Archiv der Kategorie: Feierabend! #26

Die Illusion von Freiheit

Erich Fromm und die Vermittlung zwischen Marx und Freud

Da wir in einer Gesellschaft leben, die auf den drei Säulen Privateigentum, Profit und Macht ruht, ist unser Urteil äußerst vorein­ge­­nom­men. Erwerben, Besitzen und Geld­machen sind die geheiligten und unver­äußerlichen Rechte des Individuums in der Industrie­ge­sell­schaft.“ (1)

Erich Fromm – sowohl radikaler Human­ist und Optimist im Zeitalter der Auf­klärung, als auch selbsternannter Marxist und Freudianer – verbrachte zweifelsfrei die meiste Zeit seiner wissenschaftlichen Forschung mit den Studien von Freud und Marx. Sein Interesse galt dabei immer dem Einfluss der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Psyche des Menschen.

Im Jahr 1900 als Kind orthodoxer jüdischer Eltern geboren, wendete er sich schon früh hin zu einer Art „humanis­tischer Religiösität“, die weniger ortho­dox, sondern vielmehr vom Zen-Buddhis­mus, der Mystik Meister Eckards und den Schriften von Marx geprägt war. Die Erfahrungen der zwei Weltkriege, die er z.T. im Exil mitverfolgte und die allge­meine Enttäuschung über die gescheiterte kommunistische Revolution prägten auch sein wissenschaftliches Interesse maß­geblich, so dass er versuchte, mittels der analytischen Sozialpsychologie einen Brückenschlag zwischen Individual­psychologie und Gesellschaftstheorie zu vollziehen. Eine Verbindung, die vor allem erklären sollte, warum die Menschen nicht – wie von Marx prophezeit – vom Sein zum Bewusstsein gelangen und sich selbst aus ihrer Klassenlage befreien, sondern sich stattdessen vielmehr von Autoritaris­mus und einem starken Führer anziehen lassen. Durch seine gesellschafts­theo­retischen Erkenntnisse, seine Arbeit im Frankfurter Psychoanalytischen Institut (2) und die praktischen Erfahrungen bei der Arbeit als Psychoanalytiker, entfernte sich Fromm auch zunehmend von bestimmten Freudschen Annahmen, wie der Libido-Theorie und wurde zu einem der be­kanntes­ten Revisionäre Freuds, obgleich er sich selbst zeitlebens als Freudianer bezeichnete. Dem gegenüber verlor er nie seinen positiven Bezug zu Marx und der Einstellung, die Ausbeutungsverhältnisse überwinden zu müssen, um eine humanis­tische Gesellschaft jenseits des Kapital­ismus zu errichten. Seine eigenen sozial­psychologischen Theorien, die vor allem in „Der Furcht vor der Freiheit“, „Wege aus einer kranken Gesellschaft“ und „Haben oder Sein“ zum Ausdruck kommen, geben auch Einblick in seine Kritik bezüglich der Entwicklung der Gesellschaft in Zeiten von Nationalsozialismus und Kapital­ismus, sowie in seine Vorstellungen verschiedener Lebensauffassungen. Sig­nifi­kant – im Vergleich zu anderen Philosophen seiner Zeit, insbesondere der Frankfurter Schule – ist dabei jedoch seine unerschütterlich optimistische Grund­haltung, ob der Möglichkeit zur Verän­derung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich durch die Werke ziehen.

Die ungeklärte Verbindung zwischen Basis und Überbau

Als überzeugter Marxist und Anhänger der kommunistischen Revolution versuchte Fromm in seiner Synthese zwischen den individualpsychologischen Annahmen Freuds und der Gesellschaftstheorie Marx’ zu erklären, warum die objektiven ökono­mischen Verhältnisse (das Sein, die Basis) scheinbar nicht im Bewusstsein der Menschen als problematisch empfunden werden; also weshalb sich die Menschen anpassen und zu überzeugten Anhängern des Systems werden – obgleich sie nicht profitieren – statt gegen die Ausbeu­tungsverhältnisse mobil zu machen. Gleichzeitig wollte er damit jedoch nicht die Marxsche Theorie der Möglichkeit zur Überwindung dieses Systems in Frage stellen, sondern vielmehr durch die Erläuterung des psychischen Mechan­ismus ein größeres Verständnis fördern, wie schwierig (aber nicht unmöglich) der Weg vom Sein zum Bewusstsein ist. Er beschreitet damit einen Weg, der von Marx selbst nie begangen wurde, da sich für diesen der Übergang von der ‚Klasse an sich‘ zur ‚Klasse für sich‘ eben einfach und irrtümlich durch das Bewusst-werden der Klassenlage ergibt. Dieses Bewusst-werden wird nach Fromm jedoch haupt­sächlich durch drei Faktoren behindert: den gesellschaftlich modifizierten Trieb­apparat, den Gesellschaftscharakter und das gesellschaftliche Unbewusste.

Der gesellschaftlich modifizierte Triebapparat

Fromm vertrat die These, dass der menschliche Triebapparat bereits in gesellschaftlich veränderter Form er­scheint, also die tiefsten inneren Bedürf­nisse des Einzelnen bereits Anpassungen bzw. Sublimierungen der eigentlichen Triebe an die gesellschaftlich erreichbaren Bedürfnisse sind. Ausgangsbasis für diese These sind Freuds Analysen zum Selbster­hal­tungs­trieb und Sexualtrieb. Der Selbsterhaltungstrieb bezeichnet dabei essentielle Bedürfnisse wie Hunger, Schlaf und Fortpflanzung. Während der Sexual­trieb bei Freud die sexuellen Begierden beschreibt, bilden bei Fromm hingegen die Leidenschaften wie Selbstver­wirk­lichung aber auch die Sehnsucht nach Zwischenmenschlicher Liebe den zweiten Strang der ursprünglichen Triebe. Der Sexualtrieb unterscheidet sich vom Selbsterhaltungstrieb darin, dass er nicht zwingend existierende Mittel benötigt (er ist z.B. durch Phantasien komprimierbar) und zudem aufschiebbar, verdrängbar, sublimierbar und austauschbar ist.

Eben weil die Bedürfnisse dieses Triebes sehr anpassungsfähig sind und vielfältig befriedigt werden können, schließt Fromm daraus weiter, dass sich die Menschen auch bezüglich der Art zu Leben in der Gesellschaft an die ihnen zur Verfügung stehenden und erreichbaren Mittel anpassen und ihre eigentlichen Bedürfnisse so sublimieren. Da wir durch unsere Familie und den Rest der Gesell­schaft von vornherein Sublimierungs­möglichkeiten für Bedürfnisse angeboten bekommen, die eben nicht mehr die eigentlichen und ursprünglichen Leiden­schaften befriedigen, sondern den gege­benen Möglichkeiten entsprechen, wer­den wir uns jener auch nicht mehr bewusst. So ist die menschliche Psyche von vornherein gesellschaftlich veränderte Psyche und der Triebapparat ein bereits gesellschaftlich modifizierter Triebapparat. Ein Beispiel dafür ist der Erwerbstrieb, der eigentlich nicht existiert, sondern lediglich einen Ausdruck des Bedürfnisses nach Anerkennung oder Selbstverwirklichung darstellt. Dass die meisten Menschen im kapitalistischen System jedoch davon überzeugt sind (und waren), diesen Trieb zu verspüren, ist für Fromm ein Beweis, wie die eigentlichen Bedürfnisse bereits an die gesellschaftliche Realität angepasst bzw. sublimiert wurden, um den Anforde­rungen im Kapitalismus gerecht zu werden. So kann er erklären, warum die Menschen nicht zu einem Bewusstsein über ihre objektive Klassenlage gelangen: weil die Bedürfnisse, Interessen und Wünsche des Einzelnen bereits an die ökonomischen Gegebenheiten angepasst sind und der eigentliche Widerspruch zwischen dem möglichen gutem Leben und der Realität nicht mehr zum Aus­druck kommt.

Der Gesellschaftscharakter

Ausgangspunkt für Fromms eigene, dynamische Konzeption des Gesellschafts­charakters ist die Freudsche Charakter­konzeption. (3) Fromm hält allerdings nicht viel von Freuds Libido-Theorie – sprich seiner Sexualisierung der unbe­wussten Vorgänge – und verwirft deshalb auch seine Erklärung zum Ursprung der verschiedenen Charaktere. Stattdessen setzt er die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren begünstigende Charakter­eigenschaften als Ausgangsbasis zur Herausbildung der sog. Gesellschafts­charaktere, welche wiederum den Kern der Charaktereigenschaften beschreiben, den die meisten Mitglieder einer Kultur gemeinsam haben. Oraler und analer Charakter sind demnach nicht das Ergebnis sexueller Erregung, sondern Spiegelbild gesellschaftlicher Realitäten in Form von Verhaltensmerkmalen, die sowohl Aufschluss über Familie und Gesellschaft geben, als auch das optimale Funktionieren der Gesellschaft garan­tieren. So beschreibt der Gesellschafts­charakter im Grunde die gebündelten und verallgemeinerten Bedürfnisse des modifi­zierten Triebapparates, die sich in Verhal­tens­merkmalen und Charakter­eigen­schaften manifestieren.

