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Integration? Nein, danke!

Menschenverachtende Äußerungen und Handlungen sind in diesem Land an der Tagesordnung. Das ist eine offensichtliche Tatsache.* Die so genannte „Inte­grationsdebatte“ gibt dem Alltagsrassismus in Deutschland jedoch eine ganz neue Dynamik.

Wut und Empörung über die Akzeptanz und Reproduktion von rassistischen und sozialdarwinistischen Thesen in Politik, Me­dienöffent­lich­keit und Gesellschaft brachte uns zusammen. Wir, das Bündnis gegen die Inte­gra­tionsdebatte, sind ein zusammengewürfelter Haufen engagierter Menschen, die vor der aktuellen öffentlichen Meinung die Augen nicht mehr verschließen können und wollen. Schnell war klar, dass wir uns gemeinsam gegen die aktuell stattfindende Ethnisierung sozialer Probleme und rassistisch ausgrenzende Stimmungsmache einsetzen wollen. Wir fordern alle Menschen dazu auf, sich kritisch mit dem Begriff der Integration zu beschäftigen. Was ist überhaupt Integration und welche Ziele hat sie? Mit welcher Bedeutung wird sie im Moment in der Politik verwendet? Wir glauben, dass es keine „richtige“ oder „falsche“ Lebensweise gibt, sondern vielmehr unzählige individuelle Lebenswege. Wir wenden uns gegen die so genannte „Integrationsdebatte“, die maßgeblich durch die Thesen Thilo Sarrazins ins Licht der Öffentlichkeit trat, weil ihre Argumentation deutlich von rassistischen und sozialdarwinistischen Ideen durchdrungen ist, die aber scheinbar nicht als solche erkannt werden. Aufgrund des allgemeinen Zuspruchs in breiten Be­völ­kerungskreisen streben wir an, das Thema nicht wie so oft in politisierten Szene-Kreisen zu diskutieren, sondern fordern unterschiedlichste Menschen aus verschiedenen Hintergründen, vom Grünen-Mitglied bis zur ALGII-Empfängerin, dazu auf, sich kritisch mit Formen von antimuslimischem Rassismus und gesellschaftlichen Ver­wertungslogiken auseinanderzusetzen. Besonders lokale Akteure sollen angesprochen werden. Eines unserer Ziele ist es daher, die tendenziöse Berichterstattung der Leipziger Volkszeitung als Monopolmedium in Leipzig und Umgebung zu thematisieren. Weitergehende Reflexionen sollen durch Veranstaltungen wie Podiumsdiskussionen, Vorträge, Aktionen und Demonstrationen, die Platz für Analysen und inhaltliche Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Integrationsdebatte bieten, möglich gemacht werden. Als Bündnis fordern wir gleiche Rechte statt deutsche Rechte sowie mehr Selbst- und Mitbestimmung für alle Menschen. Einzelpersonen oder Gruppen, die sich für unsere Arbeit interessieren oder uns unterstützen möchten, sind herzlich eingeladen, sich mit uns in Verbindung zu setzen unter: initiativgruppe@gmx.de.

(Bündnis gegen die Integrationsdebatte)

 

* Siehe z.B. „Die Mitte in der Krise“, Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2010.

Proteste in London

Englische Studierende gegen Erhöhung der Studiengebühren

Der November 2010 war, was Großbritannien angeht, heiß und kalt zugleich. Kalt aufgrund des Wintereinbruchs, der die bri­tischen Transportunternehmen alljährlich über­raschend trifft und Verkehrschaos und Schulschließungen bewirkt.

Als heiße Luft erwies sich ein zentrales Wahl­ver­­sprechen der seit den Wahlen im Mai 2010 re­­gierenden Koalition aus Konservativen und Liberal-demokraten(„Con-Dem“): die Verringerung bis Abschaffung der Studiengebühren. Die­­ses gebrochene Wahlversprechen stieß den eng­lischen StudentInnen ziemlich sauer auf. Nicht nur dass u.a. der liberal-demokratische Par­teivorsitzende Nick Clegg vor Kameras da­mit auf Stimmenfang ging, er hatte auch un­auf­gefordert ein derartiges Versprechen unter­zeichnet.(1) Einige Monate später hörte sich das schon leicht anders an: „Natürlich bedauere ich, dass ich mein gemachtes Versprechen nicht halten kann – aber wie auch im Le­ben – ist man manchmal nicht in der Lage diese einzuhalten“.(2) Was er meint ist, dass das Brechen von Wahlversprechen eben eine Art natürlicher Nebeneffekt von Koalitionen sei. Oder anders ausgedrückt, wird hier den Wählern gesagt, selber schuld zu sein, da sie den derzeit schwächeren Koalitionspartner nicht zum Wahlsieger gemacht haben.

Was war geschehen?

Der im März 2009 (also noch unter der damaligen Labour Party Regierung) ins Leben gerufene sog. „Browne Review“ übergab seine gewonnenen Erkenntnisse im Oktober diesen Jahres der Öffentlichkeit. Die Ergebnisse der Kommission unter der Leitung von Edmund John Philip Browne, Baron Browne of Ma­ding­ley, ehemaliger Vorsitzender von Britisch Patrol (BP), wurden von der derzeitigen Koalition mit kosmetischen Abänderungen zur Regierungspolitik erhoben.

Ab September 2012 soll es Universitäten erlaubt sein, statt der bisherigen maximalen £3.290 jährlich bis zu £9.000 Studiengebühren einzufordern. Universitäten die mehr als £6.000 verlangen, sollen dies mit Mehraufwand begründen müssen. Angesichts der desolaten britischen Haushaltslage kann mensch also davon ausgehen, dass sich die meisten Universitäten wohl um die £6.000 Marke einpendeln werden, denn bis dahin sind die Gebühren rechtfertigungsfrei.

„Stop the Cuts!“

Diese Entwicklung erhitzte die Gemüter der Studierenden und entfachte bei einigen Zerstörungswut. In wohl unbewusstem Rückgriff auf den Ausdruck, eine Koalitionsregierung käme einem erhängten („hung“) Parlament gleich, wurden mancherorts zur Guy Fawkes Nacht(3) gar Strohpuppen von Nick Clegg erhängt.

Guter Geschmack hin oder her, was alle einte, war die simple Forderung nach keiner Studiengebührenerhöhung! Aufsehen erregte dieser Ruf am 10. November, als etwa 50.000 Studierende durch den Londoner Stadtteil West­minster demonstrierten. Interessant für die Nachrichten wurde es erst, als einige das Haupt­quartier der Konservativen Partei (im Bü­rokomplex Millbank), das auf dem Weg lag, stürmten, Fenster einschlugen und sich etwa 50 DemonstrantInnen bis auf das Dach durchschlugen. Von dort und anderswo wurden bald Wurfgeschosse auf die überrumpelte, völlig unterbesetzte Polizeieskorte geworfen. Rasch waren alle Beteiligten sauer und es kam zu 32 Festnahmen, sowie einigen unschönen Gewaltszenen, auch von Sei­ten der Staatsmacht. Dieser war das Ganze vor allem peinlich, da sie eher die üblichen zahmen Stu­dent­Innen erwartet hatte.

Am 24. November 2010 ging es dann in die zweite Straßenprotest-Runde: Erneut fanden sich mehrere Zehntausend – diesmal neben Studierenden auch Schüler, Eltern oder schlicht SymphatisantInnen – zum Stimme und Plakat erheben gegen die Bildungskürzungen ein. Der als Karneval angekündigte Protestmarsch durch das Re­gierungs­viertel Whitehall nahm auch erstmal einen fröhlich-lauten Verlauf. Als jedoch der Trafalgar Square erreicht wurde, machte sich diesmal die Polizei den Überraschungseffekt zu nutze und kesselte schlicht alle, die vor Ort waren. Die nun folgenden Provokationen von innerhalb und außerhalb des Kessels (u.a. die „Eroberung“ eines in der Menge vergessenen Polizeiautos, welches als Leinwand und Tanzfläche genutzt wurde) lieferte den Staatsdienenden nachträglich die Rechtfertigung für ihr Vorgehen. Insgesamt zog sich die ganze Veranstaltung bis in den frühen Abend und wer Pech hatte, saß bis zu 9 Stunden im Kessel. Zu Essen oder zu Trinken gab es nichts und gewärmt wurde sich an einem brennenden Bushäuschen.

Und noch etwas war anders als das letzte Mal: hatte die Mehrzahl der Demonstrant­Innen bei den Krawallen von Millbank der Minderheit noch wohlwollend zugesehen, häuften sich diesmal die abschätzigen Kommentare der GewaltverachterInnen.

Keine sechs Tage später, am 30. November 2010 fand eine weitere Protestdemonstration durch die Londoner Innenstadt statt. Mehrere Tausend trotzten auch diesmal der Kälte. Was als 1,5 km Route geplant war, endete als Katz- und Mausspiel. Wann immer die Polizei einen Weg abschnitt, um die Demonstration davon abzuhalten, das Parlament zu erreichen, machte diese kehrt und joggte in eine andere Richtung bis die Polizei wieder vorne war und absperrte…

Am Nachmittag dann spaltete sich die Menge, einige gingen fort, andere versammelten sich am Trafalgar Square, wo sie sich im Schneegestöber Scharmützel mit der Polizei lieferten. Statistische Bilanz aller drei Demonstrationen: 263 Verhaftungen.

Besetzung

Andernorts sah mensch wohl zumindest den Wär­mevorteil der Protestform Besetzung und griff zu dieser, anstatt sich draußen an Plakatfeuern die Hände zu reiben. Ungefähr 25 Uni­ver­sitäten landesweit waren oder sind besetzt, einige erfolgreich, andere erfolglos beendet, wieder andere dauern noch an. Be­zeich­nen­der­weise erhalten die Besetzer­Innen weit weniger mediale Aufmerksamkeit. Dies mag u.a. daran liegen, dass diese unspektakulärer sind: Gutgekleidete junge Menschen sitzen an Computern, twittern, hängen den neuesten Brief der Uni-Autoritäten aus, entwerfen Zeittafeln und auch der linke Intellektuelle Noam Chomsky applaudierte online. Besetzung, die aussieht wie eine Revolution, die hinterher noch durchsaugt, ist sozialer Protest oder Lobbying im Internet aus besetzten Büroräumen heraus, begleitet von alternativen Vorlesungen mit „Essen, Trinken, Toiletten, Küche und Wi-Fi“.(4)

Dagegen mit Facebook und Twitter, dies ist der Punkt, in dem die aufgebrachte Stu­die­ren­­denschaft sich einig ist. Teils unhinterfragt wer­den Internetportale, soziale Online-Netz­wer­ke völlig selbstverständlich als Kommuni­ka­tions- und Mobi­li­sierungs­mittel genutzt. Dies kann zwar praktisch sein, aber auch den Staatsorganen als Informationsquelle dienen.

Es geht jedoch eine Spaltung durch die StudentInnen, die sich in ihren Aktionsformen manifestiert. Ein Teil der AktivistInnen setzt auf Besetzung, ein anderer auf Protest und Tumult auf der Straße.

Erstere rekrutieren sich vornehmlich aus wohltemperierten Mittelklasse-Studis, die ihren Foucault und Harry Potter gelesen haben und Vollversammlungen und andere nicht-hierarchische Organisationsformen bevorzugen. Diese scheinen jedoch den Nachteil der Behäbigkeit zu bergen, mit wenigen aktiv Beteiligten und einer schweigenden Mehrheit.

Letztere dagegen setzen sich eher aus der Polizei-aus-Erfahrung-mißtrauenden Arbeiterklasse oder Unterschicht zusammen. Meist 15-16jährig, spiegelt diese Gruppe eher die bunt gemischte multi-ethnische Bevölkerung wieder. Hier hält mensch wenig von Versammlungen und Debatten.

