Wiedernoch weben am Leichentuch?

In diesem Heft wollen wir uns, als Beitrag zur aktuellen Diskussion, mit der Sozialen Frage, dem sogenannten „ Kampf der Klassen“ befassen. Der Begriff der Klasse wirft heutzutage einige gewichtige Fragen auf, gar die nach seiner Berechtigung. Denn zuallererst scheint er Grenzziehung zu betreiben, Berliner Mauern zu errichten: zwischen den „guten“ Arbeitern und den „bösen“ Kapitalisten. Dem entgegen denken wir, dass sein ideeller Kern auch heute noch von Bedeutung ist, indem er nämlich auf einen Zustand verweist, der noch immer seiner Aufhebung harrt.

Besonders die in den Diskussionen um das Hartz-Konzept viel beschworene und blumig beschriebene Ich-AG – die großzügig auch auf eine Familien-AG anwachsen darf – ruft unwillkürlich einige Zeilen Heines ins Gedächtnis: „Wir haben vergebens gehofft und geharrt / Er hat uns geäfft, gefoppt und genarrt“, und erinnert so an die schlesischen Weber. Diese Assoziation mit frühkapitalistischen Verhältnissen, den Heimwerkstätten der Weber, die quasi als Familien-AG Tag und Nacht in wirtschaftlicher Abhängigkeit schufteten, und das ganze unternehmerische Risiko zu bürden hatten, machte uns stutzig.

Historischer Exkurs

Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse und Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln.“ (1)

Dem Klassenbegriff haftet in den heutigen Diskursen etwas seltsam verstaubtes an. Und tatsächlich war es vor allen Dingen das 19. Jahrhundert, in welchem er seine Blüte feiern konnte. Ob Drei-Klassen-Wahl-System in Preußen, Verurteilungen wegen Aufhetzung zum Klassenhass, Klassenkämpfe oder Klassentheorie — zumindest auf. den deutschen Territorien herrschte eine eindeutig nach Klassen bestimmbare Vergesellschaftung. Der schwelgenden Hocharistokratie, dem Adel und dem Großbürgertum stand ein Heer von Elend und Not bedrohter Menschen gegenüber, rechtlos zum Spielball der Mächtigen degradiert. (2) Die Unterteilung in Erste und Zweite (damals wahrscheinlich auch in Dritte) Klasse, wie wir sie noch heute bei der Deutschen Bahn finden, erinnert daran. Für den einfachen Mann (von den Frauen ganz zu schweigen) gab es keinen Weg zum Bürgertum, geschweige denn zur Aristokratie, allerhöchstens noch den lebenslangen Umweg übers Kleinbürgertum.

Aber auch für die betuchten Bürger öffnete sich nur äußerst selten ein Türchen zu der Herren Tische. Wer in seine Klasse geboren wurde, war auf sie festgelegt. War die Mutter Näherin, wurde es die Tochter oftmals auch, besaß Vater einen Handelskontor, übernahm diesen sein Sohn, und befahlen die Eltern über 20.000 Untertanen, so taten es ihnen ihre Kinder gleich. Aber was unterschied eine Klasse vom Stand? Und was hat es mit den großen Klassenkämpfen und vor allen Dingen mit Marxens Theorie der Klassengegensätze auf sich? Mit den Begriffen Besitz, Erwerb und Sozietät sollen drei Schlüssel zum Verständnis des Klassenbegriffs angeboten werden.

Besitzklassen

Unter Besitz sollen insbesondere die konkreten Lebensumstände (Güter) verstanden sein, in denen Menschen ihr Leben entwerfen. Man sieht schnell, dass sich hier eine grobe wenn auch statische Unterscheidung in Klassen anbietet. Auf der einen Seite die Klasse der nahezu Besitzlosen, auf der anderen die der Besitzenden. Es ist ein qualitativer Unterschied, ob jemand über Haus, Land, Gesinde, „Welfenschatz“ oder andere Güter verfügen kann oder eben nicht. Am Beispiel der Feudalgesellschaft lässt sich das am einfachsten verdeutlichen. Adel und Aristokratie vererbten ihren Besitz via Land und Güter innerhalb der Familie, während weite Teile der Bevölkerung oftmals nur ihre Leibeigenschaft an ihre Kinder weiterzugeben vermochten. In der Feudalgesellschaft, um beim Beispiel zu bleiben, lassen sich also zwei verschiedene Besitzlagen klassifizieren.

