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Freiheit und Versicherheitlichung

Von der Doppelmoral der EU oder über die Praxis, Roma an der mazedonischen Grenze an ihrer Ausreise zu hindern. Ein Testfahrt-Bericht.

Skopje, April 2015. Moses und ich sitzen in einem mazedonischen Linienbus, der jeden Samstag von Skopje über Dortmund nach Brüssel fährt. 30 Stunden für 110 Euro. Wir sind die einzigen Passagiere an Bord, die nicht mit nach Westeuropa wollen. Unser Ziel liegt nicht einmal eine Stunde von Skopje entfernt: Tabanovce, die Grenzstation, die an Serbien grenzt. Eigentlich werden die Tickets nur pauschal für Deutschland und Belgien verkauft, ohne Zwischenhalt. Aber die Busfahrer haben eine Ausnahme für uns gemacht. Sie wissen, dass wir „Testfahrer” sind, dass wir an Bord sind, um die Kontrollmethoden der mazedonischen Grenzer zu beobachten.

Unzähligen Aussagen von Betroffenen und Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge werden seit vier Jahren tausende mazedonischer Staatsbürger an der Ausreise gehindert, weil sie als „falsche Asylbewerber“ identifiziert werden. Allein im Jahr 2013 zählte FRONTEX 6.700 Personen. Die überwiegende Mehrheit von ihnen bezeichnet sich selbst als Angehörige der Roma. Die Grenzer nehmen sie als solche wahr, weil sie dunkelhäutig sind oder in einer Nachbarschaft leben, die von staatlichen Autoritäten als ‚einschlägig‘ im Bezug auf die Zahl der „falschen Asylbewerber“ gelabelt wird.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, schrieb der Frankfurter Philosoph Adorno in den 1940er Jahren im amerikanischen Exil unter dem Eindruck des faschistischen Terrors in Europa in seiner „Minima Moralia“. Ich möchte wissen, wer festlegt, wie „falsch“ das Leben für Roma aus Mazedonien ist, um es später als „falsches“ Asyl zu labeln; wer ein Interesse daran hat, dass sie kein „richtiges“ Leben leben; wer sie wie an der Ausreise hindert und weshalb.

 

Der Mensch aus Papier

„Wohin willst Du?“, fragt der Grenzbeamte, als er in Tabanovce vor Elvis steht und kritisch seine Frau und die zwei Kinder beäugt. „Nach Düsseldorf.“ „Was willst du dort?“ „Wir besuchen meine Familie.“ „Deinen Pass und die Garantie!“

Der Grenzer durchbohrt Elvis mit seinem Blick, als wäre in seine Retina ein Lügendetektoren-Scanner eingebaut, der „Betrüger“ per Instant-Scan identifiziert. Elvis reicht dem Beamten die geforderten Dokumente, zusammen mit den Pässen seiner Frau und der Kinder. Die Augen des Grenzers fliegen über die Pässe und die „Garantie“, eine vom Einwohnermeldeamt beglaubigte Einladung eines EU-Bürgers, der rechtlich und finanziell für die Familie während ihres Aufenthaltes bürgt, auch dann, wenn die Familie länger als gestattet bleiben und abgeschoben werden sollte.

„Wieviel Geld habt ihr dabei?“ Elvis schaut seine Frau an. Sie murmelt etwas. „Genug“, sagt Elvis. „700 Euro.“ „Aufstehen! Zeigt mir Euer Gepäck!“

Zögernd erhebt sich Elvis vom Sitz, seine Frau schaut den Grenzer unverwandt an. Als die beiden wiederkommen, führt der Grenzbeamte seine Kontrolle weiter. Vor den Personen mit dunkler Hautfarbe bleibt er länger stehen und stellt ihnen die selben Fragen wie Elvis. Einer von ihnen ist Moses, ein langjähriger Freund, selbst ein Rom aus Mazedonien, auch er wohnt in einer „einschlägigen“ Nachbarschaft. Er begleitet mich um mir beim Übersetzen zu helfen. Auch ihn fragt der Grenzer, wohin er will. „Nach Serbien“, sagt Moses und gibt dem Grenzer seinen Personalausweis, denn ein Pass ist nicht nötig, um als mazedonischer Staatsbürger nach Serbien zu reisen. Der stechende Blick des Grenzbeamten straft schon seine Worte: „Der Bus fährt nur nach Westeuropa.“ „Es ist mit den Busfahrern abgesprochen“, sagt Moses. „Dein Pass und die Garantie.“ „Für Serbien?“ „Ja.“ „Serbien ist nicht in der EU…“ Sein bohrend-drohender Blick erstickt den Rest des Satzes. Moses gibt dem Grenzer seinen Pass.

In den letzten Jahren wurden tausende Pässe von angeblichen „Asylbetrügern“ mit einem Stempel versehen, dessen obere Ecke von zwei handgezogenen Strichen durchkreuzt worden ist. Bis vor kurzem gab es zu diesem Labeling oft die Buchstaben AZ (für „Azil“). Die Striche bedeuten eine verhängte 24h-Ausreisesperre für ihre Träger. In der Regel werden Reisende mit diesem Label auch nach Verstreichen der 24-Stunden-Frist nicht aus dem Land gelassen. Begründet werden die verweigerten Ausreisen nur selten. Manchmal sagen Grenzer Sätze wie: „Das ist eine Anordnung vom Innenministerium“, oder: „Ihr habt nicht genug Geld dabei“.

Weil ich Moses potentielle und zukünftige Ausreisen nicht gefährden will, oute ich mich gegenüber dem Grenzer, sage ihm, weshalb wir hier sind, in der Hoffnung, dass er seinen Pass mit dem berüchtigten Label verschont. Er wird wütend, sagt, dass ich für solche Zwecke nicht ohne Genehmigung an die Grenze kommen dürfe.

Letzten Endes wird Moses Pass weder gestempelt noch gelabelt. Tatsächlich wird wider Erwarten keiner der Passagiere gezwungen wieder nach Hause zu fahren. Die Busfahrer sagen, es sei das erste Mal seit Jahren, dass alle durchkämen. Sie sind erleichtert, endlich eine Fahrt zu haben, bei der alle weiterfahren dürfen und sie keinem der Passagiere die Tickets zurückerstatten müssen. Sie sagen, es sei wegen mir. Sie sagen, die Grenzer befürchten schlechte Presse. Später stellt sich heraus, dass der Reise-Agenturleiter, mit dem ich die Fahrt abgesprochen hatte, die Grenzer über mein Kommen informiert hatte. Er sagte ihnen, dass eine Journalistin aus Deutschland mit an Bord sitze, die über die Kontrollen in der Mainstream-Presse berichten würde. Seine Strategie hatte Erfolg, auch für seine Reise-Agentur.

Als ich später eine Grenzerin frage, weshalb hier nur Menschen mit dunkler Hautfarbe nach „Garantien“ und ausreichend finanziellen Mitteln befragt werden würden, während weiße Reisende unbehelligt passieren könnten, erklärt sie unmissverständlich: „Wir handeln hier auf Anweisung der EU! Wir bekommen regelmäßig Berichte von Deutschland, dass es immer noch zu viele Roma-Asylbewerber gibt.”

Die Daten zur ethnischen Kategorie „Roma“ unter Asylbewerbern in der BRD werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gesammelt, das die Asylbewerber aus dem Balkan anhört und über ihre Asyl-Gesuche entscheidet. Viele Roma begründen ihr Asylgesuch mit der ökonomischen und politischen Diskriminierung, die sie als Minderheit erfahren. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sind über die verheerende Lage vieler Roma in Mazedonien informiert. Sie benennen sie in den Fortschrittsberichten, bezeichnen sie als „unzureichenden Minderheitenschutz“ des Staates. Gleichzeitig identifiziert FRONTEX in seinen letzten Western-Balkan-Risk-Analysis-Berichten das „common profile“ derjenigen, die ihrer Meinung nach Asyl-Missbrauch betreiben würden. Wiederholt werden hier einzig und allein „Roma“ benannt, „die oft mit ihren Familien anreisen“.

Wie hat es die EU geschafft, „die Roma“ als europäisches Problem zu konstruieren?

 

Zuckerbrot und Peitsche aus Schengenland

Ein Jahr nachdem die EU als Anreiz eines potentiellen EU-Beitritts Mazedonien, Serbien und Bosnien-Herzegowina von der Liste der schwarzen Schengen-Staaten befreit und „weiß“ gepinselt hat, so dass die jeweiligen Staatsbürger für drei Monate als Touristen ohne Schengen-Visa in die EU einreisen dürfen, mehrten sich Beschwerden der Innenministerien, vor allem aus Belgien und Deutschland, über zu viele „Asyl-Betrüger“. Zeitgleich kursierten Begriffe wie „Wohlfahrtstourismus“, „Asylmissbrauch“ und „Masseneinwanderung“ im öffentlichen Diskurs. „Allein 30.000 Asylanten aus dem Balkan“, kreischten die Medien, ohne die Zahl in irgendein Verhältnis zur Gesamtzahl der Antragsteller in der BRD zu setzen. Es scheint, als könne die Gated Community EU es nicht ertragen, dass sie nun auch noch mit Binnen-Flüchtlingen fertig werden muss. Der Feind, so die Konstruktion im öffentlichen Diskurs, kommt jetzt auch aus Europa. Aus der Perspektive der EU müssen die Grenz- und Kontrollregime deshalb nicht nur an den EU-Außengrenzen, sondern auch an den Grenzen der Drittstaaten (1) und Transitländer intensiviert werden. Die Rechte der EU-Bürger – damit sind vor allem die gewinnbringenden Reisenden gemeint, also Geschäftsleute, Studenten und Touristen – sollen geschützt werden. Wenn zu viele „andere“ reingelassen würden, könnte sich die Elite schließlich in ihren Rechten beschnitten, ausgenutzt fühlen. Mehr noch: Die Sicherheit der einzelnen Mitgliedstaaten könnte gefährdet sein. Mit der Strategie der Versicherheitlichung setzt die EU Mazedonien die Pistole auf die Brust, nach dem Motto: „Wenn ihr nichts aktiv gegen den Asyl- und Visa-Missbrauch unternehmt, führen wir das Schengen-Visum wieder ein!“ Im EU-Sprech heißt die Drohgebärde „Sicherheitsklausel“. Um zu zeigen, wie ernst ihnen damit ist, fahren EU-Ministerialvertreter eigens in das kleine Balkanland, um die „einschlägigen“ Nachbarschaften der „Betrüger“ und Regierungsvertreter zu besuchen. Schon zu Beginn schlug die Nachricht ein wie eine Bombe.

Ohne zu zögern, erweiterte die Regierung den Reisedokumente-Gesetzeskanon, stellte die Ausreise von „falschen Asylbewerbern“ unter Strafe, filzte und briefte Reise-Agenturen und sponsorte Visa-Liberalisierung-Aufklärungsworkshops in den „einschlägigen Nachbarschaften“. Diese Nachbarschaften/Adressen wurden fortan in den Computersystemen der Grenzer gespeichert und bei den Kontrollen abgeglichen. Das hatte zur Folge, dass zunächst die Pässe der „Betrüger“ für ein Jahr einbehalten wurden.

„Warum stellen sie uns Pässe aus, die wir nicht benutzen dürfen?“, fragten damals viele zu Recht, die das erste Mal in ihrem Leben einen (biometrischen) Pass kauften, nachdem die EU im Rahmen der Beitrittsverhandlungen Druck auf die Westbalkanländer ausübte und sie aufforderte, alle Bürger endlich registrieren zu lassen. Nachdem das Einbehalten der Pässe an der Grenze vom mazedonischen Verfassungsgericht als illegal eingestuft worden war, wurden die Pässe zwar nicht mehr zurückgehalten, dafür aber mit den 24h-Ausreisesperre-Strichen versehen. Vollkommen unabhängig davon, ob die Reisenden nur nach Serbien zu Verwandten oder zum Einkaufen oder in die EU reisen woll(t)en.

Trotz Klagen vor dem Ombudsmann, dem Antidiskriminierungs-Kommitee und einigen niederen Gerichten änderte sich nichts an der Praxis. Auch Roma-Repräsentanten unter den politischen Entscheidungsträgern konnten nichts gegen das Racial Profiling (2) ausrichten. Das Gros der Roma-Politiker, die für die Regierung arbeiten, kritisieren das Vorgehen erst gar nicht. Ihre Gegner sind dagegen überzeugt, dass sie die Praxis gutheißen, um wertvolle Wählerstimmen im Land zu behalten. Die Roma, die in der Opposition arbeiten, haben landesweite Proteste organisiert. Mobilisieren konnten sie nicht viele. Die meisten haben Angst vor noch mehr Diskriminierung. Ein Rom sagte mir: „Vor allem die paar wenigen, die einen Job haben, wollen ihn nicht wieder verlieren.“ Viele Familien kämpfen ums Überleben. Die Sozialhilfe (Euro 30/Monat) reicht für viele nicht einmal aus, um die Stromrechnung zu bezahlen.

Anfang 2015 wurde nun zusätzlich ein Gesetz erlassen, das es Beziehern von Sozialhilfe verbietet, Western-Union-Überweisungen aus dem Ausland zu beziehen. Die Daten des internationalen Geldtransfers durch Western Union werden dazu von Staats wegen her überprüft. Sozialhilfebezieher, die dennoch WU-Gelder beziehen, werden von der „Wohlfahrtsliste“ gestrichen und verlieren damit ihren Anspruch auf Sozialhilfe.

 

Abschottungspolitik made in Germany

Auch die sogenannten Aufnahmeländer verschärften indes ihre Gesetze. Auf Empfehlung der EU ernannte Deutschland letztes Jahr die drei „bedrohlichen“ Balkan-Staaten kurzerhand zu „sicheren Herkunftsländern“ um, also zu Ländern, in denen politische Verfolgung durch den Staat ausgeschlossen ist und in denen der Staat Menschen, die durch nicht staatliche Akteure verfolgt werden, nicht schützen kann. Doch diese Maßnahme galt einzig dem Versuch, die Zahl der Asylbewerber einzuschränken, und nicht etwa der Erkenntnis, dass die Staaten sich in den letzten Jahren zu sicheren Regionen entwickelt hätten. Das Ziel der Gesetzesverabschiedung sah vor, dass politisches Asyl für Menschen aus diesen Ländern verunmöglicht werden sollte. Den „Betrügern“, die sich dennoch trauten, sollte ein beschleunigtes Verfahren drohen, das sie schnell wieder aus dem Land befördert. Verstärkte Einreisesperren und Abschiebeinhaftierungen sollen in Zukunft laut dem neuen Bleiberecht ihr übriges tun. Doch auch schon in den Jahren vor der Sicheren-Herkunftsland-Regelung lag die Anerkennungsrate für Asylbewerber aus Mazedonien, die sich in Deutschland bewarben, laut Eurostat unter 0,5 Prozent.

