Archiv der Kategorie: Feierabend! #05

Leipzig & St. Pauli

Tapferes Leipzig. Das ist ja wie 1989 – kurz vor dem Umsturz. Die BürgerInnen der Heldenstadt schreien sich mal wieder auf emotionsgeladenen Diskussionsveranstaltungen ihre Wut aus dem Wanst und müssen von der Polizei bewacht werden, StudentInnen erheben sich gegen die Willkür der Landesregierung und fordern den Rücktritt von Wirtschaftsminister Rößler. Magnifizenz Bigl ist schon zurückgetreten und wird jetzt zur Ikone des Widerstands. Schade, dass es dabei nur um den (Nicht-)Wiederaufbau der 1968 von der Ulbricht-Regierung gesprengten Paulinerkirchenaula der Uni geht.

Die Sprengung der Kirche im Rahmen der „Sozialistischen Neugestaltung“ des Leipziger Stadtbildes, war eine stumpfe Machtdemonstration einer von Paranoia und Menschenverachtung besessenen Altmännerclique (1), bei der für Leipzig historisch einmalige Bausubstanz verloren ging. Ein Wiederaufbau würde dies, nach Meinung eines Großteils der an der Diskussion beteiligten, nicht ungeschehen machen und wäre nur ein Prestigeobjekt für gewisse Leute „da oben“. Wo aber sind diese jetzt so engagiert Protestierenden jedesmal, wenn ein (Um-)Bauvorhaben nach dem anderen mit mehr als fragwürdigem Sinn in, um und bald auch unter Leipzig beginnt? Prestigeobjekte, welche oft wirklich von ihren Steuergeldern und nicht durch Spenden finanziert werden und bei denen noch viel weniger nach deren Meinung gefragt wird.

Die einen wollen eine moderne, funktionale und für den härter werdenden „Bildungswettbewerb“ gerüstete Uni und die anderen einen teuren Original Wiederaufbau der Paulineraula. Beide Varianten schließen einander angeblich aus. Wer die Kirchenkopie ablehnt, ist noch lange keinE BefürworterIn der Sprengung. Aber sind, deshalb vielleicht auch nicht alle, die noch ein Fünkchen Empfinden für Ästhetik haben und das Aussehen der neuen Uni/des Augustusplatzes und ihren guten Geschmack nicht nur der Funktionalität und dem Leistungsprinzip unterordnen wollen, gleich CDU-WählerInnen, Ewiggestrige, religiöse Eiferer o.ä.?

Man könne keiften ersten Platz vergeben, druckste man im letzten Jahr herum, als es um die Bewertung der 27 in die Endauswahl gekommenen Entwürfe für die Neugestaltung der Uni ging, was eigentlich schon an sich Bände über die Qualität dieser „Vordiplomarbeiten überforderter Architekturstudenten“ (FAZ) sprechen sollte. Sehr viele Bürgerinnen äußerten sich da offener, man könne sich maximal ein paar interessante Elemente aus mehreren Entwürfen kombiniert vorstellen, sähe aber ansonsten keine großen Veränderungen zu Ulbrichts Kasten.

Betrachtet man nun den nach „Konzeptqualifizierung“ favorisierten modernen Entwurf von Behet & Bondzio in der Computersimulation, kommt einem dann wirklich das kalte Grausen, wenn man realisiert, dass dieser Neubau vollendet, was selbst Ulbrichts ideologisch gelenkte Stadtplaner nicht gewagt haben: Der Eingang der Grimmaischen Straße wird wieder auf seine mittelalterliche Enge reduziert, das Uni-Gebäude überragt das Kroch-Hochhaus und wird so in seiner dicht an dieses grenzenden Kastenform zum ästhetischen Overkill dieser Seite des Augustusplatzes.

Wer Ideen wie diese abliefert bzw. deren Umsetzung ernsthaft in Erwägung zieht, treibt zwangsläufig immer ins Lager der NostalgikerInnen. Lieber eine Kopie der Paulinerkirche und das Rad der Geschichte zurückdrehen, sagen sich da sicher manche, als einen noch größeren Schuhkarton, der auch noch die Freifläche in der Grimmaischen Straße verschlingt (2).

