahrung“ für kostenlose Wochenendseminare werben. Die übliche Wattebausch-Esoterik, könnte man meinen, eine Seelenmassage für Leute, denen die Zweckrationalität des Alltags auf Dauer einfach zu anstrengend ist. Das beigefügte Foto eines älteren, glatzköpfigen Herrn, der dreinschaut, als wolle er für einen Grundkurs „Lächeln wie der Dalai Lama“ werben, verstärkt diesen ersten Eindruck noch.

Man muss schon das Kleingedruckte lesen, um zu erfahren, dass es sich bei dem betont unbedrohlich dreinschauenden Herrn um den Guru Sri Chinmoy handelt. Kein Unbekannter, denn wie die meisten Sektenführer legte Chinmoy (geboren 1931 in Bangladesh, gestorben 2007 in New York) nie großen Wert auf Bescheidenheit. So erklärte er z.B. öffentlich, er sei der „offizielle Meditationslehrer der UNO“, obwohl er in Wirklichkeit nur Geschäftsräume im New Yorker UNO-Gebäude nutzte, die frei angemietet werden konnten. Und auch sonst übte Chinmoy sich gern in Größenwahn: So legte er Wert darauf, nicht einfach nur ein Guru, also ein „spiritueller Lehrer“ zu sein, sondern erklärte sich selbst zum „Avatar“, also zur fleisch­lichen Verkörperung des Gottes Brahma.

Ein Gott kann natürlich ein gewisses Engagement seitens seiner Anhängerschaft erwarten. So ist auch die Erleuchtung á la Chinmoy ein echter full-time-job. Umso mehr, weil der Meister zu seinen Lebzeiten ein recht eigenwilliges Verständnis von Erleuchtung pflegte. Die wichtigste Regel dabei: „Zweifel ist immer schlecht“, schon deshalb, weil man zum Zweifeln schließlich denken muss. Und das Denken steht bekanntlich zwar nicht der Erleuchtung, aber doch dem bedingungslosen Glauben daran im Wege.

Um erleuchtet zu werden, muss (so Chin­moys Meinung als Experte) die menschliche Persönlichkeit auf ein Minimum reduziert werden: Zugunsten der „höheren“ Anteile soll der „niedere“, „unreine“ Rest verschwinden. Oder wie eine Aussteigerin es in einem Interview (1) formuliert: „Die Hierarchie geht so: Das Höchste ist die Seele, dann kommt das Herz, die Herzebene, dann kommt der Verstand und dann das Vital (die Vitalität) und als letztes kommt der Body. Die unteren versucht man möglichst auszuschalten“.

Nicht nur das vernünftige Denken, sondern auch den eigenen Körper soll mensch sich also möglichst abgewöhnen. Das geht natürlich nicht so einfach, weswegen Chinmoys Anhänger_innen umso mehr Energie aufwenden, um es trotzdem irgendwie hinzukriegen. Und damit sie dabei nicht ständig zum Nachdenken gebracht werden, etwa durch Leute, die freundlich darauf hinweisen, dass man a) den Körper nicht einfach so „transzendieren“ kann und es b) auch völlig okay ist, einen Körper zu haben, grenzen die Chinmoy-Fans sich von der Außenwelt ab. Aber das kennt man ja von ähnlichen Gruppierungen. Und natürlich ist es, wenn man erst mal Mitglied im Chinmoy-Fanclub ist, ziemlich schwierig wieder auszutreten. Wer sich trotz aller Bemühungen das Denken nicht gänzlich abgewöhnen kann, muss mit Pöbeleien und handfesten Bedrohungen rechnen.

Schließlich lässt sich mit einem Gott nicht vernünftig streiten, er kann, ja muss sogar absoluten Gehorsam verlangen. Die kultische Verehrung Chinmoys, die von seinen Anhänger_innen auch nach seinem Tod weitergeführt wird, ergänzt sich also vorzüglich mit Gehorsamsübungen und harten Disziplinarmaßnahmen gegen jene, die gegen die innerhalb der Gruppe geltenden Regeln verstoßen: „Wenn du nur schon erwischt wirst, dass du einem Mann im Gespräch die Hand auf die Schulter legst, dann hast du ein Problem.“ So ist es auch kein Wunder, dass die spirituelle Körperfeindlichkeit sich auch in der entsprechenden Sexualmoral niederschlägt: „Natürlich ist auch der Zeugungsvorgang an sich zu vermeiden, es geht alles nur von den oberen Chakren aus, vom Herz aufwärts.“ Für Leute, die den Esoterik-Slang nicht beherrschen: „Chakren“ sind grob gesagt die Zentren, an denen sich die „spirituelle Energie“ im Körper konzentriert. „Die niederen Chakren, alles was unrein ist – es wird ja auch gewertet als unrein – das holt dich von der Reinheit weg. Das probiert man zu transzendieren. Es wird einem schon Anfangszeit zugestanden, aber Onanieren z.B. ist völlig tabu“.

Diese autoritäre Moral ist für denkende Menschen natürlich ebenso wenig gutzuheißen wie das dazugehörige wirre Weltbild. Wer die Errungenschaften der Aufklärung also nicht einfach aufgeben möchte, sollte sich künftig ein wenig aufmerksamer durch Leipzigs Straßen bewegen und schauen, wer dort seine Werbung verteilt. Denn manchmal hat Esoterik wenig mit Wattebausch-Seelenmassage zu tun.

(justus)

 

(1) www.relinfo.ch/chinmoy/ex.html

Stimmungsmache gegen Roma in Volkmarsdorf

Frauen rennen aus Angst weg, Kinder dürfen nicht mehr auf die Straße, Wassereimer werden aus den Fenstern geschüttet. Bürgerkriegsähnliche Zustände werden heraufbeschworen und eine private Bürgerwehr als letztes Mittel in Betracht gezogen. So schildert einer der selbsternannten „letzten deutschen Mieter“ die Situation in Volkmarsdorf im August 2010.

Seit fast einem halben Jahr hält die Stimmungsmache gegen die im multikulturell geprägten Leipziger Stadtteil (1) lebenden Roma an. AnwohnerInnenbeschwerden, Gespräche hinter vorgehaltener Hand und Anfeindungen gegen Roma auf der Straße oder in der Schlange im Supermarkt lassen erkennen: Rassismus und Antiziganismus sind keineswegs überwunden.

Stattdessen werden typische anti­ziganistische Vorurteile reproduziert. So werden die Roma für Lärm, Müll und angeblich zunehmende Diebstähle, Einbrüche und Sachbeschädigungen verantwortlich gemacht. (2) Ein Anstieg der Kriminalitätsrate ist laut Polizei jedoch nicht zu verzeichnen. (3)

Mit reichlich Stereotypen und Vorurteilen im Kopf werden hier wieder einzelne Menschen in Schubladen gepackt und als Störer der guten deutschen Ordnung identifiziert. Es wird sogar gedroht, eine Bürgerwehr zu gründen.

Die NPD veröffentlichte am 01.09.2010 unter der Überschrift „Multi-Kulti-Terror in Leipzig-Volkmarsdorf – NPD-Stadträte begrüßen geplante Gründung einer Bürgerwehr“ eine Pressemitteilung (4) und konstruiert darin eine „permanente Situation der Bedrohung für deutsche Anwohner“. Außerdem stellten die Nazis, wie in der Mitteilung angekündigt, eine Anfrage im Leipziger Stadtrat zur „Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch Sinti und Roma“.(5)

Da die NPD in Volkmarsdorf recht hohen Zuspruch hat (6) und auch einer der Stadträte im Viertel (7) wohnt, liegt es nah, dass die Nazis in Kontakt mit den Beschwerdeführern stehen oder diese eben aus dem Umfeld der NPD kommen.

Schuld an all dem Übel sollen mal wieder die „Zigeuner“ (8) haben, darüber scheinen sich Teile der AnwohnerInnenschaft und die NPD jedenfalls einig zu sein. Dass der Mob die Sache zur Not auch selbst in die Hand nehmen will, zeigt welche Gefahr von weit verbreiteten rassistischen Einstellungen ausgeht.

Viele Akteure im Leipziger Osten und auch die LVZ betrachten die Problemlage fast ausschließlich als ordnungspolitische Fragestellung. (9) Im Aktionsbündnis „Sicherheit im Leipziger Osten“ (10), einem Zusammenschluss aus VertreterInnen verschiedener Behörden und Vereine, hat sich eine Arbeitsgruppe „Roma“ gegründet – wohlgemerkt ohne Einbeziehung der Roma. In der kürzlich vom Aktionsbündnis veröffentlichten Anwohnerinformation „Roma in der Nachbarschaft“ darf natürlich die Telefonnummer von Polizei und Ordnungsamt nicht fehlen.

Noch mehr schockiert der Inhalt des Schreibens, denn dieser reproduziert anti­zi­ganistische Vorurteile, statt sie als solche zu entlarven. So schreibt die Arbeitsgruppe: „Maßnahmen, wie etwa verstärkte Streifengänge der Polizei, die beherzte Ansprache der Roma durch Bürger mit Zivilcourage oder aber auch die zunehmend kühle Witterung haben dazu beigetragen, dass in letzter Zeit weniger Beschwerden über Lärm, Verschmutzung usw. zu verzeichnen waren“. (11) Abschließend lädt die AG „Roma“ zu einer „Veranstaltung zur aktuellen Lage“ in Volkmarsdorf ein.

Es besteht also dringend Handlungsbedarf um den Nazis in der Nachbarschaft etwas entgegenzusetzen. Erste Schritte sind bereits gemacht: Eine Gruppe von Engagierten veranstaltete unter dem Motto „Abspielen statt Abgrenzen – Bürgerwehr und Rassismus wegkicken“ am 21.11. 2010 im Rahmen einer Kundgebung ein antirassistisches Fußballturnier. So soll direkte Solidarität gelebt und vor Ort ein erstes Zeichen gegen die rassistische Stimmungsmache gesetzt werden.