Besonders „engagierte“ Politiker – wie schon der ehemalige Innenminister Friedrich oder jetzt unlängst der Leiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmidt – drohten damit, die Beitragsleistungen für Personen aus „sicheren Herkunftsländern“ zu senken. Ähnliche Empfehlungen kommen bis heute auch direkt aus Brüssel. Im jüngsten Western Balkan Monitoring Report empfiehlt das European Asylum Support Office (EASO) der Europäischen Kommission u.a., Sozialleistungen für Asylbewerber, wie beispielsweise Taschengeld und Rückkehrhilfe, zu reduzieren. Im gleichen Bericht wird an anderer Stelle. Der erschwerte Zugang von Roma in Mazedonien zum Bildungs-, Wohn- und Gesundheitssektor bemängelt. Doch diejenigen von ihnen, die dem Teufelskreis der Armut und der Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder sexuellen Orientierung entkommen möchten, werden nicht aus dem Land gelassen. Die EU und die BRD helfen mit, indem sie Mazedonien weiter kräftig unter Druck setzen, die Grenzen stärker zu kontrollieren.

Dass LGBT‘s und Roma in den „sicheren Herkunftsländern“ in der Regel behandelt werden wie Bürger dritter Klasse und der „sichere“ Staat eben wenig bis nichts tut, um sie zu schützen, um sie zu gleichberechtigten Bürgern zu machen, interessierte damals wie heute die Gesetzesgeber wenig. Der Bundestag organisierte zwar eine öffentliche Anhörung, die die politischen, ökonomischen und sozialen Missstände klar benannte. Der zweite Asylkompromiss mit der Schaffung der „sicheren Herkunftsländer“ und der Einteilung in „gute“ bzw. „ehrliche“ und „schlechte“ bzw. „falsche“ Asylbewerbern wurde aber dennoch durchgewunken. Die Tatsache, dass in Mazedonien seit Jahren auf Empfehlung der EU an der Grenze aussortiert wird und bereits um die zwanzigtausend Roma wiederholt an der Ausreise gehindert wurden, ist zwar auch schon länger bekannt, wird aber in der Konsequenz begrüßt, auch wenn hier Behörden eines „sicheren Herkunftslandes“ sowohl gegen die eigene Verfassung als auch gegen EU-Recht verstoßen. FRONTEX schreibt in seinem Western Balkans Annual Risk Analysis 2014 Report zu den operativen Maßnahmen in Mazedonien:

Im Jahr 2013 verstärkte Ausgangskontrollen: Überprüfung der notwendigen finanziellen Mittel, die Durchführung von Interviews in Bezug auf ihr Ziel, den Zweck und die Motive der Reise. Sollte es Anzeichen dafür geben, dass die eigentliche Absicht des Reisens ist, das Recht auf Asyl zu missbrauchen, wird der Person die Ausreise in Einklang mit Artikel 15 des Gesetzes über die Grenzkontrolle verweigert.
2. Verbessertes Profiling von Personen, die das Asyl in der EU missbrauchen: Dazu gehören die Identifizierung von Gemeinden, aus denen die meisten abgelehnten Asylbewerber kommen (…) Im Jahr 2013 konnte die Zahl der Personen, die an der Ausreise gehindert wurden, auf 6.700 erhöht werden. 41 Prozent mehr im Vergleich zum Jahr 2012.
3. Verstärkung der repressiven Maßnahmen: Im Jahr 2013 stellten Behörden dreimal mehr Straftaten von ‚Missbrauch der Visa-Freiheit mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und des Schengen-Abkommen‘ fest. Die Zahl der verurteilten Täter verdoppelte sich.“
(Eigene Übersetzung aus dem Englischen).

 

Gated Community EU

Freiheit und Sicherheit sind in der EU zu Synonymen geworden, zumindest für die wohlhabende Klasse der EU-Bürger. Für die Drittstaatler und Menschen aus „sicheren Herkunftsländern“ gibt es Freiheit oft nur als Freizügigkeit – unter bestimmten Bedingungen. No freedom of movement made by EU: Die Warnung der EU an die Westbalkanländer, die „falschen“ Asylbewerber zu stoppen, hat dazu geführt, dass sich die Katze in den Schwanz beißt. Mazedonien verstößt gegen sein eigenes nationales Recht, einschließlich seiner Verfassung, die EU wiederum gegen ihren eigenen fundamentalen (Menschen-)Rechtskanon und internationales Recht. Dem nicht eingehaltenen Minderheitenschutz gegenüber Roma, den die EU in ihren Fortschrittsberichten gegenüber dem kleinen Balkanland immer wieder bemängelt, wirkt der supranationale Staatenbund in keiner Weise entgegen. Die Verantwortung wird auf die politischen Entscheidungsträger des kleinen Balkanlandes abgewälzt, das indes von einer Reihe politischer Skandale gebeutelt wird und sich mit „ganz anderen“ Problemen konfrontiert sieht, als der Minderheit entgegenzukommen, die das Bild der „guten“ Mazedonier im Ausland „beschmutzt“. Konkrete Empfehlungen, die die EU gegenüber Mazedonien macht, der sozio-ökonomischen Situation von Roma gerecht zu werden, werden nur selten oder gar nicht überprüft. Finanzielle Mittel sickern kaum zu lokalen Projekten durch; die Situation bleibt die gleiche verheerende. In den Berichten an die Kommission zieht Mazedonien trotzdem eine positive Bilanz, um nicht allzu schlecht wegzukommen und die Beitrittsgespräche nicht zu stören. Da sich in der Realität indes kaum etwas geändert hat, versuchen die Menschen weiterhin ihrer Misere zu entfliehen, doch die Schlaufe um ihren Hals wird immer enger: denn die Drohgebärden der EU gegenüber Mazedonien werden deutlicher, die Grenzkontrollen schärfer, die Grenzübertritte von Roma werden stärker „illegalisiert“ und für die Betroffenen dadurch gefährlicher und teurer.

Aus Menschen, die mit ihren Familien nicht vor Krieg fliehen, sondern vor dem Leben in einem „sicheren“ Staat, der ihnen weder ökonomische Perspektiven noch politischen Schutz bietet, werden Täter. Aus Menschen, die kurzzeitig ihre Verwandten in einem EU-Land besuchen wollen, werden Täter – oft auch dann noch, wenn sie eine offizielle Einladung vorweisen können. Aus Menschen, die von ihrem Menschenrecht, ihr Land zu verlassen, Gebrauch machen, werden Täter, menschliche Bedrohungen, potentielles Sicherheitsrisiken für die öffentliche Ordnung und Sicherheit der EU, eine Wirtschafts- und Wertegemeinschaft die erst unlängst mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde – für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa. Witz komm raus, du bist von unsichtbaren Grenzen umzingelt.

Ein Beispiel für die Doppelmoral der EU, die sich nach außen mit ihrer liberalen, menschenrechtsorientierten Politik brüstet und nach innen eine Abschottungspolitik betreibt, zu der sie auch die Staaten ermuntert, die um eine EU-Anwerberschaft buhlen. Die Visa-Liberalisierung war das erste Leckerli – jetzt müssen sie zeigen, dass sie sich das auch verdient haben. Ansonsten wird die Schengen-Mauer wieder errichtet, der EU-Beitritt weiterhin verweigert werden. Wer aber zieht die EU zur Verantwortung, wenn sie (Anwerber-)Staaten ermutigt, gegen ihre eigenen Gesetze zu verstoßen?

Europäische Gerichtshöfe? Um eine Klage wegen Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft an der Grenze gegen einzelne Mitgliedstaaten vor den Europäischen Menschrechtsgerichtshof in Straßburg zu bringen, müsste erst erfolglos durch alle Instanzen im Herkunftsland geklagt werden. Bislang sind die Klagen von Betroffenen in Mazedonien nicht über die erste Instanz hinausgekommen.

Politische Akteure in den einzelnen Mitgliedsstaaten, die die binationalen Beziehungen in den Herkunftsländern stricken? Als ich bei der deutschen Botschaft in Skopje um eine Stellungnahme zum Racial Profiling an der mazedonischen Grenze bat, wurde ich an die politische Abteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin verwiesen. Als ich das anschrieb, hieß es aus Berlin: „Wir betonen, jedwede diskriminierende Kontrollpraktiken abzulehnen, doch können wir Ihrer Bitte um eine Stellungnahme leider nicht nachkommen, da uns zu diesem spezifischen Thema keine verlässlichen Daten vorliegen. Gerne verweisen wir Sie auf die Expertise der Kollegen im BAMF.“ Als ich ihnen die entsprechende verlässliche Daten bzw. wissenschaftliche Berichte in Peer-review-Journalen und Berichte internationaler NGOs schicke, erhalte ich keine Antwort mehr. Aber auch die Leiterin der Außenstelle des BAMF in Sachsen entschuldigt sich aufgrund derzeitiger Arbeitsüberlastung.

Von der Grenze aus fährt kein öffentlicher Verkehr zurück in die nächstgelegene Stadt Kumanovo. Menschen, die von hier wieder zur Umkehr nach Hause gezwungen werden, müssen sich abholen lassen. Meistens erledigen das informelle Taxifahrer. Auch Moses und ich fahren nach unserer „Testfahrt“ mit einem informellen Taxi zurück. Unser Taxifahrer erzählt uns, dass er aufgehört habe, die Zurückgeschickten zu zählen, dass er jeden Tag hierherkommen könne und Kunden bekäme. Das Geschäft läuft gut, denn aufgrund der ungewöhnlichen Strecke, erheben die Taxifahrer eine extra Pauschale. Unser Taxifahrer diskreditiert die Rückschiebepraxis trotzdem: „Wenn ihr meine Meinung wissen wollt, darüber was hier an der mazedonischen Grenze gerade passiert, dann sage ich: Hier werden zur Zeit Roma gekidnappt. Sie werden so stark ihrer Rechte beraubt, dass sie aufhören als Person zu existieren.“

Der Taxifahrer bringt es auf den Punkt: Indem „Wir“ (EU-Bürger) und „die Anderen“ (Drittstaatler) konstruiert werden, werden eben nicht nur „die Rechte der Anderen“ konstruiert, sondern auch eine „Entrechtlichung der Anderen“ legitimiert, indem sie kollektiv diskriminiert und kriminalisiert werden. Das Recht des Individuums, das hohe Gut des aufgeklärten Abendlandes, bleibt so exklusiv bei den Angehörigen einer „EU-Wertegemeinschaft“.

[Lotte Rie]

 

(1) Als Drittstaaten oder Drittländer werden Staaten bezeichnet, die nicht Mitgliedsstaat eines gegenseitigen Abkommens mindestens zweier anderer Staaten oder eines Suprastaates wie der EU sind. (Quelle: Wikipedia)

(2) Als Racial Profiling oder „ethnisches Profiling“ wird das Handeln von Polizei-, Sicherheits-, Einwanderungs- und Zollbeamten bezeichnet, wenn dieses Handeln auf allgemeinen Kriterien wie ‚Rasse‘, ethnischer Zugehörigkeit, Religion und nationaler Herkunft einer Person basiert.

Literatur: Katrin Simhandl (2007). „Der Diskurs der EU-Institutionen über die Kategorien ‚Zigeuner‘ und ‚Roma‘: Die Erschließung eines politischen Raumes über die Konzepte von ‚Antidiskriminierung‘ und ‚sozialem Einschluss‘“, Nomos Verlag

Ertrunken im Sumpf der Bürokratie

Wasserversorgung zwischen Menschenrecht und EU-Konzessionsrichtlinie

Es war das Jahr 2009. Ich, schnuckelige achtzehn Jahre alt, saß in der Politikstunde und setzte mich mit der UNO und der EU auseinander. Mit den vergehenden Stunden lernten wir die UN-Charta und so auch die Menschenrechte kennen. Naja, in der auch festgehalten ist, dass ein_e jede_r ein Recht auf Leben hat (Artikel 3) und auch auf Nahrung (Artikel 25) und in weiteren Artikeln ist indirekt erklärt, dass dem Menschen kein Wasser versagt werden darf. (1) Und ja, ich weiß, einen Artikel über Wasserprivati­sierung mit den Menschenrechten anzufangen ist viel­leicht polemisch und dennoch:

Ich war damals schon wütend, dass die Menschenrechte so oft missachtet werden. Und im gleichen Jahr lernte ich auch etwas über die „Neuen Kriege“ und „Konflikte um das blaue Gold“ mit Beispielen aus Nord- und Lateinamerika sowie Afrika und Asien. Doch dass man in der EU mal auf den Gedanken kommt, Wasser als eine Handelsware zu sehen und diese somit EU-weit zu privatisieren? Damit habe ich nie gerechnet – ich weiß, ich war naiv.

Aber wovon rede ich eigentlich? Viele von euch haben es wahrscheinlich schon mitbekommen. Das Thema wird viel diskutiert. Rund­mails, Social-Community-Netzwerke, verschiedenste Medien, Fernsehen – nein, eigentlich alle Medien haben in letzter Zeit davon berichtet: Die EU möchte neue Konzessionsregeln verabschieden, wodurch die Wasserversorgung angeblich für den (europäischen) Markt geöffnet würde. Und schon seien wir bei der Privatisierung: Der Preis würde steigen, die Qualität nachlassen – so zumindest die Prognosen und Erfahrungen aus Großbritannien, Portugal, sogar aus Berlin.

Kleine Hoffnungsfunken

Während ich für den Artikel recherchiere und mich frage, wie und was ich für eine politisch linke Leser_innenschaft schreiben soll, nimmt meine Enttäuschung über Politik und auch Gesellschaft stetig zu. Wie kann es seitens der Politik nur dazu kommen, eine Diskussion über Verkauf von Wasser überhaupt auch nur ansatz­­wei­se in Betracht zu ziehen? Und wie kann eine so große Gesellschaft (mich inbegriffen) nur still sitzen bleiben? Ja, die Industrie. Und ja, die Politikverdrossenheit. Ich weiß. Dennoch macht es mich wütend. So wütend, dass ich fluche, schimpfe und an Steine-werfen sowie an brennende Autos denke. Dabei bin ich dafür viel zu feige. Außerdem: Was hilft das gegen Was­serprivatisierung?

Dann re­cher­­­­chie­re ich leicht erhitzt wei­ter und ent­­­­decke kleine Hoffnungsfunken und Punkte, die mich neugierig machen.

Zunächst einmal ein sehr gelungener Auftritt von Erwin Pelzig in seiner Abend­sendung „Neues aus der Anstalt“. Der fränkische Kabarettist macht offensicht­­liche Schleichwerbung für right2water.eu/de, die europäische Bürgerinitiative gegen die Privatisierung von Wasser. Wobei er sein Vorhaben breit kommentiert. (2) Und auch die Sendung „Monitor“, vom WDR gesendet, hat schon vor Weihnachten auf die Bürgerinitiative hingewiesen. (3)

Außerdem denke ich an erwähnten Politikunterricht zurück und erinnere mich, dass ganze Dörfer protestiert haben gegen Stauseen und damit gegen die Wasserver­knappung bei den Menschen am Fluss unterhalb des riesigen Dammes. Ich suche nach Beispielen der Wasserprivatisie­rung in der Welt und stoße auf das „Blaue Wunder von Co­chabamba“. Durch eine Priva­tisierungswelle in ganz Lateinamerika in den 1990er Jahren kam es zu einer solchen des blauen Golds in der Andenstadt Cochabamba in Bolivien. Aguas del Tunari, Tochterfirma von International Water Ltd., erhöhte den Wasserpreis in wenigen Monaten um knapp 300%. Einige Bürger_innen konnten sich daraufhin kein Wasser mehr leisten. Es kam zum Aufstand, Generalstreik, Straßenblock­ier­ungen. Die Regierung konterte mit Waffen. Das bekannte Prozedere. Am Ende des „Wasserkrieges“ gab es weder die Privatisierung, noch einen weißen Präsidenten – aber auch einen Menschen weniger und viele Verletzte. (4)

So frage ich mich also, was wir aus Cochabamba lernen können? Na je­denfalls, dass wir, die Gesellschaft, Einfluss haben können. Aber muss immer Gewalt die Lösung sein? Ich mag doch nicht weh tun oder weh getan werden! So suche ich al­so nach Ak­tions­­mög­lich­­kei­ten und nach einer Ant­wort, wie wir aus unserem ver­meintlich „links-auf­geklärten“ Zir­kel auch auf „Noch-Nicht-Wissende“ und „Wenig-Informierte“ außerhalb unserer Nische oder Subkultur zugehen und aktiv sein können.

