Verquere Fronten

Zur Kritik der nationalrevolutionären Ideologie

Dass Neonazis sich immer öfter einer „linken“ Symbolik bedienen, ist längst nichts Neues. „Autonome Nationa­listen“ bilden auf Demonstrationen „Schwarze Blöcke“, Palitücher und Che-Guevara-T-Shirts gehören fast schon zum guten Ton. Und auch bei Freien Kamerad­schaften und NPD wird eifrig „Kapita­lismuskri­tik“ betrieben und der „nationale Sozialis­mus“ gefordert.

Das müsste kein Grund zur Beun­ruhigung sein – trotz aller scheinbaren Neuerungen hat sich das Weltbild der Neonazis nicht geändert. Dennoch haben Linke oft Probleme, auf diese äußer­liche Annähe­rung angemessen zu rea­gieren, auch weil sich die eigenen Forderungen von denen der Neonazis mitunter nur schwer unter­schei­­den lassen – schließlich ist auch nicht alles, was irgendwie „links“ ist, gleich beson­ders menschenfreundlich oder emanzipa­torisch.

Um zu einer Klärung der Fronten beizutra­gen, sollen hier deswegen die zentralen Punkte der faschistischen – oder besser: „nationalrevolutionären“ – Ideo­logie und deren Herkunft näher beleuch­tet werden. Der Begriff „national­revolutionär“ scheint mir hier ange­messener, da er weiter gefasst und gleichzeitig präziser ist als das im politisch-diskursiven Handgemenge recht inflationär gebrauchte Wörtchen „fa­schistisch“. So hat die­ser Begriff den Vorteil, dass er auch gewöhn­lich als „links“ defi­nierte Denkweisen und Bewegungen ein­schließt und zugleich Inhalt und Form des Faschismus näher bestimmt. Denn dieser war immer eine auf den National­staat hin ausge­richtete Bewegung, dabei aber nicht nur konser­vativ auf eine Rückkehr zu einem früheren Zustand aus. Der Faschismus war inso­fern „revolutio­när“, als er auf eine weitgehende (auch gewaltsame) Neu­ordnung der Gesellschaft abzielte.

„Multikultur von rechts“

Die liebste fixe Idee aller National­revo­lutionäre ist das „Volk“, das nicht als vom Menschen geschaffene, staatlich umhegte, son­dern quasi naturwüchsige Einheit gedacht wird. Der letzte Aufguss dieser Idee ist der sog. „Ethnopluralismus“.

Der Begriff entstammt dem Umfeld der En­de der 60er Jahre entstandenen „Neuen Rech­ten“ (1), die damit den Rassismus der „al­ten“ Rechten ansprechender ver­packen woll­te. Der Kern des Konzepts ist die Be­hauptung eines „Rechts auf Diffe­renz“ zwi­schen den als natürliche Einhei­ten gedach­ten „Volksgemeinschaften“ (Eth­nien). Wer­de dieses Recht durch Ver­mischung der einzelnen „Ethnien“ verletzt, drohe also die Einwanderung von Angehö­rigen einer fremden „Ethnie“ die Kultur der Alt­eingesessenen zu zerstören, führe das auto­matisch zu Rassismus. Wenn Rassisten also Mi­gran­tInnen zusammen­schlagen oder tö­ten, ist das in dieser Sichtweise nur eine na­türliche Abwehr­reaktion des „Volks­kör­pers“ gegen Über­frem­dung – also müsse man sich für eine säuber­liche Trennung der Volks­gruppen ein­setzen.