Initiative „Bürgerwehr Aufessen!“

Kontakt: antira-lo@gmx.de

 

(1) Laut „Sozialreport 2009“ der Stadt Leipzig haben 26,3% der EinwohnerInnen in Volkmarsdorf einen Migrationshintergrund (www.leipzig.de/sozialreport)

(2) Siehe LVZ-Artikel vom 27.08.2010 „Extreme Feindlichkeit – Zoff um Sinti und Roma in Volkmarsdorf: Stadt und Polizei reagieren auf Anwohnerbeschwerde“

(3) Siehe Mephisto97.6-Meldung vom 27.08.2010 „Polizei lehnt Bürgerwehr in Volkmarsdorf ab“

(4) Siehe www.npd-leipzig.net/2010/09/01/multi-kulti-terror-in-leipzig-volkmarsdorf-npd-stadtraete-begruessen-geplante-gruendung-einer-buergerwehr/

(5) Anfrage Nr. V/F 213 vom 15.09.2010 an den Oberbürgermeister der Stadt Leipzig

(6) Wahlergebnis der NPD 2009 in Volkmarsdorf: Sächsischer Landtag Direktstimmen 9,9%, Listenstimmen 10,5%; Leipziger Stadtrat 8,0%; höchste Ergebnisse in ganz Leipzig

(7) NPD-Stadtrat Rudi Gerhardt Idastr. 18, 04315 Leipzig siehe www.rechte-sachsen.de/Kommunalwahlen_NPD_2009_Ergebnis_Sitze.pdf

(8) Die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ ist von Stigmatisierung und Stereotypen geprägt. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma lehnt diesen Begriff ab. Er wird hier aber verwendet, weil eben nicht reale Menschen gemeint sind, sondern das projizierte Bild.

(9) Siehe dazu auch CEE IEH #181 „Was die LVZ Sonntagabend vom Tatort lernen könnte…“ www.conne-island.de/nf/181/3.html

(10) Mehr Informationen zu Zielen und Arbeitsweise des Bündnisses unter www.leipziger-osten.de/content/aktionsbuendnis-sicherheit/

(11) Das Schreiben ist auf den 15.11.2010 datiert und wird seitdem an Haushalte und bei verschiedenen Veranstaltungen verteilt.

„Leipziger Zustände“ in Runde zwei

Seit Ende 2008 berichtet die Internet-Dokumentationsplattform chronik.LE (siehe FA! #32) über „rassistische, faschistische und diskriminierende Ereignisse in und um Leipzig“. Die Initiative veröffentlicht aber auch in gedruckter Form, in der Broschüre „Leipziger Zustände“, deren zweite Ausgabe im November 2010 erschien. Hier findet mensch viel Wissenswertes, z.B. über neonazistische Umtriebe in Leipzig und Umgebung. Aber auch das Weltbild der Neonazis (etwa ihre Idee vom „deutschen Volk“) wird analysiert, ebenso wie die Rolle der Frauen in der rechten Szene. Ebenso wird die Situation von Migrant_innen in Leipzig beleuchtet, die Medinetz-Initiative (siehe FA! #38) vorgestellt, das neu errichtete Uni-Gebäude auf seine Behindertentauglichkeit geprüft und nachgeschaut, welche Folgen die Hartz-IV-Gesetze für Leipziger Erwerbslose hatten. Dass es auch angenehm sein kann, die Arbeit loszuwerden, zeigt dagegen ein Interview mit dem Hausphilosophen des Leipziger Centraltheaters, Guillaume Paoli, der über seine Erfahrungen in der Bewegung der „Glücklichen Arbeitslosen“ berichtet. Und auch Thilo Sarrazin kriegt sein Fett weg, wenn erklärt wird, wie Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung genutzt werden, um Stimmung gegen Randgruppen zu machen.

So löblich, wie der Inhalt ist, lässt sich nur darüber meckern, dass diskriminierende Einstellungen hier immer wieder „menschenverachtend“ genannt werden. Schließlich richtet sich Diskriminierung (anders als allgemeine Misanthropie) immer nur gegen bestimmte Menschengruppen, und genau das macht sie politisch so gefährlich. Nur ein Detail, aber „Sprache ist nicht `neutral`“, das wissen die Autor_innen ja auch selber. Ansonsten: Weiter so!

(justus)

Sonderzug ins Tierreich (Teil 1)

Vom Liberalismus zur Eugenik

Man könnte froh sein, dass die Medienhysterie um Thilo Sarrazin mittlerweile abgeflaut ist. Nicht allein, weil Sarrazin mit seiner Klage über zu viele Geburten in der Unterschicht und unintegrierte, genetisch zur Dummheit verdammte Ausländer bloß al­te Vorurteile aufwärmte. Sondern auch, weil die meisten seiner „Kritiker“ darauf nicht mit Kritik, sondern nur mit moralischer Empörung antworteten – man denke etwa an SPD-Chef Gabriel, der gegen Sarra­zin nur einzuwenden hatte, dass dieser nicht das Menschenbild der SPD vertrete.

Da muss also wieder der Feierabend! in die Lücke springen. In diesem Heft soll dabei zunächst aufgezeigt werden, in welcher historischen Tradition sich Sarrazin mit seinem Denken bewegt. Dabei will ich mich auf einige zentrale „Thesen“ Sarrazins konzentrieren – der Diskurs über die „Unterschicht“, die Behauptung, Intelligenz sei angeboren und zwischen verschiedenen Menschengruppen ungleich verteilt und schließlich die daran anschließende Forderung nach Eugenik, nach einer systematischen Politik der „Bevölkerungsverbesserung“. Als neuere Form des biologistischen Denkens, die in den 1970er Jahren im wissenschaftlichen Diskurs auftauchte, soll dann im nächsten Heft die sog. Soziobiologie ausführlicher kritisiert werden.

Die Geburt der Biopolitik

Als wichtigster Vordenker des Sozialdarwinismus kann wohl der englische Ökonom Thomas Malthus gelten. In seinem 1798 veröffentlichten „Essay On The Principles Of Population“ (dt. „Das Bevölkerungsgesetz“) behauptete Malthus, es sei ein Naturgesetz, dass die Bevölkerung stets schneller wachse als neue Ackerflächen kultiviert werden können – während die Bevölkerung in geometrischen Proportionen wachse (also 1, 2, 4, 8, 16…), erhöhe sich die Nahrungsproduktion nur in arithmetischer Folge (1, 2, 3, 4, 5…). Hunger und Armut seien darum unvermeidbar. Wie Friedrich Engels treffend bemerkte, machte Malthus damit die soziale Frage zur biologischen: Armut erschien so nicht mehr als Produkt einer bestimmten Eigentumsordnung, die wachsende Zahl der Armen nicht mehr als Folge eines Wirtschaftssystems, das durch stete Rationalisierung der Arbeit immer neue „Überflüssige“ und durch die Konkurrenz immer neue Verlierer produzierte – nein, das Problem lag einfach bei der Fortpflanzung.

Dieses Denken schlug sich auch im britischen Armengesetz von 1834 nieder. Die bis dahin übliche Armenunterstützung durch Zuteilung von Lebensmitteln wurde nun im Lichte von Malthus´ Theorie als „ein Hemmnis der Industrie, eine Belohnung für unüberlegte Heiraten, ein Stimulus zur Vermehrung der Bevölkerung“ denunziert. Auch der „Einfluss einer vermehrten Volkszahl auf den Arbeitslohn“, also ein Sinken der Löhne, würde dadurch verhindert – so lautete (in Engels´ Worten) das Urteil der Kommission, die das alte Armengesetz überprüfte.

Also wurde hart durchgegriffen: „Alle Unterstützung in Geld oder Lebensmitteln wurde abgeschafft, die einzige Unterstützung, welche gewährt wurde, war die Aufnahme in die überall sofort erbauten Arbeitshäuser.“ Die Zustände in diesen Häusern waren miserabel: Schlechte Ernährung, harte und sinnlose Arbeit, mangelnde medizinische Versorgung und harte Strafen bei den kleinsten Regelverstößen. Damit die „Überflüssigen“ sich nicht vermehrten, wurden die Familien getrennt. Vor allem ging es aber darum, die Lohnarbeit zur einzig möglichen Einkommensquelle zu machen – oder wie die Liberalen es sahen, die Hindernisse zu beseitigen, die der natürlichen Ordnung des Marktes im Wege standen (siehe den Polanyi-Artikel in FA! #19).

Die Armut war dabei für die liberalen Besitz- und Bildungsbürger ein nicht nur unvermeidbares, sondern auch notwendiges Übel. Denn so, wie sie selbst ihren wirtschaftlichen Erfolg als Beweis besonderer Tüchtigkeit ansahen, so mussten eben auch die Armen selber schuld sein, wenn die angebliche Rechts- und Chancengleichheit praktisch zu unübersehbarer Ungleichheit führ­te. Die Wirkungen der Markt­konkur­renz wurden so zu Eigenschaften der Individuen selbst, ihr Marktwert erschien als eine ihnen schon „von Natur aus“ innewohnende Größe: Wer arm war, bewies damit seinen Mangel an Unternehmergeist und Intelligenz.

„Kampf ums Dasein“

Auch der junge Charles Darwin wurde von Malthus´ Ideen zu seiner Theorie der natürlichen Auslese inspiriert, wie er in einer autobiographischen Notiz schreibt: „Im Oktober 1838 (…) las ich zufällig (…) das Buch von Malthus über die Bevölkerung. Da mich lang fortgesetzte Beobachtungen über die Lebensweise von Tieren und Pflanzen hinreichend darauf vorbereitet hatten, den überall stattfindenden Kampf ums Dasein zu würdigen, so kam sofort der Gedanke, dass unter solchen Umständen vorteilhafte Änderungen der Lebewesen dazu neigen müssten, erhalten zu werden, unvorteilhafte dagegen vernichtet zu werden. Das Resultat muss die Bildung neuer Arten sein. Hier hatte ich denn nun endlich eine Theorie, mit welcher ich arbeiten konnte…“

Diese Theorie machte Darwin (nach Veröffentlichung seines Buches „Die Entstehung der Arten“ 1859) nicht nur zum bedeutendsten Naturwissenschaftler seiner Zeit. Darwins Lehre schien auch eine Erklärung für die sozialen Zustände, den ständigen Konkurrenzkampf in der kapitalistischen Arbeits- und Wirtschaftswelt zu bieten. Schließlich bezog Darwin seine Inspiration von Theoretikern, die genau diese Zustände (weg)erklären wollten – nicht nur von Malthus, sondern auch von dem Soziologen Herbert Spencer (von dem z.B. die berühmte Formel vom „survival of the fittest“ stammt). Es lag also nahe, nun wiederum die Gesellschaft im Lichte der Dar­winschen Evolutionstheorie zu deuten.

Darwin verlieh dem Sozialdarwinismus zwar eine biologische Basis und mit seinem Namen auch wissenschaftliches Ansehen. Er selbst hatte aber Skrupel, seine Theorie auch auf den Menschen anzuwenden. So wie er schon (aus religiösen Gründen) lange gezögert hatte, seine Evolutionstheorie öffentlich zu machen, so zögerte er auch jetzt. Erst 1871 veröffentlichte er sein Buch über „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“.