Was ändert sich eigentlich genau?

Zunächst einmal möchte ich noch mal auf die Konzessionsrichtlinie direkt zu sprechen kommen. Was ist das eigentlich genau? Eine Konzession? Eine Konzession ist lediglich „[d]ie Verleihung eines Nutzungsrechts an einer öffentlichen Sache durch die zuständige staatliche oder kommunale Behörde, z.B. die Überlassung eines Abbaurechtes für Rohstoffe.“ (5) Die Richtlinie ist also dafür da, Konzessionen besser zu strukturieren und eine Grundlage dafür zu schaffen, sie einfacher und womöglich schneller durchzuführen – dies auf juristischer Ebene. Was ist also die Gefahr der Konzessionsregeln? Was genau ändert sich zu der bisherigen Situation? Ich suche weiter und bemerke, dass sich an und für sich gar nicht so viel ändert. Durchaus gibt es schon eine Rechtsprechung des EuGH (Europäischer Gerichtshof). Auch jetzt schon können die Kommunen die Kon­zessionsvergabe euro­pa­­weit ausschreiben. Sie müssen es aber nur dann, wenn die Konzession an nicht-öffentliche Anbieter abgegeben werden soll: „Erst wenn sie sich entscheiden, die Leistung außerhalb ihrer eigenen Organisationsstruktur zu vergeben, ist die Beschaffung aus Gründen der Transparenz, der Nichtdis­kri­mi­nierung und des Wettbewerbs auszuschreiben.“ (6)

Der Entwurf der Konzessionsrichtlinien nimmt diese Rechtsprechung auf. So sind „die Vergaben von Aufträgen an verbundene Unternehmen, Gemeinschaftsunternehmen und bei anderen Beziehungen zwischen öffentlichen Stellen vom Ver­gaberecht frei[gestellt].“ (6) Sogar interkommunale Regelungen sind von der Ausschreibung ausgeschlossen. Das heißt, dass sich mehrere Gemeinden für die Wasserversorgung und -entsorgung zusammenschließen und mit öffentlichen Anbietern ohne Ausschreibung zusammenarbeiten dürfen, wie es in Hamburg beispielsweise der Fall ist. So weit ist alles gut, keine Änderung zur derzeitigen Situation. Dennoch ein ABER: In Deutschland ist die Wasserversorgung (zu großem Teil in öffentlicher Versor­gungsstruktur) meistens mit der Gas- und Stromversorgung (fast ausschließlich über den privaten Markt gesteuert) gekoppelt. Um nun also die bisherige Rechtsprechung des EuGH aufrecht zu erhalten, müssten diese von­einander ge­trennt und alle Anteile von privaten Unternehmen an den jeweiligen Stadtwerken wieder aufgekauft werden. Was wiede­rum einen enormen Aufwand und gleichzeitig eine Veränderung der bisher gut funktionierenden Trink­wasser­ver­sor­gung bedeutet. (6) So ist die Befürchtung der Kritiker berechtigt. Die Wasserversorgung steht also doch in Gefahr privatisiert zu werden – aus finanziellen und bürokratischen Gründen. Auch die Sorgen um die Qualität sowie um die Preise sind berechtigt. Zwar könnten sich die Kommunen gegen eine Qualitätsabnahme schützen, so die Befürworter der Konzes­sions­­richt­linie, da die Vergabe nicht gleich an den günstigsten Anbieter_in gehen müsse. Somit könnten die öffentlichen Träger auf Qualitätskriterien achten, sowie in die Ausschreibung klar definierte Forderungen aufnehmen. Auch die zeitlich begrenzte Kon­zessionsvergabe könnte als Schutz betrachtet werden. Aber letztlich zeigt die Erfahrung, dass private Unternehmen doch nur am Profit orientiert sind. Vertraglich festgehaltene Qualitätsstan­dards werden vermutlich entweder nicht gehalten oder aber der_die Steuer­zahler_in wird für dieses aufkommen und dann gleich zweimal bezahlen müssen: Die Instandhaltung als auch den Privatinvestor.

Außerdem: Schaut man sich die Lobby im Expert_innenrat und in Brüssel allgemein an, so findet mensch schnell viele Ver­treter_innen aus der Wasserbranche und angrenzenden Industriebranchen. (7) Die Lobby ist sehr stark und die Strukturentwicklung nicht absehbar. Die Gefahr, die viele Politiker_innen und Expert_in­nen sehen, dass die Konzession im Bereich Wasser in Zukunft an private Großkonzerne wie Veolia vergeben werden, ist also durchaus berechtigt. Ebenso ist die Befürchtung von Monopolisierung zu­mindest nachvollziehbar, auch wenn diese vermeidbar wäre. (8)

Da ich gerade so fleißig bin – nebenbei noch etwas zu einem der Profi­teure der Konzes­sionsrichtlinien. Der transnatio­nale Konzern Veolia, in Deutschland auch für den privaten regionalen Nah­verkehr be­kannt, groß geworden durch die Wasserindustrie, klagt gerade gegen den Film „Water makes Money“, der bei YouTube zu finden ist. Der Titel des Films sagt schon alles aus.

Aber das interessiert die Politiker_innen herzlich wenig. Immerhin 28 Abgeordnete des EU-Binnenmarktausschusses sind für die Richtlinien verantwortlich. Egal wie groß die Lobby ist: Als Bürger­_in­­nen der Europäischen Union haben auch wir die Möglichkeit ihnen unsere Meinung darüber kundzutun sowie an ihre Verantwortung uns gegenüber zu appellieren. In wieweit dies aber erfolgversprechend ist, wage ich zu bezweifeln.

Eine europaweite Bürgerinitiative im Kommen

So merke ich, dass die Sachlage des Entwurfs zur Konzessionsrichtlinie nicht ganz so einfach ist wie sie auf den ersten Blick scheint. Schade, dabei wäre es doch so schön, einmal ein Problem ganz einfach zu beheben und damit die Welt zu retten.

Aber wie kann mensch sich denn nun engagieren? Wie ich oben schon erwähnt habe, gibt es eine europäische Bürgerinitiative. Diese wurde von der Kampagne right2water gestartet. Eine wahrlich interessante Kampagne, die sich schon sehr lange mit dem Thema auseinandersetzt und fordert, dass die Wasserwirtschaft gänzlich von der Liberalisierungsagenda zu trennen ist. Hier steht das Recht auf Wasser an oberster Stelle. Zugang zu Trinkwasser und sanitärer Grundver­sorgung muss für alle gegeben sein, so right2water. Hinter der Kampagne stehen verschiedene europäische Verbände und Allianzen von zumeist NGOs und Gewerkschaften. (9) Inzwischen haben schon 1.121.465 EU-Bürger_innen (10) die Initiative unterstützt. Doch um ihre Forderungen vor das EU-Parlament bringen zu dürfen, damit dieses sich damit auseinandersetzt, müssen eine Million Unterschriften aus mindestens sieben Ländern zusammenkommen. Da ist es schon mal nicht schlecht über eine Million Unterschriften gesammelt zu haben, nur müssen es aus den sieben Ländern eben auch festgelegte Anteile sein. Darum strebt die Kampagne nun die Zwei-Millionen-Grenze an.

Schließlich bin ich zwar ein wenig enttäuscht darüber, dass die Medien eine verkürzte Darstellung der Sachlage vermitteln und nur wenig auf die Lobby eingehen sowie auf die derzeitige Regelung. Gleichzeitig merke ich aber, dass gar nicht so wenige still sitzen bleiben, dass durchaus Menschen aufspringen und sich wehren.

Mich beeindruckt es, dass es doch immer wieder Menschen gibt, die die Politik verändern wollen. Sie nutzen ihre par­tizipatori­schen Möglichkeiten, um Einfluss zu nehmen in einem Diskurs, der durchaus in den größeren Zusammenhang des kapitalistischen Systems gestellt werden sollte. Ohne müde und des Ganzen überdrüssig zu werden. Denn: Ja, es ist angenehmer politikverdrossen auf der Couch zu sitzen und es ist auch leichter Steine zu werfen, um dem Unmut Ausdruck zu verleihen. Als immer und immer wieder Energie zu schöpfen und der Ungerechtigkeit den Kampf anzusagen. Und das über diese wenigen, kleinen Möglichkeiten, die uns diese Form der Demokratie übrig lässt. So versuchen einige Stück für Stück auf die Revolution hin zu arbeiten. Während andere zuhause nichts-tuend auf diese warten.

Vogel

(1) Zur Erinnerung: amnesty.de/alle-30-artikel-der-allgemeinen-erklaerung-der-menschenrechte
(2) www.youtube.com/watch?v=1fGHNwhPlvs
(3) www.wdr.de/tv/monitor/sendungen/2012/1213/wasser.php5
(4) www.quetzal-leipzig.de/lateinamerika/bolivien/die-wasserkonflikte-von-cochabamba-und-el-alto-19093.html
(5) www.wikipedia.de
(6) www.vergabeblog.de/2013-02-05/der-entwurf-einer-konzessionsrichtlinie-als-gefahr-fr-die-deutsche-trinkwasserversorgung/
(7) ec.europa.eu/environment/water/innovationpartnership/pdf/EIP_water.pdf
(8) Wie vorher schon erwähnt, Preisdumping kann aus dem Weg gegangen werden. Vgl. auch (6)
(9) www.right2water.eu/de/node/85
(10) Stand: 16.02.2013, 22.35 Uhr

EU.ropa

Gesucht: Plakatentwürfe

„Biometrische Erfassung“ ist das aktuelle Projekt der kontrollwütigen Innen- und Justizminister der EU, um die Gesellschaft auf bisher nicht da gewesene Weise zu kontrollieren und beherrschen. Als erstes werden die neuen Praktiken natürlich an den Migranten ausprobiert: Seit Beginn diesen Jahres müssen Flüchtlinge in die EU sich Fingerabdrücke abnehmen und das Gesicht elektronisch vermessen oder ihre Augen scannen lassen. Die so gewonnenen Daten werden zentral gespeichert, damit sie es nach Ablehnung ihres Asyl-Antrages nicht etwa an einer anderen Grenze unter einem anderen Namen noch mal versuchen können. Seit Januar können sich Vielflieger am Frankfurter Airport und anderen Großflughäfen als zweifelhaftes „Privileg“ die Augeniris scannen lassen und fortan durch einen separaten Durchgang – ohne lästige Passkontrolle – passieren. Ein Blick in die hochauflösende Kamera genügt. Bei Bierfesten in Nürnberg kann mensch mit dem Fingerabdruck zahlen (so mensch Geld hat) und bei Fußballspielen versuchen Softwareprogramme unter den angereisten Fans, die am Eingang gefilmt werden, polizeibekannte Hooligans auszumachen. Kameras an Autobahnen erfassen bereits jetzt jedes Nummernschild und gleichen deren Halter mit Fahndungsdatenbanken ab. Diese Praktiken sollen an eine zukünftige Normalität gewöhnen, welche eine hocheffiziente Überwachung der Bevölkerung ermöglicht. Mitte letzten Jahres beschlossen die EU-Innen- und Justizminister, dass mit der Einführung der EU-Pässe die gesamte Bevölkerung biometrisch erfasst werden soll. Bislang verhindern technische Mängel, beschränkte Systemressourcen und fehlerhafte Software, dass Kameras, wie sie etwa die Leipziger Innenstadt überwachen, alle Menschen identifizieren können, Bewegungsprotokolle erstellen oder auf sog. „Verdächtiges Verhalten“ reagieren. Aber die milliardenschweren Aufträge der Regierungen und der EU lösen einen Forschungsboom aus, der Überwachungstechnik zu einer rentablen Zukunftstechnologie werden lässt, deren Auswirkungen auf die Gesellschaft katastrophal sind.

Um die Menschen darauf hinzuweisen, bevor es zu spät ist, wollen wir eine Plakatkampagne gegen biometrische Erfassung initiieren und suchen dafür Plakatentwürfe. Die Entwürfe werden anonym bleiben und nicht dem Copyright unterliegen. Wir haben vor, Ausstellungen zu organisieren und die Plakate breit zu streuen. Plakatentwürfe bitte schnellstmöglich an: no.norm@gmx.net schicken. Wir werden versuchen, alle Entwürfe zu realisieren.

(April 2004)

Wie sich Deutschland in Europa wiederfindet

Wir schreiben das Jahr 2010. Die Deutsche Mark heißt mittlerweile Euro und ist offizielles Zahlungsmittel in 25 Europäischen Staaten, sowie Leitwährung in der halben Welt. Der Euro hat den Dollar überflügelt, da die Europäische Zentralbank in Frankfurt gute Arbeit geleistet hat. Der EU-Außenminister Joschka Fischer hat soeben mit Zustimmung des Europa-Parlaments eine humanitäre Intervention zur Rohstoffsicherung in irgendeiner Diktatur der südlichen Hemisphäre angeordnet. Polnische Soldaten kämpfen mit deutschen Gewehren und französischen Flugzeugen unter deutschen Offizieren an der Front, eine deutsch-französische Elite-Eingreiftruppe wartet hinter den Grenzen. Auch US-Truppen sind in der Region, halten sich aber zurück. In den vergangenen Jahren kam es in Afrika, dem Nahen Osten und Asien verstärkt zu Spannungen zwischen den USA und der EU. Deutsche Polizisten werden nach dem Sieg wie zuvor in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak für demokratisches Recht und Ordnung sorgen. In Warschau, in der Immanuel-Kant-Straße, ist man darüber nicht so glücklich. Hier wohnte einer der vor drei Tagen gefallenen Soldaten, die man heute beerdigt. Die Ehrenbrigade spielt aus diesem Anlass die europäische Hymne „Freude schöner Götterfunken“. An den EU-Außengrenzen sitzen hunderttausende Flüchtlinge und warten darauf, dass die europäische Grenzschutzagentur sie nach Vorgaben aus Berlin abschiebt oder hereinlässt. Bald ist wieder der 9. Mai, europaweiter Nationalfeiertag, denn am Morgen nach dem Jahrestag der deutschen Kapitulation gab sich die EU eine Verfassung. Der Philosoph Habermas lebt immer noch und ist zufrieden mit sich.