Liegt das Problem dann nicht eher beim Mangel an guten, auch unter ästhetischen Gesichtspunkten vertretbaren Ideen, die eventuell einfach nur i(n eine)m verwandten Baustil (3) an die Paulinerkirche erinnern? Im Vergleich zu Behet & Bondzio’s Entwurf kommt dem bis jetzt leider nur die Idee einer originalgetreu wiederaufgebauten Paulinerkirche nahe und bleibt bis dahin der einzige auch optisch ansprechende Vorschlag.

mirek

Weiteres zum Thema im Internet:
www.uni-leipzig.de/-unineu/journal/0205/ 0205campussieger.html
www.uni-leipzig.de/campus2009/index2.html
www.paulinerverein.de
www.paulinerkirche.de
(1) Sicher hat hierbei auch die Verarbeitung gewisser traumatisch nachwirkender Kindheitserlebnisse, des ja aus Leipzig stammenden W. Ulbricht, eine Rolle gespielt.
(2) Im Zusammenhang mit der geplanten engen Bebauung der Grimmaischen Straße, ist sicher auch die Frage nach dem Sinn eines neuen „Café Felsche“ zu stellen, welches sicher auch nur irgendwelche Vorkriegs-Sentimentalitäten bedienen soll und dessen Platz der Uni sicher besser zugute käme.
(3) Hierbei wäre sicher zu klären, welche der verschiedenen Formen die St. Pauli im Laufe seiner 700jährigen Geschichte hatte, hierfür in Frage kämen. Eine Frage, um die auch der Paulinerverein nicht herumkommen wird, sollten sich wirklich die „So-Original-Wie-Möglich“-BefürworterInnen durchsetzen.

Lokales

Hänschen-klein, Jägerlein, lass das Schießen endlich sein!

Schon mal gefragt, warum der Militarismus wie ein Schatten durch unsere sozialen Netzwerke wandelt? Sind die Artefakte des Schrotthändlers wirklich so unwiderstehlich oder ist die Jugend einfach unfähig, vom Alter zu lernen? Stichwort: Traditionspflege. Frage: Wenn sich jährlich zu Pfingsten Reservisten aus Reichswehr, Wehrmacht und Bundeswehr im bayrischen Mittenwald versammeln, um über die guten alten Zeiten zu plaudern, ist …? Ist das das Treffen des „Kameradenkreises der Gebirgstruppe“ (KdG), zu dem immerhin mehrere tausend junge und alte Militaris pilgern. Um bei Tee und Kuchen gemeinsame Tradition zu pflegen. Kultobjekt: Im Allgemeinen die Gebirgsarmee und im Besonderen die 49. Gebirgsarmee der Wehrmacht. Die hat zwar ’ne Menge Dreck am Stecken, aber wen interessiert´s? Hauptsache die Waffen glänzen, das Hemd sitzt gerade und die Orden blinken. Ausflüge gibt´s auch: Zum Beispiel mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Dann pilgert mann über die alten Kriegspfade, sammelt hier und da ein paar Knochen toter Kameraden und summt die ewig gleichen Lieder … Ich hör ja schon auf. Wehret dem Schatten!

Was tut der Staat? Ermitteln.

Der Arbeitskreis „angreifbare Traditionspflege“? Zum diesjährigen Treffen am 7. u. 8. Juni Aktionen, Demonstration und Hearings veranstalten, wobei auch Vertreter des griechischen Nationalrats der Opferverbände und Militärhistoriker mitwirken sollen.

Und Du?