Am bereits erwähnten sog. Erwerbstrieb (hinter dem eigentlich andere Bedürfnisse stehen) lässt sich dies gut verdeutlichen: Die Arbeit gilt unter den Menschen durch die moderne Industriegesellschaft weniger als Mittel zum Zweck, sondern als angestrebtes Ziel an sich, mit denen Werte wie Pünktlich­keit, Ordentlichkeit und Disziplin einhergehen, die notwendig sind, um z.B. den Produktionsprozess reibungslos und dauerhaft fortzuführen. Die Interna­lisierung seitens der Mehrzahl der Mitglie­der der Gesellschaft, diese Werte an­zu­stre­ben, verdeutlicht, wie sehr sich die Men­sch­en bereits von ihren ursprünglichen Be­dürfnissen entfernt haben und wie sich dies sogar in den Verhaltens- und Char­ak­ter­merkmalen widerspiegelt. Sicherlich gibt es solche individuellen Charak­tereigenschaften auch unabhängig von den ökonomischen Bedingungen, den­noch kann man die gewachsene Be­deutung dieser Werte anhand der ökono­mischen Umstände erklären. Der Gesell­schafts­charakter, als Bündel der „ge­wün­schten Eigenschaften“ wird zum Ver­mittler zwischen den ökonomischen Be­dingungen und der Psyche der Menschen. Fromm führt einige Beispiele in ver­schie­den­en historischen Epochen an, bei denen der (anfangs ungewollte, dann ge­sell­schaft­lich internalisierte) Wertewandel deut­lich wird; insbesondere aber bezieht er sich auf den Gesellschaftscharakter des Ka­pitalismus, den er weitestgehend mit Freuds analem Charakter vergleicht, bei dem vor allem das Besitzen, Haben und Hor­ten von Eigentum eine zentrale Rolle spielt. Im Vergleich zum frühen, cal­vi­nis­tisch geprägten Kapitalismus, in dem Spars­amkeit ein hoher Wert war, gehen die Tendenzen jetzt hin zu einer pseudo-he­donistischen Verhaltensweise, in der größt­möglicher Konsum an Bedeutung ge­winnt. Ebenso zählen in diesem Ge­sell­schafts­system Werte wie Rationalität und Sou­veränität weitaus höher als Mitleid und zwischenmenschliche Beziehungen, zudem wird Liebe heute zunehmend ver­ding­licht und rationalisiert:

Als die Haupt­charakterzüge des bürgerlichen Geistes glauben wir annehmen zu dürfen: Einerseits die Einschränkung des Genusses als Selbst­zweck (speziell der Sexualität), den Rückzug von der Liebe und die Ersetzung dieser Positionen durch die lustvolle Rolle des Sparens, Sammelns und Besitzens als Selbst­zweck, der Pflichterfüllung als obersten Wert, der rationalen ‚Ordentlichkeit‘ und der mit­leid­­losen Beziehungslosigkeit zum Mit­men­schen.“ (4)

Allerdings unterscheidet Fromm hier noch einmal zwischen den jeweiligen Lebensumständen der Mitglieder der Gesellschaft und kommt zu dem Schluss, dass die beschriebenen „analen Charakter­züge“ im Gesellschaftscharakter des Kapi­tal­ismus eher denen des Kleinbürgertums ent­sprechen, wohingegen das mittellose Pro­letariat eher mit oralen Charakter­zügen vergleichbar wäre. (5) Im Grunde be­schreibt Fromm den Ge­sell­schafts­charak­ter als Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft, wo menschliche Energie und die offene Veranlagung zur Aus­prä­gung verschiedener Charaktere so um­ge­formt wird, wie es der derzeitigen Ge­sell­schafts­form „nützt“.

Das gesellschaftliche Unbewusste

Ein weiteres Element, das zwischen Basis und Überbau vermittelnd wirkt, ist das gesell­schaftliche Unbewusste. Sowohl Marx als auch Freud gehen davon aus, dass wir in einem sog. ‚falschen Bewusstsein‘ le­ben und unsere Wirklichkeit nicht immer der tatsächlichen Realität ent­spricht. Freud hebt damit hauptsächlich auf das individuelle Unbewusste ab, in dem die verdrängten und sublimierten libidinösen Kräfte schlummern, die durch den Widerstand des Ichs und des Über-Ichs nicht zu Tage treten. Fromm erweitert Freuds Theorie dahingehend, dass er nicht nur sexuelle Triebe und Gefühle als verdrängt erachtet, sondern alle Tatsachen und Ideen, die dem Weltbild – meistens den herrschenden ge­sell­schaftlichen Normen – zuwiderlaufen. Denn das Weltbild dient als eigener Bezugsrahmen, der Sicherheit und Orientierung ge­währ­leistet, weshalb das, was mit den gesell­schaft­­lichen oder fa­mi­liären Sitten unvereinbar ist, ab einem gewissen Punkt ins Un­be­wusste verdrängt wird, um diese Sicherheit nicht zu ge­fährden.

Weil hier die menschliche Subjektivität durch die ge­sell­schaftlichen, objektiven Faktoren bestimmt wird, die wiederum in­direkt das Handeln beeinflussen, lebt der Durchschnittsmensch in der Illusion, frei zu sein. Fromm spricht in diesem Zu­sammenhang von dem gesellschaftlichen Un­be­wussten, dem kol­lektiven Verdrängen der „objektiven“ ge­sell­schaftlichen Umstände (wenn sie dem eigenen Weltbild zu­widerlaufen) aus Angst vor Iso­lation aus gesellschaftlichen Grup­pen. Auch Marx geht von ei­nem ‚falschen Bewusstsein‘ aus, aller­dings sind die Faktoren, die das Bewusstsein beeinflussen, nicht wie bei Freud die trieb­tech­nischen Bedürfnisse, sondern die ge­sell­schaftlichen, öko­no­mischen und historischen Verhältnisse. Da er ja prinzipiell davon aus­geht, dass das Sein das Bewusstsein be­stimmt, ist es logisch, dass die gesellschaftlichen Produktions­ver­hältnisse auf die Le­bens­praxis und diese wiederum auf das Be­wusstsein wirken. Fromm stärkt nun, durch seine These des ge­sellschaftlichen Un­be­wussten, Marx’ Argument und bringt sie mit den Freudschen An­nahmen zum individuellen Unbewussten in Verbindung.

Wenn Marx bedeutend sagt: „Die Forderung die Illusion über einen Zus­tand aufzugeben, ist die Forderung einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf“ (6), dann plädiert er für eine Bewusstwerdung ins­besondere der ‚Klasse an sich‘ zur ‚Klasse für sich‘, um die ge­sellschaftlichen Verhältnisse zum Umsturz zu bringen und die Menschen von ihrer Illusion zu befreien. Für diese Be­wusst­werdung argumentiert Fromm auch, sieht aber hauptsächlich die drei erläuterten Elemente der menschlichen bzw. gesellschaftlichen Psy­che, die die Vermittlung zwischen Basis und Überbau zwar er­klären, jedoch im Marxschen Sinne auch erschweren: das ge­sellschaftliche Unbewusste, das (im ideellen Überbau angesiedelt) die Impulse vergräbt, die nicht mit den gesellschaftlich gegeben Werten übereinstimmen; der Gesell­schafts­­charakter, der die herrschenden Verhaltens- und Charaktermerkmale als gewünschte und ureigenste zwischen Basis und Überbau vermittelt; und die ge­sellschaftlich modifizierte Triebstruktur, die von der Basis aus be­reits die eigentlichen menschlichen Bedürfnisse und Triebe in ge­sellschaftlich realisierbare modifiziert.