Hier zeigte sich, wie sehr Darwin den common sense seiner Zeitgenossen teilte, etwa was die außereuropäischen „Rassen“ betraf. Die Vorstellung eines evolutionären Aufstiegs der Menschheit von niederen zu höheren Stufen war schon seit der Aufklärung ein Allgemeingut des europäischen Denkens. Und obwohl die Aufklärer diesen Fortschritt vor allem als steten Prozess der moralisch-geistigen Vervollkommnung sahen, gingen auch sie stillschweigend davon aus, dass die gebildete europäische Oberschicht (also sie selbst) dabei die höchste Stufe einnahmen – die außereuropäischen „Völker“ mussten folglich auf niedrigeren Stufen der Entwicklung angesiedelt sein. So meinte z.B. Kant: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen.“

Das sah Darwin ebenso, und so kolportierte er nun seitenlang das gängige Bild von den abergläubischen, triebhaften, grausamen „Wilden“. Das liest sich etwa so: „Die das eigene Selbst betreffenden Tugenden (…) sind von den Wilden nie beachtet worden, obgleich sie jetzt von zivilisierten Völkern hoch geschätzt werden (…) Größte Ausschweifung und unnatürliche Verbrechen herrschen in einer erstaunlichen Ausdehnung (…) Der Abscheu gegen die Unzüchtigkeit, der uns so natürlich erscheint, dass wir sie fast als angeboren betrachten, und der eine so wertvolle Hilfe für die Keuschheit bildet, ist eine moderne Tugend, die (…) ausschließlich den zivilisierten Völkern eigen ist“. Oder kurz gesagt: Die „Moralität bei den Wilden“ befinde sich „gemessen an der unseren“ eben auf einem weit niedrigeren Stand. Ein sauberer Zirkelschluss, denn wenn man die eigene „Moralität“ zur absoluten Norm erhebt, dann muss jede Abweichung von dieser Norm natürlich eine Abweichung zum Schlechteren sein.

Hirngespinste

Darwin versuchte aber auch, die angeblich höhere Moral der Weißen über die „Vererbung moralischer Neigungen“ zu erklären. Ebenso glaubte er, dass in dem Maße „wie die verschiedenen geistigen Fähigkeiten nach und nach sich entwickelt haben, auch das Gehirn sicherlich größer geworden“ sei. Auch damit stand er nicht alleine da: Solche Schädelmessungen waren damals eine anerkannte Wissenschaft. Der erste Versuch, auf diesem Wege die angebliche Überlegenheit der weißen Rasse wissenschaftlich zu untermauern, wurde von dem US-Amerikaner Samuel George Morton unternommen, der sich dazu auf die von ihm angelegte, ca. 600 Stück umfassende Sammlung menschlicher Schädel stützte. Indem er deren Volumen maß, wollte Morton Rückschlüsse auf die Größe des Hirns und damit die Intelligenz der jeweiligen „Rassen“ ziehen.

Die Ergebnisse schienen die Theorie zu bestätigen: „Weiße“ hatten scheinbar die größten Schädel, „Gelbe“ etwas kleinere, und „Schwarze“ standen ganz am Ende der Hierarchie. Der amerikanische Biologe Stephen Jay Gould, der sich die Mühe machte, Mortons Vorgehen genauer zu untersuchen, kam in seinem 1981 veröffentlichten Buch „The Mismeasure of Man“ („Der falsch vermessene Mensch“) allerdings zu einem anderen Schluss: Morton habe die Untersuchung unbewusst manipuliert, um zu seinem Ergebnis zu kommen. So hatte er die Schädel anfangs mit Senfkörnern gefüllt, um ihr Volumen zu messen. Da die Senfkörner aber ungenaue Zahlen lieferten, wechselte er nach einer Weile zu Schrot über. Als er die Ergebnisse der ersten (Senfkorn-) mit der zweiten (Schrot-)Messung miteinander verglich, fiel Gould auf, dass Morton bei den „nicht-weißen“ Schädeln wesentlich nachlässiger gemessen hatte als bei den „weißen“. Zudem hatte er schon bei der Auswahl der Schädel manipuliert und bestimmte, eher groß gewachsene nicht-europäische Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen. In der Summe ergaben diese kleinen Manipulationen das gewünschte Ergebnis.

Die Schädelforscher wollten aus ihrem Gegenstand aber nicht nur allgemeine Aussagen über die Intelligenz ableiten: So glaubte der italienische Kriminalanthropologe Cesare Lombroso, am Schädel und der Physiognomie auch Neigungen zum Verbrechen ablesen und mehr noch, sogar die verschiedenen Verbrechertypen, vom Ladendieb bis zum Raubmörder, unterscheiden zu können. Indem er Kriminalität auf erbliche Disposition zurückführte, verband Lombroso die Schädelforschung mit dem Diskurs über „Degeneration“, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bürger in Aufregung versetzte. Der Fortschrittsglaube geriet ins Wanken, mehr und mehr trat die Gefahr eines möglichen Rückschritts ins Zentrum der Erörterungen.

Als einer der Ersten formulierte der französische „Rassenforscher“ Arthur Graf von Gobineau diese Angst vor dem Rückschritt in seinem 1855 vollendeten Hauptwerk „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“ und entwarf eine Geschichtsphilosophie, in der er Aufstieg und Fall der diversen „Völker“ aus der „Rassenmischung“ zu erklären suchte. Gobineaus besondere Vorliebe galt dabei den „Ariern“. Sämtliche kulturellen Leistungen der Menschheit seien deren Werk gewesen. Nach der erfolgreichen Unterwerfung der anderen Völker hätten sich die Arier aber mit diesen vermischt und seien damit der „Dekadenz“ anheim gefallen.

Angst vor der Masse

Ebenso wie die Angst vor „Degeneration“ war auch die Angst vor der „Masse“ ein Krisensymptom. Denn im Zuge der Industrialisierung und der Durchsetzung der Marktwirtschaft hatten sich die Besitzlosen in den Städten gesammelt, um dort nach Arbeit zu suchen. Diese „Masse“ wurde mehr und mehr zu einer Quelle steter Beunruhigung für das Bürgertum, das die Masse (zu Recht) als Gefahr für die öffentliche Ordnung sah. So begünstigten die elenden Lebensbedingungen der unteren Klassen nicht nur Seuchen und Kriminalität (wie Lombroso sie mit seiner Schädelforschung erblich erklären wollte). Das städtische (Sub-)Proletariat entwickelte sich nach und nach auch zu einer politischen Kraft, deren Ansprüche nicht mehr einfach zu ignorieren waren.

Mit seinem 1895 erschienenen Werk über die „Psychologie der Massen“ verlieh Gustave Le Bon (der nicht ganz zufällig seine wissenschaftliche Karriere als Schädelvermesser begann) diesen Befürchtungen des Bürgertums Ausdruck. Le Bon sah ein „Zeitalter der Massen“ heraufziehen, das „den gänzlichen Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaft“ mit sich bringen werde, „um sie jenem primitiven Kommunismus zuzuführen, der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gemeinschaft war.“ Die Hauptmerkmale der Masse seien „Triebhaftigkeit, Reizbarkeit, Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Überschwang der Gefühle“, Eigenschaften also, wie sie bei „Wesen einer niedrigeren Entwicklungsstufe“, „beim Wilden und beim Kinde“ zu finden seien. Und um die Liste der „niedrigeren Entwicklungsstufen“ der Menschheit komplett zu machen: „Überall sind die Massen weibisch.“

Wenn Menschen sich in Gruppen zusammentun, so Le Bon, würden sie zur „Masse“ und damit Opfer irrationaler Instinkte. Le Bon hatte freilich recht eigene Ansichten davon, was „irrational“ sei: So erschien ihm auch die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter_innen nur als Ausdruck eines dunklen Triebs und nicht als vernünftiges Mittel zur Verbesserung der eigenen Lage. Auch darin erweist sich sein Blickwinkel als der Blickwinkel eines weißen, europäischen, bürgerlichen Mannes, und sein Buch als Ausdruck der Ängste, von denen die Bürger um 1900 getrieben wurden.

Nicht nur von Seiten des Proletariats sahen sich die Bürger bedroht, sondern auch von der aufkommenden Frauenbewegung. Diese „Massen“, die man so lange erfolgreich aus der parlamentarischen Politik ferngehalten hatte, forderten nun gleiche Rechte ein. Und damit gewann auch der Biologismus als Abgrenzungsideologie zuseh­ends an Bedeutung. Beispielhaft zeigt sich dies an den amerikanischen Rassengesetzen, die erst nach der Sklavenbefreiung erlassen wurden. Bis dahin war die Sklaverei vor allem aus dem „Erziehungsauftrag“ gegenüber den Schwarzen begründet worden, aber nun wurden angeblich unüberwindliche biologische Trennlinien gezogen und jeglicher „Rassenmischung“ ein gesetzlicher Riegel vorgeschoben. Ein ähnlicher Zusammenhang lässt sich zwischen der 1871 für das ganze Deutsche Reich verkündeten rechtlichen Gleichstellung der Juden und dem Aufstieg des modernen, „rassisch“ begründeten Judenhasses herstellen.

Bevölkerungskontrolle

Diese Themen verbanden sich im eugenischen Denken zu einer brisanten Einheit: Die Eugeniker sahen sich selbst in der Rolle des Arztes und die „Degeneration“ als die Krankheit, von der es die „Masse“ als Patienten zu heilen galt.