Beliebter sind Aktivitäten, wie den Protest auf die Straße zu tragen, die Polizei zu foppen und sich als Teil einer Revolte zu fühlen. Was auch immer den/die Einzelne/n bewegen mag, sich zu engagieren, ausgestattet mit nur vagem Mut, sich ideologisch zu verorten, ist es schwierig an jegliches Ziel zu kommen…

Abstimmung

Am 9. Dezember 2010 wurde die Studiengebührenreform im Parlament mit knapper Mehrheit durchgewunken. Wenn die Vorlage nun noch das House of Lords passiert, kann sie noch vor Weihnachten Gesetz werden.

Zeitgleich demonstrierten vor dem Parlament 25.000 Menschen eben dagegen. Erneut kam es zu Einkessellungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der teils berittenen Polizei. 49 Protestierende und 12 Polizisten brauchten ärztliche Versorgung und auch Prinz Charles und Camilla kamen nicht ungeschoren davon. Als sie im Rolls-Royce durch die aufgebrachten Studierenden kutschieren, wurde die hoheitliche Limousine umzingelt, mit Farbbomben beworfen und deren Rückfenster eingeschlagen.

„Anarchy in the UK“

hieß es bald in der Sensationspresse. Würde man nicht daran erinnert, dass es hier um Studiengebühren geht, könnte man meinen, die Hauptfrage sei: Wer hat den ersten Stein geworfen und wer hat die bessere Taktik: Demonstrant­Innen oder Polizei?

…und das Spektakel zieht weiter…

(hana)

 

(1) Über 1000 aufgestellte Kandidaten (Labour und Liberal-Demokraten) haben während der Wahlkampagne 2010 ein Versprechen unterzeichnet, gegen jede Erhöhung der Studiengebühren zu stimmen. Darin heißt es: „Ich verspreche, gegen jede Erhöhung von Studiengebühren im nächsten Parlament zu stimmen und die Regierung darauf zu drängen, eine faire Alternative einzuführen.“ www.nus.org.uk/cy/News/News/Lib-Dem-and-Labour-MPs-would-vote-together-to-oppose-tuition-fee-rise/

(2) „I regret of course that I can’t keep the promise that I made because – just as in life – sometimes you are not fully in control of all the things you need to deliver those pledges. www.independent.co.uk/news/uk/politics/clegg-massively-regrets-tuition-fees-increase-2142627.html

(3) Der Gunpowder Plot („Schießpulververschwörung“) war ein Versuch von britischen Katholiken, am 5. November 1605 den protestantischen König von England, Jakob I., seine Familie, die Regierung und alle Parlamentarier zu töten. Die Verschwörung wurde von Robert Catesby geplant und sollte vom Sprengstoffexperten Guy Fawkes ausgeführt werden.

(4) Blog zu Besetzungen: www.wearelondonmet.wordpress.com

 

Hintergrund der Studienreform

Laut den Reformplänen sollen die Studiengebühren weiterhin als Darlehen von der Regierung übernommen werden. Bisher setzte der Rückzahlungsprozess bei einem Einkommen von £15,000 pro Jahr ein, dies soll auf £21.000 erhöht werden. Zurückzuzahlen wären dann monatlich 9% vom Gehalt über erwähnten £21.000 Einkommen. Wer also £23.000 verdient, zahlt somit 9% von £2000 monatlich zurück. Das kann sich bis zu 30 Jahre ziehen, bevor es abgeschrieben wird. Vorher geschah dies nach 25 Jahren.

Zur Orientierung: das Mindesteinkommen, mit einem Stundenlohn von £5.93 führt zu einem Jahresgehalt von £11.385. Das statistische Durchschnittseinkommen liegt zwar bei £23.000, allerdings befinden sich die Löhne im freien Fall und so mancher wird sich den 7,7% Arbeitslosen anschließen. Damit wäre zu vermuten, dass das erklärte Sparziel der Regierung zumindest so nicht erreicht wird.

Wieso: die Regierung erhöht die potentiellen Schulden der StudentenInnen und bleibt darauf sitzen, wenn die Studierenden offiziell unter der Einkommensgrenze verdienen. Soziale Umverteilung auf britisch: staatliche Förderung der Universitäten kürzen, deren Einnahmen durch Staatsdarlehen der StudentenInnen erhöhen. Und hoffen, dass es die globale Wirtschaftssituation den graduierten Studis erlaubt, diese auch zurückzuzahlen. Mensch hofft, sie wissen was sie tun…

Zinsknechtschaft abschaffen!

Die Illusion vom monetären Widerstand

Aus dem wohl sozialkämpferischsten Land Europas, nämlich Frankreich, hört mensch ja immer wieder von außergewöhnlichen und drastischen Kampfmitteln des Proletariats. Auch dort gibt es allerdings Menschen, die sich nicht am Eigentum an den Produktionsmittel oder der „normalen“ Ausbeutung durch Arbeitgeber stören, sondern an der falschen Verwendung ihres Geldes Anstoß nehmen. Statt Streiks und „Bossnapping“ als geeignete Mittel des sozialen Kampfes zu nutzen, setzen sie dann Ideen wie die des „Bank Run 2.0“ in die Welt.

Die Initiative Stopbanque rief seit Oktober 2010 mit Slogans wie „Bankencrash 2.0 – Jetzt kommen die Bürger!“ dazu auf, am 7. Dezember 2010 gleichzeitig und massenhaft Geld abzuheben und Sparkonten zu schließen. Nach Angaben der Initiatoren sollten Banken in die Zahlungsunfähigkeit getrieben und so der entscheidende Anstoß zu einer Bankenkrise gegeben werden, die schließlich im Fall des gesamten Systems enden sollte. Ins Leben gerufen von drei Franzosen, verbreitete sich die Idee recht schnell. So wurden in kurzer Zeit über Facebook-Gruppen, Ketten-Emails, Blogbeiträge und einige Zeitungsberichte in 15 europäischen Ländern geschätzte 480.000 Menschen angesprochen und von den Initiatoren direkt als potentielle Bankencrasher_innen gezählt.

Am Stichtag war jedoch weit und breit nichts von einem Bankensturm zu sehen. Die heißersehnte Befreiung von der „Sklaverei des Großkapitals“ blieb aus. Es kam erwartungsgemäß zu keinen nennenswerten Liquiditätsengpässen bei europäischen Banken. Nur symbolisch lässt sich hier und da Erfolg verbuchen. Dies bleibt weit hinter den Erwartungen des populärsten Fürsprechers der Aktion, dem französischen Ex-Fußballstar und Schauspieler Éric Cantona, zurück, der von drei Millionen Teilnehmern allein in Frankreich sprach, die so die Revolution „ganz einfach umsetzen“ sollten. Doch was ist grundsätzlich dran an der Idee, durch massenhaftes Abheben von Sparguthaben Banken in die Insolvenz zu treiben und sich so der „reale[n] Macht […] internationaler Banken und Konzerne“ zu entledigen?

Die Ideologie

Bei den Aktionisten von Stopbanque liegt zunächst einmal das altbekannte Bild des guten schaffenden und schlechten raffenden Kapitals zugrunde. Das Geld, als Zahlungsmittel, mit welchem wir einen kleinen Teil der Waren erwerben können, von denen wir qua Eigentumsordnung zunächst ausgeschlossen sind, ist für die Leute von Stop­banque erstmal kein Problem. Auch die Aus­beutung durch Lohn­arbeit, das einzig verwertbare Eigentum der meisten Menschen, durch welches sie erst an dieses Mittel kommen, bleibt unbeachtet. Gegenstand der Kritik sind hingegen die Banken und die „Sklaverei, die uns vom Gross­kapital auferlegt wurde“. Geld wird also erst dann zum Problem, wenn es in den Händen einer „staatenlosen und egoistischen Elite“ nicht zum Wohle des „recht­mässigenVolkes“ verwendet wird, sondern „allein aus kapitalistischem Interesse heraus“. Woraus dieses kapitalistische Interesse genau besteht, außer aus Geld mehr Geld machen zu wollen, so wie jede_r gemeine Zinsparer_in, das wird hingegen verschwiegen. Die „abgehobenen Eliten“ jedoch haben laut Stopbanque „die reale Macht“ und raffen mit ihrem Bankensystem, was das Zeug hält. Geld sollte also moralisch verantwortlich im Sinne der Gesellschaft verwendet werden, nicht von einigen Habgierigen egoistisch und gesellschaftsschädlich. So moralistisch wie die Kritik an der Raffgier ist (Gewinn ist ok, aber doch bitte nicht zuviel!), so wenig taugt sie zur Analyse und schließlich zur Bekämpfung „des Systems“. Diese Personalisierung des Problems ist ein altes und schwer zu beseitigendes Problem einer Ka­pi­tal­ismuskritik, die sich mehr aus den vermeintlichen Verfehlungen Einzelner speist, als aus einer Kritik an den strukturellen Gegebenheiten der kapitalistischen Ökonomie. Das Eigentum (an Produktionsmitteln), mit dem große Kapitalmengen erst möglich wurden, bleibt als Grundlage des Kapitalismus von den Aktionisten unangetastet. Mit Aussagen wie, der „Finanzmarkt dien[e] lediglich noch dem Abzug von Geld aus der Realwirtschaft“ und würde nur der Bereicherung Einzelner dienen, konstruiertStopbanque auf der Suche nach Schuldigen eine geheime, herrschende Elite und das von ihnen geschaffene aus­beuterische (Geld)System. Bei solch platten Schuldzuweisungen ist es freilich auch kein Wunder, daß zu den Unterstützern der Aktion gerade namhafte Ver­schwörungsblogs wie Infokriegernews, Alles Schall und Rauch und Seelenkrieger zählen.

Der Bankensturm

Die Vorstellung des „Bank Run“ und der darauffolgenden Bankenpleite ist erfolgversprechend, doch die zu erwartetenden Folgen sind realistisch betrachtet alles andere als revolutionär. Angenommen, durch Massenabhebungen an einigen Banken kommt es tatsächlich zum Herdenverhalten der restlichen Anleger, nicht revolutionsbestrebten Kund_innen, also zu einem echten Bank Run in Milliardenhöhe und folglich der Zahlungsunfähigkeit der Banken. Was dann passiert, ließ sich 2008 als Auswirkung der weltweiten Finanzkrise beispielhaft beobachten.

Wenn keine Käufer für die insolventen Banken gefunden werden können, springt der Staat selbst ein und sorgt für die (zumindest teilweise) Deckung der Einlagen. Als letztes Mittel werden die Unternehmen verstaatlicht, wie es 2008 der Northern Rock in Großbritannien und der IndyMac Bank in den USA geschah. Der deutschen Hypo Real Estate griff der Staat mit insgesamt gut 102 Milliarden Euro unter die Arme, da eine Verstaatlichung wahrscheinlich noch weitaus teurer gekommen wäre.

Damit wirtschaftswichtige Banken vor dem Zusammenbruch bewahrt werden können, schuf man 2009 hierzulande die gesetzliche Grundlage für die Notverstaatlichung, die im sogenannten „Finanzmarktsta­bi­li­sierungsergänzungsgesetz“ festgeschriebene Enteignung der Aktionäre. Zudem gab die Bundesregierung schon 2008 eine Staatsgarantie auf Spareinlagen von privaten Anlegern (in der Summe immerhin 568 Milliarden Euro), um nervöse Sparer vom Bank Run abzuhalten. Viel Geld und ein wenig Marktfreiheit lässt die Politik es sich also kosten, damit alles so weiterläuft wie bisher. Kosten, die im Fall einer Krise schließlich auf die gesamte Bevölkerung umgelegt werden und Verstaatlichung, die keineswegs ein Schritt Richtung Sozialismus ist. Nach der Sanierung maroder Banken werden diese wieder privatisiert, was letztlich ein Gewinngeschäft für die Banker darstellt, für alle anderen jedoch mit finanziellen Einschnitten verbunden ist.