Mit dieser Erklärung, die Fromm nur mit Hilfe der Freudschen psychoanalytischen Er­kenntnisse fassen konnte, kann er die Wechselwirkung zwischen Sein und Bewusstsein, zwischen objektiven Verhältnissen (Basis) und subjektiven Bedürfnissen (Überbau) einleuchtend erklären und durch das Wie der Vermittlung Marx untermauern. Warum es bisher nicht zu der von Marxisten prophezeiten Revolution ge­kommen ist, wird so auch deutlich: denn mit den beschriebenen Hin­dernissen, die zwischen der Klasse an und für sich liegen, ist eine Bewusstwerdung schwierig zu vollziehen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es dem Proletariat dann ökonomisch besser ging und dementsprechend durch Konsumbefriedigung die eigentlichen Bedürfnisse relativ gut sublimiert wurden. Allerdings lässt Fromm auch die Hoffnung auf Umsturz der Ver­hältnisse offen, denn er geht davon aus, dass bei zunehmenden ob­jektiven Widersprüchen die libidinösen Leidenschaften, die noch als ‚Kitt‘ fungieren und sich an die gesellschaftliche Realität an­passen, dann zur Sprengkraft werden und wiederum verändernd auf die ökonomischen Verhältnisse einwirken können. Leider verrät Fromm an dieser Stelle nicht, wie die optimistische Wendung in den Rahmen seines Konzeptes integriert werden kann, wo die Menschen doch nun neben der ökonomischen Ab­hängigkeit auch psychisch der gesellschaftlichen Realität ausgeliefert sind. Einige Handlungsansätze, die den Weg weg vom kapitalistischen Denken bereiten können, bietet Fromm jedoch in „Haben oder Sein“ an. Trotz der Ungeklärtheit der theoretischen Einbettung, gibt sein Optimismus und die herzerfrischende Philosophie dem Zusammendenken von Gesellschaft und Psyche eine neue erfahrenswerte Dimension und untermauert zudem die eigene politische Motivation.

(momo)

Nur in einer Gesellschaft, in der es keine Ausbeutung gibt und die daher nicht auf irrationale Annahmen zurückgreifen muß, um die Ausbeutung zu vertuschen oder zu rechtfertigen, nur in einer Gesellschaft, in der die grundlegenden Widersprüche gelöst sind und in der die gesellschaftliche Wirklichkeit unverzerrt erkannt werden kann, kann der Mensch vollen Gebrauch von seiner Vernunft machen und erst dann kann er die Wirklichkeit unentstellt erkennen, das heißt, erst dann kann er die Wahrheit sagen.“ (7)

Literatur von Fromm: „Jenseits der Illusionen. Die Bedeutung von Marx und Freud“, „Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie“, „Die Furcht vor der Freiheit“, „Wege aus einer kranken Gesellschaft. Eine sozialpsychologische Untersuchung“, „Haben oder Sein“

(1) Fromm (1976) „Haben oder Sein“
(2) Das Psychoanalytische Institut wurde 1929 gegründet und befand sich in den Räumen des Frankfurter Institutes für Sozialforschung (IfS), das unter der Leitung von Max Horkheimer stand. Ab 1930 war Fromm Leiter der sozialpsychologischen Abteilung, die – wie alle Institute – unabhängig waren, jedoch im ständigen Austausch standen. Fromms Freundschaft und Zusammenarbeit mit Horkheimer und dem IfS verminderte sich erst im New Yorker Exil, u.a. bedingt durch Fromms Entfernung zur kritischen Theorie hin zu mehr Soziologisierung der Freudschen Psychoanalyse, diversen Geldstreitigkeiten und Auseinandersetzungen mit Adorno.
(3) Dort entwirft Freud verschiedene Charaktere, die insbesondere bei neurotischen und perversen Menschen zum Ausdruck kommen und Ergebnis einer gestörten kindlichen Entwicklung in Bezug auf die eigene Sexualität sind. In dieser Konzeption entsteht der orale Charakter z.B. durch Entzug von der Mutterbrust und der anale Charakter resultiert aus Störungen der sexuellen Faszination dem eigenen Stuhl gegenüber.
(4) Fromm (1970): „Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie“
(5) An dieser Stelle wird seine idealisierte Sichtweise besonders deutlich, da er mit dem oralen Charakter vor allem die Lebensweise des Seins verbindet. Da er allerdings auch selber feststellte, dass das nicht der Realität entspricht, weil auch innerhalb des Proletariats anale Charakterzüge zu finden sind, erklärte er sie mit der Prägung durch die traditionelle Familie, die den vorherrschenden Gesellschaftscharakter an ihre Kinder weitergibt.
(6) Marx in Fromm (1962): „Jenseits der Illusionen“
(7) Fromm (1980): „Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größen und Grenzen“

Kleine Schritte, große Sprünge – Anarchie als Alltag

Interview mit Horst Stowasser zur Situation der libertären Bewegung in der BRD

Horst Stowasser, Jahrgang 1951, fand in seiner Jugend in Argentinien zum Anar­chismus und lebt heute als freier Journalist in Neustadt an der Weinstraße. In seinen Publikationen befasst er sich mit dem Thema Anarchismus in Ge­schichte und Gegenwart. Im Frühjahr diesen Jahres veröffentlichte er zwei neue Bücher: „Anti-Aging für die Anarchie“ sowie „Anarchie!“, das erst kürzlich auf Platz 1 der deutschen Sachbuch-Besten­liste stand. Derzeit engagiert er sich beim Aufbau eines generationsübergreifenden Wohn- und Lebensprojektes (www.eil­hardshof.de) in Neustadt.

Feierabend!: Herr Stowasser, was sagen Sie zum Wetter aktuell?

Horst Stowasser (HS): Das Wetter passt zur Situation der libertären Bewegung in Deutschland…

FA!: Können Sie das näher beschreiben?

HS: …etwas triste aber mit der Aussicht auf Besserung. Wir bleiben beim „Du“, ja?

FA!: Wie würdest Du die Aussichten auf Besserung beschreiben?

HS: Ja, wollen wir mal von der Metapher mit dem Wetter wegkommen. Ich glaube, dass die meisten Probleme der Libertären hausgemacht sind, selbst gemacht, selbst verschuldet. Als ich ein junger Libertärer war, da war es immer der böse Klassen­feind und die Polizei, die schuld an allem waren. Und heute sind es die Faschos oder die Prekarität. Aber ich finde, dass unsere Bewegung viel zu sehr im eigenen Saft schmort, auf sich selbst bezogen ist, sich selbst reflektiert, sich gegenseitig kritisiert und sich dadurch im Laufe der Zeit so ein richtig bequemes Insidernest ge­schaffen hat, aus dem sie nicht raus kommt. In manchen Szenen glaube ich, auch gar nicht raus will.

FA!: Ja, womit glaubst Du hängt diese Auf-Sich-Selbst-Bezogenheit zusammen? Ist das theorieimmanent oder hat es sich so entwickelt aus praktischen Engpässen, die passiert sind?

HS: Es ist in der Theorie mit Sicherheit nicht so angelegt, denn der Anarchismus ist – bzw. es gibt ja nicht den Anarchismus – aber sagen wir mal: der „Mainstream-Anarchismus, ist ja eigentlich eine Idee, die sich nichts weniger auf die Fahnen geschrieben hat, als die Gesellschaft, die ganze Gesellschaft zu verändern. Dagegen ist diese Rückbeziehung auf sich selbst, die Nabelschau, das Kultivieren von immer perfekter ausgedachten Verhaltens­weisen, szenespezifischen Sprachen oder sonstigen Ritualen eigentlich ein Zeichen der Schwäche, der Isolierung – und zwar schon immer. Das war historisch in den anar­chistischen Bewegungen nach großen Niederlagen und Einbrüchen so, ein Symptom der Rat­losigkeit. Bei­spiels­­weise nach der Pariser Kom­mune, die Phase des indi­vi­duellen Ter­rors, der in eine Sack­gasse führte. Es hat 20, fast 30 Jahre gedauert, bis sich danach wieder etwas Kon­s­truktives wie der Anar­cho­­syndi­kalismus heraus­bilden konnte. Der hat dann tat­säch­lich inner­halb von wenigen Jahren in einem er­sten großen Ex­peri­ment mit Millionen Men­schen gezeigt, dass es funk­tio­niert. Nach dem Krieg allerdings war der Anar­chis­mus praktisch am Boden, de facto völlig aus­gerottet, zu­mindest in Deut­schland.

Aber es gab auch Länder, in denen der Anarchismus ganz normaler Alltags­bestandteil von Gen­erationen gewesen war, von vielen Men­schen, nicht von ein paar Tausend, ich rede jetzt mal von Hundert­tausenden oder Millionen. Das hinterlässt natürlich Spuren in Gesellschaft und Kultur. Wenn ich heute in Italien oder Frankreich oder Spanien über Anarchismus rede, dann ist das etwa so, wie wenn man hier über Sozial­demokratie oder die Evangelische Kirche redet. Der Anar­chismus hatte in solchen Phasen immer etwas „Normales“, er war verwurzelt und zwar nicht nur ideen­geschichtlich sondern auch sozial-prak­tisch, d.h. er hat es verstanden, lebendige Dinge erschaffen, die im alltäglichen Leben der Menschen eine Bedeutung hatten. Also ganz kon­krete Dinge, so dass die Chance bestand, auch diejenigen Menschen für anar­chistische oder anar­chische Struk­turen zu begeistern, die sich theoretisch selbst nicht als Anarchisten bezeichnen würden.