Erwerbsklassen

Nun scheint das eine sehr ungenügende Klassifikation zu sein, zumal es schwer fällt, diese Unterscheidung auf gegenwärtige gesellschaftliche Umstände zu projizieren. In den hochentwickelten Industrieländern ist die Klasse der Besitzlosen beinahe verschwunden – relative Unterschiede sind oftmals rein quantitativer Natur – eine allein auf dem Besitzstand fußende Klassenrhetorik scheint demzufolge völlig unzureichend (3). Gehen wir noch einmal zum Beispiel der Feudalgesellschaft zurück. Besitz wurde hauptsächlich durch Vererbung erworben. Daneben waren Raub, Kauf und Schenkung die gängigsten Erwerbsarten, deren günstigste Voraussetzung natürlich wiederum … Besitz war. Durch Arbeit konnte man zwar überleben, aber selten Besitz anhäufen. Das änderte sich erst durch den durch Handel bedingten Aufstieg des Bürgertums. Der Erwerb von Besitz durch Handel, also durch gewinnbringenden Kauf und Verkauf, wurde schnell zu einer wesentlichen Dynamik gesellschaftlicher Veränderung. Dass von einer solchen Dynamik eher die ehemalige Klasse der Besitzenden profitierte, ist einsichtig. Wer konnte im 19. Jahrhundert schon Kupferminen ver- oder Anteilsscheine an Rüstungsbetrieben einkaufen? Insoweit also der Erwerb von Besitz auf schon vorhandenem Besitz fußte, übertrug sich der Klassenunterschied. Hier die Masse der Menschen, deren Erwerb gerade ausreichte, Überleben zu sichern, dort eine Gruppe, deren Besitz durch Erwerb stetig stieg (akkumulierte). Erwerbsklassen waren also insofern identifizierbar, als es einen qualitativen Unterschied zwischen Menschen gab, deren „Erwerbsarbeit“ keinerlei Chancen auf Besitz bot und denen, deren Erwerb immer größere Chancen der Besitzanhäufung mit sich brachte. Das so oft sorglos im Mund geführte Wort der „Chancengleichheit“ rekurriert auf eben diesen Tatbestand.

Soziale Klassen

Aber auch die auf Besitz ruhende Klassifikation nach Erwerbschancen bereitet Schwierigkeiten, versucht man sie auf gegenwärtige Verhältnisse zu übertragen. Die zunehmende Komplexität der Güter- und Kapitalkreisläufe, die Verteilungsmechanismen des modernen Staates (4 ) verwischen die Grenzen zwischen den Erwerbsklassen einer Gesellschaft. Letztlich sind sie gegen die Risikobereitschaft jedes einzelnen relativiert. Nehme ich einen Kredit auf, wage ich die Umschulung, investiere ich in Rente oder Rendite? Besitz vermindert zwar das Risiko bedrohlichen Verlusts, ist aber nicht mehr kategorische Voraussetzung für, gute Erwerbschancen. Zwar sind noch immer ganze Schichten der Bevölkerung im Erwerb chancenlos – vor allem marginalisierte Gruppen wie Migrantlnnen, kriminalisierte jugendliche, körperlich Beeinträchtigte etc. pp. – aber nach ihren Erwerbschancen lassen sie sich nicht qualitativ klassifizieren. Fasst man allerdings die Besitz- und die Erwerbslage allgemein als Lebenslage auf, bietet sich noch eine weitere Möglichkeit der Klassifikation, wie wir sie auch schon aus dem 19. Jahrhundert kennen. Ohne Besitz von Land (Heim) und Gütern, ohne Chance durch Erwerb selbiges jemals zu erlangen, waren Menschen prekär abhängig von Miet- und Arbeitsverhältnissen, räumlich und zeitlich immobil in Milieus verwurzelt, in denen gleiche Erfahrungen ähnliche Lebenslagen prägten (soziales Leben). (5) Demgegenüber gab es einige, die ihren Wohn- und Lebensraum frei bestimmen konnten, äußerst mobil waren und allerhöchstens in kleinen Familien mit Hof-und Hausstab (Gesinde) lebten (individuelles Leben). Zwischen den beiden Lebenslagen schossen oftmals unüberwindliche Mauern auf, so dass es kaum Durchdringungen gab. Insoweit sich also die Lebenslagen qualitativ von einander unterschieden, stand die sozialisierte Klasse der individualisierten gegenüber.

Stellung im Produktionsprozess

Aber auch diese Klassifikation stellt uns vor erhebliche Probleme, wollten wir sie auf gegenwärtige Umstände in den Industrieländern übertragen. Durch die Relativierung von Besitz und Erwerbschancen prägt Individualisierung heute ein heterogenes Feld von Lebenslagen, in denen die Lebensumstände und -erfahrungen jedes Einzelnen erheblich differieren. Ja selbst große Teile der Sozialisation sind in die Institutionen des modernen Staates gelagert. Aber was soll – so könnte man an dieser Stelle berechtigter Weise einwerfen – die Rede von Klassen dann heute noch bedeuten? Und da – nun kommt´s – hat uns Marx die Augen geöffnet. Er sah die Klassengesellschaft seiner Zeit, die chancenlos Besitzlosen und die risikofreudigen Besitzenden, die verelendeten sozialen Milieus und die im Überfluss schwelgenden Herrenhäuser. Und sein Verdienst ist es u.a., diesen sichtbaren qualitativen Unterschied, auf die Sphäre der Produktion, auf die. Prozesse der kapitalistischen Produktionsordnung zurückgeführt zu haben. Denn genau hier war der Klassenunterschied „rein“ (abstrakt) anschaubar. Und ist es, wohl bemerkt, auch heute noch, trotz allem Gerede von flachen Hierarchien und Aktienbeteiligung. (6) Das individualisierte Eigentum an den Mitteln der Produktion, historisch aus der Besitzlage entsprungen, bemächtigte einen Teil der Menschen im Produktionsprozess derart mit Verfügungsgewalt, dass ihnen der Rest ohnmächtig gegenüber stand, Und dieser Klassenunterschied regeneriert sich überall dort, wo Produktion unternommen wird und via Eigentumsrecht Menschen Verfügungsgewalt über Produktionsanordnungen gewinnen und damit andere in ökonomische Abhängigkeit von ihnen stürzen.