Während die Sozialdarwinisten den „Kampf ums Dasein“ zum auch in der menschlichen Gesellschaft wirkenden Naturgesetz erklärten, war es die Sorge der Eugeniker, dass dieses „Naturgesetz“ von der menschlichen Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden könnte. Auch Darwin stellte in seinem Buch „Über die Abstammung des Menschen“ solche Überlegungen an: „Unter den Wilden werden die an Körper und Geist Schwachen bald eliminiert; die Überlebenden sind gewöhnlich von kräftigster Gesundheit. Wir zivilisierten Menschen dagegen tun alles Mögliche, um diese Ausscheidung zu verhindern. Wir erbauen Heime für Idioten, Krüppel und Kranke. Wir erlassen Armengesetze (…) Infolgedessen können auch die schwachen Individuen der zivilisierten Völker ihre Art fortpflanzen. Niemand, der etwas von der Zucht von Haustieren kennt, wird daran zweifeln, dass dies äußerst nachteilig für die Rasse ist.“

Hier zeigt sich, wie sehr Darwin von seinen Anhängern beeinflusst wurde, in diesem Fall von seinem Cousin Francis Galton, dem Begründer der Eugenik. Wie dieser sorgte Darwin sich nicht nur wegen der mangelnden Auslese, sondern auch, weil die „Untauglichen“ sich vermeintlich zu rasch fortpflanzten. Dazu zitiert Darwin einen Mitarbeiter Galtons: „Der sorglose, schmutzige, genügsame Irländer vermehrt sich wie ein Kaninchen; der mäßige, vorsichtige, sich selbst achtende ehrgeizige Schotte (…) heiratet spät und hinterlässt wenig Kinder. Gesetzt den Fall, ein Land sei ursprünglich von tausend Sachsen und tausend Kelten bewohnt“, so würden bald „fünf Sechstel der Bevölkerung Kelten sein, aber fünf Sechstel alles Besitztums, aller Macht und Intelligenz würde sich in den Händen des einen Sechstels Sachsen befinden.“

Um dem vorzubeugen, sollte nach Galtons Meinung der Staat die „Erbkranken“ nicht nur von der Fortpflanzung abhalten, sondern ihnen auch jede Unterstützung verweigern, um nicht durch einen „irregeleiteten Instinkt des Mitleids und des Helfens den Schwachen eine zu große Fürsorge zu schenken und dadurch das Aufkommen der Starken und Tapferen zu verhindern“. Dagegen sollten die „Erbgesunden“ mit gezielten Maßnahmen zur Vermehrung angeregt werden, wie Galton sich ausmalte: „Die Heiratslustigen müssen sich einer gründlichen Untersuchung auf Ehetauglichkeit von Körper und Seele unterziehen, damit Bestes zum Besten sich zusammenfindet. Ein Preis als Mitgift soll jedes Jahr vom Staat für solche Ehen vergeben werden, von deren Nachwuchs zu erwarten ist, dass sie Staat und Gesellschaft aufgrund ihrer durch das Erbgut der Eltern hervorgebrachten positiven Eigenschaften und Fähigkeiten besonders wertvolle Dienste leisten.“

Das eugenische Denken gewann rasch international an Popularität. 1905 gründete der Arzt Alfred Ploetz in Berlin die Gesellschaft für Rassenhygiene, weltweit die erste Gesellschaft dieser Art – erst 1908 rief Galton in England eine ähnliche Vereinigung ins Leben. Weitere Gründungen (in den USA, Holland und Norwegen) folgten. Für seine „Verdienste“ wurde Galton schließlich der Adelstitel verliehen, und als er 1911 starb, wurde ein Teil seiner Erbschaft verwendet, um an der Londoner Universität den ersten Lehrstuhl für Eugenik einzurichten. 1912 fand in London der Erste Internationale Kongress für Rassenhygiene und Eugenik mit rund 700 Teilneh­mer_innen statt. Unter den Redner_innen war übri­gens auch der russische Anarchist Pjotr Kropot­kin.

Das eugenische Programm lag im Trend der Zeit und profitierte von den neuen staatlichen Kontrollmöglichkeiten, die der 1. Weltkrieg mit sich brachte. Der Krieg erzwang die lückenlose Registrierung aller Staatsangehörigen, und so statteten die Nationalstaaten nun alle Bürger_innen mit Ausweispapieren aus (siehe FA! #24), um Deserteure und Spione ausfindig machen, Wehrpflichtige einziehen, kurz gesagt die menschlichen Ressourcen optimal ausnutzen zu können. Dieses neue staatliche Interesse an der Kontrolle von Bevölkerungbewegungen verband sich z.B. im US-amerikanischen Einwanderungsgesetz von 1924 mit dem eugenischen Programm. Bei Tests an osteuropäischen Einwanderern wollten Wissenschaftler festgestellt haben, dass die Flüchtlinge einen durchschnittlichen IQ von nur 75 Punkten hatten, also blöd bis zur Schwachsinnigkeit waren. Die Ergebnisse waren zwar nur eine Folge mangelnder Sprachkenntnisse und Schuldbildung, weckten aber dennoch Ängste vor einer möglichen „Degeneration“ des amerikanischen Volkes durch Vermischung mit den osteuropäischen Flüchtlingen. Per Gesetz wurde die Einwanderung schließlich drastisch beschränkt (was dann in den 30er Jahren vielen deutschen Juden zum Verhängnis werden sollte).

Sozialistische Eugenik

Aber auch für die Demokratie spielte der 1. Weltkrieg eine wichtige Rolle. Denn um die Bevölkerung aktiv in den Krieg einzubeziehen, war es auch nötig, ihr gewisse Rechte zu gewähren. Dieser Prozess ließ sich nicht wieder rückgängig machen: Um 1918 herum führten die meisten Nationalstaaten das allgemeine, gleiche Wahlrecht ein. Die Befürchtung der Bürger, wenn man die bislang Ausgeschlossenen an der Macht beteilige, drohe der „Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaft“, erfüllte sich freilich nicht. So dachten die Sozialdemokraten, die 1919 in Deutschland und Österreich die Regierung übernahmen, nicht daran, irgendetwas umzustürzen. Ihre Vision von Sozialismus beschränkte sich darauf, die gesamte Gesellschaft im Dienste des „Allgemeinwohls“ staatlich zu verwalten (siehe „Verquere Fronten“, FA! # 28).

Und so waren es gerade die Sozialist_innen, die das eugenische Menschheitsbe­glück­ungs­programm vorantrieben. Dazu gehörte z.B. der österreichische Sozialdemokrat Karl Kautsky, der die Theorie von Malthus und Spencer mit dem Marxismus zu verbinden suchte und im Laufe seines Lebens mehrere Bücher zum Thema der Bevölkerungspolitik schrieb. In England wurde die Eugenik vor allem von der Fabian Society propagiert, einem sozialdemokratischen Club, dem u.a. die Schriftsteller George Bernard Shaw und H. G. Wells angehörten. Und auch der schon erwähnte Schädelmesser Lombroso war überzeugter Sozialist. Das ist nur scheinbar paradox: Die meisten führenden Sozialisten teilten die Abscheu der Bürger vor der „Masse“, dem „Lumpenproletariat“, dem sie das „gute“ Proletariat entgegenstellten. Auch der Glaube an die an sich schon wohltuende Wirkung von Wissenschaft und Technik war fester Teil ihres Weltbilds, weswegen sich die Sozialisten (anders als die bürgerlichen Wissenschaftler) nicht scheuten die wissenschaftlichen „Erkenntnisse“ der Eugenik in ein politisches Programm umzuwandeln.

Ein solches Programm stellte z.B. Julius Tandler auf, ein Parteigenosse und Verehrer Kautskys. Tandler, der ab 1922 das Wohlfahrtsamt der Stadt Wien leitete, verwendete dafür den Begriff der „Menschenökonomie“, worunter er „die rationelle Bewirtschaftung des organischen Kapitals“ (also der Bevölkerung) verstand. In einer Schrift von 1924 schlüsselte er z.B. die Sozialausgaben auf: „80 Milliarden für die geschlossene Armenpflege“, die „gewiss gerecht und human, aber sicher nicht produktiv“ sei. „44 Milliarden kostet die Irrenpflege“. Und Tandler fährt fort: „[N]ehmen wir an, dass es uns gelänge, durch vernünftige bevölkerungspo­litische Maßregeln die Zahl der Irrsinnigen auf die Hälfte herabzusetzen“, so sei es mit dem gesparten Geld möglich, „nahezu ein Drit­tel aller Schulkinder Wiens“ für vier Wo­chen jährlich in den Urlaub zu schicken.

Was Tandler sich für „bevölkerungspolitische Maßregeln“ vorstellte, bleibt unklar. Vielleicht dachte er dabei an Zwangssterilisationen, wie sie zu dieser Zeit schon in vielen Bundesstaaten der USA schon routinemäßig an Heimin­sass_innen durchgeführt wurden. Aus seiner Kosten-Nutzen-Rechnung folgt jedenfalls mit zwingender Logik „die Idee, dass man lebensunwertes Leben opfern müsse, um Lebenswertes zu erhalten (…) Denn heute opfern wir vielfach lebenswertes Leben, um lebensunwertes Leben zu erhalten.“ Der Jargon ist verräterisch: Nur wenige Jahre später setzten die Nazis dann die Vernichtung „unwerten“ Lebens weit konsequenter um, als es Sozialdemokraten wie Tandler und Kautsky zu träumen gewagt hätten. Die Rassengesetze, „Euthanasie“ und die massenhafte Vernichtung von „rassisch Minderwertigen“ in den Konzentrationslagern zeigten die hässliche Kehrseite des eugenischen Traums vom „vollkommenen Menschen“.

Nach dem Ende des 2. Weltkriegs war die Eugenik also gründlich diskreditiert. Die Wissenschaftler_innen distanzierten sich öffentlich vom Rassismus und biologistischen Erklärungen für die Ungleichheit der Menschen. Erledigt war der Biologismus damit aber nicht. Ab den 1970er Jahren kehrte er im Gewand der modernen Genetik, unter dem Label der „Soziobiologie“ zurück. Diese neue Form des biologistischen Denkens soll im nächsten Heft das Thema sein.

(justus)

Verwendete Literatur:
Friedrich Engels, „Zur Lage der arbeitenden Klassen in England“, MEW Bd. 2, Dietz Verlag Berlin 1976
Stephen Jay Gould, „Der falsch vermessene Mensch“, Suhrkamp Verlag Frankfurt 1988
Manfred Kappeler, „Der schreckliche Traum vom vollkommenen Menschen – Rassenhygiene und Eugenik in der Sozialen Arbeit“, Schüren Verlag 2000
Gustave Le Bon, „Psychologie der Massen“, Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1982

Wir haben blockiert – Du auch?

November 2010 – der Gorleben-Castor der Superlative: Es war der längste Castor­trans­port aller Zeiten. Es war einer der teuersten Transporte aller Zeiten. Es war der größte Protest aller Zeiten. Angefangen hat es wie in jedem Castorjahr. Die verschiedenen Ko­ordi­nierungsgruppen trafen sich in kleinem Kreis und begannen die Planung für den Castor­protest im November 2010. Doch in diesem Jahr war vieles anders. Früher als sonst startete die Mobilisierung auch bei X-tausendmal quer, einer Initiative, die seit vielen Jahren die Castortransporte nach Gorleben mit Sitzblockaden auf Straße und Schiene blockiert und mit einer viel intensiveren Kampagne als noch in den letzten Jahren in die Vorbe­reitung startete.