FA!: Überhaupt diese Bezeichnung „Anarchismus“, was würdest Du eigent­lich darunter verstehen? Inwiefern kenn­zeichnet das eine Art von anderer sozial­istischer Bewegung oder Theorie als die der Marxisten?

HS: Also, die bewussten Anarchisten, die sich selbst so nennen, das sind ja Über­zeugungs­menschen, und da gibt’s für die meisten eine ganz einfache Formel: A=S+F, heißt Anarchismus gleich Sozialismus plus Freiheit. Und das ist genau der springende Punkt, ganz vereinfacht: Dem autoritären Sozialismus fehlt das freiheitliche Element oder anders ausgedrückt, das Vertrauen in die Selbstverwaltungskräfte der Men­schen. Der klassische Marxismus – es gibt natürlich auch ein paar nette libertäre Marxisten darunter – aber der „Main­stream-Marxist“ glaubt, er wüsste die ganze Wahrheit und müsste die Menschen zwangsbeglücken. Die Menschen sind noch nicht reif, also werden sie halt reif gemacht. Das ist selbstverständlich ein unfreiheitlicher Ansatz.

Trotzdem gibt es natürlich auch eine große Deckungsmenge in den sozialen Pro­jektionen. Der Anarchismus ist ja schließ­lich auch eine soziale Bewegung, und nicht nur eine andere Lebens­philosophie. Er will ja auch die Wirtschaft zum Beispiel völlig auf den Kopf stellen, die Ökologie und viele andere Dinge anders anpacken, die natürlich auch dringend einer radi­kalen Wende bedürfen – und zwar unabhängig davon, ob die Anarchisten nun gerade eine attraktive Idee haben oder nicht.

FA!: Allerdings will der Marxismus auch eine komplette gesellschaftliche Umwälzung vonstatten gehen lassen.

HS: Einspruch… also komplett ja eben nicht, weil es nach der marxistischen Theorie nach wie vor klare Hierarchien geben wird. Und die Frage der Hier­archien hängt wiederum sehr stark mit wirtschaftlichen Strukturen zusammen. Ich glaube auch nicht, dass man ein wirklich sozialistisches Wirtschaftssystem durch Zentralisierung hinkriegen kann, das muss dezentral laufen, um die Menschen dahin zu bekommen, dass sie Vertrauen in ihre eigenen Kräfte ent­wickeln und freiwillig anders leben wollen. Das ist der Schlüssel.

Man sagt oft, die anarchistische Utopie ist ja ganz nett, aber im Ganzen ist es Spinnerei, zu naiv gedacht, denn wir bräuchten dafür einen völlig neuen Menschen. Aber das entspricht überhaupt nicht der Dialektik des Anarchismus, die im Grunde sagt: Indem wir virulente Projekte schaffen, in denen die Menschen in kleinen Schritten die Angst verlieren, den Respekt vorm Staat, gewinnen sie gleichzeitig das Vertrauen in die eigene Kraft.

FA!: Also ist eine Umwälzung im anar­chistischen Sinne eine Umwälzung der kleinen Schritte?

HS: So sehe ich das zumindest. Was ja nicht heißt, dass natürlich in bestimmten Momenten auch eine Revolution im um­stürzlerischen Sinne gebraucht wird. Aber das, was man gemeinhin unter Revolution versteht, ist ein Miß­ver­ständnis, ein semantisches. Die meisten Leute verstehen unter Revolution Bar­rikaden­bau und Pulverdampf. Das darf man nicht mit der eigentlichen Re­volution verwechseln. Die Revolution, die Umwälzung, ist immer ein Prozess, der kleine Schritte und große Sprünge macht.

FA!: Welche Bedeutung nimmt im diesem Zusammenhang das Lieblingskind der Anarchisten ein, die Spanische Revolution 1936-39?

HS: Wenn wir diese „Revolution“ mal genau betrachten, die hat ja nicht erst 1936 stattgefunden, das ist ein Märchen. Das Ganze hat mindestens 20 Jahre vorher angefangen. Die Vorarbeit, die da geleistet wurde, diese kleinen Schritte, haben den Erfolg erst möglich gemacht. Dass eine revolutionäre Situation bestand, dafür konnten die Anarchisten am wenigsten. Die Faschisten haben ja schließlich geputscht. Hätten die Anarchisten einfach nur gesagt: Wir sind in der Lage, diesen Putsch militärisch niederzuschlagen; dann hätte es vielleicht eine Woche gedauert und der Atem wäre aus gewesen. Aber die Leute hatten sich 20 Jahre auf die Revolution vorbereitet. Wie übernehme ich eine Fabrik? Wie manage ich den Warenfluss? Geldfluss, Import, Export, Ressourcen?

Die Arbeiter hatten wirklich Betriebs­wirtschaft gebüffelt. Das ist sicher nicht so spektakulär wie Barrikadenkämpfe aber notwendiger Teil einer richtigen sozialen Revolution. Und das hatte im Umkehr­schluss zur Folge, dass die Menschen plötzlich massenweise, millionenweise gesagt haben: OK, da machen wir mit, das ist besser als was anderes, wir vertrauen den Anarchisten. Es ist ein Mythos, dass das alles Anarchisten waren. Die Mil­lionen, das waren viele Mitläufer, aber Mitläufer im positiven Sinn, die wurden nicht gezwungen. Und das ist der Unter­schied …

FA!: Also da hatte der Anarchismus eine gewisse Integrativkraft entwickelt. Wie ist das eigentlich heute?

HS: Der Anarchismus hatte eine At­traktivität, weil die Menschen, die sich so bezeichneten, Schulen und Kindergärten bauten, Lebensmittelkooperativen hatten, Streiks führen konnten und die Fabriken besetzt haben. Denen glaubte man halt einfach, dass sie auch die Gesellschaft besser „managen“ würden als der Staat. Wenn ich dagegen sage, Anarchisten, das sind Menschen, die machen eine tolle Zeitung wie den Feierabend! und organi­sieren so ein nettes Ladenlokal wie die Libelle, dann hätte auch ich wohl meine Zweifel, ob sie deswegen beispielsweise auch ganz Leipzig managen könnten. Soweit zu kommen, das ist ein Prozess, der braucht seine Zeit. Das ist natürlich auch eine Frage der Selbstdarstellung nach außen.

FA!: Und wie würde das allgemein heute aussehen, gibt’s da überhaupt Möglichkeiten? Du hast ja auch immer wieder Kritik an der „Versumpfung“ in der Subkultur formuliert?

HS: Die Frage ist die, was wollen wir denn erreichen? Wollen wir diese Gesellschaft revolutionieren, wollen wir Millionen Menschen ansprechen oder wollen wir im Schmollwinkel sitzen und sagen, ihr seid alle Spießer, wir sind besser, ihr könnt uns mal den Buckel runterrutschen, wir schaffen uns hier unseren Freiraum. Das ist ohne Zweifel legitim, aber um die Frage zu beantworten: Selbstverständlich gibt es solche Möglichkeiten, ich kenne auch eine ganze Reihe davon, die sind nur nicht so spektakulär …

Also ich bin ja ein Anarchist, der eher dazu neigt zu sagen: Ich finde das, was der Anarchismus zu einem Thema sagt, eine tolle Idee, aber lasst es uns erstmal ausprobieren. Ja und manchmal sind die Ideen dann gar nicht so toll und phan­tastisch, zumindest die Aus­führungs­bestimmungen, die daran hängen. Man muss immer testen: Verbessere ich eine Idee oder begehe ich mit der Verbesserung Verrat am Grundsätzlichen, an der Substanz? Das ist immer ein heikler Weg, aber man sollte offen sein und un­dog­matisch. Von daher ist der Anarchismus wie eine lebendige Wundertüte und ich hoffe, die wird er auch noch lange bleiben.