Der Aktivismus

Die Stopbanque-Aktion ist übrigens nicht die erste und einzige „ökonomische Kriegsführung“ dieser Art. Immer mehr Menschen sehen in ihrem Geldvermögen das einzige Mittel, um etwas gegen die Großen, von de­nen sie geschröpft werden, zu unter­nehmen.So etwa Jean Anleu aus Guatemala, der zum Geldabheben gegen die seiner Meinung nach korrupte Bank Banrural aufrief. Anleu wurde prompt wegen subversiver Tätigkeit verhaftet, ihm drohten wegen Untergrabung des öffentlichen Vertrauens in das Bankensystem Guatemalas bis zu fünf Jahre Haft. Er kam zwar dank mangelnder Beweisführung wieder frei, doch zeigt dieses Beispiel, wie entschlossen ein Staat auch gegen solche Aktivisten vorgehen kann, fühlt er Teile der kapitalistischen Ökonomie bedroht.

Auch Max Keiser, der die Kampagne „Crash JP Morgan, buy silver“ initiierte, hat ein Problem mit unlauteren Geldinstituten. Um gegen die Spekulationen und offensichtlichen Silberpreis-Manipulationen großer Banken wie JPMorgan Chase & Co. zu kämpfen, ruft der ehemalige Broker zum Kauf physischen Silbers auf. Silber ist einer der wichtigsten global gehandelten Rohstoffe und eignet sich aufgrund seiner Knappheit hervorragend zur Spekulation, zumal JP Morgan ca. 90% dieses Marktes kontrolliert.

„Der Kauf von Silber ist der Weg, wie die Welt ihre Wut gegen die Banken mone­tarisieren kann, die ihr das Vermögen gestohlen haben“, so Keiser in seinem 8-Punkte-Manifest. Kaufen sehr viele Menschen sehr viel Silber, so geriete die Großbank in einen „kolossalen Lieferengpass“ und würde ohne ihren Spekulationsrohstoff „crashen“. Vergessen wird auch hier allerdings wieder die staatliche Intervention, die dann höchst­wahrscheinlich für systemrelevante Unternehmen ins Spiel kommt.

Doch treibt die meisten Aktionist_innen gar nicht eine Analyse des kapitalistischen Marktes zum widerständigen Silberkauf oder der Kontoräumung als Mittel der Revolution. Dem monetären Aktivismus liegt vielmehr die einfach gestrickte Feindschaft zum besonders unmoralischen Verhalten der Banker oder der verteufelten Funktion des Zinses zugrunde und weniger die Ablehnung von Geld und Eigentum bzw. dem daraus resultierenden Kapital(ismus) an sich.

Daß die überwiegend Geld- und Machtlosen dieser Gesellschaft, das klassische Proletariat, für ihre Befreiung gerade zum Geld greifen, wirkt da schon fast satirisch. Ist dieses doch genau das Mittel, das ihre Ausbeutung funktionieren lässt und die Verhältnisse von Arm und Reich manifestiert. So betrachtet wirken Aufrufe wie Stopbanque eher wie der Hilfeschrei einer sich selbst unbewussten Klasse. Unbewusst ihres eigenen, tatsächlich vorhandenen, sehr viel mächtigeren Machtmittels – ihrer Arbeitskraft. Denn nicht das Geldabheben bringt das System zu Fall … sondern nur der gute alte Streik.

(shy)

Wer Laufzeitplus sät – wird Schotter ernten

Neues Laufzeitplus – neue Antworten: Schottern… die Unterhöhlung der Gleise durch Entfernen der Steine. Keine neue Aktionsform, auch nicht in der wend­ländischen Anti-Castor-Tradition, genauso wenig wie die eingesetzte 5-Finger-Grup­pentaktik*. Neu sind das Ausmaß der medialen Bewerbung, die solidarische Co-Existenz im Reigen etablierter Aktionsformen und die massenhafte Zustimmung zur erklärten Gesetzesüberschreitung.

Dank der Kriminalisierung im Vorfeld zeigt sich die Polizei, trotz der zeitlichen Nähe zu den Über­giffen auf Stutt­gart21-Geg­ner_in­nen, von ihrer hässlichsten Seite. Aufgrund der Massenbeteiligung wird nicht verhaftet, sondern die Strategie beinhaltet Wasserwerfereinsatz, Pfefferspray, Schlagstöcke und Pferde. Doch die außergewöhnliche Wirkung der Aktion lässt sich weder in geschotterten Metern, noch am Anteil an den ca. 36 Stunden Verspätung des Castors messen. Sie liegt vielmehr in den politischen Kosten und der wochenlangen medialen Auseinandersetzung. Mit 4.000 Menschen hat die Aktion, neben zivil ungehorsamen Sitz- oder Treckerblockaden, die Grenze dessen verschoben, was „Mensch“ sich zutraut. Und körperliche Wunden heilen, aber das Gefühl „dabei gewesen zu sein“ bleibt und die Überzeugung wächst.

Wandertag in Köhlingen … Die Nacht bleibt bis zum großen Weckruf mit dem Megafon fünf Uhr morgens für viele schlaflos aufgrund einer eisigen Kälte. Als der Startschuss für den acht Kilometer langen Marsch fällt, ist es immer noch finster und eiskalt. Aber entschlossen laufen wir fast polizeifrei bis zum Beginn des Waldes. Nur kurz entsteht Gerangel, als berittene Beamte versuchen, Luftmatratzen oder Strohsäcke zu entreißen. Aber uns begleiten begeisterte und anfeuernde Rufe aus Fenstern wend­ländischer Bevölkerung. Angekommen am Waldrand ist dann Kondition gefordert. Dort stehen wir einer Polizistenkette gegenüber und bekommen das erste Mal zu spüren, wie sich Knüppel und Tritte anfühlen. Zwar werden die Schotterer weit auseinandergezogen aber die Polizisten haben keine Chance. Nach einigen Versuchen, einem Knüppel am Schienbein und einem Stoß komme ich durch die Polizeikette und finde mich mit einigen im Wald wieder, jedoch niemanden aus meiner Bezugsgruppe und niemanden, der Ahnung vom Gelände hat. Wir treffen wenig später auf eine andere Kleingruppe und tauschen persönliche Angaben für den Fall einer Verhaftung aus. Dann geht es noch einmal gefühlte hundert Kilometer durch den Wald, bis endlich die Schienen in Sicht sind. Dieses Wegstück bleibt nicht so unentdeckt. Wir kreuzen immer wieder berittene Einsatzkräfte, sehen Einsatzwagen in einiger Entfernung und laufen sogar Teilstrecken mit ihnen zusammen. Am Gleis angelangt ist Freude spürbar, denn andere sind bereits da und es finden sich einzelne aus Bezugsgruppen wieder, so dass wir wieder gewaltig an Personenstärke gewinnen. Jedoch bietet sich uns ein Anblick von dicht an dicht gestellten Sixpacks auf den Schienen und einer undurchdringbar scheinenden Polizeikette mit finsteren Mienen davor.

Der erste Schotterversuch erfolgt dann geschlossen, in vorderster Front Grüppchen mit Planen, Luftmatratzen oder Strohsäcken und dahinter Demonstranten, die schieben – an Schottern aber ist nicht zu denken. Einige gelangen zwar auf die Schiene und dann mit knapper Not auf die gegenüberliegende Böschung, sind nun aber vom Rest der Gruppe abgeschnitten. Dort sieht man kurze Zeit später ein Was­ser­­werferfahrzeug als Antwort. Das passt zur Atmosphäre auf unserer Seite, die durchdrungen ist von Aggressivität, die durch blitzende Knüppel und überdimensionale Pfeffersprayspritzen entsteht, die die Polizisten nicht nur in den Händen halten, sondern auch eifrig einsetzen. Der Wald ist schon jetzt vernebelt von dem ganzen Reizgas und detonierten Tränengaskartuschen. Fotografen werden immer wieder zurückgedrängt und viele Verletzte müssen durch eigene Sanitätern an den Augen und am Kopf behandelt werden. Dennoch ist es auch ein überragendes Gefühl, denn wir sind so unglaublich viele. Wir sind Mädchen und Frauen, Jugendliche und über 50-jährige, Erfahrene und Unerfahrene, Jungs und Männer und jeder schätzt selbst ein, wie weit er/sie in Kontakt mit der Polizei geht. Und wir sind solidarisch. Wird einer geknüppelt, sind sofort Hände da, die ihn wegziehen und Körper, die sich dazwi­schen schieben.

Für den Moment ist die Lage verhältnismäßig ruhig. Wir stehen den Einsatzkräften gegenüber: Die Polizisten auf den Gleisen, die Demonstranten einige Meter daneben. Doch dann wird neu organisiert. Wir sind wütend über das widerliche Vorgehen der Polizei. Wir teilen uns in drei große Gruppen, eine läuft nach links durch den Wald und eine nach rechts, und ziehen so die Polizeieinheiten weiter auseinan­der. Die dritte Gruppe bleibt und stößt immer wieder ohne großen Erfolg nach vorn. Erneute Lagebesprechung. Wir, die geblieben sind, probieren eine neue Taktik. In kleineren Gruppen versuchen wir nun nadel­stichartig auf die Gleise zu stürmen und ziehen uns dabei weiter in die Länge. Vereinzelt gelingt es an die Schienen zu kommen, aber nicht wirklich den Schotter abzutragen, denn sofort spüren wir Pfefferspray und Schlagstöcke, die uns wegdrängen.

Zwischendurch entsteht eine bizarre Situation. Hunderte grölende und lachende Demonstranten, die mit Planen und Luftmatratzen wedeln, stehen fünf berittenen Beamten gegenüber, deren Pferde scheuen und rückwärts auf die Hundertschaften vor ihrer grünen Kleinbuskolonne galoppieren. Irgendwann, jegliches Zeitgefühl schwebt mit dem Tränengas zwischen den Bäumen, marschieren wir alle in den Wald hinein und es wird auf einer Wiese Pause gemacht. Leute aus dem Camp sind mit der mobilen Küche unter­wegs, werden behindert weiterzufahren und tragen die Suppen- und Teekessel kurzerhand zu Fuß zu uns in den Wald. Endlich ist Zeit, sich Informationen über andere Aktionen einzuholen. Wir bejubeln die ersten der 5.000, die sich bei Harlingen auf die Schienen setzen und hören einzelne erfolgreiche Schottermeldungen. Wir hören auch die Rechtfertigung der Polizei, dass Aktivisten zuerst angegriffen haben. Tatsächlich aber ist der Protest geprägt von einer sehr entschlossenen Gewaltfreiheit, die immer wieder mit den Megafonen propagiert wird.

Nachdem sich eine kleine Gruppe auf den Weg zurück ins Camp begeben hat, geht’s für den erstaunlich großen Teil der Verbleibenden weiter, wieder durch den Wald und erstmal im Zickzack, um Verwirrung zu stiften. Trotzdem immer wieder Polizisten, überall. Aber wir, geeint, solidarisch und uns selbst mit Anti-Castor-Parolen aufmunternd, blockieren hinter uns den Weg mit Baumstämmen und Ästen. Wir sehen wieder Gleise und gleichzeitig, dass die Gleise so tief in der Böschung liegen, dass keine Fahrzeuge und undurchdringlichen Poli­zisten­ketten uns den Weg versperren. Sofort stürmt die große Masse der Aktivisten unorganisiert hin­unter und …schottert. Endlich! Die nächste Stunde ist gekennzeichnet von Hinunterstürmen und Hinaufrennen, Schottern und Prügel beziehen, tränenden Augen die behandelt werden und Aufforderungen an die Polizei, die Gewalt einzustellen.