Eine neue Website ging online, ein neues Logo wurde entwickelt. Der Newsletterversand startete bald und brachte es bis zum Ende der Kam­pagne auf über 4000 Empfänger_innen. Mehrere tausend Menschen erklärten im Vorfeld online ihre Absicht, an den Aktionen teilzunehmen oder ihre Solidarität mit den Ak­ti­vi­st_innen. Plakate, T-Shirts, Aufkleber wurden produziert. Infoveranstaltungen bundesweit angeboten. Mobilisierungsclips für die Aktion von X-tausendmal quer liefen in über 90 Kinos in ganz Deutschland. In einer bundesweiten Trainingskampagne fanden weit über 60 Aktionstrainings mit insgesamt über 1000 Teilnehmenden statt. Diese Großkam­pag­ne von X-tausendmal quer wurde von einem immer größer werdenden Team von Ehrenamtlichen über 10 Monate vorangetrieben.

Begleitet von Höhepunkten, wie der Großdemonstration am 18. September in Berlin und dem Streckenaktionstag am 24. Oktober mit Aktionen an über 70 möglichen deutschen Durchfahrtsorten des hochgefährlichen Müllzuges, wurde das Thema Castortransport nach Gorleben immer größer, wichtiger und bekannter. Auch gab es in diesem Jahr neue Initiativen und Gruppen wie die große Kampagne Castor?Schottern! oder die sehr erfolgreiche Südblockade. Und es gab die „guten Alten“, die BI Lüchow-Dannenberg oder die bäuerliche Notgemeinschaft. Die gegenseitige Unterstützung und Solidarität waren auch in diesem Jahr an allen Stellen spürbar. Sowohl im Vorfeld, als die Staatsanwaltschaft bspw. Versuche startete, die öffentlichen Unterstützer_innen der Kampagne Castor?Schottern! zu kriminalisieren, als auch während der gesamten Aktionstage.

Anfang November begann die heiße Phase. Mit der Eröffnung des Camps in Gedelitz am 3.11. begann X-tausendmal quer die intensive Vorbereitung auf die Aktion. Mit täglichen Ak­tions­trainings, Workshops zur Bezugsgrup­pen­findung, Sprecher_innenräten, Infozelt, Info­ver­anstaltungen zum aktuellen Stand der Dinge wurde von uns alles getan, um die vielen Ak­tivist_innen in die Strukturen einzubinden, ihnen eine möglichst gute Vorbereitung zu ermöglichen.

Am Freitag, den 4.11. fuhr der Castor-Transport dann planmäßig los – kam aber nicht weit. Bereits nach wenigen Kilometern begannen die Gegenaktionen. Mehrere Blockaden auf französischem Boden, gefolgt von Blocka­de­aktionen kurz hinter der Grenze, Kletterak­tio­nen und angeketteten Menschen auf den Schienen. Unterdessen fand am Samstag in Dannenberg die bisher größte Demonstration in der Geschichte der Wendland-Proteste statt. 50.000 Menschen kamen aus dem ganzen Bundesgebiet und auch aus Nachbarländern wie Österreich oder der Schweiz, um der deutschen Regierung klar zu machen, dass sie mit der aktuellen Politik nicht einverstanden sind, dass sie den sofortigen Ausstieg aus der Atomkraft fordern, dass sie sich von Regierung und deren geheimen Verabredungen mit den Atomkonzernen hinters Licht geführt sehen. Und genau das ermutigte viele tausend Menschen in diesem Jahr nach der Demonstration einen Schritt weiterzugehen. Den Schritt von der Teilnahme an einer Demonstration hin zum aktiven zivilen Ungehorsam.

So auch bei X-tausendmal quer. Am Sonntag, den 5.11. gingen über 1.000 Menschen vom Camp Gedelitz aus auf die Straße. Die Blockade vor dem Zwischenlager begann, weitgehend unbehelligt von der Polizei, die zu dem Zeitpunkt damit beschäftigt war mehrere tausend Aktivist_innen an der Schiene von ihren Aktionen abzuhalten. Knapp 45 Stun­den blockierten die Aktivist_innen von X-tausendmal quer die Straße zum Zwischenlager. Am Dienstag ließen sich 4.000 Menschen von der Straße vor dem Zwischenlager tragen. Über 1.000 von ihnen hatten dort zwei Nächte geschlafen, vor der klirrenden Kälte geschützt durch Stroh, Schlafsäcke und Ret­tungsdecken. Tagsüber bereiteten sie sich mit Trainings in gewaltfreiem Handeln auf die Räu­mung vor und hielten sich mit Tee, Suppe und Bewegung warm.

Die Initiative X-tausendmal quer wertet die Blockade des Zwischenlagers und die Proteste der vergangenen Tage als wichtigen politischen Erfolg. „Der entschlossene massenhafte Protest der letzten Tage ist ein starkes politisches Signal: Die Endlagerfrage ist ungelöst, Gorleben kein geeigneter Standort und die Verlängerung von AKW-Laufzeiten lebensfeindlich“, erklärte deren Sprecherin Luise Neumann-Cosel, „Die schwarz-gelbe Energie­poli­tik ist unverantwortlich und nicht durchsetzbar. Die Polizei konnte die Straße räumen, doch die Regierung kann den Konflikt nicht aus­räumen.“

Wichtig ist an dieser Stelle auf folgendes hinzuweisen: Bei der Räumung der Blockade vor dem Zwischenlager wahrte die Polizei zum großen Teil die Verhältnismäßigkeit und trug die Blockierer_innen einzeln von der Straße. Allerdings war die Polizei dazu nicht an allen Orten in der Lage. Es kam zu Übergriffen, bei denen friedlichen Demonstrant_innen aus weni­ger als 50cm Entfernung Reizgas direkt in die Augen gesprüht wurde. Ganze Waldabschnitte wurden mit CS-Gas vernebelt, so dass sämtliche dort Anwesende unterschiedslos betroffen waren. Polizeibeamte – darunter in min­destens einem Fall sogar ein Polizeisani­tä­ter – wurden dabei beobachtet, wie sie ohne Vor­warnung und sichtbaren Grund auf Demonstrant/innen einprügelten. Durch diese Vorgehensweise wurden insgesamt mehr als 1000 Menschen verletzt. Ein professioneller Kletterer, der sich an einen Baum gekettet hat­te, wurde von einem Polizeibeamten ohne Vorwarnung in vier Meter Höhe mit Reizgas der­art attackiert, dass er vom Baum stürzte.

Der Widerstand in Gorleben war groß und ein unübersehbares Signal an die Verantwortlichen in der Regierung. Nun gilt es den Druck auf die Bundesregierung weiter aufrecht zu erhalten und zu steigern. Die nächsten Gelegenheit bietet sich trauriger weise noch in diesem Jahr. Mitte Dezember rollt der nächste Castorzug. Zwar nicht ins Wendland, aber nicht weniger umstritten und gefährlich. Er transportiert vier Castoren aus dem französischen Cadarache in das Zwischenlager nach Lubmin bei Greifswald. Wir werden wieder blockieren! Du auch?

J.M.

weitere Infos unter:

lubmin-nixda.de und x-tausendmalquer.de

Im Überblick: Die Aktiven der Anti-AKW-Proteste

Da wir Euch trotz dreier Artikel zu den Protesten gegen den 12. Castortransport ins Wendland keine chronologische Übersicht der Ereignisse liefern, findet Ihr hier zumin­dest alle wesentliche Akteure und ihre Aktionen kurz vorgestellt.

Aktionsbündnis Südblockade

Es ist wohl der allgemeinen Proteststimmung im Schwabenländle zu verdanken, dass es bei diesem Castortransport schon an der deutsch-französischen Grenze zu einer großangelegten Sitzblockade auf der Schiene kam. Das relativ spontan zusammengetretene Aktionsbündnis Südblockade schaffte es am Samstag, den 06.11. bereits bei Berg (Pfalz) zeitweilig mehr als 1.500 Menschen zu einer geschlossenen Gleisblockade zu bewegen. Der Castor­zug mußte deshalb auf eine Ersatzroute aus­wei­chen und einen Umweg nehmen. Die Räumung erfolgte weitestgehend friedlich, von Übergriffen, gleich welcher Seite, ist nichts bekannt. Das Bündnis konnte durch die erfolgreiche Aktion unterstreichen, dass es nicht nur möglich, sondern auch taktisch wertvoll sein kann, den Castorzug bereits zu blockieren, bevor er das Wendland erreicht.

www.castor-suedblockade.de

Castor? Schottern!

Die Kampagne der Initiative Castor?Schottern! war neu und einzigartig. Bereits im Vorfeld der Aktionen wurde öffentlich ausgesprochen, dass die AktivistIn­nen einen kollektiven Rechts­bruch begehen werden. Unter Mißach­tung der Bannmeile und polizeilicher Anordnungen wollte die Initiative zur Schiene zwischen Lüneburg und Dannenberg vordringen und diese durch das Entfernen der Schotter­steine vorübergehend unbefahrbar machen. Der aus vielen kleineren Gruppen bestehende Initiative gelang es dadurch, ca. 3.000-4.000 Menschen zu mobilisieren und deren Kräfte zu bündeln. Während des gesamten Sonntags (07.11.) versuchten sie, in kleineren und größeren Bezugsgruppen immer wie­der auf die Gleise zu kommen und waren da­bei polizeilicher Repression ausgesetzt. Die hatte nicht nur versucht, die Initiative zu kriminalisieren, sondern setzte an diesem Tag auch ausschließlich auf Gewalt gegen die AktivistInnen, die sich jedoch nicht provozieren ließen und ihrer gewaltfreien Linie treu blieben. Verhaftungen konnte die Polizei nicht vorweisen, stattdessen über tausend verletzte DemonstrantInnen – ein Armutszeugnis. Die Initiative konnte als Erfolg verbuchen, zwar weniger Gleisbett beschädigt zu haben, als erhofft, dafür aber um so mehr Polizeikräfte verwickelt und damit den großen Sitzblockaden den notwendigen Aktionsschatten verschafft zu haben.