Zurück zur Gegenwart: Berauscht von den europäischen Demonstrationen gegen den Irak-Krieg am 15. Februar 2003 ergriff Habermas mit seinem französischen Kollegen Jacques Derrida eine Initiative, die darin mündete, dass europäische Intellektuelle und der US-Amerikaner Richard Rorty am 31. Mai 2003 in verschiedenen wichtigen europäischen Zeitungen Artikel veröffentlichten, die dafür warben „Europa [müsse] sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren“. Habermas und Derrida schreiben in ihrem Aufruf „Unsere Erneuerung nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas“ in der FAZ, Kerneuropa müsse „in einem ´Europa der zwei Geschwindigkeiten´ mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anfang machen“. Denn in der EU erkennen Habermas und Co. Rechtsstaaten in einem Staatenbund vereinigt, wie ihn Kant als Voraussetzung „zum ewigen Frieden“ sah. Von besonderer Qualität sei dafür auch die europäische Identität, so die Argumentation, die aus ihren andauernden zwischenstaatlichen Kriegen und letztlich dem „Dritten Reich“ gelernt hätte, Konflikte friedlich durch Kooperation und internationales Recht auszutragen.

Damit werden die deutsche Mega-Aggression und der Holocaust geradezu zu konstituierenden Momenten europäischer Identität und fast möchte man herauslesen, die USA sollten auch mal derart auf die Schnauze fallen wie damals Deutschland, damit sie lernen, sich Länder ohne Krieg einzuverleiben. Seit damit durch ehemalige linke Intellektuelle den Deutschen als Kerneuropäern gegen jede reale Macht- und Militärpolitik ein friedliebender Charakter attestiert wurde und es geradezu als historische Mission formuliert wurde, diesen Charakter und die eigene Kultur („Christentum und Kapitalismus, Naturwissenschaft und Technik, römisches Recht und Code Napoleon, die bürgerlich-urbane Lebensform, Demokratie und Menschenrechte, die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft“) als Grundlage in einer neuen Weltordnung zu exportieren, zelebriert sich Deutschland hemmungslos selbst. In der ZDF-Show „Unsere Besten“ wird Konrad Adenauer zum größten Deutschen gekürt. Im Kino können wir die Heldentaten von Luther, der deutschen Fußballnationalmannschaft („Das Wunder von Bern“) und deutschen Vorzeigearbeitern („Das Wunder von Lengede“) bewundern. Der Spiegel begründet dies mit einem „Hunger nach Geschichte jenseits der Nazi-Zeit“. Den verspürt offensichtlich auch die Pop- Sängerin Mia, die mit ihrem Liebeslied an Schwarz-Rot-Gold „Was es ist“, „neues deutsches Land“ betreten will und für Deutschland, ihre Liebe, was riskiert: „Fragt man mich jetzt, woher ich komme, tu ich mir nicht mehr selber leid“. Die Berliner Morgenpost jubelt, Deutschland würde endlich begreifen „dass seine Geschichte große Erzählungen bietet, auch solche, deren Kraft über den Bruch von 1933/45 hinweg trägt“. Die Deutschen in zerbombten Städten und die Vertriebenen stellen sich derweil skrupellos als Opfer dar. Aus dem Trümmerhaufen der Dresdner Frauenkirche als Mahnmal gegen Krieg und die, die ihn angefangen haben, wurde das alte Monument wieder aufgebaut. Nun als Mahnmal gegen deutschen Kleinmut und scheinbarer Beweis dafür, dass dunkle Kapitel der Geschichte auch irgendwann endgültig vorbei sind – oder gar positive Kraft entfalten können.

So eine Scheiße ist natürlich gnadenlos herbeihalluziniert. Nur weil Deutschland nun als stärkster Faktor im Einvernehmen mit Frankreich die EU zusammenschweißt, darf man noch lange nicht argumentieren, es sei doch alles gut ausgegangen und man könne wieder stolz auf sich sein. Wichtiger ist es, auf wahrlich besorgniserregende Kontinuitäten hinzuweisen: Deutschland ist keine Friedensmacht, seit der „Wiedervereinigung“ kämpft es mit, wo es nur kann, in Jugoslawien, Afghanistan, Kongo, selbst der Irak-Krieg wurde logistisch unterstützt. Und Deutschland treibt die Militarisierung der EU-Außenpolitik voran, um zukünftig auch Soldaten aus anderen EU-Mitgliedsstaaten für die eigenen Großmachtinteressen in den Kampf zu schicken. Als Begründung für diese Schlachten müssen eben die europäischen Werte herhalten: Demokratie, Menschenrechte und Säkularisierung. Die deutsche Regierung hat außerdem durchgesetzt, dass ihre Migrationspolitik, die restriktivste in ganz Europa, nun EU-weit gilt. Vor dem Hintergrund eben dieser Kontinuität ist es auch historisch verständlich, dass sich beispielsweise Warschau gegen die Diktate aus Berlin sträubt und den Brüsseler Verfassungsgipfel scheitern ließ. Denn deutsche EU-Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

maria

EU.ropa

EURO.PA – Die dunklen Seiten der Macht

Mit der Initiation der Verfassungsgebung für die Europäische Union ist klar geworden, die EU ist kein Elitenprojekt mehr, sondern wird in naher Zukunft den Alltag jedes und jeder Einzelnen betreffen. Ein Grund für Feierabend! dieser neuen Macht auf Spur und Schliche zu kommen.

„Für Staaten im Verhältnisse untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie ebenso wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (…) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtsscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs (…).“

Immanuel Kant, „Zum ewigen Frieden“, S. 20 (1)

Als Immanuel Kant diese Zeilen 1795 aufs Papier bringt, hat er folgenträchtig liberale Ideen mit ideal-rationalistischen verquickt – auf die politische Geschichte angewendet und damit die Ideologie des bürgerlichen Liberalismus ausalphabetisiert. Wie in abstracto die Idee der Autonomie (Völkerrecht) der Idee der Ordnung (Weltrepublik) widerstreitet, so steht auch in concreto dem Glauben (Hoffnung auf ) die Neigung des Menschen entgegen. Vor der utopischen Perspektive kann mensch sich dabei nur gruseln. Die Durchsetzungsgeschichte der positiven Idee einer Weltrepublik wäre die der Machtergreifung einer allgemein herrschenden (gesetzgebenden) Vernunft, die via öffentlichen Zwangsgesetzen die Freiheiten und Neigungen (Bedürfnisse) jedes einzelnen derart beschnitte, daß es zum ewigen Frieden in der Gesellschaft bzw. Welt käme. „Schöne neue Welt“ hat Huxley später zynisch geantwortet.

Wenn sich heute unsere Politiker anschicken, einen Verwaltungsbereich zu katalogisieren, der rund eine halbe Milliarde Menschen umfaßt, heute, fast 60 Jahre nach dem der Kontinent im Kriegsrausch der Großmächte versunken war, heute – fast 15 Jahre nach dem Untergang der technokratischen Regime im Osten, dann kann getrost vom Projekt Europa bzw. der EU-Erweiterung als dem ambitioniertesten Großmachtprojekt der europäischen Neuzeit gesprochen werden. Jede/r Einzelne mag über die politische Kaste unserer Lande denken was will, ihre stabsgeplanten Großprojekte waren immer zweierlei: größenwahnsinnig und unplanbar. Zumindest insoweit stellt das Projekt „Europa“ eine Kontinuität politischer Geschichte dar.

Einst als gemeinsame Basis – quasi Seziertisch großwirtschaftlicher Interessen – war die Idee „Europa“ nicht mehr als der Geschäftssinn einiger übler Kriegsprofiteure. Im Kalten Krieg dann avancierte sie zum ideologischen Kampfmittel – zur Ermutigung gegen den gemeinsamen Feind. Eine Wirkung im übrigen, die nur selten die Bevölkerungen erreichte. Europa, das war die kleinste Gemeinsamkeit, die größtmöglichen Nutzen für alle beteiligten Seiten versprach. Und so kam es, daß sich Vertreter der Großmächte des Kontinents an und wann trafen, daß um die Verwaltungen dieser Treffen Institutionen wucherten – vollgestopft mit Lobbyisten und Machtfanatikern, Bürohengsten, Papiertigern und Schreibtischlöwen, Verträgen und Einzelvereinbarungen – und dabei noch so getan wurde, als wäre die ganze Kumpanei nicht gar schon all zu oft gesehen worden. Heute dagegen sitzt in Brüssel eines der modernsten Verwaltungsregime der Welt und verkörpert die letzte Hoffnung des bürgerlichen Liberalismus auf Gestaltung der Geschichte (hier im Sinne einer verwalteten Welt).

Mit dem verfassungsgebenden Prozeß, der durch die Einberufung des Konvents initiiert wurde, mit der Vorlage des „Vertrags über eine Verfassung Europas“ (2) zur Abstimmung am 04.05. 2004 droht nun der Aufstieg Brüssels zur Supermacht. Die Verfassungsgebung könnte im Handstreich die verfaßten Nationalstaaten entmachten und zu einer effektiven Destabilisierung der Binnengrenzen beitragen. Genau deshalb wird es wahrscheinlich auch nicht so weit kommen. Entweder es wird Aufgeschnürt oder Verwässert, aber am besten gar nicht erst darüber abgestimmt. Nichtsdestotrotz zeigt sich, die Macht in Brüssel wächst, keine taktische Überlegung darf dies übersehen. Die kritische Diskussion dreier Fluchtlinien dieses neuen Großmachtprojektes soll im Folgenden beim Durch-, Nach- und Weiterdenken Hilfe bieten.

Konfrontation contra Subversion / Große Macht, Supermacht, Allmächtig…

Wenn Immanuel Kant in dem Zitat aus seiner Flugschrift „Zum ewigen Frieden“ von einem sich „… immer ausbreitenden Bund…“, einem „…immer wachsenden Völkerstaat…“ redet, scheint er in eigenartiger Weise das vorwegzunehmen, was an utopischem Gehalt in der Europäisierung bzw. EU-Erweiterung begründet liegt. Die Ausdehnung gemeinsamer Normen, Werte und Standards, die tendenziell erst mit der Etablierung der Weltrepublik abgeschlossen ist. Indes brauchen wir die europäische Karte gar nicht soweit auszureizen, denn jedem und jeder dürfte klar sein, daß, welche Form der weltweiten Verwaltung auch immer, sie auf den Institutionen der Vereinten Nationen beruhen wird. Wir haben es also bei der Europäischen Union keinesfalls mit einem Projekt zu tun, das keine Grenzen kennt. Im Gegenteil sind paramilitärische Einheiten gerade dabei, eine neue Grenze um den Kontinent Europa zu ziehen, welche der amerikanisch-mexikanischen, der israelisch-palästinensischen oder chinesischen in nichts nachsteht.

Und die EU-Erweiterung war ja auch nicht ein sich gegenseitiges Annähern, jedes der kleinen Länder hat teuer für den Platz an ‚der Herren Tische‘ bezahlt. Der Preis für Kredite, Subventionen, Handelsverträge waren Privatisierung, Aufhebeln lokaler Märkte, Rechtsuniversalismus und militärische Aufrüstung. Von gleichberechtigten Verhandlungspartnern kann dabei in Brüssel nicht die Rede sein. Die Debatte um die Verfassung der Europäischen Kommission zeigt, manches Land wäre mit einem ständig (stillen) Beobachter schon zufrieden und noch auf lange Sicht wird keine innereuropäische Politik gegen die drei Großen (D, F, GB) zu machen sein. Beim Thema der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird schließlich am deutlichsten, als was dieses Projekt Europa zu verstehen ist. Eine gemeinsame Armee, ein Grenzregime, eine einheitliche Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, verstärkter Binnenhandel und eine gemeinsame Währung, schließlich eine übergreifende Verwaltung, eine Verfassung. Nach dem Vorbild einer Bundes-Nation sind die politischen Führer der nationalen Regime Europas dabei, eine neue Großmacht zu etablieren, die ihnen neue Handlungsspielräume eröffnet. Sowohl im Ringen mit den transnationalen Konzernen, als auch in Sachen transatlantischen Handels, sowohl zum Schutz europäischer Kapitalinteressen im Nahen Osten, als auch zum Durchstarten beim Run auf die letzten Ressourcen. Mit dem liberalen Schwindel einer Ausdehnung bis ins Unendliche (die ganze Welt, ein Europa) kaschieren die Politiker unserer Lande die Realisation einer Großmacht, der nach der begrenzten Ausdehnung und fallenden Profitraten die direkte Konfrontation mit anderen Großmächten folgt.

Viele Menschen in Europa glauben, daß eine Konfrontation mit den USA ein historisch notwendiges Korrektiv der weltweiten Politik darstellt und vergessen darüber, daß eine Konfrontation von Großmächten in der Geschichte letztendlich immer auf den Rücken der Menschen ausgetragen, auch Krieg bedeutet hat. Anstelle der Konzentration von Macht in den Händen weniger, der Zentralisierung von Verwaltung, anstelle des Prinzips der Konfrontation sollte das der Subversion treten, hüben wie drüben, die zielgerichtete Zersetzung aller Macht des Menschen über den Menschen.

Integration contra Destruktion / Nationalstaat vs. Europa

Die Balance zwischen den Nationalstaaten Europas und einer einheitlichen europäischen Verwaltung, zwischen nationaler und europäischer Verfassung (3), wird zu einem der Schlüsselmomente der weiteren politischen Entwicklung werden. Sollte es tatsächlich gelingen, am 04. Mai eine einheitliche Verfassung der Europäischen Union zu verabschieden, wird wohl die juristische Praxis der Auslegung des Verfassungstextes erweisen, inwieweit den Advokaten der Spagat zwischen nationaler Souveränität und europäischer Rahmengesetzgebung gelungen ist. Es gibt nicht unbegründete Hoffnung darauf, daß eben jene Auslegungspraxis den nationalen Souverän weiter zersetzen wird. Die Rede von der Integration zeigt jedoch schon an, daß es bei diesem Prozeß keineswegs um die Auflösung national verfaßter Territorien gehen soll, im Gegenteil erhalten diese so noch zusätzliche Legitimation, quasi „von oben“. Aber was noch viel schlimmer ist und sich bei der Integration weiterer Beitrittsländer zeigt, diese müssen sich erst zu einem modernen Nationalstaat generieren, damit ihnen überhaupt die Chance des Beitritts offensteht. Alles in allem heißt die europäische Supranationalität die Integration von Nationalstaaten in einen Staatenbund und nicht die Auflösung des Nationalstaates, nicht die Zerstörung der Brutstätte von systematischer Repression und Terror, von Rassismus und Faschismus.