FA!: Ok, vielen Dank für das Gespräch, super Sache …

(u.a. k.rotte)

Wallenstein-Trilogie

(Jürgen Engel, Schauspielhaus Leipzig, D)

… Und damit auch die Langeweile und der schlechte Hunger auf das Event, das sich gerade dadurch vom Happening unterscheidet, dass es im Vollzug jede Überraschung ausschaltet, nur geschehen läßt, was jedeR bereits weiß und schon erwartet. Wenn dann noch grenzenlose Beliebigkeit die letzte Möglichkeit auf ein ganz gerades Spektakel verdirbt, bleibt wirklich nichts als der Griff in die Schatulle der alt bewährten Rauschmittel oder ein Termin beim biochemischen Designer …

 

Dass Leipzig in vielerlei Hinsicht zurückgeblieben ist, dürfte nicht neu sein. Indiz hierfür ist die aktuelle Umsetzung des größten Bauprojek­tes der jüngeren Stadtgeschichte, das auf Plänen aus den Dreissiger Jahren beruht, der Umbau der Universität nach dem Vorbild der Zwanziger oder etwa der Einsatz von Lohnabhängigen als 24h-Streifen nach Manier längst überkommener Milizen. Da wundert es kaum, dass das Leip­ziger Schauspielhaus etwas verspätet zum Schillerjahr ruft. Die Geschichte passt halt nicht zu jedem beliebigen Zweck. Die Wallenstein-Trilogie als buntes Spektakel, so kreischen die Plakate ihre Parolen. Die große Bühne Leipzigs lädt anläßlich des 50jährigen Bestehens seit Wiedereröffnung 1957 ein. Auch damals stand Wallenstein auf dem Programm. Und so möchte der Intendant Jürgen Engel, der gleichzeitig Regie führte, es auch verstanden wissen. Die Aufführung 2007 sei eine „Reminiszenz“ an die von 1957. Noch so eine mysteriöse Rückbezüg­lichkeit, schließlich dürfte kaum jemand aus dem heutigen Publikum damals zu­gegen gewesen sein oder sich gern an die bleiernen 50er zurückerinnern. Doch die Phrase Engels, der nun endlich abtreten sollte, bleibt hohl, denn das aufgeführte Stück hat gar keine Stoßrichtung, also auch keine konservative. Es wabert völlig bedeutungslos dahin zwischen der Beliebig­keit der Mittel und der Willkür der dargestellten Haltungen. Es trivia­lisiert das Drama des glühenden Patrioten Schiller so sehr, dass sich der/die interessierte ZuschauerIn hinterher fragen musste: So schlecht kann doch Schiller gar nicht gewesen sein!? Doch gehen wir ins Detail:

Getrieben vom Hunger auf Geld und Event, entschloss sich das Leipziger Schauspielhaus, bekannt für seine Außen-Auftritte und dem Drang nach erlebnisreichen Spielorten außerhalb des großen Hauses, die Wallenstein-Triologie Schillers gemäß seiner Dreiteilung auf drei Spielorte zu verteilen. Angefangen in der Baumwollspinnerei (Plagwitz) über die große Hausbühne (Zentrum) zum Völkerschlachtdenkmal (Stöt­teritz) und verbunden durch Shuttle-Busse der LVB sollte den Zu­schauerInnen ein lebhafter Theatertag geboten werden. Das Interesse war dementsprechend und angesichts des relativ kostengünstigen Eintrittspreises von 17 Euro sehr rege. 50 Jahre Stadttheater, Schiller, Wallen­stein – die Erwartungen auf Happening, Spektakel und ein Stückchen aufgeklärter Kultur zog nicht nur die Theater-Groupies an. Und der An­fang versprach auch vieles. Mensch stieg irgendwo der Linie 14 zu und wusste sofort: Dies ist kein gewöhnlicher Haufen von Straßenbahn-NutzerInnen, sondern eine Gruppe mit besonderer Mis­sion. Endstation Plagwitzer Bahnhof. Die Special-Force formierte sich und steuerte, durch die innere Dynamik wie von unsichtbarer Hand bewegt, zielsicher Richtung Baumwollspinnerei. Mob-Action im Anzug und mit Ausgeh­schuhen, in akkuraten Blüschen und legeren Hemden, herrlich. Der Spielort war auch gut gewählt. Meine Bezugsgruppe wälzte sich über den langgezogenen Innenhof der Spinnerei bis zu einem der hinteren Ge­bäude und dann durch einen ziemlich heruntergekommenen Trep­penaufgang im Gieszer-Style in eine riesige Fabrikhalle fort. Leider reichten dort schon zwei unbewaffnete Kartenabreisser, um meinen wilden Haufen auszubremsen und letztlich aufzulösen. Wieder vereinzelt standen wir nun in dieser düsteren, großen Halle, deren Dach von schweren Metallsäulen gehalten wurde. Überall hatte die Ausstattung unbenutzte Flutsandsäcke in diversen Fluchtlinien und Arrangements aufgeschichtet und am Rande erstreckte sich eine beinahe endlose Kleiderstange, an der jedeR ganz anarchistisch seine/ihre Klamotten deponieren konnte. Erwartungsvoll folgte ich den wegweisenden Sand­sackbarrieren in den hinteren Teil der Halle. Um die Bühne hatten die fleißigen Techniker des Hauses eine runde und nach vorn hin offene Tribüne aufgebaut. Freie Platzwahl. Beim Setzen fühlte ich mich ein wenig an die alten Hör­säle der Universität erinnert. Die Enge und der kalte Sitz aus blan­kem Holz, ich sah aufs Etikett: Oper Leipzig. Wohl eine ältere Bestuhlung. Im Programmheft stand: „1. Teil – Die Piccolomini. Aufführungsdauer: 1h 30 min. Keine Pause.“ Vorlesungslänge. Perfekt. Ich sah auf eine hohe Wand mit offenem Putz, einen großen Vorhang und ein breites, ziemlich angestaubtes Weinregal. Die Spannung stieg, der Auftakt war gelungen.

„Das bist DU: Ein Feigling und Verräter an der Heimat!“

Doch was dann kam, lässt sich kürzer paraphrasieren: Bleierne Gänge, großes Stühlerücken, totes Stel­lungs­piel und ein derart langweiliges Dialog-Gehaspel, dass der harte Stuhl bereits nach 30 Minuten schmerzlich drückte. Die Inszenierung war grotesk! Anstelle der von Schiller vorangestellten Einstimmung durch seine prosaisch-rhythmischen Texte zum Söld­nerlager Wallensteins, stieg Engel sofort in die intrigante Handlung ein. Mit der Folge, dass kaum einer der ZuschauerInnen wirklich reali­sierte, worum es in dieser überhaupt gehen sollte. Albrecht von Wallen­stein (Waldstein), böhmischer Adliger und aufgestiegen zum Herzog von Friedland und obersten Befehlshaber des schlagkräftigsten kaiserlich-katholischen Söldnerheeres, lagerte vor Pilsen, seit Wochen einge­gra­ben und ließ die Männer ruhen. Kein Wunder, denn nach der ersten modernen Frontenschlacht bei Nürnberg und dem gewaltigen Blut­vergiessen bei Lützen (1632), waren Ausrüstung und Landsknecht völlig erschöpft. Die schwedische Expansionsarmee war zwar weitestgehend geschlagen, deren König Gustav II. Adolf selbst auf dem Schlachtfeld gefallen, aber die eigenen Verluste höher denn je. Wir befinden uns mitten in den greulichsten Kapiteln des Dreissigjährigen Krieges, inmitten der Brutstätte moderner Kriegsführung. Denn Wallenstein ist ein moderner Kriegsfürst, ein Warlord, der durch die Schlachterfolge und Ausplünderungen ganzer Landstriche, durch kaiserliche Titel- und Landgeschenke, letztlich durch seine militaristische Wirtschaftspolitik, zu den einflußreichsten Kriegsprofi­teu­ren seiner Zeit empor gestiegen war. Keiner aus dem kaiserlich-katho­lischen Lager außer Wallenstein sah sich 1631/32 in der Lage, ein schlagkräftiges Heer auszuheben, um sich den auf Wien zurückenden, prote­stan­tisch orientierten Schweden in den Weg zu stellen. Dement­sprechend erhielt er vom Kaiser Ferdinand II., der nach dem Verlust eines Großteils seiner Eroberungen nun auch seine Erbländereien bedroht sah, weitreichende diplomatische und militärische Vollmachten.