Wir bewegen uns immer weiter, um nicht festgesetzt zu werden, gleichzeitig rücken Fahrzeuge hinter uns näher – die Baumstämme halten sie nicht so lange auf. Die noch übrigen Planen und Luftmatratzen kommen zum Einsatz. Unsere Pressebegleitung ist enorm zusammengeschrumpft. Einer, mit dem ich angereist bin, läuft vor mir wie blind mit brennenden Augen die Böschung hoch. Ich stütze und ziehe ihn gleichzeitig von den näher rückenden Einsatzkräften weg in den Wald hinein. Hin zu einem Sanitäter, der bereits mehrere Augenpaare ausspült. Erst Kochsalzlösung, dann klares Wasser. Schmerz­­lindernde Augentropfen sind alle. Wieder ziehe ich ihn weiter, hin zur Gruppe, weg von der aufrückenden Gefahr.

Wir sind alle an einer Stelle angekommen, die eine kleine Lichtung hat und uns Rückzugsraum und damit Schutz bietet. Es ist noch circa eine Stunde Zeit, bis es anfängt dunkel zu werden und wir den Wald verlassen müssen, wenn wir den Weg zurück zum Camp noch finden wollen. Wir sind erschöpft, aber euphorisch. Einige begeben sich zur Sitzblockade bei Harlingen, einige auch auf den Rückweg und alle sind glücklich, als es heißt, es sind Shuttlebusse organisiert, die uns an der Straße abholen.

Eine große Gruppe jedoch bleibt, und Delegierte der verbleibenden Aktivistengruppen entscheiden über einen weiteren Vorstoß. Der Punkt, an dem wir uns jetzt befinden, ist dafür ungünstig. Zu lange Zeit am selben Ort, viel Zeit für die Polizei personellen Nachschub aufzufahren. Und unser Einsatz von Körpern für den Widerstand ist sichtbar. Überall rote Augen, humpelnde Aktivisten und provisorische Armstützen. Wasserwerfer, Pfefferspray, Schlagstöcke und Pferde haben deutliche Spuren hinterlassen. Das Plenum führt ins Nichts. Es lässt sich kein Konsens finden weiterzuziehen, hier vor Ort anzugreifen oder aber den Rückzug anzutreten. Dann nimmt uns die Zeit die Entscheidung ab … und ein langer, ereignisreicher Tag neigt sich dem Ende entgegen.

Der Weg bis zur Straße ist lang. Ich humpele irgendwann den Anderen hinterher und lasse alles Revue passieren. Wie fremd doch diese Art der Aktion meinem alltäglichen Leben ist und meine bisherigen Demonstrations- und Aktionserfahrungen übersteigt. Doch obwohl ich merke, dass mein Knöchel immer dicker wird, obwohl meine Beine schmerzen und ich die Hämatome förmlich wachsen spüre und auch die Erschöpfung kaum noch auszuhalten ist, bin ich berauscht. Ich habe Prügel von Beamten bezogen, weil ich einem, dem die Luft abgequetscht und einem, dessen Gesicht brutal in die Erde gedrückt wurde, helfend zur Seite gesprungen bin. Ich wurde von einem Beamten in den Dreck gestoßen, getreten und geprügelt, weil ich es spaßig fand, mit einer anderen Frau hinter eine endlos große Polizeikette zu rennen, um ironischerweise zu rufen „Bullen einkesseln“. Auch wenn ich glücklicher als viele andere war und keine direkte Ladung Reizgas in die Augen bekommen habe, brennen und tränen sie von den Wolken, die noch immer im Wald hängen. Aber es macht mir nichts aus. Das couragierte Auftreten gegen brutales Polizeivorgehen ließ mich nicht den körperlichen Schmerzen nachhängen, sondern Entschlossenheit, Tatkraft und Energie in mir wachsen. Dieses stumpfsinnige und sinnlose Knüppeln, Treten und Schla­gen auf die wehrlosen Körper von Menschen, immer wieder und wieder, diese uniformierte Demonstration von Macht war genau das, was mich stundenlang lebendig hielt. Ich habe gesehen und gespürt, wie das System gehorchend dort zuschlägt, wo Menschen aufbegehren, weil sie nicht einverstanden sind. Und genau das, denke ich, hat meine Berauschtheit verursacht. Bei keiner anderen Aktion habe ich ein derartiges Gefühl an Solidarität und einen so einheitlichen Konsens von Gewalt­freiheit unter so unglaublich vielen Menschen gespürt, ungeachtet dessen, dass sie auf Beamte trafen, die mit aller Härte vorgingen. Der Erfolg ist ein gemeinsamer, geprägt von der Gewaltfreiheit Tausender.

(monadela)

* Bei der Fünf-Finger-Taktik handelt es sich um genaue Absprachen in und zwischen verschiedenen Bezugsgruppen über das Be­wegungsverhalten, um an größeren Polizeisperren „vorbeizusickern“ und danach wieder zusammenzufinden. Sie wurden schon bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2008 erfolgreich erprobt.

New World Disorder?!

WikiLeaks als radikale Gegenöffentlichkeit – Kinderkrankheiten einer großen Idee

Bemüht mensch zur Zeit einmal Google zur Suche nach „wikileaks“, so werden über eine halbe Milliarde Ergebnisse angezeigt. Das ist mittlerweile mehr als ein gewisser „god“ und zeigt die enorme Popularität eines Projektes, das angetreten ist, um die Welt zu revolutionieren.

Seit unserem Artikel im letzten Heft, wo wir von spektakulären Veröffentlichungen des Projekts und sich abzeichnender struktureller Schwächen berichteten, hat sich viel getan. Zur Erinnerung: WikiLeaks, das ist die Webseite, die vor der Öffentlichkeit geheimgehaltene Dokumente von sogenannten Whistleblowern (also Geheimnisverrätern mit ethischer Absicht) entgegennimmt, auf Echtheit prüft und veröffentlicht. Wie beim jüngsten, noch laufenden Leak geschieht dies immer mehr in Zusammenarbeit mit etablierten Medien wie dem Spiegel, der New York Times oder dem Guardian. Die kooperierenden Zeitungen übernehmen dabei die logistisch notwendige Aufbereitung der enorm großen Datensätze und filtern die ihrer Meinung nach für die Öffentlichkeit bedeutsamen Teile heraus. Dazu gehören bei modernen Medienunternehmen natürlich vor allem die aufsehenserre­gendsten und gewinnträchtigsten Schlagzeilen, die sie so exklusiv nutzen können. Ob diese Zusammenarbeit jedoch Segen oder Fluch für den Whistleblowerdienst und sein Ideal der Informationsfreiheit ist, wird sich zeigen. Davor stehen allerdings noch einige ungelöste strukturelle Fragen, die für die unmittelbare Zukunft WikiLeaks’ von enormer Bedeutung sind.

One Man-Show?

Kurz nach der Veröffentlichung unseres ersten Artikels brachen sich die internen Zwistigkeiten bei WikiLeaks Bahn und erreichten mit der etwa einmonatigen „Sus­pendierung“ des deutschen Sprechers eine neue Stufe. Daniel Domscheit-Berg, wie der Aktivist mit richtigem Namen heißt, kritisierte grundlegend die strukturellen Schwächen WikiLeaks’, sowie die in seinen Augen einseitige Fokussierung der Veröffentlichungen. Damit traf er augenscheinlich wunde Punkte beim „Chef“ Julian Assange. Der habe jedoch „auf jede Kritik mit dem Vorwurf reagiert, ich würde ihm den Gehorsam verweigern und dem Projekt gegenüber illoyal sein“, so Domscheit-Berg. Assange sperrte dessen WikiLeaks-Mail und suspendierte ihn so de facto von seiner Arbeit. Nachdem er Domscheit-Berg auch noch mit „Wenn Du ein Problem mit mir hast, verpiss Dich“ die Richtung wies, sah dieser sich endgültig gezwungen, mit dem Projekt zu brechen. Womit auch die Machtfrage und die Diskussion um strukturelle Schwächen in die Öffentlichkeit getragen wurde, wenn­gleich kaum konkretes aus dem Bunker WikiLeaks nach außen drang.

Eine Diskussion ums Ganze, wenn man bedenkt, daß Unterstützungsangebote von gut 800 Programmierer_innen liegen bleiben mussten, weil keine Struktur zur Einbindung neuer Mitarbeiter_innen vorhanden war. WikiLeaks wuchs zu schnell, zu unorganisch, v.a. weil die meisten Kräfte bei der Veröffentlichung der großen, medienträchtigen Scoops gebunden waren, statt sich mit organisatorischen Problemen zu beschäftigen. Domscheit-Berg erkannte die Dringlichkeit systemischer Fragen und wäre einen anderen Weg gegangen, sprach sich ebenso für eine „diskriminierungsfreie“ Abarbeitung der Einsendungen aus: „Aber diese eindimensionale Konfrontation mit den USA ist nicht das, wofür wir angetreten sind. Es ging uns immer darum, Korruption und Missbrauch von Macht aufzudecken, wo auch immer sie stattfinden, im Kleinen wie im Großen, auf der ganzen Welt“, sagte er im Interview mit dem Spiegel. Assange hingegen sprach an gleicher Stelle schon im Juli Klartext: „Am Ende muss einer das Sagen haben, und das bin ich“. Das äußert sich in den letzten großen Enthüllungen, den sogenannten Scoops, die sich allesamt mit Assanges Lieblingsfeind, den USA, beschäftigen. „Den Mächtigen in die Suppe spucken“ war und ist dabei die Hauptintention (1) des WikiLeaks-Gründers, der sich zur Zeit ausschließlich die letzte Supermacht vornimmt und dafür wichtige organisatorische Fragen sowie andere Leaks vernachlässigt.

Nach dem Collateral-Murder-Video, in dem Erschießungen irakischer Zivilisten durch US-Streitkräfte zu sehen waren, und dem afghanischen und irakischen „Kriegstagebuch“, das etwa 77.000 bzw. 391.000 militärische Dokumente der USA und ihrer Verbündeten umfasste, begann WikiLeaks am 28. November 2010 unter dem wohlklingenden Titel „Cablegate“ mit der schrittweisen Veröffentlichung einer Sammlung von etwa 250.000 US-Botschafts-Depeschen. Darunter sind ca. 15.000 als geheim und 100.000 als vertraulich eingestufte Berichte von Botschaftsmitarbeiter_innen, die aufgrund ihrer Offenheit die diplomatischen Beziehungen zu vielen Ländern wahrscheinlich dauerhaft in Mitleidenschaft ziehen werden. Julian Assange kündigte an, daß dies nur der Auftakt sei. Als nächstes nehme sich WikiLeaks die Wirtschaft vor. Eine große US-Bank soll das Ziel des bald folgenden Scoops sein. Vor lauter skandalträchtigen Enthüllungen wird mensch in Zukunft wohl gar nicht mehr zum Nachdenken über die strukturellen Probleme des Projektes kommen. Denn die bestehen nachwievor und werden sich durch Assanges Führungsstil auch nicht gerade verbessern.