Legitimation contra Partizipation / Von Bürgern, Bürgern und Menschen

Das Europäische Parlament kann bürger seit 1979 direkt wählen, wohl eine vorbeugende Maßnahme, um die Kritik am Projekt „Europa“ frühzeitig zu unterbinden. Die Stellung dieser Institution ist dann auch nach wie vor sehr niedrig. Kein Initiativrecht, keine Öffentlichkeit, keine Macht – nur die Arbeit an den konkreten Gesetzestexten ist parlamentarisch. Der Rest liegt größtenteils in den Händen der Regierungschefs und Lobbyverbände, der einzelen Minister und Lobbyisten. Daß, woran der moderne Nationalstaat in seiner demokratischen Herrschaft schon krankt, zeigt sich auf europäischer Ebene noch drastischer: die mangelnde Partizipation (Teilhabe) vieler, vieler Einzelner an der Politik und damit an der Gestaltung der Geschichte. Wird Legitimation als ein nachgelagerter Prozeß verstanden, bei dem in einem repräsentativen System wie der Demokratie bereits bestehende Projekte gerechtfertigt werden, befindet sich die Zukunft der bürgerlich-liberalen paneuropäischen Idee in einer Zwickmühle, deren Tendenz nur schwer prognostiziert werden kann. Der Souveränitätsverlust der Nationalstaaten könnte diese derart destabilisieren, daß sie der Bürger einfach nicht mehr genügend legitimiert bzw. ihr Vorhandensein als legitim empfindet (4).

Auf der anderen Seite spielt aber gerade das Vorhandensein eines abstrakten, weil ungenügend legitimierten Souveräns den Nationalpolitikern in die Karten. So kann eigenes Unvermögen mit den Restriktionen aus Brüssel begründet werden, das Versagen des Souveräns mit der fehlenden Souveränität (5). Gerade dies könnte Nationalismen wieder befördern, die Legitimität von Nationalstaaten stärken. Unabhängig davon aber, ob nun mehr Legitimation für die EU oder mehr für den einzelnen Nationalstaat oder ein ausbalancierter Mix aus beidem, mehr Partizipation der einzelnen verfaßten Individuen ist in keinem der möglichen Fälle zu erwarten. Beim Europaprojekt schon deshalb nicht, weil die zentrale Bürokratie von dem individuellen Geschehen noch weiter entfernt ist als im Nationalstaat – eine Generation von Technokraten, gespeist aus den verschiedenen nationalen Eliten, wird uns verwalten. In der gestärkten Nation nicht, weil ihrer Geschichte die Tendenz zur Führerschaft innewohnt, eine Dynamik die immer mit Partizipationsverlusten verbunden ist. Und auch und gerade in einer Balance von Europäischer Rahmengesetzgebung und nationaler Souveränität nicht, weil es auf der Seite der Regierenden einfacher wird, sich den schwarzen Peter gegenseitig zuzuschieben, und für jeden und jede schwieriger, dieses Spiel zu durchschauen, zu kritisieren, einzugreifen, zu verändern und mitzugestalten – an einer gemeinsamen Politik eben zu partizipieren.

Aus dem zuvor Gesagten ist wohl leicht zu entnehmen, daß das Europäische Projekt eher zum Scheitern neigt, denn für alle Menschen dieses Kontinents eine selbstbewußte Zukunft bietet. Anstelle des modernen Großmachtprojekts müßte die freie Initiative konkreter Einzelner treten, um Mächte nicht zu konfrontieren sondern zu zersetzen, um Nationalstaaten nicht zu generieren und zu integrieren sondern aufzulösen, um politische Projekte nicht zu legitimieren sondern an ihnen zu partizipieren. Hier scheiden sich bürgerlicher Liberalismus und selbstkritischer Anarchismus. Und hier ist der Kampf in abstracto auch schon zugunsten letzterem gewonnen.

clov

P.S.: Wer glaubt, die Europäische Union würde mehr Beschäftigung schaffen, irrt. Sie wird sie auf lange Sicht nur besser verteilen, was soviel heißt wie: innerhalb der europäischen Grenzen gilt dann wohl jeder Job als zumutbar.

(1) Kant, Immanuel, „Zum ewigen Frieden“, Reclam, Ditzingen, 1999
(2) Den Text gibt’s unter: www.european-convention.eu.int und im Europahaus, Katharinenstraße 11 (über der sixtina) Mo-Fr 12.30-17.00 Uhr auch als Freiexemplar
(3) Der Widerspruch der liberalen Vorstellungen von Autonomie (Völkerrecht) und Ordnung (Völkerstaat) kehrt hier wieder.
(4) Warum soll ich Schröder wählen, wenn er doch nur auf die Verantwortlichkeit der EU verweist.
(5) Österreich zeigt beim Streit um eine Verlängerung des auslaufenden Transitvertrags wie es geht: Eine Fraktions- und Kantons-übergreifende Koalition wird im nationalen Feuer geschmiedet, um die drohende Gefahr von Einnahmeverlusten und (mensch höre und staune) Umweltschäden von der Nation noch abzuwenden.
(Die schwierigenVerhältnisse der ökonomischen Verflechtung wurden im Text weitestgehend u. zugunsten einer klaren machtkritischen Perspektive ausgeblendet.)

EU.ropa

Lust auf Verfassung?

Mit EU-Sozialabbau und EU-Militarisierung zum Global Player

Am 29. Oktober 2004 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten und der Anwärter Bulgarien, Rumänien und Türkei im römischen Kapitol feierlich die EU-Verfassung. Am selben Ort waren vor 47 Jahren die römischen Verträge unterzeichnet worden, welche die Europäische Wirtschaftsge­meinschaft, sozusagen die Vorgängerorganisation, besiegelten. Die Politiker sprachen dementsprechend auch von einem „historischen Tag“ und einem Traum, der Wirklichkeit geworden sei.

Für viele wohl eher ein Alptraum. Denn wie meistens, wenn sich die politischen Eliten in Europa freuen, gibt es für den Rest der Bevölkerung keinen Grund zu feiern.

Die gegenwärtigen Angriffe auf unsere Lebensbedingungen wie ein verstärkter Zwang zur Arbeit, Prekarisierung, Überwachung und Abbau von Freiheitsrechten sind nur in europäischem Kontext zu verstehen. So wurde auf dem EU-Gipfel 2000 in Lissabon eine gleichnamige Strategie verabschiedet, welche die EU innerhalb von zehn Jahren global zum wettbewerbsfähigsten Standort machen soll. In Deutschland wird diese Strategie unter dem Namen „Agenda 2010“ umgesetzt; Sozialdumping, Elitenbildung und soziale, polizeiliche und militärische Aus­grenzung werden aber gerade in allen EU-Staaten und zwar gemeinsam verschärft. Die EU-Eliten wollen sich jedoch nicht damit zufrieden geben, wirtschaftlich ein „Global Player“ zu sein. Nein, auch militärisch wird aufgerüstet, um endlich wieder bei den ganz Großen mitspielen zu dürfen, um eine Supermacht, wenn möglich Weltmacht zu werden.

All dies findet zwar quasi automatisch statt, wenn den Regierenden so wenig Widerstand entgegen gesetzt wird wie gegenwärtig. Es kann aber gerade so massiv durchgesetzt werden, weil die politischen Eliten mit der EU ein Feld geschaffen haben, in dem sie ihre Interessen nahezu widerstandslos umsetzen können, denn nur sie sind bislang ausreichend auf EU-Ebene organisiert. Zwar scheitern einige wenige „europäische Projekte“ noch an „nationalen Interessen“, wo sich die Regierungschefs aber einig sind, droht ihnen kaum Widerstand auf europäischer Ebene, auch nicht vom Parlament. Die Punkte, in denen sie sich einig sind, wurden nun im Rahmen der EU-Verfassung festgeschrieben und sollen Ver­fassungsrang erhalten.

Zunächst ist da die grundsätzliche kapitalistische und neoliberale Ausrichtung, welche sich wie ein Glaubensbekenntnis durch die Verfassung zieht. Um diese abzusichern werden nicht nur die Rechte der Arbeitnehmer niederer gehängt als das „freie Unternehmertum“. Nein, auch global müssen die eigenen wirtschaftlichen Interessen verteidigt werden. Und das mit einer militarisierten Außenpolitik, die fest in der Verfassung verankert ist. So ist im Verfassungsvertrag eine Aufrüstungsverpflichtung enthalten (1) und qua Verfassung wird eine „Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähig­keiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung“ entstehen, welche „zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Vertei­di­gungs­sektors“ durchsetzen soll (Artikel III-311).

Treibende Kraft bei der Formulierung des Verfassungsentwurfs war, neben der französischen Regierung, die deutsche. Somit ist es nicht verwunderlich, dass die deutsch-französische Dominanz in ihr und durch sie zum Tragen kommt. Bis zuletzt hatte sich Polen gegen das Prinzip der „doppelten Mehrheit“ gewehrt, durch welches die großen westeuropäischen Staaten quasi unüberstimmbar wurden. Die wichtigsten Institutionen wie EU-Kommission, Rat, Parlament und die EZB sind in Belgien, Frankreich und Deutschland. Speziell im militärischen und außenpolitischen Bereich werden nicht nur die Schlüsselpositionen von deutschen und französischen Politikern dominiert, auch institutionell sind diese Länder mittels der „strukturierten Zusammenarbeit“ (2) privilegiert.

Es gibt noch viele weitere Gründe, warum diese Verfassung abzulehnen ist, die teilweise auch schon im Feierabend! beleuchtet wurden (3): Zu nennen wäre bspw. die restriktive Einwanderungspolitik, ihr geschichtsrevisionistischer Charakter aus deutscher Sicht und die deutlich autoritären Züge.

Der Zug ist noch nicht abgefahren, denn die Verfassung tritt erst in Kraft, wenn sie in allen Mitgliedsstaaten ratifiziert worden ist. Dies soll bis November 2006 in den einzelnen Mitgliedsstaaten auf unterschiedliche Weise passieren: In elf Ländern wird lediglich das Parlament entscheiden, ob der Verfas­sungsvertrag ratifiziert wird, (4) teils mit einfacher Mehrheit, teils mit verfas­sungs­än­dernder Mehrheit. Dies ist eigentlich skandalös, denn die EU-Verfassung wird über den nationalen Verfassungen stehen, ist also noch mehr als eine bloße Ver­fas­­sungs­ände­rung.

Noch ist nichts zu spät.

Dass in der Hälfte der Staaten nicht einmal pro forma die wahlberechtigte Bevölkerung befragt wird, sorgt selbst aus liberal-demokratischer Perspektive für ein Legiti­mationsdefizit. Die parlamentarische Zustimmung in diesen Ländern ist jedenfalls sicher, nur rechte und linke Randparteien lehnen die Verfassung teil­weise ab.

Im Litauischen Parlament wurde bereits am 11.11.04 abgestimmt: vier dagegen, drei Enthaltungen. Ob ein Referendum von Nöten ist, wurde in den einzelnen Staaten teils kontrovers diskutiert. Hier zeigte sich, dass die Interpretation der Verfassung von politischen Absichten abhängig ist. Regierungen, die die Verfassung bei mäßiger Zustimmung in der Bevölkerung durchbringen wollen, halten ein Referendum nicht für nötig, dort wo die Zustimmung besonders hoch ist, darf ruhig eins stattfinden. Regierungen, die das von Kerneuropa vorgegebene Tempo der Integration bremsen möchten, oder nicht uneingeschränkt hinter der Verfassung stehen, bestehen auf einem Referendum, unter Anderem um der EU noch Privilegien abzuringen.

In zehn Staaten wird es ein Referendum geben, also die wahlberechtigte Bevölkerung aufgerufen sein, den Verfas­sungs­vertrag abzunicken(5). In den meisten dieser Länder ist klar, dass dieses Referendum positiv entschieden wird. Vor Allem aber in Tschechien, Polen, dem UK, ist der Ausgang noch unklar und hängt von den teilweise schwankenden Positionen der Regierungen ab. Wenn diese ihren Standpunkt gefunden haben, werden sie durch eine entsprechende Informa­ti­ons­kam­pagne das Ergebnis des Referendums kontrollieren können.

Nicht geplant ist aller­dings ein Referendum auf EUro­pä­ischer Ebene. Den gemeinsam (mittels EU) Beherrschten wird also nicht zuerkannt, auch nur ein Stimmungsbild abzugeben; ein deutlicher Beweis dafür, dass die EU nicht einmal Wert auf demokratische Legitimation legt, wie sie bisher innerhalb der Staaten noch aufrechterhalten wurde („Wahlen“).

Ein solches Referendum würde zwar wahrscheinlich zu einem eher knappen Votum für das Projekt der Herrschenden führen, aber auch deutlicher die Widersprüche zeigen, die existieren (6). Vor allem würde es zu einer europa­weiten Debatte über die EU-Verfassung führen, die auch deren wahren, negativen Charakter einem größeren Publikum deutlich machen würde.

Die EU-weite Befürwortung der Verfassung ergibt sich nämlich hauptsächlich aus der Unwissenheit der meisten EU-Bürger über deren Inhalte. Grundsätzlich wird unter Verfassungen von den meisten etwas Gutes, Demokratisches verstanden. In den bürgerlichen Medien wird verbreitet, die Verfassung bringe eine Demo­krati­sierung mit sich und habe einen Schwerpunkt auf den Menschen- und Bürgerrechten.

Eben diese Fehleinschätzung möchte der Europäische Rat nun verstärken: „Com­mu­ni­cating Europe“ soll eine millionenschwere Kampagne heißen, die Anfang dieses Jahres gestartet wird. Zunächst werden diejenigen Länder die Verfassung ratifizieren, die sich einer überwältigenden Mehrheit sicher sind. Zu erwarten ist ein Wettlauf des Euro-Patriotismus, wo dann jedes Land die meiste Zustimmung präsentieren will. Schlechte Aussichten?

Handeln!

Nicht ganz. Denn so, wie der Vertrag momentan angelegt ist, ist die Verfassung nicht ratifiziert, wenn nur ein Staat sie nicht bis 2007 ratifiziert hat. Dies ist durchaus möglich, was dann aber passiert ist unklar. Auf der Homepage des Europäischen Parlaments heißt es für diesen Fall nur lapidar: „Auf EU-Ebene wird sich für den Fall einer Verzögerung der Ratifizierung über 2006 hinaus der Rat mit dem weiteren Verfahren zu befassen haben sowie mit der Frage: Darf ein einzelnes Land den gesamten Verfassungsprozess stoppen und die Europäische Union in die Krise stürzen?“ (7).

Auch dies sollte jedoch nicht unsere Hoffnung sein, nämlich dass die Verfassung an ihren eigenen Regeln scheitert. Denn egal ob sie in Kraft tritt oder nicht, die Herrschenden in Euro­pa werden ihr Projekt durchziehen: Militarisierung, Sozialabbau und Ausgrenzung funktionieren auch ohne Verfassung und nebenher.

Aber die Debatten, die in den einzelnen Ländern nun um die EU-Verfassung anlaufen werden, müssen genutzt werden, um deren antisozialen und militaristischen Charakter offen zu legen und das Herr­schaftsprojekt EU anzugreifen. In jedem Land wird es von linken Gruppierungen Aufklärungskam­pagnen und Demonstrationen gegen den Ver­fassungsvertrag geben.

Diese Gruppen sollten sich vernetzen und zusammenarbeiten, um eine zumin­dest europaweite Gegenöffentlichkeit zu schaffen und den EU-Eliten das europäische Feld nicht zu überlassen. Dies wird auch nötig sein um sich von rechten, nationalistischen EU-Gegnern klar abzugrenzen.