Doch bis auf die Sandsack-Arrangements im Einlaßbereich hat Engels Inszenierung diese notwendigen, historischen Kontex­tualisierungen völlig ausgeblendet. Schillers Stück, das historisch einsetzt, als man 1633/34 von Wien aus versucht, den gefähr­lichen Wallenstein zu entmachten, ist im ersten Teil reduziert auf ein minimalistisches, teilweise unerträg­lich psychologisierendes Sprach­spiel um Loyalität und Intrige. Ein be­wußt gewollter theaterhistorischer Anachronismus!? Will Engel uns damit etwa sagen: SO langweilig war das Theaterspielen einst? Durch den Mangel an Kontext jedenfalls fällt auch jede Aktualisierung und Über­setzung in die Gegenwart aus, und die handelnden Figuren ver­weisen dadurch auf keinerlei Hintergrund, nur auf sich selbst, sie führen gar keine Haltungen vor. Schillers dra­ma­­turgische Überlegung, die Darstellung des Söldnerlagers der Wallenstei­ner an den Anfang zu setzen, wird in der Inszenierung all zu achtlos ans Ende verschoben. Es wird hierdurch gar nicht recht deutlich, worum es Schiller bei der Betrachtung der loyalen und illoyalen Offiziere um Wallen­stein herum geht: Deren Gewissens- und Gesinnungslosigkeit nämlich. Sie stehen stellvertretend für all die entwurzelten Söldnersee­len, die seit über einem Jahrzehnt Europa verheerten, für ihre völlige Auf­ga­be von Idealen und Überantwortung an eine militärische Hierarchie, an deren Spitze die profitorientierte, charismatische Führerfigur Wallenstein agiert, der eigentlich nur noch an verquere astrologische Deutungen und seinen De­gen glauben kann und hierdurch absolut blind geworden ist gegenüber den realpolitischen Ereignissen, die nun seine Machtposition bedrohen. Die Entleerung der konfessionellen und politischen Motive durch die privatwirtschaftliche Re-Organisation des Kriegswesens, das ist das zentrale Thema Schillers und nicht ein triviales Hin und Her von Vertrauen, Enttäuschung und Manipulation. Das „Jesus Maria!“ der Katholiken gegen das „Gott mit uns!“ der Protestanten, diese Schlach­­tenrufe sind unter dem Eindruck des über ein Jahrzehnt fortdauernden Menschen­schlachtens auf den Lippen der Söldnerhaufen kalt geworden, und stattdessen rufen sie nun: ‚Heil unserem Führer‘ und verherrlichen ihr elendes, entwurzeltes Dasein. Zielsicher ver­fehlt Engel diesen Gehalt des Stücks und bleibt so auch sprachlos gegenüber der Brisanz, die darin noch immer steckt. Für Schiller beginnt das Drama des Krieges gerade da, wo aus einem Kampf für eine gute Sa­che sinnlose Gewalt wird. Die Figur des Max Piccolomini ist hier auch keine Ne­ben­handlung um Liebe, Sex und Zärtlichkeit, wie Engels Ins­ze­nierung viel zu oft suggeriert, sondern geradezu DAS Kontrastmit­tel, mit welchem Schiller die Haltlosigkeit der Söldner Wallensteins an­zeigt. Seine Flucht in die Liebe zu Wallensteins Tochter Thekla ist die Flucht vor der Ehrlosigkeit, Rohheit und Untreue verlorener Mör­der­seelen, die ihn kameradschaftlich und väterlich umgeben. Von hier ver­steht sich auch, warum sich Max im zweiten Teil pathetisch in den Selbst­mord stürzen MUSS. Würde er desertieren, ob nun mit Thekla allein oder mitsamt seinen Kürassieren, der sinnlos gewordene Krieg hätte wieder einen Hoffnungsschimmer. Solcherlei Happy End fällt aber für Schiller aus, denn die schlimmste Zeit des Dreis­sigjährigen Krieges steht noch bevor. Erst 1648, mit den Beschlüssen des Westfä­lischen Frie­dens, endet der verheerendste mittelalterliche Krieg um Einfluß und Vor­macht in Kontinentaleuropa, und die 30 Jahre lang geschundene Erde kann endlich wieder aufatmen.

„Bevor der Feind mit UNS ein Ende macht, werden wir mit dem Feind ein ENDE machen!“

Selbiges tue auch ich, als dann das Black endlich kommt. Schöne Be­sche­rung. Ich schaue in das Programmheft: Zwei Stunden Pause und dann fast drei Stunden Aufführung des zweiten Teils auf der großen Büh­­ne des Hauses. Ich bekomme ein schlechtes Gefühl im Magen, suche meinen Begleiter, wir eilen zum Shuttlebus, brausen in die Innenstadt und suchen einen Imbiss. Als wir dann kurz vor Beginn des zweiten Teils im Foyer des Schauspielhauses stehen, haben wir das gemein­same Buf­fett verpasst. Ein Blick auf die Preisschilder genügt, um zu sehen: Gut so! Während wir im vollen Saal nach unseren Plätzen suchen, denke ich: ‚Wenn sie jetzt, beim Heimspiel, nicht zeigen können, was Theater heute kann, haben sie‘s völlig verrissen. Und „Teil 2: Wallensteins Tod“ beginnt tatsächlich höchst spektakulär, denn die Bühne dreht sich und die Lichtarsenale des Hauses schichten einen vieldeutigen Raum, der durch zivile Absperrbänder, wie mensch sie aus Büro, Amt und Agen­tur zur Genüge kennt, in mehre­re Bereiche zerteilt ist. Sogar die Ko­stüme sind aus ihrer rein historisch illustrativen Rolle des ersten Teils übersetzt worden. Wallenstein trägt einen deutschen Soldatenmantel, der sowohl an Verdun als auch an Stalin­grad erinnert. Ich atme ganz tief durch und genieße das dynamische Spiel, das durch die Drehbühne entsteht. Die Dialoge rauschen vor­bei, die Intrigen spinnen sich weiter. Wallenstein verhandelt mit den Schweden, während im Lager fernab der Bühne die Revolte tobt. Der Versuch, sich mit dem schwedischen Heer gegen den Kaiser aus Wien zu stellen, wird entdeckt und die kaisertreuen Offiziere sammeln sich. Wallenstein bleibt nur die Flucht mit den wenigen, noch Treue hal­ten­den Regimentern vor seiner eigenen Armee zur Festung bei Eger. Jetzt muss er mit den Schweden paktieren und ihr diplomatisches Diktat be­din­gungslos akzeptieren. Doch in seiner entseelten Blindheit verkennt er, auf wen er sich verlassen kann und wer falsches Spiel mit ihm treibt.

Es endet, wie es enden mußte, Meuch­ler aus dem schottischen Dragoner-Regiment töten ihn im Schlaf. Der Vor­hang fällt, die Menge klatscht höflich und ich frage mich, warum. Bis mir beim Blick auf den Pro­gramm­plan auffällt, dass die Schauspie­lerInnen im dritten Teil gar nicht wieder auftreten. Ich zwinge mir eini­ge Klatscher ab und errege dann etwas Unmut, weil ich vor der zweiten Applauswelle meinen Platz verlas­sen will. Mir hats eben nicht gefallen, kann ja auch mal möglich sein. Als ich an der Garderobe umständlich in meinen Mantel schlüpfe und dabei scheinbar eine Frau hinter mir leicht touchiere, gibts dann sogar noch etwas Aufregung. Ein Mann, der scheinbar mein verfrühtes Ver­lassen des Zuschauerraumes beobachtet hatte, anders jedenfalls kann ich mir seine Aggression nicht erklären, schimpft auf mich ein. Ich zucke mit den Schultern und lasse ihn stehen. Kleinbürger sind und blei­ben die schlimmsten Pöbler. Auf dem Weg zum Völkerschlachtdenkmal dis­kutiere ich mit meinem Begleiter, zumindest darin hat sich die Auftei­lung der Spielorte bewährt. Wir fragen uns, welche Wirkung das Ge­sehene wohl auf das Publikum haben könnte. Mein Gegenüber sieht eine klare Verbindung zwischen dem Ausbleiben von inhaltlicher Ver­­mittlung und der gereizten Stimmung im Anschluß. Einig sind wir uns darüber, dass durch die entkon­textualisierte Darstellung von auf­klä­­re­rischer Bildung keine Rede sein könne. Die Mängel des ersten Teils setz­ten sich auch im zweiten, trotz der effektvolleren und zumindest tech­nisch übersetzten Inszenierung fort. Denn was vorerst nur als Über­sichtstableau, als Nabelschau des sittlichen Verfalls der ganzen Truppe erschien, wird im zweiten Teil zur psychologischen Introspektion eines ehrgeizigen Kriegsfürsten, den der Verlust an jedem Ideal geradewegs in die schick­sals­haften Fänge unausweich­licher Entwicklung treibt. Die Macht, an ihrem absoluten Gipfel angelangt, schlägt um in pure Hilflosigkeit, sie ist heillos. Doch anstelle der Aktualisierung solcher inhalt­lichen Spuren des Stoffs an der Gegenwart, wird auch im zweiten Teil jeder aktuelle Bezug von Engels Crew tunlichst vermieden. Die Handlung plätscherte über das krampfhaft bei sich verharrende Spiel der Schau­spielerInnen dahin und ich fragte mich dabei ernsthaft, inwieweit das bunt gemischte Publikum erahnen konnte, was Schiller letztlich zu DIESEM Stoff und DIESEM Drama getrieben hatte. Was sich im ersten Teil als sprachloses Ausblenden des notwendigen historischen Kontextes erwies, zeigte anschliessend deutlich, dass es in der Aufführung gar nicht darum gehen sollte, sich ein gemeinsames Verständnis der inne­ren Spannungen von Gewalt, Krieg, Soldaten­tum und Führerschaft zu verschaffen, sondern um billige Unterhaltung. Wallensteins innere Zwei­fel waberten haltlos in den Köpfen des Publikums, irgend­wo im Nirgend­wo zwischen Luther, Ham­let, Faust und Pfarrer Führer. Die vorgeführte Haltung blieb pathologisch, psychologisch über­zeich­net, und konn­te so keine Verbindung herstellen zwischen der Ohnmacht gegenüber dem selbstver­schuldeten Un­­heil Wallensteins und eben jener Ohnmacht des Ein­zelnen gegenüber der Über­macht des Ob­­jek­­tiven, wie sie sich uns heute ent­gegenstellt.