Die biologistische Argumentation des herkömmlichen Rassismus´ wird durch die stärkere Betonung des Kulturellen bei der Unterscheidung „naturwüchsiger“ Volks­gruppen freilich nur übertüncht. Der Hauptunterschied ist, dass nicht mehr die Überlegenheit einer bestimmten (natürlich der eigenen) „Ethnie“ oder „Rasse“ behauptet wird, sondern diese als prin­zipiell gleichwertig, wenn auch grund­verschieden, gelten. Der intellek­tuelle Kopf der „neuen Rechten“, Alain de Benoist, formuliert es so: „Der wahre Reichtum der Welt liegt vor allem in der Vielfalt ihrer Kulturen und ihrer Völker.“ (2) Die Völker seien „nämlich keine bloße Addition individueller Atome, sondern Wesenheiten mit eigener Persönlichkeit (…)“. (3) Es ließe sich fragen, ob es ohne diesen Zwang zur Unter- und Einordnung in homogene „Volksgemeinschaften“ nicht noch weit mehr Vielfalt gäbe.

Ohnehin sind diese „naturwüchsigen“ Gemeinschaften reine Fiktion. Denn nicht die Völker schaffen sich ihren Natio­nalstaat, sondern die Nationalstaaten (bzw. die gesellschaftlichen Eliten) produzieren „ihre“ Völker. „Volkszu­gehörigkeit“ ist nur die Folge willkürlicher staatlicher Einsor­tierung von Menschen. (4) Zuerst ist der Staat da, der ein bestimmtes Gebiet kontrolliert, die gemeinsame „Kultur“ der in diesem Gebiet lebenden Menschen ist nur eine Folge davon. Die Entstehung einer gemeinsamen Landes­sprache z.B. wäre ohne die staatlichen Institutionen von Armee und Schulwesen oft kaum denkbar gewesen. So wurde die italienische Sprache zum Zeitpunkt der Entstehung des italienischen National­staats (1860) nur von einer verschwin­dend kleinen Minder­heit im Alltag benutzt – ganze 2,5% der Bevölkerung. (5)

Während die Sprache zumindest noch praktische Bedeutung hat, sind „rassische“ Merkmale, die als vermeintlich „objektiv“, weil „natürlich“ gelten, komplett willkür­lich gewählt. Denn warum soll gerade eine andere Hautfarbe oder die Form der Nase der wesentliche Unterschied sein? Wenn es um biologische Merkmale geht, könnte man Menschen mindestens genau­so gut nach ihrer Blutgruppe oder ihrer Schuh­größe sortieren.

Die organische Nation

Die „ethnopluralistische“ Idee ist keines­wegs neu, sondern nur eine Neuauflage des völkischen Nationalismus´. Dieser ent­stand nicht ohne Grund zur gleichen Zeit wie der moderne bürgerliche Natio­nal­staat, Anfang des 19. Jahrhunderts. Die bürgerliche Klasse hatte sich damals dank ihrer ökonomischen Macht zu einem wichtigen Faktor im gesell­schaft­lichen Gefüge entwickelt. Dem ge­gen­über verlor der Adel, dessen Machtbasis Agrarwirt­schaft und Leibeigenschaft waren, an Bedeutung. Die politischen Verhältnisse entsprachen der neuen Realität aber nicht. Die Leibeigenschaft, die die Bauern an die adeligen Groß­grund­besitzer band, wider­sprach z.B. dem Bedürfnis des Bürgertums nach Arbeits­kräften, die absolutistische Monarchie dem Bedürfnis nach Mitbe­stimmung. Theoretisch schlug sich dieser Konflikt in der Philosophie der Aufklärung nieder. Die Legitimation der Feudalherr­schaft – die Idee des Gottesgnadentums – wurde angezweifelt, der Religion Rationa­lismus und Naturwissenschaft entgegen­gestellt. Die Monarchie sollte durch ein „vernünf­tiges“ Staatsmodell ersetzt wer­den, die königliche Willkür durch eine Verfassung und eine parlamentarische „Volksver­tretung“ beschränkt oder gleich ganz dadurch ersetzt werden. Der Staat wurde als großes, nach rationalen Maßstä­ben konstruiertes Uhrwerk gedacht.