Wir sind nicht gegen ein souveränes Europa, um ein souveränes Deutschland, Polen oder Litauen zu bleiben – wir wollen souveräne Menschen werden!

Termin für diese Vernetzung könnte beispielsweise der 19.März sein, an dem sich die EU-Regierungschefs zur Halbzeitbilanz der Lissabonstrategie in Brüssel treffen. Auf dem ESF in London wurde beschlossen, aus diesem Anlass eine europa­weite Demo zu veranstalten.

Am 20. Februar 2005 wird in Spanien das Referendum über die EU-Verfassung stattfinden und es wird Demonstrationen und Aktionen geben. In Polen wird am 14/15. Mai 2004 anlässlich des dritten Treffens des EU-Rates in Warschau eine Konferenz „Towards a Citizens’ Critique of the European Union“ (8) stattfinden.

Kurz zuvor, am 9. Mai soll der deutsche Bundestag die Verfassung ratifizieren. Nicht nur das symbolträchtige Datum, der Tag nach der „Befreiung“ Deutschlands vom Faschismus, auch die Art und Weise wie dieser vorbereitet wird, ist skandalös, nämlich: klammheimlich.

Um dennoch zu versuchen, diese Ratifizierung zu unterbinden oder zu­mindest bis dahin die Menschen möglichst gut zu informieren und eine Debatte anzuregen, wurde eine „Koordinierungsstelle für die Kampagne gegen den militarisierten EU-Verfassungsvertrag – für ein ziviles Europa, das sich dem Krieg verweigert“ eingerichtet. Hier sollen Informationen und Aktionsideen gesammelt, sowie Texte und Kampagnenmaterial bereitgestellt werden. Näheres unter www.eu-verfassung.com

maria

(1) „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“, Art. I-41 Abs. 3, militärische „Abrüstungsmaßnahmen“, (Angriffskriege, siehe Irak) werden vorgesehen (ARTIKEL III – 309)
(2) Neben den genannten Militarisie­rungsschritten für alle EU-Mitgliedstaaten eröffnen die Artikel I-41, 6 und Artikel III-312 mit der so genannten „strukturierten Zusammenarbeit“ nichts weiter als einen Rechtsrahmen für einen Zusammenschluss einiger weniger Staaten hinsichtlich ihrer Militärpolitik innerhalb der EU. Die ansonsten festgeschrieben Einstimmigkeit im Bereich der Außen- und Militärpolitik der EU bezieht sich hier explizit nur auf diejenigen, die an der strukturierten Zusammenarbeit teilnehmen, die anderen Staaten haben somit kein Mitspracherecht.
(3) FA! #14, S. 12: Das Gewissen Europas. FA! #11, S. 1: Wie sich Deutschland in Europa wiederfindet. FA! #10, S. 16: EURO.PA – Die dunklen Seiten der Macht.
(4) Deutschland, Finnland, Griechenland, Italien, Lettland, Litauen, Malta Schweden, Slowenien, Ungarn, Zypern
(5) Dänemark, Frankreich, Irland, Luxemburg, Niederlande, Polen, Portugal, Spanien, Tschechien, UK
(6) Eine am 2.10. 04 und 8.11.04 durchgeführte Eurobarometerstudie ergab, dass 68% der EU-Bürger der Idee der Europäischen Verfassung zustimmen.
(7) www.europarl.de/index.php?rei=2&dok=653 &vers=norm
(8) www.eucon­ference.tk

EU.ropa

Non! Nee! Nö!

Zur EU-Verfassung

Schadenfreude über den gebückten Kanzler.

Nachrichten machen wieder Spaß. Anstatt von der politischen Klasse täglich zu­frie­den und selbstgefällig irgend­welche Hiobs­­­­bot­schaf­ten verkün­det zu be­kom­­men, kann mensch sich gegen­wär­tig ihrer ins­gesamt be­­drück­ten Stimmung erfreuen. Denn zwei ihrer größten Projekte schei­nen in den letz­ten Wo­chen zu schei­­tern. Wäh­rend auf na­tio­naler Ebe­ne Rot-Grün mit ihr­em Mo­derni­sie­rungs­­­kon­­zept „Agenda 2010“ in NRW eine schwere Niederlage er­litt und seitdem krampf­haft nach Mög­lich­keiten der Selbst­­auflösung sucht, ist auf euro­päischer Ebene der bisher glatte Durch­­marsch des Pro­jekts „EU-Ver­fas­sung“ durch das französische „Non!“ erst­mal gebremst worden, letztlich gescheitert, in­­so­fern die Ver­fassung der letzte Versuch war, die Brüssler Bürokratie irgendwie an ei­ne eu­ropäische Bevölkerung rück­zu­bin­den und zu legitimieren. Die langen Ge­sich­ter Schrö­ders und des Kommissions­prä­si­denten Barroso ähneln sich und Rat­lo­sig­keit herrscht bei den europäischen Eli­ten, die sich nur noch ungern vor die Ka­me­­ras wa­gen, um halbherzige Durchhalte­pa­­­rolen aus­zugeben. Einigen Politikern wur­­de hier durch deutsche Landtags­wah­len bzw. ein französisches Referendum ihr per­­sönliches Lebenswerk versaut, sie sind zu hoch geflogen und auf die Schnauze ge­­fallen.

Großmachtpläne.

Beide Projekte, Rot-Grün und die EU-Ver­­fassung, ähneln sich und auch ihr Schei­­tern. Die EU-Verfassung war der Ver­such, ei­nen militärischen, ökonomischen und poli­tischen Großraum zu schaffen und zu zen­tra­lisieren, damit die Herrschaft und de­ren Effizienz zu intensivieren, um im glo­balen Maßstab nicht nur mithalten, son­­­­dern auch mitgestalten zu können, also das, was oft die „neoliberale Globalisie­rung“ genannt wird, nach eigenen Vor­stellung­en und militärisch flankiert welt­weit durch­­­­zu­setzen. Rot-Grün hat nicht nur Deut­­­schland wieder zum militärischen Ak­­­­teur wer­den lassen, son­dern kämpfte ver­­­­biss­en, um eine welt­weite und eu­­­ro­päi­sche Spit­­zen­po­si­tion Deut­schlands, nicht was Lebens­qualität son­dern was po­­li­­tische und wir­t­­schaf­­t­liche Macht, al­­so letzt­­­­­­­lich die Macht deut­­­scher po­li­­ti­­scher E­li­­­­ten an­­­­geht. Deut­­­­sch­­­land als Groß­macht war aller­­­­dings nur mög­lich, im Rah­men ei­­ner Welt­macht EU, de­ren Ent­wicklung von der Bun­des­re­gierung vor­angetrieben wur­de. Auf wirt­schaft­licher Ebe­ne sind hier beispielsweise der Wachs­tums- und Sta­bilitätspakt im Rah­men der Währungs­union und die Lissabon-Stra­tegie1 zu nen­nen, die von der deut­­schen Politik in der EU durchgesetzt wur­den und innen­poli­tisch in allen EU-Staaten einen Zwang zu So­zialabbau dar­stellen, dem gerne weit­geh­end entsprochen wur­de. Ähnliches gilt für die Mili­tari­sie­rung, die unter dem La­bel GASP (Gemein­same Außen- und Sicherheitspolitik) vor all­em von Deutsch­land und Frankreich ini­tiiert und voran­ge­trieben wurde. Im Ver­fa­s­sungs­­vertrag der EU ist ausdrücklich ei­ne Auf­rüstungs­verpflichtung2 ent­hal­ten und die Grün­dung einer europäi­schen Rüstungs­­agen­tur vorgesehen. Durch die Gründung des EU-weiten Rüstungs­kon­sortiums EADS und die gemeinsame Be­stellung von 180 Großraumtransportern Air­bus A400-M wurden die industriellen und logistischen Voraussetzungen für welt­weite ro­buste Militäreinsätze geschaffen. Sei­ne rot-grüne nationale Entsprechung fand dies in der Beteiligung der Bun­deswehr an zahl­reichen Einsätzen seit 19993 und deren Um­strukturierung zur In­ter­ven­tions­streit­macht, verschleiernd als „Stand­ort­schlie­ßung“ diskutiert. Flankiert wur­den diese, im Allge­meinen un­popu­lären, Entschei­dungen von nationa­listischer Rhe­torik, dem Gefasel von Sachzwängen der Globa­li­sierung (die von den gleichen Ak­teuren er­zeugt und vertraglich fest­ge­hal­ten wur­den) und auf nationaler wie euro­pä­ischer Ebe­ne mit verschärfter Repression und Sicher­heitsgesetzen. (Feierabend! #16 „Lust auf Ver­fassung“)

Ein Grund zum Feiern?

Der Linken in Europa ist es bislang nicht ge­­lungen, diesen Großmachtplänen effek­ti­ven Widerstand entgegenzusetzen, wäh­rend die extremen Nationalisten in Deut­schland, den Niederlanden, Italien, Frank­reich und Spanien vom Schreckgespenst der Globalisierung und der Tatsache, dass sich der Staat zunehmend unbeliebt mach­te, profitieren konnten und als Rechts­außen, von dem sich die Regierungen als Mit­te abgrenzen konnten, von diesen oft un­ter­­stützt wurden4. Für die Herr­schen­den Euro­pas eine gute Ausgangsposition, um Re­formen in ihrem Sinne durch­zu­setzen, Aus­beutung und Unterdrückung zu in­ten­si­vieren und sich so die Ressourcen an­­zu­ei­gnen, um weltweit führend zu wer­den. Wi­derstand ließ lange auf sich warten: Die Stu­dentenproteste der letzten Jahre zün­­d­e­ten nicht, Teile der Frie­dens­be­we­gung lie­ßen sich von Zivil­machts-Rhetorik ein­­lullen, die Montags­demons­tra­tionen eb­b­­ten ab und wurden später ignoriert. Nicht durch wütende Massen­pro­teste, son­dern durch nüchterne Wahlen wurde nun den Re­gierenden ein Strich durch die Rech­­nung gemacht.

Eine Analyse fällt schwer: In Nordrhein-West­­falen muss aus bürgerlicher Sicht von ei­­nem Rechtsruck gesprochen werden, denn von den etablierteren Parteien konn­ten nur CDU und NPD Stimmen hin­zu­­ge­winnen, während v. a. SPD, FDP und Grüne deutlich Stimmen einbüßten. Deut­­lich mehr Menschen als im Mai 2000 wähl­­ten allerdings unbedeutende Kleinst-Par­­teien oder ungültig. Beim Referendum in Frankreich stellt sich die Sache noch kom­­plizierter dar. Einerseits deutet die ho­he Beteiligung (knapp 70%) und die zu­letzt intensive öffentliche Debatte darauf hin, dass die Wähler gute Gründe für ihre Ent­­scheidung hatten. Die europaweiten Pro­­tagonisten des Verfassungsvertrages und die parlamentarische Opposition in Frank­­reich versuchten die gelaufene De­batte über das Machwerk zu negieren und das Re­fe­rendum auf ein Votum gegen Chi­rac zu re­duzieren. Die politische Mitte ver­sucht, v. a. nationalistische, also die Ar­gu­men­te der Rechten, und kleingeistigen Kon­­ser­vatismus für die Ablehnung der Ver­fassung ver­antwortlich zu machen, währ­end die fran­zösischen „Sozialisten“ und europaweit die Linke die Ent­schei­dung für sich ver­ein­­nahmen wollen: Die Ver­fassung sei ab­ge­­lehnt worden, weil sie neo­liberal ist.

Bei­des, nationalistische und glo­ba­li­sie­rungskritische Beweggründe, passen je­doch zusammen, v. a. in Frankreich, wo sich auch die kämpferische Arbeiter­be­we­gung oft national, z. B. hinsichtlich ihrer Streik­­kultur, als etwas Besonderes begreift und reflexartig widerständig auf Beeinflus­s­ungs­versuche aus Deutschland und den USA reagiert.

Wahlen verändern nichts, sonst werden sie verboten

Letztendlich hat das „Volk“, also eine bü­ro­kratisch abgegrenzte, vielfältige Menge von mehre­ren Millionen Menschen ab­ge­stim­mt. Die Ergebnisse solcher Verfahren sind zwangs­läufig absurd und lassen nie ein­­deutige logische Schlüsse auf die Be­weg­­grün­de der Einzelnen zu. Dennoch zeigt sich selbst bei solch minimalen demo­kra­­tischen Elementen, dass die politische Klas­­se sich erklären muss und nicht zu weit ab­­­heben kann, da sie dann doch, alle vier bis sechs Jahre, wieder zwischenlanden muss und dann evtl. ausgewechselt wird. Das haben die Regierenden in den letzten Jah­­ren offensichtlich vergessen und so tat­säch­lich viel Vertrauen in das politische Sys­­tem verspielt. Dieses Vertrauen mag nun kurz­fristig wiederhergestellt sein, denn die Re­­gierenden erhielten ja nun ihre Quit­tung. Und doch ist hier nicht nur die CDU ge­wählt worden, sondern in Frank­reich wie in NRW ist auch ein „Non!“ ge­wählt wor­den. Die Krise ist nicht vorbei, denn in den westeuropäischen Staaten kann es sich ge­­genwärtig kaum eine Re­gierung realis­tisch ausmalen, wieder ge­wählt zu werden, außer aus reiner Alter­na­tiv­losigkeit heraus, wie zuvor schon in Groß­britannien Blair wie­der gewählt wur­de, in Frankreich Chi­rac gegen Le Pen ein­deutig das kleinere Übel war und Schrö­der eigentlich auch nur mit „Weg mit Kohl“- und „Stoppt Stoi­ber“-Kampag­nen erfolgreich sein konnte. Auch die, die in Deutschland im Herbst CDU wählen, wis­sen, dass das Ergebnis wie­der nur eine All­parteienregierung sein wird, die in der fol­genden Wahl erneut abg­ewählt, d.h. per­sonell umbesetzt wird, und damit kei­ne­swegs eine Wende zum Gu­ten erreicht wird, sondern nur der illu­sorischen Hoff­nung auf ein kleineres Übel ent­sprochen wird. Dieser Teufelskreis kann sich noch ewig hinziehen, solange die Men­schen erst auf die Frage der Regierenden, auf ver­fas­s­ungsmäßig obligatorische Wah­len, war­ten, um ihr „Non!“ zu artikulieren. Doch die gegenwärtige und sich weiter ver­schär­fende Vertrauenskrise ist ein guter An­lass, das „Non!“ zunehmend auf die Straße und in den Alltag zu tragen. Hoffnungs­volle Vor­bilder gibt es derzeit: In Mittel- und La­­teinamerika wurden in den letzten Mo­n­aten nicht nur reihenweise Re­gierungen ge­stürzt und durch Links-Par­teien ersetzt. Nein, auch diesen Linkspar­teien wird kei­ne Ruhe gelassen, ihre all­täg­lichen Ent­scheidungen werden von Massen­protesten be­gleitet und es ist den Re­­gierenden nicht mehr möglich, eine Außen- und Wirt­schaftspolitik zu betrei­ben, die ka­pi­ta­lis­tischen, „westlichen“ Stan­dards genügt. In Bolivien und Ve­nezuela wur­den die Steu­ern für Auslän­dische För­der­un­ter­neh­men von Erdöl und Erd­gas auf Druck der Be­völkerung so weit er­höht, dass ein Ein­grei­fen der USA droht, den­noch hält der Druck an und in Bo­li­vien musste Mesa An­fang Juni erneut seinen Rück­tritt er­klären. Der brasi­lia­nische Prä­sident „Lula“ wird durch Massen­proteste der Land­losen­be­wegung zur Fortsetzung sei­ner Umver­tei­lungs­­po­li­tik gezwungen, die bei den Pro­tagonisten des Neo­li­beralismus und in Dip­lomaten­kreisen Kopf­schütteln bis blan­kes Entset­zen her­vorrufen. Die Bevöl­kerungen schei­nen im wahrsten Sinne des Wor­tes „unregierbar“ zu werden. Wenn sol­che Ver­hältnisse nicht auch hier Schule machen, und die Men­schen sich darauf be­schränken, ihrem Un­mut in Wahlen Aus­druck zu verleihen, wird deren Bedeutung von der politischen Klas­se zunehmend ein­ge­schränkt werden (So wie es auch durch die Verfassung ge­plant war, die dem EU- Par­lament, einer ohn­ehin nicht re­präsen­ta­tiven, aber im­merhin gewählten Insti­tu­tion kaum Rechte ein­räumte). Das zu­neh­mende Misstrauen ge­­genüber dem li­be­ral-demokratischen Sys­tem kann dann von nationalistischen Kräften genutzt wer­den und sich in wachsenden Stimman­tei­len rechtsradikaler Par­teien, weiterem De­mo­kratieabbau und ei­ner zunehmend faschistoiden Ge­sellschaft auswirken.