Durch diese öffentlichkeitswirk­samen Leaks und den folgenden rasanten Popularitätsanstieg ist der Whistle­blower jedoch der zunehmenden Flut von Dokumenten nicht mehr gewachsen. WikiLeaks gerät in personelle Schwierigkeiten, zumal mit Domscheit-Bergs Ausstieg auch einige andere, die sich mit dem fast schon autokratischen und selbstherrlichen Verhalten des Gründers nicht arrangieren konnten oder wollten, dem Projekt den Rücken kehrten. Davon abgesehen, daß die alle Aufmerksamkeit auf sich ziehende Persönlichkeit Assange nicht die besten Voraussetzungen bietet, um ein gemeinschaftliches Projekt zu betreiben, in dem letztlich nur er die Fäden in der Hand hält, werden die Ziele, die es neben den Datenbefreiungen zu meistern gilt, völlig übersehen. Dem ausgeschiedenen Daniel Domscheit-Berg bspw. liegt weiterhin sehr viel an einem besseren rechtlichen Schutz für zivilcouragierte Whistleblower und Journalisten, an der effizienten Aufbereitung und Qualitätssicherung der Veröffentlichungen sowie an Transparenz der Initiativen.(2)

Die rechtliche Seite ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Innerhalb der Konkurrenz der Nationalstaaten und ihres zu schützenden Wirtschaftssystems wird es immer Geheimniskrämerei und das Interesse nach Wahrung dieser Geheimnisse geben. Ein umfassender Schutz für Whistleblower ist so systembedingt ausgeschlossen. Domscheit-Berg hofft auf den Weg der Reformen, um aus der jetzigen schmutzigen Demokratie eine transparente, ehrliche, lebenswerte zu machen. Dies ist im Kapitalismus jedoch nicht zu bewerkstelligen. Das Gesetzesvorhaben einiger US-ame­ri­ka­nischer Politiker SHIELD (3) macht den Widerspruch deutlich. Trotz der verfassungsmäßig verbrieften Rede- und Pressefreiheit und einem im internationalen Vergleich sehr progressiven Whistle­blower-Gesetz der USA werden Projekte wie Wiki­Leaks doch wieder hart bekämpft, wenn es um die nationale oder wirtschaftliche Sicherheit geht. Hinzu kommen ge­heim­dienst­liche Bestrebungen, wie ein geleaktes CIA-Dokument zur Bekämpfung Wiki­Leaks’ deutlich aufzeigt. (4) Kommt ein Staat in Bedrängnis, so schlägt er mit eiserner Faust zurück. Dann zeigt sich das wahre Gesicht der vielgepriesenen Freiheit.

WikiLeaks als Organisation hat also noch einiges vor sich und sollte sich nicht scheuen, den ursprünglich eingeschlagenen Weg des klandestinen Netzwerks weiter zu gehen. Die strukturelle Transparenz muss dabei auch nicht im Widerspruch zur Anonymität stehen. Die außerordentliche Vorbildfunktion für die neue Generation des Informationszeitalters sollte jedoch keines­falls ungenutzt bleiben.

Die von einer Elite vertretene und stellvertretende Informationsfreiheit wirkt aller­dings nicht aufklärend im Sinne einer emanzipativen Gesellschaft. Was WikiLeaks noch fehlt, ist das Zeigen von Verantwortung und Transparenz.

Wie weiter?

Mit der kürzlichen Verhaftung von Assange durch die Londoner Polizei könnte sich jedoch einiges ändern. Die schwedische Justiz beschloss einen europäischen Haftbefehl (5), um Assange habhaft zu werden. Der soll im wiederaufgenommenen Fall der (mittler­weile nur noch „weniger groben“) Vergewaltigung in Stockholm aussagen. So stellte er sich am 7. Dezember in Großbritannien und ist bis dato quasi in Auslieferungshaft. Wahrscheinlich nutzte er die letzte Zeit in Freiheit, um seinen Anteil an WikiLeaks zu übergeben und Vorkehrungen für die Wei­ter­verbreitung der Veröffentlichungen zu treffen. Es wird sich also zeigen, ob WikiLeaks auch ohne Julian Assange weiter auf große Enthüllungen setzt, wobei Struktur- und Nachwuchsfragen zwangsläufig auf der Strecke bleiben. Und etwas größenwahnsinnig mutet es an, wenn mensch sich die großspurige Ankündigung des laufenden Cablegate-Scoops via Twitter ansieht: „The coming months will see a new world, where global history is redefined.“

Kein Zweifel, WikiLeaks schreibt wahrlich Weltgeschichte. Der große Umbruch, politischer und gesellschaftlicher Art, steht uns bevor. WikiLeaks, als eine der Speerspitzen in der großen Schlacht um die Datenfreiheit, ist dabei Avantgarde und Kanonenfutter zu­gleich. Doch die One-Man-Show Julian Assange ist anfällig, bringt als Projektionsfläche Geheimdienste, Wirtschaft und sogar Me­dien gegen sich auf. So sperrte der Dienstleister everydns.net die Domain wikileaks.org (6), Amazon verbannte die Seite von seinen Servern (7), PayPal, Mastercard und VISA sperrten die Spendemöglichkeit über die Wau-Holland-Stiftung (7) und Assanges Schwei­zer Konto bei der PostFinance wurde gekündigt (8). Politiker, Journalisten und Juristen greifen das Projekt und seinen Vorsteher scharf an. Vor allem die Beihilfe zum Ge­heimnisverrat und die daraus folgenden na­tionalen Sicherheitsprobleme werden Wiki­Leaks vorgeworfen. Sogar offene Rufe nach der Tötung von Julian Assange werden laut. (9)

Andererseits ist eine enorme Solidarität im Internet zu beobachten. Hacker legen Seiten der Bezahldienste lahm und attackieren Regierungsstellen. Gerade Piratenparteien in vielen Ländern, aber auch hunderte anderer Projekte und Einzelpersonen auf der ganzen Welt spiegeln die komplette Webseite (10) oder die Daten und stellen so die Erreichbarkeit trotz aller Angriffe sicher. Der Streisand-Effekt setzt ein, die versuchte Unterdrückung schlägt in das Gegenteil um und ein Wettlauf um die größte und sicherste Verbreitung WikiLeaks’ und seiner Daten hat begonnen.

(shy)

(1) Ein guter Artikel über Assanges „Krypto-Anarchismus“ und seine Idee WikiLeaks findet sich hier: www.sueddeutsche.de/digital/wikileaks-gruender-julian-assange-der-gegenverschwoerer-1.1031477
(2) Konkret arbeitet er zusammen mit anderen schon an der Weiterentwicklung des WikiLeaks-Gedankens, einem dezentralen System von sicheren elektronischen Briefkästen, mit dem Namen „Openleaks“ und schreibt ein Buch über seine Zeit bei WikiLeaks.
(3) Mit dem am 3. Dezember 2010 eingebrachten Gesetzesvorhaben SHIELD (Securing Human Intelligence and Enforcing Lawful Dissemination) sollen alle Veröffentlichungen unter Strafe gestellt werden, die US-Agenten oder -Informanten gefährden könnte oder sonst irgendwie gegen die nationalen Interessen gerichtet sind.
(4) Im geheimen Papier wird die Gefahr, die von WikiLeaks ausgeht, eingeschätzt und Strategien – wie Bloßstellung von Informanten und Mitarbeitern – gegen die Plattform erörtert.
(5) Der europäische Haftbefehl (beschlossen im Juni 2002) sollte ursprünglich nach dem 11.September in Europa der Terrorismusbekämpfung dienen und kann u.a. bei Umweltkriminalität, Cyberkriminalität, Fremdenfeindlichkeit, Betrug, Kraftfahrzeugkriminalität oder „Nachahmung und Produktpiraterie“ erlassen werden. Es wird auch „ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit“ ausgeliefert.
(6) offiziell aus Angst vor – erfolgten und weiter zu befürchtenden – DDoS-Angriffen um die eigenen Server (beim Distributed Denial-of-Service-Angriff wird durch massenhafte Anfragen der Server einer Webseite in die Knie gezwungen und die Seite ist unerreichbar)
(7) jeweils wegen der Unterstützung illegaler Handlungen seitens WikiLeaks
(8) hier wurde mit der falschen Angabe des Wohnortes argumentiert
(9) Der Republikaner Mike Huckabee (ehem. Gouverneur von Arkansas), US-Radiomoderator Jeffrey T. Kuhner und Tom Flanagan (Professor für Politikwissenschaft und ehem. Stabschef des kanadischen Premierminister) bspw. fordern offen die Tötung von Assange. Sarah Palin (ehem. Gouverneurin von Alaska) gibt sich verhältnismäßig moderat und vergleicht Assange „nur“ mit Terroristen wie Osama bin Laden und fordert ein angemessenes Vorgehen.
(10) Unter der IP 213.251.145.96 ist WikiLeaks z.Z. noch zu erreichen, unter www.wikileaks.ch/mirrors.html findet mensch Links zu den über tausend Spiegelungen der Seite

Anti-Extremistische Gesinnungsprüfung!

Das AKuBiZ Pirna und die bundesdeutsche „Extremismus“-Politik

Die gruselige „Extremismus“-Debatte hat sowohl für staatliche Behörden als auch für antifaschistische Initiativen und Vereine einen neuen Höhepunkt erreicht: In Zukunft müssen Organisationen, die finanzielle Mittel von einigen landes- und bundesweiten Förder­programmen nutzen wollen, eine „anti-extremistische Grundsatzerklärung“ unterschreiben. Dass diese Neuregelung auch in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wird und zunehmend Widerstand erfährt, ist vor allem dem Alternativen Kultur- und Bildungszentrum e.V. (AKuBiZ Pirna) zu verdanken.

Doch von vorn: Nach den letzten Bundestagswahlen verständigte sich die neue Koalition schnell darauf, dass man sich künftig nicht nur dem Kampf gegen „Rechtsextremismus“ widmen, sondern wieder verstärkt jegliche „extremistischen Tendenzen“ bekämpfen will. Daran anknüpfend wurden z.B. nicht nur neue Fördergelder für Projekte gegen „Linksextremismus“ und Islamismus bereit gestellt, sondern jüngst auch Klauseln in bestimmte Förder­programme (1) eingeführt. Darin sollen Organisationen qua Unterschrift verpflichtet werden, sämtliche Kooperationspartner auf „extremistische Tendenzen“ hin zu überprüfen und ggf. die Zusammenarbeit einzustellen (2).

Bis dato unbeachtet, wurde die Klausel am 9. November 2010 Gegenstand einer öffentlichen Debatte, als das AkuBiZ Pirna kurzfristig den mit 10.000€ dotierten Sächsischen Demokratiepreis ablehnte. Dieser zeichnet Initiativen aus, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen und wird seit 2007 von der Amadeu Antonio Stiftung, der Freudenberg Stiftung, der Stiftung Frauenkirche Dresden und der Kulturstiftung Dresden der Dresdner Bank vergeben. In seiner Begründung kritisiert das AKuBiZ v.a. die geforderte „anti-extremistische Gesinnungsprüfung“ der Kooperationspartner, da diese sämtliche politischen Initiativen unter Generalverdacht stelle. Die vorgeschlagene Nutzung von Verfassungsschutzberichten zur Überprüfung ihrer Partner erinnere an Stasi-Methoden, sei aber auch deshalb zweifelhaft, da der VS mitunter nachweisliche Fehleinschätzungen trifft. Zudem werden Organisationen als „extremistisch“ vermerkt, deren Anspruch und Weltanschauung gesellschaftskritisch, radikaldemo­kratisch oder antikapitalistisch ist. Die Zusammenarbeit verschiedenster politischer Initiativen im Engagement gegen antihuma­nitäre Bestrebungen, bspw. zur Verhinderung von Naziaufmärschen, wäre damit blockiert und die zur Zielerreichung notwendige Solidarität zwischen den Organisationen gefährdet.