Derart nachsinnend, rauschten mein Begleiter und ich durch das spät däm­mernde Stötteritz zum architektonisch monumentalen Ungetüm namens „Völki“, an dessen Fusse der dritte und abschließende Teil statt­finden sollte. Allein der Gedanke an die lächerliche Überhöhung der so­ge­nannten „Völkerschlacht bei Leipzig“ ließ erneutem Unbehagen Platz. Was wür­de uns erwarten? Ein gigantisches Feuer­showspektakel? Oder gar Meuten von Trachtenvereinen auf der Suche nach Identität? Mir gruselte und einzig beruhigen konnte mich der Gedanke, dass die Sprachlosigkeit zu Anfang und die Pathologie danach deutlich an­kün­digten, dass Engel gar keine politische Inanspruchnahme Schillers be­zweckte und deswegen auch dessen glühenden Nationalismus in seiner Inszenierung wortlos begrub. Es war dementsprechend auch vom Ende keine deutschtümelnde Wendung mehr zu erwarten. Ich kramte nach dem Programmheft: „3. Teil Wallensteins Lager“, Aufführungsdauer: 30 Minuten. Ups, ganz schön kurz. Dafür gondelten wir grad durch die halbe Stadt? Außerdem waren eine Menge Namen aufgelistet, viele StatistInnen und einige StudentInnen der Schauspielschule.

Als wir dann am Wasserbecken direkt vor dem Denkmal zwischen Fackelspalieren entlang liefen, wurde mir doch wieder etwas mulmig. Das legte sich erst, als ich von dem schwimmenden Bundeswehr-Brückenteil, das als Bühne diente, die wilden Stakkatos eines MCs vernahm, der auf den Beinamen Wallensteins als „Friedländer“ einen Song rappte. Wir traten näher und sahen nun auf einen bunten Haufen Söldner, die zu modernen Rhythmen tanzten, stampfen und allerlei Ver­renkungen machten. Ich dachte sofort an die neueren Formen des Körpertheaters und plötzlich wurde mir der dramaturgische Hintergedanke der Spielstättenteilung deutlich. Engel hatte mit jedem Teil eine andere technische Umsetzung des Inhaltes anvisiert. Erst das psycho­logische Stehtheater des 19., dann die Selbstinszenierung der Thea­termittel im 20. und abschließend den theatralen Körperkult des anbrechenden 21. Jahrhunderts. Doch anstelle von Kritik stand nur der Effekt, scheinbar dachte er wirklich, die Höhepunkte all dieser Phasen des modernen Theaters markiert zu haben. Allein, ohne den Inhalt blieb solche Inszenierung der eigenen Mittel selbst völlig sinnlos. Auch die Unterhaltung war einfach schlecht. Zum Ende war das Spektakulärste eigentlich der kurze Auftritt zweier echter Pferde, die nochmals Nachricht vom Kaiser brachten und die Söldner zu Ordnung rufen sollten. Doch die mahnenden Worte blieben ungehört. Die Revolte stand im Raum, in allen drei Teilen, allein ihre Inszenierung war viel zu trivial, um sie hervorbrechen zu lassen. Und von Schiller blieb ohne das Nationale nichts übrig als ein Scherbenhaufen nichtssagender Vieldeutigkeit.

Fazit: Es lohnt allemal mehr, den Text Schillers selbst zu lesen, als sich diese hohle Inszenierung des Leipziger Schauspielhauses anzusehen. Aus ihr lässt sich leider nichts lernen, als dass Theater überflüssig ist. Auch der eventhungrige Zuschauer oder die spektakelsüchtige Besucherin wird kaum viel Freude finden. Zu hölzern und ohne Hingabe an den Stoff vollzieht sich das Spiel. Alles in allem ein Reinfall, und wer trotz­dem noch hingehen will, soll­te zumindest das Programmheft der Dra­ma­turgin B. Roth erwerben. Wenig­stens hier finden sich auf­schluß­rei­che Spuren zu den Hintergründen, die auf der Bühne keine Rolle spielen. Für echte Schillerianer ist die Leipziger Aufführung aber sowieso sekun­där, denn Peter Stein hat für 2007 eben jenen Wallenstein in einer 10stündigen Aufführung mit dem Berliner Ensemble inszeniert (1). Trotz des hohen Eintrittspreises ist hier zumindest zu erwarten, dass die Inszenierung das Drama Schillers nicht an Qualität unterbietet.

… Mensch kann diesen Mangel an kultureller Erschütterung durchaus auch als eigene Qualität begreifen. Ich schlage hierzu den Begriff der Hohlkultur vor. Hohlkulturen nun haben ebenso wie andere Kulturformen Produkte, in denen sie sich ausdrücken: Artefakte wie ein reich verzierter Opferdolch oder etwa ein Intel-Pentium-D805-DualCore und Dokumente wie die Reden Ciceros oder etwa die amtsdeutsche Begründung bei der Ablehnung von Asylanträgen. In diesen Kulturprodukten wird die wesentliche Form selbst anschaulich. Für unseren aktuellen Fall: Es zeigt sich dessen Hohlheit. Unter der zahllosen Flut an Produkten der gegenwärtigen Hohlkultur hatte ich deshalb, streng unwissenschaftlich und am Leben orientiert**, zwei aus­ge­wählt, um die aktuelle kulturelle Hohlheit in ihrer dreifachen Dimension der Sprachlosigkeit, Trivialität und Pathologie der geneigten Leser­In­nenschaft zu exemplifizieren.

(clov)

 

* Die eingefügten Zitate sind aus Heiner Müllers nachwievor brandaktuellem Text: „Wolokolamsker Chaussee I-V“, Maximilian Verlag , München 1988

** Den „Genuß“ des Filmes „The 300“ verdanke ich einer Entdeckung im WorldWideWeb. Denn das chinesische Staatsfernsehen hackt nicht nur alle möglichen Sateliten, um regelmäßig europäischen Fußball oder amerikanischen Basketball ins ganze Reich zu übertragen, sondern streamt (klick and play) nebenbei auch alle möglichen alten und neuen Hollywood-Schinken (Player gibts kostenlos unter: www.sopcast.com). Zur Wallenstein-Aufführung des Leipziger Schauspielhauses dagegen wurde ich von einem guten Freund eingeladen. Denn wenn ich selbst zwischen Schiller und Goethe entscheiden müßte, wäre mir der kosmopolitische Geheimrat allenthalben lieber als der verkrampfte Nationalist.

prokrastination* als notwendige folge individueller beschädigungen im alltag autopoetischer systemdifferenzierungen der wertabspaltungsgesellschaft

Eine seite über prokrastination? nichts leichter als das, dachte ich so bei mir. wenn ich worin praktisch gut und sogar theoretisch bewandert bin, dann ist das doch die prokrastination. gut, bis auf drei­fachkühlungen bei glasbongs vielleicht …

zumindest ist so ein lückenfüller eine einfache möglichkeit, meinen nicht­studentischen fuss weiter in die redak­tions­tür zu bekommen. eine seite schrei­ben über prokrastination also …

moment, wieviel ist denn eine seite eigentlich? so in zeichen? fünf- bis sechstausend also, aha. das klingt doch bloss so viel und ausserdem hab ich ja noch zehntausendachthundertundsieben­undfünfzig minuten bis redaktions­schluss. relativ gesehen scheint die zeit aus­nahmsweise wohl mal auf meiner seite, schliesslich hab ich kaum was zu tun. grrr … das schachproblem muss ja auch noch durchdacht werden. nein, jetzt wird sich erstmal um die prokrastination geküm­mert! diesmal bau ich denen einen artikel, der sich gewaschen hat. der nur so strotzt vor intellektuellem ausdruck und inhalt­licher masse. und diesmal aber straight ahead, nicht wieder bis zum schluss aufschieben.