Noch ein Tipp: über angreifbare.tradition@freenet.de findest Du Genaueres zu Terminen, Treffpunkten. Ideen und Aktionen. Siehe auch: www.linkeseite.de/Texte/antifatexte/1444.htm

Aktion

Editorial FA! #5

Es ist gar nicht so einfach in diesen „bewegten Zeiten“ mit einem 1-1/2-Monatsheft wirklich auf dem aktuellen Stand der Dinge herauszukommen. Wer weiß, wie die Welt schon wieder aussieht, wenn unsere gutgläubigen ZeitungsverteilerInnen dieses Heft in die Läden bringen: Der Kampf um die Entmachtung der Schnauzbärte ist endgültig losgebrochen, die „Ulbricht-Uni“ wurde von Fanatikerinnen über Nacht gesprengt, Feierabend!-RedakteurInnen werden massenweise zur Leiharbeit bei Leipziger Volkszeitung und Kreuzer verpflichtet…

Trotz unseres Titelbildes, was sich ehrlich gesagt einfach nur aufgrund des Blickfanges angeboten hat, ist der Paulinerkirchen-Zoff nicht unser Schwerpunkt. Dafür ist uns das Thema dann doch nicht wichtig genug und das Niveau der geführten Debatten zu peinlich. Ganz der Stimme enthalten werden wir uns allerdings trotzdem nicht.

Auch der sich, bei oberflächlicher Betrachtung, aufdrängende Zusammenhang der Begriffe NOlympia, B.A.F.F. und St. Pauli – der sich als diffuser roter Faden durch diese Ausgabe zieht – konnte uns nicht zur Konstruktion eines SPORT-Schwerpunktes bewegen. Um uns nicht auf Krampf ein Hauptaugenmerk aufzuhalsen, präsentieren wir deshalb lieber eine um so breitere Palette an Themen.

Die VS des (1-1/2-)Monats ist Heidruns APOTHEKE AM ZOO. Zwar ist sie erst mit dem letzten Heft hinzugekommen, durch den dramatischen Umfang der Chefin im fortgeschrittenen Vermehrungsstadium sahen wir uns hier jedoch zu schnellem Handeln veranlasst. Man bedenke: um so näher die Zeit für #6 dieses Heftes schon wieder heran sein wird, um so wahrscheinlicher ist, dass Heidrun nun erst recht keine Zeit mehr hat um müßig vor ihrer Apotheke herumzuposieren. Wir wünschen jedenfalls fröhliche Niederkunft.

Die Feierabend!-Redax

Kapitalismus / Im Prinzip / Ohne Klassen

Im letzten Feierabend! wurde ein Artikel über Klassen („Wieder – immer noch weben“) veröffentlicht, der mich zu einer Erwiderung reizte. Schließlich hat eine Rubrik wie Theorie & Praxis auch viel mit Diskussion zu tun.

 

Um kurz zu rekapitulieren: Der genannte Artikel kam zu der Feststellung, dass sowohl die Einteilung in Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen hinfällig wird, aber über die Stellung im Produktionsprozess als „reine“ (abstrakte) Klassen bestimmbar seien. Im Folgenden meine Sicht der Dinge. die die Sinnhaftigkeit der Klassenanalyse an sich in Frage stellt. Ich denke, dass nicht die Klassen Basis politischen Analysierens und Handelns sein können, sondern die kapitalistischen Prinzipien, auf die ich dann noch näher eingehe, sinnvolle Grundlage sind. (Dieser Artikel ist auch ohne Kenntnis des Artikels in Ausgabe #4 verständlich. Dieser befindet sich für die, die es genauer wissen wollen, hier.)

Ich stimme zu, dass beim Übergang von der Feudal- in die kapitalistische Gesellschaft, die Klasseneinteilung weitergegeben wurde, da sie zum Einen sozialisiert und normal war und zum Anderen natürlich nur derjenige investieren kann, der nach dem Erhalt des eigenen Lebens, noch Geld zum investieren übrig hat, und mensch natürlich nie aus dem Dreck rauskommt, wenn der Arbeitslohn gerade mal so reicht, sich und die Angehörigen über Wasser zu halten.

Wichtiger Aspekt dieses Übergangs ist, dass die Arbeit erst einmal anerzogen werden musste. Viele Menschen zogen mangels Perspektive im ländlichen Raum in die Städte oder wurden, wenn sie keine Lust hatten ihr Land mit der Fabrik zu tauschen, auch mal gewaltsam von dort in die Fabriken getrieben. Es wurden Arbeitshäuser eingerichtet, in denen sie lernen mussten, dass Arbeit nichts mit ihren eigenen Bedürfnissen zu tun hat.