Auch das in der Klausel enthaltene Bekenntnis zum herrschenden Grundgesetz würde bestehende Missstände bspw. institutionalisierten Rassismus legitimieren. So könnten Organisationen in ihrer Kritik an der gegenwärtigen Asylgesetzgebung oder an rassistischen Polizeikontrollen mit dem Extre­mis­mus­vorwurf mundtot gemacht werden. Wenn schon eine Klausel, so die Forderung einiger Ver­eine, dann sollte diese stattdessen eine Orientierung an humanistischen Grundwerten bzw. den Menschenrechten festschreiben.

Mit der öffentlichkeitswirksamen Ablehnung des Preises zeigte das AKuBiZ Courage und befeuerte die Debatte um die wissenschaftlich umstrittene und vom VS angewendete „Extremismus“-Kategorie. Dass diese sowohl ungeeignet als auch falsch ist, hat die Leipziger INEX bereits des öfteren dargestellt (3). Denn die durch den „Extremismus“-Begriff folgende Gleichsetzung von bspw. linker Gesellschaftskritik und rassistischer Weltanschauung ist inhaltlich nicht haltbar und lediglich für den VS nützlich, um gegen politische Gegner aller Couleur vorzugehen.

Um so besser, dass sich nun Widerstand gegen diese Politik regt. Mehr noch als die aktuell laufende juristische Prüfung, inwiefern die vom Familienministerium erdachte Klausel überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar ist, prägen öffentliche Stellungnahmen zahlreicher zivilgesellschaftlicher Organisationen die Debatte. Das AKuBiZ fand unzählige Unterstützer_innen – von der Roten Hilfe über Antifa-Gruppen, den VVN-BdA bis hin zu Professor_innen und linksorientierten Parlamentarier_innen (4). Weiter wird in einer Online-Petition dazu aufgerufen, kollektiv die Gesinnungsprüfung zu verweigern. Denn wenn die Klausel wie geplant auf alle staatlichen Fördertöpfe ausgeweitet wird, wäre nicht nur die Arbeit vieler Vereine gefährdet, sondern es würden auch die verschiedenen Initiativen gegeneinander ausgespielt. Damit die Landschaft der politischen Träger weiterhin vielfältig und gesellschaftskritisch bleibt, hilft nur kollektiver Widerstand. Auch deshalb solidarisierten sich zahlreichen Netzwerke mit dem AKuBiZ – so z.B. das Netzwerk für Demokratie und Courage, das Netzwerk Tolerantes Sachsen, aber auch die Amadeu Antonio Stiftung, die den sächsischen Demokratiepreis selbst mit ausgerufen hatte. Die Freunde und Förderer der Stiftung spendeten jüngst sogar 10.000€ an das AKuBiZ, um diesem den Rücken zu stärken.

Bleibt zu hoffen, dass diese Initiativen größtmögliche Unterstützung finden und die Klausel zu Fall bringen. Auch wenn dies wohl keine Auswirkungen auf die generelle „Extremismus“-Kategorisierung der Bundesregierung haben wird, so würde es zumindest einigen antirassistischen Initiativen und Organisationen ihr weiteres Engagement ermöglichen und einer Spaltung linksgerichteter politischer Organisationen entgegenwirken.

(momo)

 

(1) Die beim Sächsischen Demokratiepreis eingesetzte Klausel soll in mehrere Landes- und Bundesförderprogramme eingeführt werden: Während der Freistaat Sachsen dies bereits für Weltoffenes Sachsen beschlossen hat und das Innenministerium derzeit debattiert, die Klausel auf sämtliche geförderten Vereine und Initiativen anzuwenden, verwendet sie das Bundesfamilienministerium bereits im neuen mit 24 Mio. € ausgestatteten Förderprogramm Toleranz fördern – Kompetenz stärken sowie Initiative Demokratie stärken. Auch das Bundesinnenministerium will die Erklärung als Fördervoraussetzung für das Förderprogramm Zusammenhalt durch Teilhabe ab 2011 einführen.

(2) Die „Anti-Extremistische Grundsatzerklärung“: www.akubiz.de/

(3) Initiative gegen jeden Extremismusbegriff (INEX): inex.blogsport.de/

(4) Unterstützerliste: ablehnung.blogsport.de/

Der innere Zwerg

Im kollektiven Unterbewussten der Deutschen spuken schon manch merkwürdige Gestalten herum. Hitler zum Beispiel. Natürlich nicht der Original-Hitler – der ist bekanntlich schon tot, bzw. wenn er noch lebt, dann tut er dies in einer Höhle unter der Antarktis, wo er eine umfangreiche Flotte von fliegenden Untertassen wartet. Nein, gemeint ist hier der archetypische „Hitler an sich“. Oder noch genauer, der sprichwörtliche „Hitler in uns allen“, der sich immer wieder unangenehm bemerkbar macht, z.B. in dem ständigen Drang der deutschen Vertriebenenverbände, mal wieder in Polen einzumarschieren.

Erträglicher ist da schon der alte Barbarossa, der irgendwo in einer Ecke der Volksseele hockt und sich im Schlaf den langen, roten Bart besabbert. Sogar Friedrich der Große und Hermann der Cherusker sollen schon im Dickicht des deutschen Unterbewussten gesichtet worden sein. Wie beim Monster von Loch Ness sind freilich auch hier alle fotografischen Dokumente von zweifelhafter Qualität und die Augenzeugen meist als Trunkenbolde und Theosophen bekannt.

Zum Glück trampeln nicht nur solch blutrünstige Tyrannen im Gemüsebeet des deutschen Geistes herum. Ein Archetyp, der die eher gemütliche Seite der Volksseele repräsentiert, ist DER ZWERG. Man sieht es schon an seiner Zipfelmütze, die der Zwerg sich mit dem (von schlechten Karikaturen allseits bekannten) „deutschen Michel“ teilt. Wie dieser ist der Zwerg die symbolische Verkörperung des deutschen Kleinbürgers. Kein Wunder also, dass der Zwerg (in domestizierter Form als Gartenzwerg) in unzähligen Klein- und Vorgärten anzutreffen ist. Denn der Kleingarten ist bekanntlich die natürliche Heimat des Kleinbürgers.

Nutzen wir die Gelegenheit, um eine völlig aus der Luft gegriffene Hypothese aufzustellen: Die im­mer noch ungebrochene Faszination des Zwerges beruht auf dem Versprechen von Unmittelbarkeit, von Über­schau­barkeit, wie sie in der Hektik des post­fordistischen Turbokapitalismus kaum mehr zu finden ist. Zur selben Zeit zeigt der Zwerg aber auch unverkennbar die zwanghaften Züge des analen Charakters. Dass es einen tiefen symbolischen Zusammenhang zwischen Gold und Kot gibt, wissen wir ja aus der Freudschen Traumanalyse: So wie der anale Charakter aus dem Zurückhalten des Kots einen Lustgewinn zieht, gewinnt das bürgerliche Subjekt Lust aus dem Zurückhalten des Goldes, der Anhäufung von Kapital. Auch in diesem zwanghaften Drang zum Sparen und Knausern erweist sich der Zwerg als guter protestantischer Kleinbürger.

Der Gegensatz zwischen dem „Hitler in uns allen“ und dem inneren Zwerg ist also nur oberflächlich. Zwar sind Welteroberungspläne dem Zwerg schon deshalb wesensfremd, weil die Welt einfach viel zu groß für ihn ist. Und wo der „Hitler in uns allen“ alles Nichtidentische mit Stumpf und Stiel ausrotten will, verkörpert der innere Zwerg die mögliche Synthese von raffendem und schaffendem Kapital: Eigentlich will er die ganze Zeit nur Gold, Gold, Gold haben – aber er arbeitet auch dafür, macht sich die Hände schmutzig, hebt Schächte und Gruben aus und wühlt mit Schaufel und Spitzhacke im Dreck herum. In dieser Mischung aus bierseliger Gemütlichkeit und protestantischem Arbeitsethos verkörpert der Zwerg in archetypischer Weise die conjunctio oppositorum, die mögliche Aufhebung der Gegensätze im Bereich des Imaginären.

Bei aller Gemütlichkeit dürfen wir aber die tiefgreifende Ambivalenz des Zwerges nicht übersehen. Denn dem Wunsch nach Über­schau­barkeit steht schon seit je der spiegelbildliche Drang zur Grenzüber­schrei­tung zur Seite, wie er uns vor allem bei den sieben Zwergen entgegentritt. Nicht um­sonst hausen diese zusammen in einer Hütte im Wald „hinter den sieben Bergen“: Das Leben tief in der Wildnis symbolisiert eine Überschreitung des eng gefassten Regelkorsetts der bürgerlichen Kleinfamilie, die barbarische Zwergenhorde verspricht rauschhafte Entgrenzung im tabuisierten sexuellen Akt. Kurz gesagt: Wir haben es bei den sieben Zwergen offensichtlich mit einem homoerotisch eingefärbten Männerbund zu tun. Über die symbolischen Implikationen z.B. des „Schachts“ (be­kanntlich der liebste Aufenthaltsort des Wildzwerges) will ich mich an dieser Stelle schamhaft errötend ausschweigen.

Aber auch so dürften die Schlussfolgerungen klar sein: Der ödipale Konflikt wird hier nicht ausgetragen, das zwergische Ich entzieht sich stattdessen den Ansprüchen des Über-Ichs. Die Verdrängungsleistungen, die dem Subjekt allenthalben abverlangt werden, sollen so rückgängig gemacht, das Glücksversprechen unmittelbar eingelöst werden. Dieses Unterfangen einer imaginären Bewältigung der ödipalen Kastrationsangst birgt natürlich die Gefahr der Regression in sich – die Gemeinschaft der Zwerge degeneriert dann zum protofaschistischen Mob.

Wie dünn die Tünche der Gemütlichkeit ist, zeigt sich am Abend. Dann marodieren die Zwerge biertrunken durch den Wald, kotzen in die Büsche und hauen mit ihren Spitzhacken alles kurz und klein, während sie im Chor immer wieder „Gold, Gold, Gold!“ gröhlen. Aus den Zwängen der Arbeitswelt entlassen erweist sich der Zwerg wieder einmal als der geistige Kleinbürger, der er immer schon war. Ein trauriges Bild… Von unserem Beobachtungsposten, hoch oben auf den Zinnen unseres Elfenbeinturms, können wir nur kopfschüttelnd auf das barbarische Treiben hernieder blicken, um uns dann angewidert abzuwenden und uns zurückzuziehen in unsere Kammer, um vor dem Schlafengehen noch ein wenig zu dichten und zu denken.

(justus)

Leipzig schwarz-rot (Teil 5)

Ein Rückblick auf 20 Jahre autonome Linke in Leipzig

Der rechtliche Status der besetzten Häuser in Connewitz war lange Zeit unsicher gewesen – ein Umstand, der regelmäßig zu Konflikten mit den städtischen Behörden führte. Ab 1997 wurde diese Frage geregelt. Mit der sog. „Connewitz-Vorlage“ überließ die Stadt die Häuser der Alternativen Wohngenossenschaft Connewitz zur Erbpacht. Damit war zwar ein Problem gelöst, aber Friede, Freude, Eierkuchen herrschte deswegen noch lange nicht.