gleich nochmal bei wikipedia schaun, mhhh… ist ja nicht soo pralle info da. theory of constraints? was’n das? ahh, verstehe: „theorie der sachzwänge, auch engpasstheorie, oder blockadentheorie […]“. jaja, die systemtheorie – fand ich schon immer spannend, gleich mal gucken: „es hat sich heute jedoch eine relativ stabile reihe an begriffen und theoremen herausgebildet, auf die der systemtheoretische diskurs rekurriert.“ och nee, so genau will ich’s gar nicht wissen. da könnt’ ich ja gleich cee ieh lesen. obwohl … jetzt wo angeblich die redaktion gewechselt hat, dürften die texte doch um einiges poppiger ausfallen. aber ich schweife ab, konzentration! ist ja kein wunder, bei der musik. erstmal was chilligeres raussuchen … mensch, die kiste mit den klassik-platten ist aber auch was durcheinander. besser ich sortier die gleich mal …

puh, zurück an’s werk, mal’n open office-dokument aufmachen. überschrift? hmm … schreib ich halt erstmal prokrastination. wird praktischerweise gleich der datei­name. hihi, clever das. ok, nun zum inhalt. was macht die prokrastination denn eigentlich aus? woher kommt sie, wohin führt sie und warum zum geier ist sie in unserer leistungs­gesellschaft noch nicht verboten? nochmal nachlesen würd’ ich sagen. mann-o-mann, wenn ich fertig bin, dann kopier ich lieber meinen eigenen artikel in die wikipedia. das niveau da hält ja keine/r aus. och… so’n zitat könnte ich aber auch einbauen. apropos zitat! ein bild brauche ich natürlich. im bilder googlen war ich schon immer gut. nein, stop: für die bildersuche ist yahoo! doch besser geeignet. bloss warum eigentlich? steht doch bestimmt was zum such- und find­algo­rhythmus bei wikipedia …

„googles bildsuche verwendet wörter im dateinamen sowie in html-dokumenten […].“ na und was soll mir das jetzt sagen? yahoo! hingegen hat doch flickr gekauft, das macht sich echt bemerkbar. moment: ich wollte doch mal scroogle ausprobieren, das soll ja die datenerhebung, werbung und so von google umgehen können. nach was wollt ich eigentlich suchen? ach ja, der fa!-artikel, mist. aber so langsam sollte ich auch mal ernsthaft damit anfangen.

verdammt! bewerbungen muss ich ja auch noch schreiben. hach, immer alles mit einmal! die scheiss engpasstheorie wird noch zur praxis. naja, ich such jetzt einfach schnell ein bild und dann ist der inhalt­liche aufbau dran. naja gleich, erst noch bei indymedia gucken, ob jetzt endlich was von der spontandemo vorhin drin steht. scheint wohl nicht so … dafür gab’s in lippstadt ne veranstaltung zu den g8-protesten. ahh ja. nu aber an die arbeit. na gucke mal: fight procrastination day am sechsten september? was sich die industrie nicht alles einfallen lässt, um die arbeits­moral des proletariats zu kräftigen. moment mal: am dreissigsten dezember ist procrastination day in kanada? ohne fight? das klingt doch gleich viel sympathischer. ist sicher sowas wie der erste mai in leipzig, bloss ohne sonne. und ohne nasen natürlich auch.

och mensch, irgendwie find ich grad kein bild. doch besser auf später verschieben. da kann ich auch viel lockerer rangehen, wenn ich so dreitausend zeichen inhalt­liches hab. das leite ich dann einfach ein und wieder aus und komme locker auf fünftausend. wieviel zeichen hat eigentlich prokrastination? fünfzehn, wow! wenn ich viele solcher fremdwörter benutze und eventuelle zahlen einfach ausschreibe, spar ich mir doch die halbe arbeit. ja clever muss mensch sein in solchen zeiten, in denen schon das anfangen so schwer fällt. jetzt aber …

ob ich überhaupt noch gross strukturieren sollte? sind immerhin nur noch achtzehn stunden bis redaktionsschluss. besser ich schreib einfach mal drauf los, dran feilen kann ich später schliesslich immer noch. und los: prokrastination ist … arrgh, konzentriere dich! wie denn nur anfangen, verdammt? so langsam muss ich mal in die puschen kommen. inspiration heisst das zauberwort, das mich aus dem sumpf der erfolglosigkeit reissen könnte. nur schon wieder keine muse in sicht. ich probier’s einfach mal mit ein wenig riotporn gucken …

ist auf dauer auch langweilig. verdammt, ich hab einfach kein bock! aber soll ich denn schon wieder absagen? hab ich überhaupt noch glaubwürdige ausreden übrig? dann aber die vielen enttäuschten gesichter meiner potentiellen leser/innen, wenn sie wieder nur linke pseudokultur und trockene anarchotheorie in den händen halten. also was jetzt? schreib ich noch oder lass ich’s einfach sein? kack internetzeitalter, da wird mensch aber auch nur abgelenkt! vom leistungsdruck ja ganz zu schweigen …

vielleicht lass ich den ganzen recherche- und erklärungskack einfach mal beiseite und schreibe nur mit meinen eigenen worten was das lustige wörtchen pro­krastination mit leben füllt. wenn ich vor lauter prokrastinieren wirklich noch dazu kommen sollte, wohlgemerkt!

(roy bush)

*for further information please check your local wikipedia or www.prokrastination.net

Rechte und Recht

Wer will, kann es im Grundgesetz nachlesen: die BRD ist ein Rechtsstaat, mit Gewalten­tei­lung, unabhängiger Justiz und Gleichheit vor dem Gesetz. Soweit die Theorie. In der Pra­xis aber scheinen manche gleicher als an­dere zu sein: Seit Wochen geistern Meldungen durch die Presse, es hätte in den 90er Jahren in Sachsen Vorfälle von ver­suchtem Mord, Be­stechung und „Prosti­tutions­service“ für Po­li­tiker gegeben. Dies hätte nie an die Öffent­lich­keit gelangen sollen, denn die Ermitt­lun­gen wurden vom Verfassungsschutz betrie­ben, der dazu nicht befugt ist. Rasch folgten Kon­se­quenzen: der zuständige Chef bei der Ver­fassungsaufsicht wurde entlassen. Die ge­sam­melten Akten­berge wurden ein Jahr lang von einem parlamentarischen Ausschuss ge­sich­tet und danach ver­nichtet… In die Vorfäl­le sollen viele verstrickt sein: Politik, Justiz und Ver­waltung; damit etwas zu tun gehabt ha­ben will keiner und so genau wollen es die Meisten wohl auch nicht wissen.

Um­so genauer wussten Medien und Polizei da­für schon im Vorfeld des G8-Gipfels, dass sie es mit Schwer­verbrechern zu tun haben, ge­gen die auch ohne Beweise vorgegangen wer­den kann und wurde. Aus Seifen­blasen­schaum wurde Säure, aus Anti-Kriegs-Reden Ge­walt­aufrufe. Wochen vorher wurden Woh­n­ungen und linke Projekte durchsucht, Briefe ab­gefangen und geöffnet – auf Verdacht… Wäh­rend des G8-Gipfels selbst wurde die Rei­se- und Versammlungs­freiheit ein­ge­schränkt, die Bundeswehr im Inneren einge­setzt, Men­schen wegen ihrer Anwesenheit an­ge­griffen, festgenommen und misshandelt. Die Ver­hafteten erhielten einen Vorge­schmack auf Zustände in anderen Ländern: sie verbrachten die Zeit einge­pfercht in Kä­fige, ohne medizinische und andere Versor­gung, dafür mit Dauer­be­leuchtung und-Über­wachung. Für sie galt die Gewalten­tei­lung nicht: von der Polizei gestellte Richter ent­schieden ohne Anwälte. Der geschaffene re­­pressive Raum wird von den staatlichen Be­hör­den fleißig genutzt: in der Woche nach dem Gipfel wurden erneut Wohnungen und Pro­jekte durchsucht. Man vermutet dort ter­rori­stische Vereinigungen, finden wird man wohl anderes…Ein Schelm, wer da an poli­tisch motivierte Rechts­auslegung denkt…

(hannah)