 

www.castor-schottern.org

Aktionsbündnis WiderSetzen

Das wendländische Aktionsbündnis WiderSetzen engagiert sich bereits seit 2001 in der Anti-AKW-Bewegung und hat sich seitdem aus der engen Zusammenarbeit mit X-tausendmal quer zu einem eigenständigen Bündnis weiterentwickelt. WiderSetzen etablierte im Schatten der SchotterInnen am Sonntagmittag (07.11.) eine Sitzblockade mit zuerst 600 Menschen auf den Gleisen vor Harlingen. Die Stelle war gut gewählt. Bis in den Abend wuchs diese Sitzblockade bis auf zeitweilig 5.000 BlockiererInnen an. Die InitiatorInnen sprachen darauf von der „Un­räumbarkeit“ der Blockade. Erst tief in der Nacht gelang es der Polizei durch Verhandlungen das Aktionsbündnis zum Aufgeben zu bewegen. Die „friedliche“ Räumung verlief weitestgehend verhältnismäßig, allerdings auch wesentlich schneller, als erhofft.

 

www.widersetzen.de

Greenpeace und Robin Wood

Spektakuläre Aktionen – das ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner dieses David-Goliath-Paares der Umweltbewe­gung. Beide Gruppen sind seit langem auch in der Anti-AKW-Bewegung aktiv. Während Robin-Wood-AktivistInnen entlang der gesamten Strecke durch mehrere Abseilaktionen auf sich aufmerksam machten, gelang Greenpeace diesmal der ganz große Coup. Ein als Biertransporter getarnter LKW konnte am Montagabend (08.11.) von Akti­vistInnen derart präzise vor den Toren des Verladekrans platziert werden, dass die Castoren weder auf der Nord- noch auf der Südroute den Bahnhof verlassen konnten. Drei AktivistInnen verankerten sich in Windeseile in dem präparierten Inneren des LKWs derart, dass dieser ohne lebensbedrohliche Verletzungen selbiger nicht mehr bewegt wer­den konnte. Die Räumung dauerte bei­nahe die ganze Nacht.

 

www.greenpeace.org

www.robinwood.de

X-tausendmal quer

Die AktivistInnen von X-tausendmal quer zählen zu den erfahren­sten der Bewegung. Seit vielen Jahren organisieren sie schon erfolgreiche Sitzblockaden gegen die Castor­züge. Es war auch diesmal wichtig und richtig, schon frühzeitig, also am Sonntag (07.11.) zeitgleich mit den SchotterInnen und WiderSetzen, aktiv zu werden. Die von der Initiative auf der Straße direkt vor dem Lager in Gorleben etablierte Sitzblockade konnte so bis Dienstagmorgen (09.11.) ausharren und war zeitweilig über 4.000 Menschen stark. (Weiteres hierzu auf Seite 20)

www.x-tausendmalquer.de

BI Lüchow-Dannenberg & bäuerliche Notgemeinsamschaft

Ohne den Rückhalt in der Bürgerschaft und bei den Bauern, wäre der gewachsene Widerstand im Wendland so nicht möglich. Auch diesmal leistete die Bürgerinitiative tolle Koordinierungsarbeit. Die Bauern der Notgemeinschaft dagegen versorgten die Akti­vistInnen nicht nur rund um die Uhr mit Essen, Trinken, Decken und vielem mehr, es gelang ihnen vor allen Dingen mit einer verbesserten Taktik äußerst effektiv, die Lo­gistik der Polizei durch das „Abstellen“ ihrer Traktoren während der gesamten Aktionstage zu stören. Außerdem ketteten sich Bauern bei Laase und bei Gorleben mit Betonpyramiden an. www.bi-luechow-dannenberg.de

www.baeuerliche-notgemeinschaft.de

Andere

Der Widerstand ist breit und viele kleinere Gruppen und Einzelpersonen engagieren sich für ihn. Stellvertretend sei hier noch GANVA (Groupe d’actions non-violentes anti-nucléaires) aus Frankreich benannt, die durch das Anketten von drei AktivistInnen, den Castorzug erstmalig auch schon auf französischem Gebiet für 3 Stunden stoppen konnte, und der Republikanische Anwaltsverein (RAV).

ganva.blogspot.com
www.rav.de

 

Zum Beitrag „Hand in Hand mit den Bossen“ (FA! #38)

Mit dem Urteil vom Bundesarbeitsgericht in Erfurt am 23. Juni 2010 gegen das Prinzip der Tarifeinheit, also ein Betrieb – eine Gewerkschaft – ein Tarifvertrag, kam eine Diskussion zur Gestaltung der Tariflandschaft in Gang.

Eine gemeinsame Erklärung des BDA und des DGB sorgten im Vorfeld des Urteils für berechtigte Kritik. Richtigerweise ist dieses Thema auch ein Thema des Feierabend!. Allerdings ist für mich das gezeichnete Bild im Beitrag nicht trennscharf genug. Der kritische Blick einzig auf große Gewerkschaften und dem DGB-Vorstand wirkt stark verengt. Dem Thema wird man nicht gerecht indem man sich unter dem Motto: „Stimmt Feindbild, stimmt Weltbild“ abarbeitet. Deswegen der Versuch einige, aus meiner Sicht, teilweise falsch dargestellten Punkte inhaltlich anders zu beleuchten und auch die wirkliche Problematik des gemeinsamen Papiers vom DGB und BDA zu benennen.

Im Beitrag wird behauptet, dass „Bis dato… die DGB-Gewerkschaften dank des „Mehrheitsprinzips“ eine fast uneingeschränkte Monopolstellung gegenüber kleineren Gewerkschaften…“ hatten.

Tatsächlich umreißt der Autor damit genau die Situation, die nach der von BDA und DGB geforderten Gesetzesänderung entstehen sollte.

Es gab bisher das Prinzip der Tarifeinheit. Dieses Prinzip wurde von den Gerichten anerkannt und in der Praxis gelebt. Gesetzlich oder verfassungsrechtlich niedergeschrieben war es nicht. Weiter gab es bisher das Spezialitätsprinzip. Soll heißen, derjenige Tarifvertrag der räumlich, fachlich und persönlich speziellere Regelung enthält, geht vor einen Tarifvertrag, der allgemeiner geregelte Bedingungen für den Betrieb enthält.

Aktuell kann somit auch eine Gewerkschaft mit wenigen Mitgliedern tarifbestimmend sein. Beispielsweise der Fall Nexans in HanBelegschaft organisiert. Das hatte zur Folge, dass der Einzelne auf bis zu 40% seines Lohnes hätte verzichten müssen. Nur durch einen harten Arbeitskampf wurde annähernd wieder der alte Tarifvertrag erkämpft. Gleiches können wir auch in vielen Handwerksbranchen mit den christlichen Arbeitgeber-Gewerkschaften erleben. Kaum Mitglieder, aber eine Belegschaft wird dabei ganz bitter verkauft. Unhaltbar bleibt, dass eine gelbe (noch) Gewerkschaft mit keinen oder wenigen Mitgliedern die Normen für eine Belegschaft setzt, die das nicht möchte.

Gleiches Prinzip, andere politische Bewertung bei den Stan­desgewerkschaften (im Beitrag Spartengewerkschaften genannt): Mit Sicherheit haben Gewerkschaften wie die Gewerkschaft der Flugsicherung (GDF), Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), Marburger Bund, Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO), Füh­rungs­kräfteverband Chemie (VAA) und Vereinigung Cockpit nicht ohne Grund den eher linksgerichteten Ar­beitsrechtsprofessor Dr. Wolfgang Däubler und den Prof. Dr. Volker Rieble mit der Erstellung eines Rechtsgutachtens zum Thema beauftragt. Diese Gewerkschaften sind mit Sicherheit der Beweggrund, wenn BDA-DGB das Mehrheitsprinzip als Krücke vorschlagen.

Im Beitrag werden die Gewerkschaften mit den in Deutschland eher energischen Kämpfen verbunden. Auch eine Frage der Betrachtung und der Wahrnehmung: Denn zum einen kämpfen sie einen Kampf für eine sehr kleine und sehr spezielle Gruppe von Facharbeitern. Diese besetzen in den Arbeitsprozessen herausgehobene Stellungen. Das erlaubt in kurzer Zeit einen hohen Druck auf den Gegner auszuüben. Einen größeren Anspruch darüber hinaus ist nicht wahrnehmbar. Gesellschaftliche Veränderung, Engagement für alle Teile der Gesellschaft von Kindern über Jugendliche, Hartz-IV-Empfänger oder beispielsweise Rentner ist nicht zu spüren. Selbst für einen gemeinsamen Kampf für Beschäftigte mit geringerer Qualifikation im gleichen Unternehmen, reicht die Solidarität schon nicht mehr. Das führt auch innerhalb von Belegschaften zu großen Verwerfungen. Auch die Höhe der Forderungen der Standesgewerkschaften ist in letzter Zeit merklich zurückgegangen.

Allerdings wird der DGB auch dieses Thema mit einer solchen Änderung des Gesetzes nicht lösen. Für eine Diskussion halte ich folgende Fragestellung für notwendig weiter zu beleuchten:

1. Mit der Gesetzesinitiative wird scheinbar ein demokratisches Mittel (Mehrheitsprinzip) zur Sicherung der Tarifhoheit der DGB-Gewerkschaften eingesetzt. Wo und in welchem Gremium, auf welchem Gewerk­schaftstag, auf welchem Kongress haben denn die Mitglieder der DGB-Gewerkschaften diesem Einschnitt in die Verfassung und in das Tarifvertragsgesetz zugestimmt?

2. Welche Fehler haben denn beispielsweise ver.di, transnet oder andere selbst begangen, dass sich bestimmte Gruppen der Belegschaften nicht mehr vertreten fühlen? Und warum stellen sie sich nicht der Auseinandersetzung mit solchen Gewerkschaften im fairen Miteinander?

3. Das Tarifvertragsgesetz wurde oft genug von konservativen und neoliberalen Kräften angegriffen. Abstruse Pläne mit massiven Einschnitten in das Streikrecht gibt es ausgearbeitet in deren Schubladen. Bisher wurden alle Angriffe abgewehrt. Wie will der DGB, wenn er selbst das Tarifvertragsrecht in Frage stellt, den Damm halten? Der DGB öffnet Tür und Tor für gefährliche Änderungen.

4. Mit welchem Recht sind gerade Arbeitgeber aufgerufen, sich um das Tarifrecht zu sorgen? Sie haben doch Verbände „Ohne Tarifvertrag“ gegründet, Unternehmen aufgefordert, Tarifverträge zu kündigen und Gewerkschaften zu beschimpfen, gesellschaftliche Stimmung mit Hilfe der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft gegen Tarifverträge erzeugt, Öff­nungsklauseln und Sa­nierungstarif­ver­träge gefordert, das Pforz­heimer Abkommen bejubelt, sich christliche Gewerkschaften in die Betrieb geholt, einseitig Regelungen gebrochen, und arbeiten auch europaweit an der Einschränkung der Mitbestimmungsrechte, zum Beispiel der Montanmitbestimmung. Diese Politik entzieht den Arbeitgebern die Glaubwürdigkeit sich für einen Tarifvertrag einsetzen zu wollen. Hat das der DGB-Vorstand vergessen?