Arbeitskampf als Interessenkonflikt von Klassen

Ohne Zweifel waren es die Arbeitskämpfe der vergangenen Generationen, die dafür sorgten, das die Grenzen zwischen den Besitz-, Erwerbs- und sozialen Klassen zunehmend brüchig wurden. Derart, dass der Klassenunterschied im Alltag der Industrieländer kaum noch sichtbar, leibhaftig wird. Ganz im Gegenteil zu den Ländern der „Zweiten Welt“. Solange allerdings die Klassengesellschaft fortbesteht, als „reine“ (abstrakte) in der Ordnung der Produktion, lautet die entscheidende Frage der Gestaltung unserer Gesellschaftlichkeit: wer kann Kraft seines Wortes – und der entsprechenden (strukturellen) Gewalt – die eigenen Interessen [besser] durchsetzen? Wer kann Gestaltung erzwingen? Wem nutzt die bestehende Ordnung, wem nicht? Wer hat ein gesteigertes Interesse an deren Aufrechterhaltung? Dass das Feld dieses Interessenkonfliktes wesentlich auf der Ebene der Produktion zu suchen ist, zeigt schon das Bemühen des modernen Staatsapparates an, dessen Gestaltungswille immer wieder von neuem um die Sphäre der Produktion kreist. Hier stehen sich jedoch, bedingt durch die Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess, die, Interessen zweier Klassenlagen konfliktreich gegenüber, Aber ist man sich dessen denn bewusst?

Macht und Politik zum Durchsetzen von Interessen

Das liberale Projekt repräsentativer Staatspolitik, in der heutigen Foren der Bundesrepublik (8), war zur Befriedung von Interessenskonflikten innerhalb von Vergesellschaftungsprozessen angetreten. Doch erwies es sich im Verlauf als unfähig, trotz einiger Erfolge der Sozialdemokratie, wie u.a. die Fortschritte im Arbeitsrecht, wirklich zwischen den konkurrierenden Interessen derart zu vermitteln, das eine Aufhebung der Klassengesellschaft möglich wurde. Im Gegenteil, und das zeigt die derzeitige „Hartz-Reform“ ganz deutlich, sobald der Druck der Arbeitskämpfe nachlässt, sind bereits erstrittene Fortschritte wieder in Gefahr. Es ist heute nicht ausgeschlossen, dass der Klassenunterschied im Alltag der Industrieländer kaum noch sichtbar, leibhaftig wird. Woran liegt das? Unseres Erachtens vor allen Dingen daran, dass es schließlich Menschen mit Bewusstsein und Interesse sind, die derlei Prozesse tragen. Politiker, mit dem hauptsächlichen Interesse ihres eigenen Machterhalts; Unternehmer, deren Interesse einzig und allein der Gewinnmaximierung dient, und nicht zuletzt die breite Bevölkerung, die die Chancen eines gemeinsamen Bewusstseins als Klasse ungenutzt lässt, lieber Ideologien wie Rassismus, Konkurrenz oder Individualismus folgt und sich damit die einzige substanzielle Möglichkeit zur dauerhaften Verbesserung ihrer Lebenssituationen beschneidet: die vereinte, zielgerichtete Aktion im wirtschaftlichen als gesellschaftlichen Bereich, dem Arbeitskampf mit dem Ziel der Aufhebung der Klassengesellschaft.

clov & A.E.

(1) Karl Marx in d. Rheinischen Zeitung um 1843
(2) vgl. Bernt Engelmann, Wir Untertanen, Fischer 1976
(3) Parolen wie „Her mit dem schönen Leben!“ á la attac und IGM-Jugend sind daher auch eher Ausdruck von Sozialneid denn Zeichen tieferer Analyse.
(4) Nicht zuletzt begnügt sich der moderne Staat damit, in den Verbesserungen der Erwerbschancen seinen primären Bildungsauftrag zu sehen.
(5) Das Bild des Schlafburschen (-mädchens) mag genügen: Es waren Leute, die während der Arbeitszeit des Bettbesitzers selbiges zum Schlafen mieteten.
(6) Erstere werden auf einmal wieder ziemlich steil, wenn es um Entlassungen (Krisensituationen) geht, und wer sich so viele Aktien seines Betriebes leisten kann, dass er mitreden kann, der braucht, ehrlich gesagt, nicht mehr zu arbeiten.
(7) Peripherie – teilweise Infrastruktur, mittelkapitalistische Produktionsordnung (bestes Beispiel ist der derzeitige Generalstreik in Venezuela.)
(8) Rechtstitel

Theorie & Praxis

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