So gab es Menschen, die keinen Besitz hatten und nichts als ihre Arbeitskraft zum Verkauf anbieten konnten und Menschen, denen Fabriken, Handelskompagnien etc. gehörten, die durch die zunehmende Industrialisierung und die Ausbeutung der Kolonien an Geld und Einfluss gewannen. Wenn mensch sich das Massenelend in dieser Zeit anschaut, dann bot es sich an, die kapitalistische Gesellschaft am besten durch den Klassenbegriff, oder gar durch den Klassenantagonismus zu erklären. Dieses Verständnis blieb auch für Generationen von Linken, ob mit dem Selbstverständnis als Kommunisten, Anarchisten oder Autonome (man verzeihe mir die argumentationsbedingte Vereinfachung) dominantes Erklärungsmodell.

Karl Marx hat in seinem Werk sowohl Klassenpositionen vertreten, wie auch die Grundlage für die Analyse der kapitalistischen Ökonomie gelegt. Er hat sozusagen hinter die Klassengesellschaft geschaut und zentrale Kategorien der kapitalistischen Produktionsweise, wie Wert, Warenfetisch und Kapitalakkumulation erforscht. Daraus ist auch eine eigene neomarxistische Theorieströmung hervorgegangen: die Wertkritik. Ich werde nicht wertkritisch, sondern mit eigenen Begriffen argumentieren.

Bei der Analyse kapitalistischer Vergesellschaftung fallen bestimmte Grundprinzipien ins Auge: die permanente Gewinnmaximierung als Selbstzweck, das betriebswirtschaftliche Denken, die Expansionsbestrebungen, bewusstloses Wachstum um jeden Preis, die Teilung in Arbeit und Freizeit zur Reproduktion, um den nächsten Arbeitstag (des Arbeiters wie Managers) ertragen zu können. Ganz wichtig ist der Prozess, der immer weitere gesellschaftliche und geographische Bereiche der kapitalistischen Logik unterzieht. Diese Logik umfasst, neben dem oben genanntem, den Druck der Selektion auf den Einzelnen, sich auf sich selbst gestellt in der Konkurrenz zu behaupten. Dies übt einen immensen Druck aus, Leistung zu erbringen.

Arbeit

Unter Arbeit verstehe ich eine durchrationalisierte, von den eigenen Bedürfnissen und Sehnsüchten entfremdete menschliche Tätigkeit. Es ist sinnvoll hier nicht den Begriff der Lohnarbeit zu verwenden, da die Entfremdung nicht nur auf die klassischen Arbeiter zutrifft. Nebenbei gesagt, macht die Gleichsetzung von Arbeit und Lohnarbeit nur dann Sinn, wenn mensch die Entfremdung auf die Lohnarbeitenden beschränkt und zum Beispiel die ganze Schar der Selbständigen ausschließt.

Dadurch werden den die Posten verteilt und die Hierarchien ermittelt. Diese Prinzipien sind die Basis für Einkommens- und Statusverteilung in der kapitalistischen Ökonomie mit ihrer bürgerlichen Gesellschaft.

Im 18./19. und 20. Jahrhundert brachten diese Prinzipien Klassen hervor bzw. übertrugen sich die Klassen der Feudalgesellschaft auf die entstehende kapitalistische Ordnung. Heutzutage bräuchte es einige Verrenkungen mit Klassen zu operieren.

Meines Erachtens ist es nicht möglich theoretische Klassen aufzumachen. Ich verstehe unter Klassen gesellschaftliche Bereiche in denen sich die Lebensbedingungen der Menschen so unterscheiden, dass sie in sich geschlossen bzw. nur mit wenigen Übergängen versehen sind. Von Klassen zu reden, hat nur Sinn, wenn sie gesellschaftlich auszumachen sind. Der Kapitalismus basiert nicht auf Klassen, sondern er kann Klassen hervorbringen.