5. Darüber hinaus wird es nicht selten sein, dass auch die großen Gewerkschaften in der Minderheit sind. Ist das für ver.di, Metall und Co egal?

6. Die geforderte Friedenspflicht solange die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern einen Tarifvertrag hat, ist praktisch ein Streikverbot. Warum sollte ich als Arbeitgeber es nicht schaffen 51% meiner Belegschaft zu begeistern, in eine von mir vorgeschlagene, selbst gegründete Gewerkschaft (wir denken an die AuB) einzutreten? Dann sind die DGB-Gewerkschaften raus und können sich nicht mal mehr zurück streiken. Fahrlässig!

7. Wo ist denn die reale Gefahr, dass sich viele neue kleine Standesgewerkschaften gründen? Bisher ist diese Gefahr nicht auszumachen.

Der harte blutige Kampf für Tarifvertrag, Streikrecht und Mitbestimmung sollte nicht untergraben werden. Die bisher bestehenden Gewerkschaften sind zum Teil auch eine positive Bereicherung (FAU) für die demokratische Landschaft. Insofern sollte der DGB die Finger davon lassen und ich hoffe der Feierabend! schaut sich die Entwicklung weiterhin sehr kritisch an. Denn es ist ein grundsätzlich sehr entscheidendes Thema für die abhängigen Beschäftigten darüber hinaus. Vielen Dank für die Setzung des Themas!

Tom Sawyer

Vielen Dank, Tom

…dass du dir die Mühe gemacht hast, uns diesen (sehr umfangreichen) Leserbrief zu schreiben. Ich stimme dir zu, die Darstellung des Themas war wirklich zu „eng gefasst“, was aber auch daran lag, dass eine halbe Seite als Rahmen einfach zu eng ist für Erörterungen. Der wichtige Hinweis, dass das Prinzip der „Tarifeinheit“ bislang keine gesetzliche Grundlage hatte, sondern nur eine ungeschriebene Regel für die Rechts­sprechung der Arbeitsgerichte war, ist leider den vom Platzmangel erzwungenen Kürzungen zum Opfer gefallen. Das war tatsächlich ein Fehler. Vielen Dank, dass du diesen Punkt richtigstellst!

Auch auf den Sonderfall der christlichen Gewerkschaften konnte ich nicht eingehen. Aber du sagst ja selbst, dass sich der DGB mit der Gesetzesinitiative auch die eigenen Mög­lichkeiten einschränkt (eben auch dann zu streiken, wenn eine gelbe Gewerkschaft die Mehrheit hinter sich hat). Insofern ändert dieser Hinweis nichts an meinem Fazit.

Was Gewerkschaften wie GdL und Cockpit angeht: Es ging mir nicht darum, diese abzufeiern. Aber die Vehemenz, mit der sie ihr Eigeninteresse vertreten, finde ich durchaus sympathisch. Die Piloten und Lokomotivführer nutzen eben ihre Schlüsselposition im Arbeitsprozess aus. Das mag egoistisch sein, aber genau dafür wurden die Gewerkschaften ja gegründet: um die eigenen Interessen besser durchsetzen zu können.

Darum muss auch der DGB kritisiert werden, wenn er lieber auf „Sozialpartnerschaft“ setzt, wie es z.B. Herr Sommer sagt: „Die Gewerkschaften und die Arbeitgebervertreter […] arbeiten zusammen, wo dies möglich und nötig ist.“ Warum soll sich eine Gewerkschaft um die Interessen der sog. „Arbeitgeber“ kümmern?! Darum kümmern die sich schon selbst, zumal sie ja auch die Produktions- und damit die nötigen Machtmittel in der Hand haben. Im Gegensatz dazu sind die Lohnabhängigen zwar als Klasse unverzichtbar für die Unternehmer, als Einzelne aber beliebig austauschbar. Sie müssen sich also organisieren, um diesen strukturellen Nachteil auszugleichen und ihr Interesse zur Geltung zu bringen.

Im Rahmen der derzeitigen Verhältnisse würde das bedeuten, einen halbwegs guten Preis für die eigene Arbeitskraft zu erzielen. Schon bei dieser bescheidenen Forderung zeigt sich, wie falsch das heimliche Motto der Sozialpartnerschaft („Wenn´s dem Unternehmen gut geht, geht´s auch den Arbeitern gut“) ist. Denn dem Unternehmen geht es umso besser, je niedriger die Löhne sind. Umso größer ist die Gewinnspanne und umso besser steht die Firma in der Konkurrenz mit anderen Unternehmen da. Genau darum sind die „Arbeitgeber“ keine akzeptablen Bündnispartner. Nicht weil sie, wie du bei Punkt 4 meinst, sich durch ihr Verhalten in der Vergangenheit diskreditiert haben (wären sie denn akzeptabel, wenn sie dies oder jenes nicht getan hätten?), sondern weil ihr Interesse von vornherein im Gegensatz zu dem der Lohnabhängigen steht.

Darum finde ich es sympathisch, wie die Standesgewerkschaften ihr Eigeninteresse vertreten. Das ist natürlich auch problematisch, wenn es zur Entsolidarisierung mit den anderen Lohnabhängigen führt. Aber du sagst ja selbst, dass die von den Spartengewerkschaften erzielten Abschlüsse zunehmend niedriger ausfallen. Es wäre also möglich, dass sich der Spartenegoismus zugunsten größerer Solidarität von selbst korrigiert: Wenn nicht nur die Loko­motivführer_innen streiken, sondern auch der Rest der Belegschaft, dann kommt für alle mehr heraus. Und von dem Punkt könnte sich dann eine weitere Perspektive eröffnen, hin zu der Erkenntnis, dass es nicht nur darum geht, die eigene Haut so teuer wie möglich zu verkaufen, sondern dass es klüger wäre, das Abhängigkeitsverhältnis ganz zu beenden. Aber zu solch einer Perspektive hat der DGB (nicht nur seiner offiziellen Linie, sondern auch seiner hierarchischen Struktur wegen) meiner Meinung nach nichts beizutragen.

justus

Lager schließen, Abschiebungen stoppen!

Vom 17. bis 19. November 2010 fand in Hamburg wieder die alljährliche Innenministerkonferenz (IMK) statt. Auf der Tagesordnung standen u.a. auch flüchtlings- und migrationspolitische Themen, wie „Aufent­halts­recht für integrierte Kinder und Jugendliche“ und „Maßnahmen zur Förderung der Integration“, aber auch „Sanktionierung integra­tionswidrigen Verhaltens“.

Seit dem 13. November gab es dagegen Demonstrationen und vielfältige Proteste, die sich gegen den Ausbau der Polizei, gegen Sicher­heits­wahn, Repression, Ausgrenzung und eine zunehmend autoritär formierte Gesellschaft richten, aber auch gegen die rassistische Migra­tions- und Flüchtlingspolitik Deutschlands.

Zeitgleich zur IMK veranstalteten bspw. die Jugendlichen ohne Grenzen (JOG)* wie jedes Jahr eine eigene Konferenz zum Thema „Abschiebung“ und initiierten zum Auftakt am 17.11. eine Demonstration unter dem Motto „I love Bleiberecht“, mit der Forderung nach einem bedingungslosen Bleiberecht. Obwohl überwiegend Kinder, Jugendliche und Familien daran teilnahmen, wurde die Demonstration diesmal von massiver Polizeipräsenz begleitet. Demonstrations­teil­­nehmer_innen konnten dadurch kaum mit der Öffentlichkeit Kontakt aufnehmen, um wie sonst Fragen zum Thema zu beantworten.

Am 18. November kürten die Jugendlichen ohne Grenzen dann im Rahmen einer Gala den Bundesinnenmini­ster Lothar de Maizière zum Abschiebeminister 2010. Diesen Preis als inhumanster Innenminister, den die JOG seit 2006 verleiht, erhielt de Maizière für seine Politik der Abschiebungen ins Drittland Griechenland trotz der katastrophalen Lage von Flücht­lingen dort. Mit 98 Stimmen setzte er sich deutlich gegen den Innenminister von Niedersachsen Uwe Schünemann (58 Stimmen) und den bayrischen Innenminister Joachim Hermann (42 Stimmen) durch. Als Preis erhielt er einen Abschiebekoffer mit Utensilien, die er für eine Abschiebung braucht, einen Forderungskatalog der JOG und Geschichten, die Schicksale von Abgeschobenen schildern. Den Preis nahm der Abschiebeminister jedoch nicht selber ent­gegen, sondern schickte einen Mitarbeiter vor. Nicht zu schämen brauchten sich dagegen die Gewinner der drei Initiativpreise, die jedes Jahr an Schulen, Initiativen und Menschen verliehen werden, welche sich gegen Abschiebungen einsetzen.

Zu den Verleihungen fand wie in den vergan­genen Jahren auch eine Aufführung des GRIPS-Theaters aus Berlin statt. Das neue Stück, das den gleichen Titel wie die neu gestartete Kampagne der JOG „SOS for human rights“ trug, handelt von drei Menschen, die sich auf den langen Weg nach Europa machen. Dabei wird die Situation in den Heimatländern gezeigt und die Gefahren, die sie auf dem Weg nach Europa z. B. mit Frontex durchzustehen haben.

Abschiebelager in Möhlau

In Sachsen-Anhalt jedenfalls scheint sich der verantwortliche Innenminister Holger Hövelmann für den Preis als Abschiebeminister 2011 zu bewerben. Seit Jahren erklärt das Innenministerium, dass Flücht­lingsfamilien in „normalen“ Wohnungen untergebracht werden sollen. Ob sich die Ausländerbehörden daran halten oder nicht, spielt jedoch keine Rolle. Vor über zehn Jahren (1998) erklärte das Innenministerium, die großen Lager sollen geschlossen werden. Hier wurde auch explizit auf Möhlau verwiesen. Passiert ist nichts.