Diese Ideen wurden vom deutschen Bürgertum nur zum Teil übernommen. Das Erklärungsmodell, dass man zur Begründung des Strebens nach einem eigenen Nationalstaat wählte, unterschied sich deutlich von dem der englischen und französischen Aufklärung. Statt als von Menschenhand konstruierte Maschine wurde der Staat als natürlicher Organis­mus betrachtet, als institutioneller Körper der ewigen „Volksseele“. Zwei Gründe gab es dafür: Einerseits war der Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft zwi­schen 1806 und 1813 der Startpunkt der Entstehung der deutschen National­bewegung. Ein Rückgriff auf die Ideen der französischen Aufklärung war darum nur schwer möglich. Zudem war das Gebiet des künftigen deutschen Nationalstaats in viele Fürstentümer zersplittert – im Gegensatz z.B. zu Frankreich musste ein einheitliches Staatsgebiet erst hergestellt werden. Um diese erstrebte Einheit zu begründen, berief man sich auf ein ewiges, unwandelbares Wesen der Deutschen.

Während die Burschenschaften, die aus den im Kampf gegen die Franzosen gebildeten Freikorps entstanden waren, eher die aktivistische Seite des Strebens nach nationaler Einheit repräsentierten, wandten sich die Romantiker auf der Suche nach dem „deutschen Wesen“ der Vergangenheit zu – die Märchensamm­lungen der Brüder Grimm gehören z.B. in diesen Kontext. Die „deutsche Volks­seele“ wurde so freilich nicht gefunden, sondern eher erfunden.

Die völkische Idee wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts von vielen Nationalisten übernommen und ist bis heute nicht ausgestorben. In Deutschland prägt sie z.B. immer noch die Einwan­de­rungs­politik – während sich z.B. in Frank­reich die Staatsbürgerschaft am Geburts­recht orientiert (wer in Frankreich geboren ist, gilt als Franzose), gilt in Deutschland noch immer das Abstam­mungs­recht: „Deutsch ist nur, wer deutsche Eltern hat.“ Darauf können sich Nazis und CDU-Politiker wie Wolfgang Schäuble problemlos einigen – die Zugehörigkeit zum deutschen Staats­­­­volk leitet sich aus einer my­ste­riösen Qua­lität des „deut­schen Blu­­tes“ ab.

Aus der weiten Verbreitung völ­kischer Ideen er­klärt sich auch, warum auch man­che Linke Pro­bleme haben, der ethno­pluralistischen „Multikultur von rechts“ inhaltlich etwas entgegenzusetzen oder sogar Positionen vertreten, die dieser auf´s Haar gleichen. Die bloße Forderung nach Toleranz „Fremden“ gegenüber greift zu kurz, wenn diese dabei in ihrem „Fremd­sein“ festgeschrieben werden, also z.B. MigrantInnen unveränderlich nur als Repäsentanten ihres jeweiligen „Kultur­kreises“ gesehen werden. Ein wirksamer Antirassismus kann nicht ohne die Kritik am Nationalstaat auskommen. Die nationalstaatliche Logik ist immer struk­tur­ell rassistisch (unabhängig davon, wie sie begründet wird), da sie stets zwischen „uns“ und dem Rest der Welt trennt.

