Wie sich Deutschland in Europa wiederfindet

Wir schreiben das Jahr 2010. Die Deutsche Mark heißt mittlerweile Euro und ist offizielles Zahlungsmittel in 25 Europäischen Staaten, sowie Leitwährung in der halben Welt. Der Euro hat den Dollar überflügelt, da die Europäische Zentralbank in Frankfurt gute Arbeit geleistet hat. Der EU-Außenminister Joschka Fischer hat soeben mit Zustimmung des Europa-Parlaments eine humanitäre Intervention zur Rohstoffsicherung in irgendeiner Diktatur der südlichen Hemisphäre angeordnet. Polnische Soldaten kämpfen mit deutschen Gewehren und französischen Flugzeugen unter deutschen Offizieren an der Front, eine deutsch-französische Elite-Eingreiftruppe wartet hinter den Grenzen. Auch US-Truppen sind in der Region, halten sich aber zurück. In den vergangenen Jahren kam es in Afrika, dem Nahen Osten und Asien verstärkt zu Spannungen zwischen den USA und der EU. Deutsche Polizisten werden nach dem Sieg wie zuvor in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak für demokratisches Recht und Ordnung sorgen. In Warschau, in der Immanuel-Kant-Straße, ist man darüber nicht so glücklich. Hier wohnte einer der vor drei Tagen gefallenen Soldaten, die man heute beerdigt. Die Ehrenbrigade spielt aus diesem Anlass die europäische Hymne „Freude schöner Götterfunken“. An den EU-Außengrenzen sitzen hunderttausende Flüchtlinge und warten darauf, dass die europäische Grenzschutzagentur sie nach Vorgaben aus Berlin abschiebt oder hereinlässt. Bald ist wieder der 9. Mai, europaweiter Nationalfeiertag, denn am Morgen nach dem Jahrestag der deutschen Kapitulation gab sich die EU eine Verfassung. Der Philosoph Habermas lebt immer noch und ist zufrieden mit sich.

Zurück zur Gegenwart: Berauscht von den europäischen Demonstrationen gegen den Irak-Krieg am 15. Februar 2003 ergriff Habermas mit seinem französischen Kollegen Jacques Derrida eine Initiative, die darin mündete, dass europäische Intellektuelle und der US-Amerikaner Richard Rorty am 31. Mai 2003 in verschiedenen wichtigen europäischen Zeitungen Artikel veröffentlichten, die dafür warben „Europa [müsse] sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren“. Habermas und Derrida schreiben in ihrem Aufruf „Unsere Erneuerung nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas“ in der FAZ, Kerneuropa müsse „in einem ´Europa der zwei Geschwindigkeiten´ mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anfang machen“. Denn in der EU erkennen Habermas und Co. Rechtsstaaten in einem Staatenbund vereinigt, wie ihn Kant als Voraussetzung „zum ewigen Frieden“ sah. Von besonderer Qualität sei dafür auch die europäische Identität, so die Argumentation, die aus ihren andauernden zwischenstaatlichen Kriegen und letztlich dem „Dritten Reich“ gelernt hätte, Konflikte friedlich durch Kooperation und internationales Recht auszutragen.

Damit werden die deutsche Mega-Aggression und der Holocaust geradezu zu konstituierenden Momenten europäischer Identität und fast möchte man herauslesen, die USA sollten auch mal derart auf die Schnauze fallen wie damals Deutschland, damit sie lernen, sich Länder ohne Krieg einzuverleiben. Seit damit durch ehemalige linke Intellektuelle den Deutschen als Kerneuropäern gegen jede reale Macht- und Militärpolitik ein friedliebender Charakter attestiert wurde und es geradezu als historische Mission formuliert wurde, diesen Charakter und die eigene Kultur („Christentum und Kapitalismus, Naturwissenschaft und Technik, römisches Recht und Code Napoleon, die bürgerlich-urbane Lebensform, Demokratie und Menschenrechte, die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft“) als Grundlage in einer neuen Weltordnung zu exportieren, zelebriert sich Deutschland hemmungslos selbst. In der ZDF-Show „Unsere Besten“ wird Konrad Adenauer zum größten Deutschen gekürt. Im Kino können wir die Heldentaten von Luther, der deutschen Fußballnationalmannschaft („Das Wunder von Bern“) und deutschen Vorzeigearbeitern („Das Wunder von Lengede“) bewundern. Der Spiegel begründet dies mit einem „Hunger nach Geschichte jenseits der Nazi-Zeit“. Den verspürt offensichtlich auch die Pop- Sängerin Mia, die mit ihrem Liebeslied an Schwarz-Rot-Gold „Was es ist“, „neues deutsches Land“ betreten will und für Deutschland, ihre Liebe, was riskiert: „Fragt man mich jetzt, woher ich komme, tu ich mir nicht mehr selber leid“. Die Berliner Morgenpost jubelt, Deutschland würde endlich begreifen „dass seine Geschichte große Erzählungen bietet, auch solche, deren Kraft über den Bruch von 1933/45 hinweg trägt“. Die Deutschen in zerbombten Städten und die Vertriebenen stellen sich derweil skrupellos als Opfer dar. Aus dem Trümmerhaufen der Dresdner Frauenkirche als Mahnmal gegen Krieg und die, die ihn angefangen haben, wurde das alte Monument wieder aufgebaut. Nun als Mahnmal gegen deutschen Kleinmut und scheinbarer Beweis dafür, dass dunkle Kapitel der Geschichte auch irgendwann endgültig vorbei sind – oder gar positive Kraft entfalten können.

So eine Scheiße ist natürlich gnadenlos herbeihalluziniert. Nur weil Deutschland nun als stärkster Faktor im Einvernehmen mit Frankreich die EU zusammenschweißt, darf man noch lange nicht argumentieren, es sei doch alles gut ausgegangen und man könne wieder stolz auf sich sein. Wichtiger ist es, auf wahrlich besorgniserregende Kontinuitäten hinzuweisen: Deutschland ist keine Friedensmacht, seit der „Wiedervereinigung“ kämpft es mit, wo es nur kann, in Jugoslawien, Afghanistan, Kongo, selbst der Irak-Krieg wurde logistisch unterstützt. Und Deutschland treibt die Militarisierung der EU-Außenpolitik voran, um zukünftig auch Soldaten aus anderen EU-Mitgliedsstaaten für die eigenen Großmachtinteressen in den Kampf zu schicken. Als Begründung für diese Schlachten müssen eben die europäischen Werte herhalten: Demokratie, Menschenrechte und Säkularisierung. Die deutsche Regierung hat außerdem durchgesetzt, dass ihre Migrationspolitik, die restriktivste in ganz Europa, nun EU-weit gilt. Vor dem Hintergrund eben dieser Kontinuität ist es auch historisch verständlich, dass sich beispielsweise Warschau gegen die Diktate aus Berlin sträubt und den Brüsseler Verfassungsgipfel scheitern ließ. Denn deutsche EU-Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

maria

EU.ropa

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