Fascholalarm

Denn zur selben Zeit gingen die Neonazis in Leipzig wieder verstärkt in die Offensive. Die Faschos waren schon in den Wendejahren eine alltägliche Bedrohung für Leipziger Punks, „Alternative“ und Migrant_innen gewesen. Nach 1993 hatte sich die Situation, auch aufgrund der antifaschistischen Gegenwehr, ein wenig beruhigt. Ab 1996 war nun aber wieder ein Zuwachs an Neonazi-Aktivitäten zu verzeichnen. So kam es nicht nur im Innenstadtbereich verstärkt zu Angriffen auf Punks und Skater, auch vor Mord schreckten die Leipziger Neonazis nicht zurück. So wurde im Mai 1996 in Wahren ein Mann seiner Homosexualität wegen von mehreren Faschos erst misshandelt und dann ermordet. Im Oktober des selben Jahres wurde der Migrant Achmed Bachir vor seinem Laden in der Leipziger Südvorstadt von zwei Neonazis erstochen. (1)

Trotz dieser Vorfälle konnte z.B. OBM Lehmann-Grube jedoch „kein rechtsextremistisches Potential“ in Leipzig erkennen. Das änderte sich erst mit den NPD-Aufmärschen am Völkerschlachtdenkmal, die auch für die Leipziger Antifaschist_innen zu einer Herausforderung wurden. Der für den 1. Mai 1997 geplante Aufmarsch, bei dem die NPD mit Teilnehmerzahlen im fünfstelligen Bereich rechnete, scheiterte noch an einem kurzfristigen gerichtlichen Verbot. Nur etwa 200 bis 300 Nasen verirrten sich folglich nach Leipzig und konnten von Polizei und Antifa leicht in Schach gehalten werden. Das sollte sich aber schon im folgenden Jahr ändern. Auch 1998 versuchte die Stadt Leipzig die für den 1. Mai geplante NPD-Kundgebung am Völkerschlachtdenkmal zu verbieten. Diesmal misslang das Manöver: Zum geplanten Termin versammelten sich 4000 Neonazis am Kundgebungsort. Ihnen standen etwa 8000 Gegendemonstrant_innen gegenüber, die aber angesichts der massiven Polizeipräsenz und dem rabiaten Vorgehen der Beamt_innen die Kundgebung nicht verhindern konnten. (2)

Und auch abseits der Großaufmärsche blieben die Nazis gefährlich. So kam es im Oktober 1997 zu einem Brandanschlag auf das Werk II. (3) Unmittelbar zuvor hatte dort eine Veranstaltung zu dem ein Jahr zurückliegenden Mord an Achmed Bachir stattgefunden, was die Vermutung nahe legte, dass die Brandstifter aus der Neonazi-Szene stammten. Nur wenige Tage später wurde das Plaque von einem etwa 30 Mann starken Fascho-Mob angegriffen. Ein Cee-Ieh-Artikel (4) führt diese Entwicklung auf mangelnden antifaschistischen Widerstand zurück:

„Auch in Plagwitz hatten sich die Nazis nach und nach an das Plaque herangearbeitet und dessen Widerstandspotential ausgelotet. Erst wurden im Haus Aufkleber und in unmittelbarer Nähe NPD-Plakate verklebt. Dann gingen die ersten Autos der BewohnerInnen zu Bruch und als daraufhin immer noch keine Sanktionen der Antifa den Faschos Einhalt oder wenigstens größere Vorsicht geboten, durften sie sich auch nicht mehr vor dem direkten Angriff scheuen. Ganz in diesem Sinne sind die Nazi-Aktionen in Connewitz zu betrachten. In der Nacht vom 17.10. klirrten die Scheiben einer Kneipe in der Biedermannstr. und die eines Autos in der Stöckartstr. (ehemaliges Herzstück der Hausbesetzerszene). Als Bekennerbrief hinterließen die Täter jeweils Aufkleber der JN (Junge Nationaldemokraten). Am Sonntag darauf wurden dann NPD-Plakate am Conne­witzer Kreuz verteilt. Noch vorsichtig zwar, aus einem fahrenden Kleinbus, aber noch können die Faschos nur ahnen, dass sie ihren Fuß in eine Tür setzen, die kaum jemand mehr zuhält.“

Aber nicht nur der mangelnde Kampfgeist der Antifa führte zu diesem Erstarken der rechten Szene. Auch die Planlosigkeit bzw. Ignoranz der städtischen Instanzen trug dazu ihren Teil bei. So konnte sich dank „akzeptierender Sozialarbeit“ der Jugendclub Treff 2 im Grünauer Kirschberghaus ab 1995 zu einem wichtigen Zentrum der rechten Szene entwickeln. Nicht genug, dass NPD- und Kameradschafts-Kader dort unbehelligt Propaganda machten – auch die Naziband Odessa konnte im Kirschberghaus proben. Es dauerte bis Ende 1998, bis das Problem bemerkt wurde. Und auch dann war man sich nicht einig, wie damit umzugehen sei. So forderte die Grünen-Fraktion im Leipziger Stadtrat die Schließung des Jugendclubs, da dieser von „organisierten Rechtsextremen beherrscht“ sei. Dieser zutreffenden Einschätzung der Lage mochte sich die LVZ nicht anschließen, ein Kommentar spricht in vermeintlich guter Ausge­wogenheit von Krawallen, „die auf politisch motivierte Zwistigkeiten zwischen rechts- und linksextremen Gruppen zurückzuführen“ seien. Im dazugehörigen Artikel wird der CDU-Landtagsabgeord­nete Volker Schimpff so zitiert: „Hier arbeitet eine un­hei­lige Allianz von randalierenden Chaoten und linksradikalen Ideologen daran, mit dem rechten Treff 2 auch das unpolitische Jugendzentrum im Kirschberghaus zu zerstören.“ Der Artikel selbst will in den Grünauer Neonazis nur pers­pektivlose Jugendliche erkennen und dichtet eine von Linken und Rechten gleicher­maßen vorangetriebene „Gewaltspirale“ herbei. Diese fortgesetzte Verharmlosung war nicht nur einigen Leser_innen zu viel, auch das Conne Island richtete sich in einem offenen Brief (5) an die LVZ, um die Verhältnisse klarzustellen. 2000 bekam das Kirschberghaus einen neuen Träger und musste letztlich schließen.

„Kriminelles“ Kreuz

Die Debatte um den „rechtsfreien Raum Connewitz“ flammte Anfang 1999 wieder auf, nachdem es in der Silvesternacht zu Ausschreitungen am Connewitzer Kreuz gekommen war. Laut der LVZ zogen dabei „etwa 50 jugendliche Randalierer“ eine „Spur der Verwüstung“ hinter sich her, „warfen Brandsätze in ein kurz vor der Eröffnung stehendes Café, brachen in eine Kaufhalle ein und plünderten die Regale.“ Als die Polizei anrückte, „bauten sie Barrikaden (…) Mit einem Steinhagel empfingen sie die Polizeibeamten.“ Anschließend „flüchteten die Täter in Richtung Stockartstraße“ (mit diesem Satz wollte der Autor wohl suggerieren, sie seien in die Stö geflüchtet). „Vor ihrer Flucht zertrümmerten die Chaoten noch Scheiben an einer Sparkassenfiliale und ein Wartehäuschen (…) Ob diese Randa­lierer auch für das Zerstören weiterer 24 Wartehäuschen gestern in Leipzig verantwortlich sind, konnte noch nicht ermittelt werden.“ Trotz gegenteiliger Absicht rückt der letzte Satz die Perspektive ein wenig zurecht – offenbar waren in dieser Silvester­nacht nicht nur in Connewitz Chaoten unterwegs.

In fast denselben Worten wurde berichtet, als es Ende Oktober 1999 erneut zu Ran­­­dale am Kreuz kam: Wieder wurde eine „Spur der Verwüstung“ hinterlassen, „etwa 30 Vermummte“ zerstörten Schaufensterscheiben und Wartehäuschen und errichteten „aus Müllcontainern brennende Barrikaden“. Die reißerische Überschrift: „Anwohner in Angst“, ergänzt durch die Frage „Was sind das nur für Menschen, die einfach alles zerstören?“ Genau das blieb ungeklärt, da die Täter auch diesmal unerkannt entkommen konnten – der Artikel unterstellt trotzdem, es hätte sich um Connewitzer Linksradikale gehandelt.

Schon am 3. November installierte die Leipziger Polizei eine Überwachungskamera am Connewitzer Kreuz. Aufgrund der Proteste, die vor allem von der AG Öffentliche Räume vorangetrieben wurden, wurde die Kamera jedoch schon im April 2000 wieder abmontiert. Dabei handelte es sich weniger um ein Einlenken der Stadt oder eine Geste des guten Willens. So wurden nicht nur zeitgleich zwei neue Kameras am Roßplatz und am Martin-Luther-Ring angebracht, auf einer Pressekonferenz der Stadt wurde auch angekündigt, die Polizeipräsenz am Conne­witzer Kreuz zu erhöhen. (6)

Im Juni 2003 wurde dann auch dort wieder eine Kamera installiert, nachdem „Randa­lierer“ diverse Bauzäune umgeworfen und Fensterscheiben eingeworfen hatten (siehe FA! #17). Der ebenfalls betroffene Marktfrisch am Kreuz reagierte, indem er für einige Monate das Sternburg-Bier aus dem Sortiment nahm, womit er vermutlich mehr bewirkte als die polizeiliche Überwachung. Deren Erfolg hielt sich sichtlich in Grenzen, in den Folgejahren arteten die Silvesterfeiern am Connewitzer Kreuz (und die mitt­lerweile auch schon traditionellen Schnee­ballschlachten) mit schöner Regelmäßigkeit zu Straßenschlachten aus – trotz oder besser gesagt wegen der starken Polizeipräsenz vor Ort. Denn, wie es z.B. ein Connewitzer „Chaot“ schon in der Incipito (7) treffend bemerkte: Wenn die Polizei da ist, steigert das auf „mysteriöse Weise“ die Brisanz der Situation. Der polizeiliche Status des „Krimi­nalitätsschwerpunkts“ bzw. „gefährlichen Ortes“ (der z.B. verdachts­unab­hängige Personenkontrollen erlaubt) wird dem Kreuz also noch eine Weile erhalten bleiben.

Damit möchte ich enden. Nicht nur, weil die Entwicklung der Nuller-Jahre in den älteren Feierabend!-Ausgaben schon gut dokumentiert ist und auch sonst für viele bekannt sein dürfte. Hatte nicht zuletzt die anhaltende Bedrohung durch Neonazis in den 90er Jahren die „Szene“ zusammengehalten, brachen ab 2001 neue Gräben zwischen den einzelnen Fraktionen auf, die sich nach dem 11. September und im Zuge des Irakkriegs 2003 zusehends vertieften. Vor allem die Antideutsch-kommunistische Gruppe machte durch ihre Pro-Kriegs-Position und wüste Polemik auf sich aufmerksam und erntete dafür, mal gut, mal weniger gut begründete Kritik. Die entsprechenden Kontroversen sind noch nicht abgeschlossen – die Geschichtsschreibung würde also schnell zu einer Erörterung der jeweiligen Positionen und Gegenpositionen ausarten. Nun, ich hoffe, die Serie hat auch so ein wenig Erkenntnisgewinn gebracht. Auf die nächsten 20 Jahre schwarz-rotes Leipzig!

(justus)

 

(1) www.conne-island.de/nf/38/10.html

(2) www.conne-island.de/nf/45/14.html

(3) www.conne-island.de/nf/38/17.html

(4) www.conne-island.de/nf/39/13.html

(5) www.conne-island.de/nf/53/13.html

(6) www.conne-island.de/nf/67/20.html

(7) www.left-action.de/incipito/text/110.htm

Arge, Job und Klassenkampf – Was viele nicht zu fragen wagen

EINEN GANZEN MONAT OHNE GELD?