Der nationale Sozialismus

Der Fiktion der „Volks­­­­­­­ge­­­mein­schaft“ stand in der bürgerlichen Gesell­schaft frei­lich stets die Re­a­­lität des Klas­­­­sen­­­­kampfs ent­ge­gen. Dies sa­hen auch viele Nationa­lis­ten, die sich der Not­wendigkeit be­­wusst waren, auch die Ar­beiter­klasse in ihre Pläne ein­zu­­bezie­hen. Ande­rer­seits war auch ein Groß­teil der sozia­lis­­ti­schen und kom­­­mu­­nis­ti­schen Theo­retiker und Funk­­tionäre fest in na­tio­nalis­tischen Denk­weisen verfan­gen. Aus der Verbin­dung beider Seiten entstand das Kon­zept des „natio­nalen So­zialis­mus“. Der I. Weltkrieg mar­kierte dabei den ent­schei­­denden Punkt. Die wich­tigste Neuerung des Krie­ges war, dass sich nicht mehr nur Armeen gegen­über­standen, sondern das Ausmaß des Konfliktes eine weitgehende Mobilisierung der Gesamt­bevölkerung nötig machte. Die Notwen­digkeiten der Kriegsführung zwan­gen die beteiligten Regierungen auch zu einer verstärkten Kontrolle der Wirtschaft, um die ökono­mischen Ressourcen best­möglich nutzen zu können. Das war vor allem eine pragmatische Antwort auf die Sach­zwänge des modernen Krieges mit seinen riesigen Materialschlachten und den damit verbun­de­nen logistischen Anfor­derungen. Doch sahen das nicht alle so – die deutschen Sozialdemokraten z.B. be­trachteten diesen „Kriegssozialismus“ als Vor­zeichen einer künftigen Überwin­dung des „anarchi­schen“ Konkurrenz­kapitalis­mus. Hatten sie noch 1914 nur widerwillig den Kriegskrediten zuge­stimmt, so fanden sie sich bald nicht nur mit dem Krieg ab. Manche von ihnen überhöhten den Konflikt gar zum „Welt­re­vo­lutionskrieg“, bei dem Deutschland die Seite des Fort­schritts, die Entente (6) mit Großbri­tan­nien an der Spitze die „Weltreaktion“ verkörperte.

Der preußische Obrigkeitsstaat erschien in den Augen dieser Sozialdemokraten nicht mehr nur als Relikt der Vergan­gen­heit, sondern als Vorform einer höheren Stufe der Organisation der Produktivkräfte, d.h. des Fortschritts der Geschichte auf ihr vorbestimmtes Ziel zu. Diese Ein­schät­zung wurzelte in einem seit den Tagen des Gründervater Ferdinand Lassalles (7) in der SPD vorherrschenden Staatsfetischismus „Sozialismus“ wurde gleichgesetzt mit staatlicher Organi­sation der Wirtschaft und der Gesamt­gesellschaft. Der Krieg ebnete diesem Fortschritt den Weg. Er erzwang nicht nur eine verstärkte staatliche Kontrolle der Wirtschaft (freilich unter Bewahrung des Privateigentums an den Produktions­mitteln), er machte auch eine zeitweilige Befriedung der Klassenkonflikte und die stärkere Einbindung der Arbeiter­schaft in die „Volksgemeinschaft“ mittels sozial­staat­licher Maßnahmen nötig – und lieferte so das Modell für den „nationalen Sozia­lismus“.

Nach dem I. Weltkrieg war diese Idee weit verbreitet und wurde mit gewissen Varia­tionen von Vertretern fast des gesamten politischen Spektrums geteilt. Walther Rathenau (der gemeinhin als Liberaler galt) wäre hier ebenso zu nennen wie etwa die „Nationalbolschewisten“ innerhalb KAPD (8). In der Rechten nahm die NSDAP die Idee in ihr Programm, den Begriff in ihren Namen auf.

Von einer ganz anderen Seite näherten sich auch die italienischen Syndikalisten einer ähnlichen Position. Während die deutsche Sozialdemokraten auf Reformen und den gesetzmäßigen Gang der Geschichte setzten, war für sie nur der Wille zum Umsturz entscheidend. Prägend waren dabei vor allem die Ideen George Sorels (1847-1922).