Das Nein geht auf die Straße, das Ja sieht auf Zusehen hin zu.

maria

(1) „Beim Lissaboner Früh­jahrsgipfel der Europäischen Union Jahr am 23. und 24. März 2000 haben die Staats- und Regierungschefs eine wirt­schafts- und sozial­poli­ti­sche Agenda be­schlossen. Ziel dieser so genannten Lissa­­bon-Strategie ist es, die EU bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dy­na­mischsten wis­sens­basierten Wirt­schafts­­raum der Welt zu machen.“ (www.bundes­re­gierung.de)
(2) „Die Mit­gliedsstaaten verpflichten sich, ihre mili­tä­ri­schen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Artikel I-40, Abs. 3)
(3) KFOR (Kosovo, seit 1999), INTERFET (Ost-Timor, 1999), Task Force Fox (Mazedonien, 2001), Enduring Free­dom (versch. Orte, seit 2001), ISAF (Afghanistan, seit 2002), Artemis (Demokratische Republik Kongo, 2003), Concordia (Mazedonien, 2003), UNMIS (Sudan, 2005)
(4) Hinsichtlich Deut­schlands sei dabei an den durch das Innen­minis­terium vereitelten Verbotsantrag ge­gen die NPD erinnert, in dessen Verlauf sich herausstellte, dass ein Drittel der NPD-Ka­der auf der Ge­halts­liste des Ver­fassungs­schutz/Innen­minist­eriums steht.

EURO.pa

Machtbeweis

Die EU reformiert sich und keinen interessierts – alte Inhalte aus der 2005 gescheiterten EU-Verfassung sollen nahezu unverändert nun ab 1. Januar 2009 doch wirksam werden.

Was geht mich die EU an, mag mensch sich fragen. Wie funktioniert die über­haupt? Auf der Suche nach Ant­worten würde er/sie entsetzt feststellen, dass diese poli­tische Ge­­meinschaft sich stark durch zen­trale Ent­schei­­dungsgewalt, wirt­schaftlich­e Profitinter­es­sen, immensen Bürokratieaufwand, militärische Aufrüstung, Juristensprache und Uni­for­­mierung von Standards, Werten und Normen auszeich­net. Ganz im Sinne „was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, verschließt mensch gerne mal Augen und Ohren und ver­kennt den Größenwahn europäischer Politik. Dieser reicht von der Fest­le­gung von Mindestpreisen für Lebensmittel zum Schutz europäischer Landwirte, die welt­weit ohnehin schon zu den Bestverdie­nen­­den zählen; von der Normierung von Schlaf­säcken, Briefkästen etc. bis zur Gurken­krüm­m­ung zu­gunsten von Wett­be­werbs­vor­tei­­len der eigenen Massen­produktion; über das Verbot sozialer Mindest­standards (1); bis hin zur Selbster­mäch­tigung zwischen 27 na­tio­­nal­staatlichen Interessen zu vermitteln. Und so wusste B. Brecht damals schon: „Un­sicht­­bar wird der Wahnsinn, wenn er ge­nü­gend große Ausmaße angenommen hat.“

Hintergründe

Es geht um die Funktions­fähig­keit und somit Zu­kunft der EU, wenn die Chefs der 27 Mit­glieds­staaten meinen, die EU-Grund­ordnung ändern zu müssen. Diese ist bisher wesentlich in zwei Grund­lagen­ver­trägen (EG-Verträge von Rom 1957, EU­-Ver­trag von Maastricht 1992) geregelt. Spezifischer wird es durch zusätzlichen Protokolle, Erklärungen und Sonderregeln sowie den Beschlüssen, die als Richtlinien oder Ver­ordnungen umgesetzt wurden. Zu­sammengenommen umfasst so das Recht der EU 80.000 Seiten.

Die durch die Lissabon-Reform geänderten Grund­lagenverträge sind dagegen „nur“ ein paar hundert Seiten lang. Hier sind grund­sätzliche Vereinbarungen zwischen den 27 Regierungen festgeschrieben, Aufgaben und Aufbau europäischer Institutionen fest­gelegt und gemeinsame politische Be­stimmungen formuliert. Aus dieser Zusammen­arbeit re­sultiert ein rechtlicher Rahmen, der national­staatliches Recht/Gesetz brechen kann. Dieses sog. gemeinsame Europa­recht steht über der nationalen Rechts­prechung und betrifft bspw. in Deutsch­land 2/3 aller staatlichen Politik­bereiche, so dass jede/r mal mehr, mal weniger von Entscheidungen, die auf euro­päischer Ebene getroffen werden, betroffen ist. In den anderen 26 Staaten sieht es nicht viel anders aus, so dass die aktuelle Reform der EU-Grundlagenver­träge für nahezu 500 Millionen Menschen relevant wird.

Was zukünftig gelten soll, wurde bereits vor sechs Jahren erarbeitet und war als EU-Verfassung geplant. Nachdem diese 2005 scheiterte, wurden im Juni 2007 unter deutscher Ratspräsidentschaft die alten Ver­fassungsinhalte im neuen Reformvertrag innerhalb nur eines Tages wieder „auf den Weg ge­bracht“, um letztendlich ab dem 1. Januar 2009 in Kraft treten zu können. War 2005 das Nein der franzö­sischen und niederländischen Wähler noch ohrenbetäubend, hat das Ja einiger Parlamentarier zu den alten Inhalten in neuer Form Anfang 2008 kaum jemand gehört. In Frankreich, Slowenien, Malta, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Polen wurde die Reform bereits, und jeweils mit großer Mehrheit, in den nationalen Parlamenten ratifiziert. Es scheint, dass die sicherheitsfixierten Staaten die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht der Unmündigkeit gestellt haben, da nur in Irland ein Referendum über die neue Reform entscheiden wird. Und selbst dieses wird nicht mehr als Hindernis an­ge­sehen, da spätestens das zweite Referendum das er­wünschte Ja bringen wird, wie es schon bei der letzten Reform (Nizza-Vertrag seit 2003 gültig) funktionierte. Auf dem EU-Gipfel in Lissabon im Oktober 2007 haben sich die Staatschefs auf die neue alte Fassung geeinigt, im Dezember 2007 unter­schrieben und seitdem für den Ratifizierungsprozess freigegeben. Es ist gegen­wärtig sehr wahrscheinlich, dass auch in allen anderen Parlamenten „Ja“ zur Lissabon-­Reform gesagt wird, da diese auch mehr Mitspracherecht für die nationalen Parlamente vorsieht, so dass sich die Parlament­arier selbst um ein Vetorecht brächten, wenn sie die Reform ablehnen würden. Denn diese gibt ihnen die Möglichkeit, vor dem Europäischen Gerichtshof eine Klage einzureichen, wenn 2/3 von ihnen meinen, dass ein europäisches Vor­haben die nationale Souveränität un­ter­gräbt. Große Um­­brüche bringt eine Re­­form be­kannt­lich nicht – europäische und so­mit nationale Politik setzt natürlich weiter auf die Stabi­lität des bestehenden Systems.

Denn sie machen was sie wollen

Die neue Lissabon-Reform wird nicht, wie mit der damaligen Verfassung vorgesehen, beide Grund­lagenverträge im Ganzen ersetzen, sondern wird diese „nur“ ergänzen – in Form einer Auf­wertung der Außen-, Sicherheits- und Ver­teidi­gungspolitik der EU, der Pflicht zur militärischen Aufrüstung und einer weiteren Zentra­lisierung von Entscheidungs­kompe­tenzen.

Welch ein Graus, dachten sich auch die 200.000 DemonstrantInnen im Oktober 2007 in Lissabon, die gegen den be­sagten EU-Gipfel protestierten und einem Aufruf der portugiesischen Gewerkschaft CGTP-IN gegen eine „EU-Verfassung durch die Hintertür“ folgten, während die 27 Staatschefs sich selbst und das Ende der Krise feierten. Proteste werden ignoriert und auch die Reforminhalte werden nicht öffentlich zur Debatte gestellt. Proteste, Diskussionen, Öffent­lichkeit dürfen eben nicht aufkommen, wenn es um die Zukunft der Europäischen Union geht.

Wenn es Probleme mit dem Grundgesetz gibt, muss dieses halt geändert werden. So leicht ist es auch, doch leider nur für deutsche Regierungsvertreter. Damit die neuen EU-Grundlagenver­träge verfassungskonform sind, muss das deutsche Grundgesetz, speziell der Artikel 23, geändert werden. Dieser „Europa­artikel“ trat mit dem Vertrag von Maast­richt 1992 in Kraft und erweiterte damals die EG zur EU, die seitdem über wirt­schaft­liche Beziehungen hinaus auch in Außen- und Sicherheitspolitik, Justiz, Polizei und Militär zusammenarbeitet. Mit Artikel 23 wurde die Weiterent­wick­lung der EU zum obersten Staats­ziel erhoben und erst­malig na­tionalstaat­liche Sou­verä­n­­ität auf einen Staa­t­­en­bund über­tra­gen. „Nur weiter so!“ mag mensch zu diesem Schritt der staatlichen Selbstauflösung meinen, wenn sich nicht deutsche Politik einflussreich in der EU wiederfinden würde. (2)

Konsequenzen

Der Reformdruck der Union der 27 liegt darin begründet, dass der bestehende konsti­tutionelle und institutionelle Rahmen nicht ausreicht, um in staatlicher Organ­isierung „handlungsfähig“ zu sein. Immer mehr „Kompetenzen“ werden von nationaler auf europäische Ebene übertragen, so dass mehr Gesetze erlassen werden, um die hinzu kommenden EU-Zuständigkeiten zu ordnen. Die letzte Reform ist acht Jahre her und seitdem ist viel passiert (EU-Osterweiter­ung, 9-11), was eine Um­struk­tu­rie­rung der Zusammenarbeit innerhalb der EU-­Institutionen (Gipfel­rat, Kommission, Mi­nisterrat, Parlament) not­wendig macht. So ver­schwin­det mit der Lissa­bon-Reform in noch mehr Bereichen das Vetorecht, in­dem die ursprünglich benötigte Einstimmigkeit bei wichtigen Entscheidungen zu Mehr­heitsabstimmungen verkommt. Übri­gens gilt ein Beschluss auch als einstim­mig, wenn sich einzelne Mitglieder ent­halten. Immer weniger dürfen mitreden, doch immer mehr kommt hinzu, was disku­tiert werden müsste. Immer mehr Kompetenzen schreibt sich die EU auf ihre Fahne, wie im Bereich Justiz, Mili­tär, Energie­sicherung und Umwelt und gibt ihrem Gerichtshof unbewältigbare Berge von Anträgen, Streits zu schlichten. Warum dies nicht in lokale und selbstbe­stimmte Hände gelegt wird, bleibt die Frage an Unternehmer des Standorts EU, Staats­getreue und Machtgierige. Bereits mit der Nizza-­Reform vor acht Jahren wurde die Möglichkeit der „Anpassung des Recht­sprechungssystems“ eingeräumt, jedoch nur für den Rat der 27 und die EU-Kommissare, die einstimmig oder auf An­trag die gesetzlichen Grundlagen der EU ändern können – ganz nach dem Mot­to: was nicht passt, wird passend gemacht. Die Lissabon-Reform nimmt grundlegende Änder­ungen an der bisherigen Struktur der vertraglichen Grundlagen des EU-Kon­struktes vor und hinterlässt ihre „dunklen Seiten der Macht“. (3) Die Spitzen­jobs wie Ratspräsident und Außenminister werden zur Vollzeitarbeit, die dop­pelte Mehrheit wird eingeführt und so Kerneuropa noch mehr Macht über die anderen, kleineren Staaten zugestanden. Zeit ist be­kanntlich Geld und so können Entscheidungen bald noch schneller gefällt werden.

Mit dem Blick auf die vertragliche EU-Grund­ordnung wird einiges klar und vieles bleibt unklar. Die Intention dieses Artikels ist von Anfang an begrenzt auf die Auf­klärung über die wichtigsten Punkte der aktuellen Lissabon-Reform. Der Autor versuchte, trotz mangelndem juristischen Werkzeug, Licht in den europäischen Paragraphensumpf zu schlagen. Das Ziel ist erreicht, wenn der/die Leser/in gegen Ent­mündigung und Bevormundung der Staatsoberen und der EU jetzt aufbegehrt!

Entscheidungsgewalt

Die Erleichterung von Ent­scheidungs­findungs­prozessen auf EU-Ebene ist Hauptbestandteil der Lissabon-Reform. Euro­päische Richtlinien und Verordnungen, die nur formell nicht als Gesetze bezeichnet werden, nehmen haupt­säch­lich im Europäischen Rat ihren Anfang. Dieser wurde 1974 als eine informelle Ge­sprächs­runde gegründet und ist mittler­weile zur einflussreichsten Institution euro­päischer Politik aufgestiegen. Dieser Rat der 27 Staatsoberen ist nicht zu verwechseln mit dem Ministerrat der EU und seinen 345 Fachministern. Die ersten be­griff­­lichen Verwirrungen sind also schon hier vorprogrammiert.