JULE, 27: Der letzte Feierabend! war ja schon to­­tal schnell ausverkauft! So habe ich die Tipps zur Arbeitsverweigerung erst zu spät bei einer Freundin auf dem Klo gelesen und hatte meinen neuen Job leider schon. Ich dachte, wenigstens gibt es zum Trost mehr Geld – aber das Gegenteil war der Fall! Mein Chef bezahlt mir den Lohn immer erst am 1. des Folgemonats, die Arge hat mir aber bereits für den Monat als ich angefangen habe gar kein Geld mehr gezahlt. Wie soll ich denn jetzt nur die Miete und das Essen bezahlen?

Ich verstehe Deine Sorgen, Jule! Daß die Arge Dir Deinen SGB-II-Anspruch schon für den Monat gestrichen hat, in dem Du angefangen hast zu arbeiten, aber noch kein Geld bekamst, ist nicht nur gemein, sondern zum Glück auch rechtswidrig!

Wichtig!: Es gibt im Hartz IV nämlich die grundsätzliche Regel, dass Einkommen nur in dem Monat angerechnet werden darf, in dem es auch tatsächlich zufließt! Das heißt, alles, was Dir zwischen dem 1. und letzten des Monats zufließt, wird in dem Monat auch angerechnet. In Deinem Fall hast Du also Glück gehabt, dass Dich Dein Chef so spät bezahlt und Du Dein Gehalt nicht schon immer am Monatsletzten bekommst.

Zu deinem Geld kommst Du, wenn Du bei der Arge Widerspruch gegen den Bescheid einlegst. Diesen kannst Du innerhalb von vier Wochen nach Erhalt des Bescheids bei der Arge zu Protokoll geben oder schriftlich gegenüber der Arge erklären, z.B. „Hiermit lege ich gegen den Bescheid vom xy Widerspruch ein“. Achtung!: An Deine Unterschrift musst Du unbedingt denken! Am besten, Du bringst das Schreiben persönlich vorbei und hast vorher eine Kopie gemacht, auf die Du Dir einen Posteingangsstempel der Arge zum Beweis geben lässt. So geht Dein Widerspruch nicht in den Weiten des Argehimmels verloren.

Der Monat, in dem Du keine Hartz-IV-Leistungen bekommen hast, dürfte nach dem was Du schreibst schon abgelaufen sein. Daher kannst Du leider keinen einstweiligen Rechtsschutzantrag mehr stellen. Wichtig!: Für die Zukunft denke bitte daran, daß Du möglichst schnell einen solchen Antrag stellst! Was das genau ist und wie Du das machst erfährst Du im nächsten Feierabend!

Solltest Du die Widerspruchsfrist auch verpasst haben, dann hilft letztlich ein Überprüfungsantrag, den Du ebenfalls bei der Arge zur Zeit noch innerhalb von vier Jahren nach Bekanntgabe des Bescheides stellen kannst. Aufgepasst: Ab nächsten Jahr sehen die Gesetzesentwürfe eine Verkürzung der Frist für Überprüfungsanträge auf sechs Monate vor!

Gut zu wissen!: Sozialgerichtliche Verfahren, genau wie auch Widerspruchs- und Überprüfungsverfahren im Hartz-IV-Bereich, sind für Dich vollkommen kostenlos, egal ob Du gewinnst oder verlierst. Also lass Dich nicht unterkriegen!

HILFE, DIE ARGE WILL MICH ABZOCKEN!

THOMAS, 36: Hallo Dr. Fla­schenbier, ich habe da ein Problem. Ich habe gearbeitet und die Arge hat mir trotzdem fünf Monate weiter Geld gezahlt, obwohl ich denen das gleich gesagt habe. Zunächst hatte ich mich ja gefreut, mal ordentlich Kohle ausgeben zu können. Jetzt wollen Sie das Geld aber zurück haben, über 3.000 Euro sind das! Von der Knete ist natürlich nix mehr da. Aber jetzt will auch noch die „Regionaldirektion der BA Bayern“ Mahngebühren von mir, weil ich nicht bezahlt habe. Mit denen hatte ich aber nie was zu tun, nur mit der Arge Leipzig. Dürfen die mir Mahnkosten auferlegen?

Hallo Thomas, Du liegst ganz richtig mit Deinen Zweifeln. Die Regionaldirektion der BA Bayern ist tatsächlich von der Arge Leipzig mit der Eintreibung von ausstehenden Zahlungen beauftragt worden. Es ist als Organ der Bundesagentur für Arbeit eine Art „öffentliches Inkassobüro“. Mahngebühren darf die Regionaldirektion der BA Bayern für die Argen jedoch nicht eintreiben, zumindest sieht das das Sozialgericht Leipzig und das Landessozialgericht Sachsen so. Du siehst also, die kriegen viele Schweinereien durch, aber nicht alle. Achtung!: Am besten Du widersprichst der Festsetzung der Mahngebühren schriftlich gegenüber der Regionaldirektion der BA Bayern! Das geht übrigens innerhalb eines Jahres, wenn es bei der Festsetzung der Mahngebühren keine Rechtsmittelbelehrung gegeben hat, was eigentlich so gut wie immer der Fall ist.

Mit der Rückzahlung des Geldes ist es allerdings so eine Sache. Grundsätzlich musst Du von der Arge zuviel gezahlte Leistungen schon zurückzahlen oder bleibst zumindest auf den Schulden sitzen. Allerdings gibt es mitunter einige Tipps und Tricks, wie Du da vielleicht drumherum kommst! Also nicht verzagen und vor allem …

Überarbeite Dich nicht!

Dein Dr. Flaschenbier

Denken schadet der Erleuchtung

Die Sri-Chinmoy-Bewegung in Leipzig

Bei „Esoterik“ denkt mensch meist an etwas Verborgenes – sagen wir mal, an eine Gruppe von Menschen, die sich von der Außenwelt abgrenzt, um ein geheimes, tiefes Wissen zu behüten. Ein Wissen, das so geheim und tief ist, dass diese Menschen meist selbst nicht so genau wissen, worum es geht. Weil Esoteriker_innen sich also meist eher von der Öffentlichkeit fernhalten, fällt es der Öffentlichkeit leicht, sie zu übersehen.

Trotzdem hinterlassen sie Spuren im öffentlichen Raum. Wer aufmerksam durch Leipzigs Straßen läuft, hat sie vermutlich schon einmal bemerkt, die auf farbiges Papier kopierten Plakate, die mit Überschriften wie „Die 7 Geheimnisse der Medita­tion“ oder „Meditation – Die innere Erfahrung“ für kostenlose Wochenendseminare werben. Die übliche Wattebausch-Esoterik, könnte man meinen, eine Seelenmassage für Leute, denen die Zweckrationalität des Alltags auf Dauer einfach zu anstrengend ist. Das beigefügte Foto eines älteren, glatzköpfigen Herrn, der dreinschaut, als wolle er für einen Grundkurs „Lächeln wie der Dalai Lama“ werben, verstärkt diesen ersten Eindruck noch.

Man muss schon das Kleingedruckte lesen, um zu erfahren, dass es sich bei dem betont unbedrohlich dreinschauenden Herrn um den Guru Sri Chinmoy handelt. Kein Unbekannter, denn wie die meisten Sektenführer legte Chinmoy (geboren 1931 in Bangladesh, gestorben 2007 in New York) nie großen Wert auf Bescheidenheit. So erklärte er z.B. öffentlich, er sei der „offizielle Meditationslehrer der UNO“, obwohl er in Wirklichkeit nur Geschäftsräume im New Yorker UNO-Gebäude nutzte, die frei angemietet werden konnten. Und auch sonst übte Chinmoy sich gern in Größenwahn: So legte er Wert darauf, nicht einfach nur ein Guru, also ein „spiritueller Lehrer“ zu sein, sondern erklärte sich selbst zum „Avatar“, also zur fleisch­lichen Verkörperung des Gottes Brahma.

Ein Gott kann natürlich ein gewisses Engagement seitens seiner Anhängerschaft erwarten. So ist auch die Erleuchtung á la Chinmoy ein echter full-time-job. Umso mehr, weil der Meister zu seinen Lebzeiten ein recht eigenwilliges Verständnis von Erleuchtung pflegte. Die wichtigste Regel dabei: „Zweifel ist immer schlecht“, schon deshalb, weil man zum Zweifeln schließlich denken muss. Und das Denken steht bekanntlich zwar nicht der Erleuchtung, aber doch dem bedingungslosen Glauben daran im Wege.

Um erleuchtet zu werden, muss (so Chin­moys Meinung als Experte) die menschliche Persönlichkeit auf ein Minimum reduziert werden: Zugunsten der „höheren“ Anteile soll der „niedere“, „unreine“ Rest verschwinden. Oder wie eine Aussteigerin es in einem Interview (1) formuliert: „Die Hierarchie geht so: Das Höchste ist die Seele, dann kommt das Herz, die Herzebene, dann kommt der Verstand und dann das Vital (die Vitalität) und als letztes kommt der Body. Die unteren versucht man möglichst auszuschalten“.

Nicht nur das vernünftige Denken, sondern auch den eigenen Körper soll mensch sich also möglichst abgewöhnen. Das geht natürlich nicht so einfach, weswegen Chinmoys Anhänger_innen umso mehr Energie aufwenden, um es trotzdem irgendwie hinzukriegen. Und damit sie dabei nicht ständig zum Nachdenken gebracht werden, etwa durch Leute, die freundlich darauf hinweisen, dass man a) den Körper nicht einfach so „transzendieren“ kann und es b) auch völlig okay ist, einen Körper zu haben, grenzen die Chinmoy-Fans sich von der Außenwelt ab. Aber das kennt man ja von ähnlichen Gruppierungen. Und natürlich ist es, wenn man erst mal Mitglied im Chinmoy-Fanclub ist, ziemlich schwierig wieder auszutreten. Wer sich trotz aller Bemühungen das Denken nicht gänzlich abgewöhnen kann, muss mit Pöbeleien und handfesten Bedrohungen rechnen.

Schließlich lässt sich mit einem Gott nicht vernünftig streiten, er kann, ja muss sogar absoluten Gehorsam verlangen. Die kultische Verehrung Chinmoys, die von seinen Anhänger_innen auch nach seinem Tod weitergeführt wird, ergänzt sich also vorzüglich mit Gehorsamsübungen und harten Disziplinarmaßnahmen gegen jene, die gegen die innerhalb der Gruppe geltenden Regeln verstoßen: „Wenn du nur schon erwischt wirst, dass du einem Mann im Gespräch die Hand auf die Schulter legst, dann hast du ein Problem.“ So ist es auch kein Wunder, dass die spirituelle Körperfeindlichkeit sich auch in der entsprechenden Sexualmoral niederschlägt: „Natürlich ist auch der Zeugungsvorgang an sich zu vermeiden, es geht alles nur von den oberen Chakren aus, vom Herz aufwärts.“ Für Leute, die den Esoterik-Slang nicht beherrschen: „Chakren“ sind grob gesagt die Zentren, an denen sich die „spirituelle Energie“ im Körper konzentriert. „Die niederen Chakren, alles was unrein ist – es wird ja auch gewertet als unrein – das holt dich von der Reinheit weg. Das probiert man zu transzendieren. Es wird einem schon Anfangszeit zugestanden, aber Onanieren z.B. ist völlig tabu“.

Diese autoritäre Moral ist für denkende Menschen natürlich ebenso wenig gutzuheißen wie das dazugehörige wirre Weltbild. Wer die Errungenschaften der Aufklärung also nicht einfach aufgeben möchte, sollte sich künftig ein wenig aufmerksamer durch Leipzigs Straßen bewegen und schauen, wer dort seine Werbung verteilt. Denn manchmal hat Esoterik wenig mit Wattebausch-Seelenmassage zu tun.

(justus)

 

(1) www.relinfo.ch/chinmoy/ex.html