Sorel hatte es als Theoretiker (vor allem mit der Schrift Über die Gewalt (9)) zu einigem Einfluss in der französischen Abeiterbewegung gebracht. Anfangs dem orthodoxen Marxismus verpflichtet, unterzog er diesen bald einer weitgehenden Neuinterpretation, die außer der Idee des Klassenkampfs kaum etwas übrigließ. Dabei ging es Sorel nicht um eine Über­win­dung des Kapitalismus. Was er kriti­sierte, war die „Dekadenz“ der bürger­lichen Gesellschaft, Rationalismus und Demokratie. Das Proletariat sollte gegen das Bürgertum in Stellung gebracht werden und so die moralische Erneuerung, die Rückkehr des „Heroischen“ einläuten. Das Mittel, um die Arbeiter zu mobili­sieren, sollte dabei nicht die Vernunft, son­dern der „Mythos“ sein. Diesen Mythos, der die Kampf­­be­reitschaft des Prole­tariats ent­fachen sollte, glau­bte So­rel im Ge­neral­streik ge­fun­den zu haben.

Die Hoff­nun­gen, die er in das Pro­leta­riat setzte, er­füllten sich frei­­lich nicht. Ent­täuscht wand­­­­­­­ten Sorel und seine Anhän­ger sich 1912 der natio­nalistischen Ac­tion Francaise zu. Ein Teil der italie­ni­schen Syn­di­­kalisten bewegte sich derweil in eine ähnliche Rich­tung. Nachdem die ver­schie­denen Anläufe zum Umsturz miss­lungen waren, kamen die­se Syndika­listen zu dem Schluss, dass Proletariat sei nicht der geeignete Träger einer Revolution und er­setz­ten es durch die Nation.

Diese Haltung ging nahtlos in den Fa­schismus über. Am 1. Oktober 1914 wurde in Mailand der Fascio rivoluzionario d´azio­ne internazionalista (Revolutionäres Bünd­nis internationaler Aktion) gegrün­det. Im Gründungsmanifest hieß es: „Wir (…) sind überzeugt, dass es unmöglich ist, nationale Revolutionen ins Ausland zu tragen, ohne zuvor das Stadium der eigenen nationalen Revolution durchlau­fen zu haben. (…) Wo ein Volk nicht im Rahmen seiner natürlichen Grenzen lebt, die durch Sprache und Rasse gezogen werden, wo die nationale Frage nicht gelöst ist, kann es das zur normalen Entwicklung der Klassenbewegung notwendige Klima nicht geben.“ (10) Vor der „sozialen“ galt es also die „nationale Frage“ zu lösen – dazu musste nach Ansicht der National­syndikalisten der Krieg gewonnen und so Italien ein angemessener Platz unter den europäischen Nationen gesichert werden.

Benito Mussolini, der bis dahin in der Sozialistischen Partei Italiens (SPI) Karriere gemacht hatte, schloss sich bald dem Bündnis an und übernahm schließ­lich die Führung. Die Revolution, die Mussolini nun forderte, war nationa­listisch, antiliberal und anti­marxistisch. 1917 schrieb er: „Aber das Vaterland darf nicht verleugnet werden (…), besonders wenn es in einen Überlebens­kampf verwickelt ist. Wer Vater­land sagt, sagt Dis­ziplin; wer Disziplin sagt, an­er­­kennt eine Hierar­chie der Autori­tät, der Funk­tionen, der In­tel­ligenzen. Und wo die­se Disziplin nicht frei­willig akzeptiert wird, (…) muss sie aufge­zwungen wer­den (…).“

Und an anderer Stelle: „Die Wörter Republik, Demokratie, Radikalis­mus, Liberalismus haben genau­so wenig Sinn wie das Wort Sozialismus. Morgen wird es einen haben, aber das wird jener sein, den ihm die Millionen Front­heim­kehrer geben. Dieser Sinn kann ein ganz anderer sein, zum Beispiel ein anti­marxistischer, nationaler Sozialismus. Die Millionen Arbeiter, die zu den Furchen der Äcker zurückkehren, nachdem sie in den Furchen der Schützengräben gelebt haben, werden die Synthese der Antithese Klasse und Nation bewerkstelligen.“ (11)