Der Rat der 27 trifft sich auf den jährlich stattfindenden, nicht-öffent­lichen EU-Gipfeln, um dort die gemein­sa­men Ziele und die allgemeine Richtung der EU-Politik festzulegen. Was danach in den EU-Institutionen – Kommission, Mi­nisterrat und Parlament – passiert, ist vor allem die Umsetzung der Be­schlüsse dieses Gipfelrates. Da es der Rat der 27 selbst war, in dessen Rahmen der Kompro­miss – alte Verfassung als neuer Vertrag – ver­handelt wurde, ist dessen Macht auch in Zukunft kaum beschränkt. Ganz im Ge­genteil: durch die Lissabon-Reform wird der bisherige sechs­monatige Vorsitz auf zweieinhalb Jahre erweitert. Davon verspricht sich der Gipfel­rat „mehr Kontinuität“ seiner Politik und der jeweilige Ratspräsident entsprechend mehr Einfluss seiner zu vertretenden nationalen Interessen in der EU-Politik und von da ausgehend auch auf internationaler Ebene. (2)

Neben diesem EU-Vorsitz als Ratspräsident soll zukünftig ein neuer EU-Außen­minister, der als „Hoher Repräsentant für Außen- und Sicher­heits­politik“ bezeichnet wird, der EU „ein außenpolitisches Gesicht“ geben. So muss wohl von einer Doppelspitze gesprochen wer­den, wenn dieser die EU zusätzlich nach Außen vertreten soll und mit nicht­-­EU-Staaten Verhandlungen im Bereich Handel, Diplomatie, Sicherheit und Verteidigung führen kann.

Was die 27 Staatschefs auf den Gipfeln be­schließen, wird daraufhin von der Europäischen Kommission als Gesetz erarbeitet. 27 sog. Kommissare machen dieses Gremium aus und wer­den vom Kommissionspräsidenten ernannt, der, wie könnte es anders sein, wieder­um vom Gipfelrat eingesetzt wird. Durch die Lissabon-Reform soll es ab 2014 nur noch 18 Kommissare geben, die dann ent­scheiden, wie die Rechte/Gesetze für die vom Gipfelrat erwünschten Inhalte zu formulieren sind.

Dass weniger mehr ist, soll auch für das EU-­Parlament gelten, wenn zur Europa­wahl im Juni 2009 nicht mehr 785, sondern 750 Parlamentarier direkt gewählt werden sollen. Was als das Demokratieelement in der EU gilt, versinkt bereits seit der ersten Direktwahl 1979 in der Bedeutungs­losigkeit. Für die kommende Europa­wahl wird die Wahlbeteiligung er­wartungs­gemäß weiter und sogar unter 40% fallen, so dass die Verbindung von Demo­kratie und EU mehr und mehr zur Heuche­lei verkommt. Es scheint symptomatisch, dass europäische WählerInnen kein Interesse zeigen, wer sie auf europäischer Ebene vertritt – werden sie doch sonst auch nicht gefragt. So verbleibt die Entscheidungsgewalt in der EU weiterhin hauptsächlich im Rat der 27 und somit bei nationalen Regierungsvertretern, Ministern und Staatsoberen.

Neben den Volksvertretern im Parlament müssen auch noch die 345 Fachminister im bereits erwähnten Ministerrat die Beschlüsse des Gipfelrates umsetzen. Was die Lissabon-Reform dabei neu regelt, ist nicht die Anzahl der Minister, sondern deren Stimm­verteilung. Wie wird eine Mehr­heit definiert? Eigentlich eine einfache Frage, nicht jedoch, wenn es um das Ab­­stimmungs­verfahren der EU-Fach­minis­ter geht. Schon mit dem Inkraft­treten der letzten Reform, des Nizza-Vertrages im Jahr 2003, wurde das nun noch bis 2014 geltende Abstimmungsprinzip der qualifizierten Mehrheit zur Norm. Danach kann eine Entscheidung durch­gesetzt werden, wenn mehr als die Hälfte aller 27 Mitgliedsstaaten, die mindes­tens 62% der gesamten EU-Bevölker­ung repräsentieren müssen, und 255 von den 345 Stimmen im Ministerrat haben, dafür stimmen. So könnte praktisch auch von einer dreifachen Mehrheit gesprochen werden. Ab 2014 soll ein neues Ab­stimmungs­system eingeführt werden, dass die Bevölkerungsstärke der einzelnen EU-­Staaten noch stärker berücksichtigt als bis­lang. Für einen Beschluss wird dann die Zu­stimmung von 55% der Mit­glieds­staaten nötig sein, die gleich­zeitig mindestens 65% der Ge­samtbe­völkerung der EU vertreten müssen, was als doppelte Mehrheit bezeichnet wird. Wie viel Stimmen ein Mitgliedsstaat hat, wird aus seiner Bevölkerungszahl berechnet. (5) So wird die Rolle des ohnehin schon einflussreichen „Kern­europa“ weiter ge­stärkt. Daran wird auch die neue Möglich­keit eines europaweiten Bürger­begehrens mit mind. einer Million Unter­schriften nichts ändern, da dieses, wenn es jemals zustande kommt, nur eine Recht­fertigung einfordert, anstatt einen Be­schluss gänzlich zu kippen.

Eine weitere Möglichkeit für „die Großen“, europäische Politik zu machen, liegt in der sog. ver­stärkten Zusammenarbeit. Einige Mit­glieds­staaten können den Ent­scheidungs­prozess, angefangen vom Gipfelrats bis zum Parlament, verkürzen, indem diese sich nur unter sich einigen und auf be­stimmte Vorgehensweisen verständigen. Diese Art der Zusammenarbeit muss von der Kommission vorgeschrieben und vom Parlament gebilligt werden und mindestens neun Mitgliedsstaaten umfassen. Bereits mit der Nizza-Reform 2003 wurden zehn Voraussetzungen für eine verstärkte Zusammen­arbeit auf eine einzige Bestimmung zu­sammen­ge­fasst, die zudem besonders im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik ausgeweitet. So kennt die EU nicht nur Gren­zen, sondern auch ihre Vorbilder aus den eigenen Reihen, die die gesamte EU-Politik nach ihren Vorstellungen voranbringen wollen.

Reformierte Militarisierung

Politisch weit vorgeprescht wird speziell im Bereich der „Verteidigung und Sicherheit“ der Union der 27. Hier liegt auch die Flinte im Korn. Den „Angriffen“ von außen sei durch Bewaffnung und Aufrüstung zu begegnen, um den eigenen Wohlstand vor Intriganten und Futterneidern zu schützen. Die Welt soll zwar offen für die EU sein, doch die EU nicht offen für die Welt. So werden Interventionen weltweit mit (h)ausgemachten Ängsten und Be­drohungen legitimiert, die in der Euro­päischen Sicherheitsstrategie (ESS) als Terror, Waffen, Aufstände, organisierte Krimi­nalität und „Scheitern von Staaten“ be­zeichnet werden. Zum Schutz der Inneren Sicherheit wird mehr und mehr nach außen gerichtete Kriegsmaschinerie ent­wickelt und durch die EU-Grund­lagenverträge sogar gefordert. Speziell mit Blick auf den Artikel 28 der Lissabon-Reform lässt sich erahnen, wo das noch hin­­führen wird. Dort geregelt ist ein neuer mili­­tärischer „Anschubfonds“, engere Zu­sammen­arbeit mit der NATO, eine Aufrüstungs­verpflichtung und die Rechtmäßigkeit einer europäischen Ver­teidi­gungs­agentur (EDA). Letzteres wurde be­reits 2004 eingerichtet und soll die Aufrüstung, Waffenbeschaffung und weitere EU-Militärprojekte voranbringen. Wie auch nationalstaatliche Politik setzt die EU auf Angstszenarien, die sie sucht und findet, diese dann als Handlungsgrund anführt, um sich so das Zepter zur An­wen­dung von Gewalt selbst zu reichen.Was schön positiv als Anschubfonds be­zeich­net wird, ist eine neu eingeführte EU-Finanzkasse, die sich aus Beiträgen der Mit­gliedsstaaten füllt. Und natürlich: wer mehr gibt, hat mehr zu sagen. Hier werden finanzielle Mittel gesammelt, um für militärische Einsätze Geld an­zuhäu­fen und gleichzeitig auf Mehrwert zu spekulieren. War bisher ein solcher perma­nenter EU-Militärhaushalt noch verboten, erlaubt dies nun die Lissabon-Reform. Auch wenn der Gründungs­mythos der EU, niemals wieder Krieg in Europa zuzulassen, seine Be­­rechtigung hat, ist die Beteiligung der EU an kriegerischen Konflikten mit eigenen Truppen eine Frage der Zeit. Der Kriegs­fall wurde auch in den Protokollen der aktuellen Re­form bedacht: heißt es hier, dass „niemand zur Todesstrafe verurteilt oder hinge­richtet werden“ darf, liest sich weiter unten dazu, dass dies selbstverständlich nicht im Kriegs­fall gilt und zusätzlich auch Erschießungen im Fall von Aufständen oder bei Flucht von Gefangenen möglich sind. Die kriegs­unterstützende Einstellung der EU wird auch aus der geplanten engeren Zu­sammen­arbeit mit der NATO offen­sicht­lich, wenn es im aktuellen Reformvertrag heißt, dass „europäische Vertei­­digungs- und Sicherheitspolitik […] zur Vitalität eines erneuerten Atlantischen Bünd­nisses“ beitragen soll. Hinzu kommt die Verpflichtung aller Mit­glieds­staaten „ihre militärischen Fähigkeiten schritt­weise zu verbessern“. Kaum erwar­ten können dies besonders Rüs­tungs­konzerne wie EADS (European Aeronautic Defense and Space Company) und British Aerospace, die sich bereits immense Profite durch den Bedarf an zusätzlichen Kampfhub­schrau­bern, gepanzerten Mili­tär­trans­portern, Luftab­wehr­raketensysteme und Kriegsschiffen ausrechnen.

Die Militarisierung geht mit großen Schritten voran und zeigt sich verstärkt in der Migrations- und Grenzpolitik der EU (6). Krieg und Aufrüstung im Namen von Sicherheit und Frieden – wie modernisiert muss es denn noch werden.

(droff)

 

(1) Mit der Bolkesteinrichtlinie ist das Her­kunfts­land­prinzip für EU-weite Dienst­leistung­en gültig. Dies bedeutet, dass Arbeiter­Innen in derselben Branche, Projekt oder Unternehmen z.B. nicht denselben Lohn für dieselbe Arbeit bekommen. Die Zahlung von ortsüblichen Löhnen z.B. in Deutschland gilt nur für deutsche und nicht z.B. für polnische Unternehmen, die ihren ArbeiterInnen die in Polen gültigen und wesentlich niedrigen Löhne zahlen, auch wenn diese gar nicht in Polen arbeiten. Gegen eine „Zersplitterung des Binnenmarktes“ und für den „ungehinderten Wettbewerb“ wird so der Wohlstand reicherer Länder auf den Rücken der ArbeiterInnen aus europäischen Billiglohnländern weiter ausgebaut. Die Bolkesteinrichtlinie gilt seit Dezember 2006 und muss noch bis Dezember 2009 in allen Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt sein.

(2) s. FA! #11 „Deutschland in Europa“

(3) s. FA! #10 „EURO.PA – die dunklen Seiten der Macht“

(4) U.a. gehört es zu den Aufgaben des Ratspräsidenten, die Mitgliedsstaaten in den anderen EU-Institutionen wie auch in internationalen Organisationen wie UNO und WTO zu vertreten.

(5) Stimmverteilung im Ministerrat: Italien, Frankreich, Großbritannien, Deutschland: jeweils 29 Stimmen; Spanien und Polen: 27 Stimmen; Rumänien: 14; Niederlande: 13; Portugal, Ungarn, Belgien, Tschechien, Griechenland: 12; Österreich, Schweden, Bulgarien: 10; Litauen, Irland, Finnland, Dänemark, Slowakei: 7; Luxemburg, Zypern, Estland, Slowenien, Lettland: 4; Malta: 3.

(6) s. FA! #1 „The European Nightmare. Schengen Information System, repressive Asylpolitik und Kontrollstaat“; FA! #21 “Krieg um Welt. Welcome all Refugees from capitalist War“; FA! #25 „Marokko: Menschenrechtsverletzungen im Namen des EU-Grenzregimes“

Gesamteuropäische Schreckgestalt

Ein Gespenst geht um in Europa – nämlich das Gespenst des „Euro­anar­chismus“. Momentan spukt es freilich nur in den Fluren der europäischen Sicherheitsbehörden herum. Und obwohl es dort gar schröcklich mit den Ketten rasselt, kann es über seinen gespenstertypischen Mangel an Substanz nicht hinwegtäuschen.

So sei der „Euroanarchismus“ nur ein „Arbeitsbegriff“ des Bundeskriminalamts, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Anfrage* der LINKEN erklärte: „Der Komplex der ‘europäischen Anarchisten’ bzw. ‘Euro-Anarchisten’ ist dem BKA seit fast vier Jahren bekannt.“ Allerdings sei die Bezeichnung bislang nicht definiert – vor allem weil in Deutschland „keine Ausprägung des Phänomens ‘gewaltbereiter Anarchisten’ mit organisierten Strukturen und terroristischen Straftaten zu beobachten“ ist, für das der Begriff irgendwie stehen soll.

Die europäische Polizeibehörde Europol macht sich weniger Umstände beim Definieren: Für sie bezeichnet der Begriff „Euroanarchismus“ die ganze Spannbreite von „anti-capitalism, anti-militarism, anti-fascism and the ‘No Border’ campaign“, also schlicht das gesamte linke/autonome Spektrum, das damit als europaweite, potentiell terroristische Vereinigung halluziniert wird.

Damit die Spukgestalt ein wenig Fleisch auf die Rippen bekommt, veranstaltete Europol am 25. April 2012 eine Konferenz in Den Haag, an der Behör­den­vertreter_innen aus 14 europäischen Ländern teilnahmen. Gesprächsthema war die Europol-Datenbank „Dolphin“, in der die Polizeibehörden der verschiedenen EU-Staaten Informationen über „extremistische“ und „terroristische“ linke Zusammenhänge sammeln.

Das betrifft nicht nur solche Gruppen, die in den letzten Jahren tatsächlich mit Anschlägen auf sich aufmerksam machten, etwa die italienische Federazione Anarchica Informale (siehe FA! #11) oder die griechische „Verschwörung der Feuerzellen“. Ein Thema waren auch „strafrechtlich relevante“ Aktionen der italienischen No-TAV-Bewegung, die sich gegen eine geplante neue Zugstrecke quer durch die Alpen zur Wehr setzt, und aus diesem Kontext mög­liche „Straftaten gegen Schienennetz­werke“. Aber auch das schon erwähnte anti­ras­sis­­tische No-Border-Netzwerk gilt den Sicherheitsbehörden mindestens als gefährlich und potentiell von gewaltbereiten Anarchist_innen unterwandert.

Es könnte also sein, dass die terroristische Spukgestalt des „Euroanarchismus“ künftig an Kontur gewinnt: Ab Mai 2012 sollen die gesamten Europol-Dateien neu sortiert werden, wobei dann genau zwei Oberkategorien zur Verfügung stehen: „Organisierte Kriminalität“ und „Terrorismus“. Dreimal darf man raten, in welcher Kategorie sich die No-TAV– und No-Border-Aktivist_innen dann wiederfinden…

(justus)

* als PDF zu finden unter www.andrej-hunko.de/start/download/doc_download/223-kriminalisierung-von-internationalem-linken-aktivismus-und-anarchismus-durch-europol