Die Lebensbedingungen im Lager Möhlau sind unverändert unzumutbar: Isoliert, zwei Kilometer außerhalb des Provinzdörfchens ohne nennenswerte öffentliche Verkehrsanbindung gelegen, sind die Menschen dort in einer ehemaligen, maroden sowjetischen Plattenbaukaserne Perspek­tiv­losig­keit, Armut und institutioneller Willkür ausgeliefert. Einige leben bereits seit 16 Jahren in dieser Ausweglosigkeit. Die meisten von ihnen bekommen keine Arbeitserlaubnis oder Geburtsurkunden für ihre in der BRD geborenen Kinder. Immer noch können einige nur an zwei Tagen im Monat mit Gutscheinen einkaufen und verfügen kaum über Bargeld. Unhygienisch, baufällig und karg – das sind die auffälligsten Eigenschaften ihrer Unterbringung, an deren Unterhaltung das private Unternehmen KVW Beherbergungs­betriebe (siehe unten) horrende Summen verdient. Die vom Landkreis dafür bereitgestellten Gelder stehen in keinem Verhältnis zu den erbrachten Leistungen; hier wird ein großes Geschäft auf Kosten der Flüchtlinge gemacht! Das gravierendste Problem stellt jedoch nicht die unwürdige Unterbringung dar, sondern die stetige Schikane durch die Ausländerbehörde Wittenberg, welche die ohnehin schon flüchtlingsfeindliche und rassistische Ge­setzes­lage auch noch äußerst rücksichtslos anwendet.

Diese unzumutbare Situation führte bereits zu mehreren Selbstmorden und viele Flüchtlinge sind daran erkrankt. Die Initiative no lager halle engagiert sich deshalb seit Februar 2009 u.a. an einem Runden Tisch zusammen mit den Flüchtlingen aus Möhlau für die Schließung des Lagers. Doch trotz vieler Aktionen konnte in den letzten zwei Jahren außer direkte Hilfe für die Betroffenen wenig erreicht werden gegen die sture Verwaltung und die Absurditäten der deutschen Abschiebepolitk.

Neue Lösungen, aber keine Auswege

Anfang des Jahres gründete der Landkreis Witten­berg zwar endlich eine AG Möhlau, die aus Vertretern der Parteien und der Verwaltung besteht. Diese erarbeitete ihre „In­formationsvorlage zur künftigen Unterbringung von Asylbewerbern und geduldeten Zuwanderern im Landkreis Witten­berg“ aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit und den Betroffenen, jegliches Gespräch mit dem Runden Tisch wurde verweigert. So traf die AG am 28. April auch einmalig im Lager zusammen. Die Lagerleitung zeigte ihnen ausgewählte Wohnungen, ohne die dort wohnenden Flüchtlinge vorher zu fragen. Bei der Sitzung durften fünf Flüchtlingsver­tre­terInnen sich je­weils fünf Minuten zum Leben im Lager äußern. Der Lagerbetreiber Wiesemann war die gesamte Sitzung anwesend. Diese fünf-minütige „Redezeit“ blieb jedoch der einzige Kontakt der AG Möhlau mit den Flüchtlingen.

Im Juni 2010 sollte dann ursprünglich entschieden werden, ob das Lager Möhlau geschlossen wird. Doch die Grünen zogen ihren Antrag zur Schließung des Lagers zurück, da sie davon ausgingen, dass es dafür keine Mehrheit im Wittenberger Kreistag geben werde, der Landrat Jürgen Dannenberg (Die Linke) aber signalisierte, auch ohne Abstimmung die Schließung des Lagers durchzusetzen. Verändert wurde aber nur die Kündigungsfrist des Vertrages, der bisher einmal jährlich mit einer halbjährigen Kündigungsfrist beendet werden konnte; nun kann dieser vierteljährlich gekündigt werden.

Während sich der Landkreis Wittenberg mit einem neuen Unterbringungskonzept beschäftigte, bemühte sich die Ausländerbehörde um möglichst viele Botschaftsanhörungen (siehe Kasten) und Abschiebungen. Bereits im Januar 2010 konnte eine Ashkali-Familie nur durch die Härtefallkommission des Landes Sachsen-Anhalt vor der Abschiebung in den Kosovo bewahrt werden. Sämtliche syrische Flüchtlinge wurden der syrischen Botschaft vorgeführt, „Einladungen“ zu Bot­schafts­vorführungen bei den chinesischen, ghanaischen und der be­ninschen folgten, nur die Sammel­vorführung von 20 Flüchtlingen vor der Beninschen Botschaft am Ende August 2010 konnte verhindert werden. 17 Roma und Ashkali aus dem Lager Möhlau waren 2010 insgesamt von der Abschiebung in den Kosovo bedroht, nur die Härtefallkommission konnte sie davor schützen.

Zum 24. September veröffentlichte der Landkreis Wittenberg schließlich die Ausschreibung für die „Unterbringung und Betreuung von Asylbewerbern in einer zentralen Unterkunft sowie in Wohnungen im Landkreis Wittenberg“. Mitte Oktober fand dazu in Wittenberg der monatliche „Talk am Turm“ der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt e.V. statt. 20 Flüchtlinge beteiligten sich. Als Vertreterin des Landrates Dannen­berg war zum wiederholten Male Frau Tiemann aus der Verwaltung anwesend. Frau Tiemann war gebeten worden, das neue Unterbringungskonzept vorzustellen. Da kein wirkliches Unter­bringungs­konzept erarbeitet, sondern nur Gesetzes- bzw. Verordnungsauszüge zusam­menkopiert wurden und somit nur die Einhaltung der gesetzlichen Minimalstandards, wie z.B. mindestens 5 m² pro Person, vom zukünftigen Betreiber erwartet wird, blieben ihre Ausführungen recht karg.

So kann der neue Betreiber die Unterbringung nach eigenem Ermessen gestalten, solange er ein günstiges Angebot vorlegt. Die Entscheidungskriterien sind: 80% Preis, 5% Betreiberkonzept, 15% Infrastruktur. Gleich­­falls ergibt sich für Flüchtlinge im Landkreis Wittenberg keine andere Perspektive, als in den zu Verfügung gestellten Gebäuden ab März oder Juni 2011 zu leben. Für Alleinreisende, also Flüchtlinge ohne Familie, im neuen Lager und für Familien in einem extra Block mit Wohnungen. Nach dem Willen des Landkreises sollen sie so für mindestens fünf Jahre wohnen, so lange soll der Vertrag gültig sein. Ohne Kündigung verlängert sich der Vertrag mit dem Betreiber automatisch, genau wie der alte. Aus dem Lager kommen die Flüchtlinge nach wie vor nur durch Tod, Heirat einer deutschen MitbürgerIn, Abschiebung oder Illegalität.

(no lager halle)

 

* Jugendliche ohne Grenzen ist seit 2002 eine Initiative von jungen Flüchtlingen und Migran­ten, die sich aus dem Berliner Beratungszentrum junger Flüchtlinge, dem GRIPS-Theater-Jugendclub (Banda Agita) und der Flüchtlingsinitiative Brandenburg zusammensetzt.

 

Wiesemanns „Beherbergungsbetriebe“

Marcel Wiesemann betreibt mit seiner KVW Beherbergungsbetriebe drei Lager: Eins in Brandenburg und zwei in Sachsen-Anhalt. Diese Lager sind dafür bekannt, dass sich Mühe gegeben wird, viel Geld einzusparen und möglichst wenig für die Unterbringung der Flüchtlinge auszugeben. Dies bestreiten die Landkreisverwaltungen nicht.

Zur aktuellen Lage: Neuruppin (Landkreis Ostprignitz-Ruppin): Die Ausschreibung des Landkreises scheiterte jüngst wegen rechtlicher Fehler. Der Vertrag mit der KVW Beherbergungsbetriebe musste verlängert werden. +++ Zeitz (Burgenlandkreis): ganz im Süden Sachsen-Anhalts liegen zwei Lager, ein Containerlager in Weißenfels in Stadtnähe und ein weiteres bei Zeitz. Im Augenblick ist nicht klar, ob das Lager Weißenfels geschlossen wird und alle Flüchtlinge des Landkreises in noch größerer Isolation bei Zeitz leben müssen. +++ Möhlau (Landkreis Wittenberg): Die Bewerbungsfrist für die Bewirtschaftung der zukünftigen Unterbringung für die etwa 180 Flüchtlinge ist am 01. Dezember 2010 abgelaufen. Die alleinstehenden Flüchtlinge werden in einem neuen Lager untergebracht, die Familien sollen in Wohnungen ziehen. Die Ausschreibung macht es möglich, dass alle Familien in einem Wohnblock untergebracht werden und somit in Zukunft zwei getrennte Lager bestehen. Wiesemann hat bei der Bewerbung einen deutlichen Wettbewerbsvorteil, da er seit Juni von den Plänen zur Schließung des Lagers Möhlau weiß. Am 07. Februar 2011 wird darüber entschieden.

Botschaftsanhörungen

Sog. Botschaftsdelegationen von Ländern wie z.B. Guinea, Nigeria, Sierra Leone halten sich in der BRD auf und „begutachten“ Flüchtlinge aus „ihrem“ Land. Merkmale sind Sprache/Dialekt, Gesichtsform (dies geht bis hin zu „Kopfvermessungen“ [siehe hierzu auch S. 14ff in diesem Heft]), Narben etc., die die Botschaftsdelegation als vermeintliche Anhaltspunkte für Staatszugehörigkeiten nimmt bzw. behauptet zu nehmen.

Entscheidender dürfte aber sein, dass die BRD Interesse daran hat, Flüchtlinge, die staatenlos sind, abzuschieben. Für eine Abschiebung brauchen die Ausländerbehörden Reisepapiere, Pass- oder Passersatzdokumente. Diese sollen die Botschaftsdelegationen ausstellen. Die BRD zahlt deshalb der Botschaftsdelegation pro vorgeführtem Menschen Geld und pro ausgestelltem Reisepapier, also Dokument zur Abschiebung, nochmals Geld.

Genötigt werden Flüchtlinge aus dem ganzen Bundesgebiet. Teilweise werden sie ohne Ankündigung von der Polizei aus dem Bett geholt und unter Polizeibegleitung vorgeführt. Dann spielt sich die „Botschaftsanhörung“ wie eine tatsächliche Abschiebung ab, die unsanft aus dem Bett Geholten erfahren später, dass sie „nur“ einer Botschaftsdelegation vorgeführt werden und nicht zum Flughafen gebracht werden.

Besonders gefährlich macht diese Abschiebeanhörungen, dass viele Flüchtlinge vorgeführt werden und damit die kommende Abschiebung – mit den durch die Botschaftsdelegation ausgestellten Papieren – mit einer Chartermaschine direkt vorbereitet wird. Es ist dann weder mit eigenem Widerstand (durch den Flüchtling) noch durch Protest von Unter­stützerInnen möglich, den Flug zu verhindern. Von einer Teilnahme an einer Botschaftsanhörung ist deshalb dringend abzuraten!