Der unverstandene Kapitalismus

Der Kapitalismus war für die National­syndikalisten ein rein moralisch-psycho­logisches Problem. Der materielle Kern der kapitalistischen Produktionsweise, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die darauf basierende Wertschöpfung durch Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, wurde so verkannt. Diese Wendung hin zur Psychologie lässt sich z.B. bei Arturo Labriola (12) erkennen, wenn er schreibt: „Das Organisations­prinzip des Kapitalismus lässt ihn [den Kapitalisten] als Chef erscheinen (…). Dies ist der Hauptgrund, der die Arbeiter gegen die Kapitalisten aufbringt.“ (13)

Der Teufel steckt hier im Detail: Das Problem ist für Labriola nicht, dass der Fabrikbesitzer wirklich der Chef ist, der über die Arbeitskraft der Proletarier verfügt und diese gewinnbringend nutzen will –das Problem ist nur, dass der Kapitalist den Arbeitern als Chef erscheint.

Aus solcher Kapitalismuskritik folgt logisch ein Verständnis von Sozialismus, dass es gar nicht mehr für nötig hält, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die Lohnarbeit anzutasten. Nur die geistige Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen musste geschlossen werden. Die Trennlinie zwischen Proletariat und Bourgeoisie wurde durch die zwischen „Produktiven“ und „Parasiten“ ersetzt. So forderten die italienischen Faschisten am Ende des I. Weltkrieges eine „partielle Enteignung“ des „parasitären“ Finanz­kapitals. Die „produktiven“ Teile der Gesellschaft (was Fabrikbesitzer, Ge­schäfts­leute usw. einschloss) sollten in nach Wirtschaftszweigen getrennten Korpora­tiven zusammengefasst werden, die in Zusammenarbeit mit dem Staat das organische Ganze der Nation bilden sollten – ein Programm, das nach der Macht­übernahme auch umgesetzt wurde.

In der Ideologie der NSDAP verband sich die Unterscheidung von „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital mit der antisemi­tischen Rassenlehre, die das mittelalter­liche Stereotyp vom wuchernden „Geld­juden“ aufgriff. Die abstrakte Qualität kapitalistischer Herrschaft – die nicht mehr an Personen gebunden ist, sondern an den Besitz – wurde so völlig verkannt, der unsichtbare Zwang des Marktes im „Juden“ personifiziert. Im Rückgriff auf antisemitische Verschwörungstheorien, wie sie u.a. in den „Protokollen der Weisen von Zion“ (14) formuliert worden waren, halluzinierte man sich diesen als teuflische Macht hinter den Kulissen. Der „Jude“ war zum einen Inbegriff des raffgierigen Spekulanten, er trat aber auch in Gestalt des Bolschewismus auf. Zudem bedrohte er die „arische Art“, indem er als parasitäres Anhängsel des „Volkskörpers“ dessen „rassische Reinheit“ untergrub. Die Folgen dieser paranoiden Ideen sind bekannt – sie führten zur Ermordung unzähliger Men­schen in den KZs. (15)

Selbst ohne gleich die Antisemitismus-Keule auszupacken, kann man feststellen, dass auch bei vielen linken „Kapitalismus­kritikern“ dieser Mechanismus der Perso­ni­fizierung wirkt. Dass der Kapitalismus als System, als besondere Form der Organisation, das Problem ist und nicht das moralische Ungenügen einiger Unter­nehmer, geht vielen nicht in den Kopf. Kapitalist ist man nicht dadurch, dass man besonders gierig ist, sondern dadurch, dass man Kapital besitzt und so Produk­tionsmittel und Arbeitskräfte kaufen kann – und auch dann ist man den Zwängen des Marktes unterworfen.

Auch der Arbeitsfetisch, der die „produk­tive“ Seite der kapitalistischen Wirtschaft von jeder Kritik ausnimmt, ist in der heutigen Linken weit verbreitet, sei es bei Attac, der Linken oder der SPD, die, wenn sie überhaupt Kritik am Kapitalismus üben, meist nur das Finanzkapital meinen. Erinnert sei hier an die „Heuschrecken“-Rede von Franz Müntefering, in der er sagte: „Manche Finanzinvestoren ver­schwen­den keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernich­ten. (…) Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschrecken­schwär­me über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter.“ Indem das Problem einer bestimmten Personengruppe (Juden, Amerikaner, Spekulanten) zugeschrieben wird, wird die eigene Mitverantwortung verdrängt. Für Müntefering dürfte daraus nur business as usual folgen – noch schlimmer ist es, wenn man meint, zur Lösung des Problems diese Leute ausrotten zu müssen. Emanzipation kann auf dieser Grundlage nicht funktionieren.

Fazit

Diese ideologischen Überschneidungen zwischen „links“ und „rechts“ bedeuten freilich nicht, dass beide letztlich dasselbe seien, wie gängige Extremismus­theorien behaupten. Diese Gemeinsam­keiten kommen nur dadurch zustande, dass die Linke den gesellschaftlichen Normal­zustand von Kapitalismus, Lohn­ar­beit, Nationalstaat usw. als natur­gegeben akzeptiert, wie es die Nazis ohnehin die ganze Zeit tun. Der Kern des Problems liegt in der „poli­titischen Mitte“, in dem Be­streben, die bürgerliche Herrschaft in all ihren Erscheinungsformen als natürli­che Ordnung der Dinge zu le­gi­ti­mieren.

Was es bräuchte, wäre also eine Radi­kalisierung linker Kritik. Volk, Nation, Kapitalismus usw. sind nichts Ewiges, sondern von Menschen geschaffen, lassen sich also auch verändern und gegebe­nenfalls abschaffen. Die Forderung nach einer Gesellschaft­s­ordnung, die es allen Menschen ermög­licht, ihr Leben gemäß ihren Bedürfnissen zu organisieren, ist bis heute nicht erfüllt. Genau das wäre ein Ziel für eine Revolu­tion, die diesen Namen wirklich verdient – eine Umwälzung, die die Ausbeutung der menschlichen Arbeits­kraft ebenso wie die nationalstaatliche Einsortierung von Menschen beendet.

(justus)

 

(1) Deren wichtigstes Publikationsorgan in Deutschland die Zeitschrift Junge Freiheit ist

(2) Zitat aus de Benoist, „Aufstand der Kulturen“, 1999, S. 36

(3) Ebenda, S. 41

(4) Siehe auch FA! #24, „Ihre Papiere bitte!“

(5) Angabe nach Eric J. Hobsbawm, „Nationen und Nationalismus“, 1991, S. 75

(6) Das gegnerische Bündnis von Frankreich, England, Italien, Russland und später den USA

(7) Ferdinand Lasalle war 1863 Mit­be­gründer des Allgemeinen Deut­schen Arbeitervereins (ADAV), aus dem 1869 die Sozialdemo­kratische Abeiterpartei Deutschlands her­vor­ging, deren Führung Lasalle übernahm. Zu Lasalles Staatsbegriff siehe Willy Huhn, „Der Etatismus der Sozialdemokratie“, 2003.

(8) Kommunistische Arbeiterpartei Deutsch­lands, eine rätekommunistisch orien­tierte Abspaltung der KPD

(9) Erschienen erstmals 1906

(10) Zitat nach Zeev Sternhell, „Die Ent­stehung der faschistischen Ideologie“, 1999, S. 259

(11) Ebenda, S. 277

(12) Italienischer Sozialist, 1843-1904, gründete 1902 die Zeitschrift Avanguardia Socialista,an der ab 1903 auch Mussolini mitarbeitete.

(13) Zitat nach Sternhell, 1999, S. 133

(14) Eine Ende des 19. Jahrhunderts vom russischen Geheimdienst fabrizierte Fälschung

(15) Rassistische Ideen spielten aber in allen faschistischen Bewegungen eine wichtige Rolle. So errichteten die italienischen Faschisten z.B. Internierungslager für „Zigeuner“.

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