Eine Klasse bedeutet annähernd gleiche soziale Lebenslagen, die ähnliche Interessen hervorbringen und auch als Klassenbewusstsein bezeichnet werden können. Dieses lässt sich nicht fordern, es ist da oder nicht. Die An- oder Abwesenheit eines solchen Bewusstseins ist Indikator für die Existenz von Klassen. Da hilft es auch nicht vorzurechnen, dass es besser wäre eins zu haben.

Auch der Organisierungsgrad der Arbeiter in Gewerkschaften ist ein Indikator. Während es Zeiten gab, in denen es eine schlagkräftige reformorientierte und eine relativ starke revolutionäre Arbeiterbewegung gab, ist der DGB heutzutage in der permanenten Krise, weil sich die Lebens- und Interessenlagen dermaßen stark ausdifferenziert haben, dass sich der DGB in der Gefahr sieht, seine Legitimität zu verlieren. Die einzige, sich noch revolutionär nennende anarchosyndikalistische Freie ArbeiterInnen-Union, scheint hoffnungslos marginalisiert. Dies liegt meines Erachtens unter Anderem an ihrer Unfähigkeit gesellschaftliche Veränderungen aufzugreifen, der Slogan „No War but Class War“ (Kein Krieg aber Klassenkrieg) auf einer Friedensdemonstration in Münster macht es deutlich. Diese Unflexibilität ist umso trauriger, da eine basisdemokratische Gewerkschaft für den Weg in eine selbstorganisierte Gesellschaft wünschenswert wäre. Eine Gewerkschaft, in der sich Menschen anhand ihrer sie prägenden Funktionen organisieren, um sich von diesen zu emanzipieren.

Der Wegfall der Klassen und seines Begriffsinstrumentariums ist kein Verlust, er öffnet den Blick auf die grundlegenden Prinzipien des Kapitalismus, in dem alles zur Ware und vermarktet wird, ob Mensch, Tier, Nahrung oder Lebensweisen, in dem die Menschen Humankapital sind, die sich auf dem Arbeitsmarkt selbst und möglichst gewinnbringend verwerten lassen sollen (dies wird anhand der Ich-AG besonders deutlich), in dem die Unternehmer der Marktkonkurrenz unterworfen sind und rationalisieren, entlassen und Produktionsstätten und Filialen schließen müssen, um nicht unterzugehen.

Dies damit zu erklären, „dass es schließlich Menschen mit Bewusstsein und Interesse sind, die derlei Prozesse tragen“, scheint mir zu kurz gegriffen, sind Bewusstsein und Interesse doch nicht einfach so aus dem Nichts da, sondern entstehen durch das lebenslange Wechselspiel von Sozialisation und Zwang. Um dies zu veranschaulichen: Die Konkurrenz ist bereits in den Schulnoten sichtbar, der Leistungsdruck setzt ein, weil diese Noten über die Versetzung entscheiden und die Eltern Druck ausüben, damit das Kind diese Versetzung schafft. In der Universität wird geübt, die Zwänge von Studien- und Prüfungsordnung weitestgehend freiwillig zu erfüllen um die Selektion durch Scheine und Prüfungen zu überstehen. Nach einer solchen 20jährigen Rosskur ist das bürgerliche Individuum bereit für den Arbeitsmarkt, bereit so zu funktionieren wie es das gelernt und im eigenen Umfeld erlebt hat. Wenn nicht, muss mensch sich Nischen suchen, sei es im negativen Fall das Obdachlosenheim und die Parkbank, oder im positiven Fall, eine Künstlernische, das Vagabundieren um die Welt oder einen sozialen Bereich, in dem sie oder er mit geringen Lebenshaltungskosten weniger mit Zwängen belastet ist.

Dass Menschen, die arbeiten wollen, in eine Sinnkrise stürzen, wenn sie niemand haben will, ist dem Arbeitsethos geschuldet, der dem Leben ohne Arbeit den Sinn abspricht. Dass nicht genügend Arbeit für alle da ist, liegt daran, dass sie nicht gebraucht wird. Trotzdem werden die Menschen bestraft, die keine Arbeit bekommen oder keine wollen, denn was würde passieren, wenn die Menschen sich von den kapitalistischen Prinzipien emanzipieren würden? Was würde passieren, wenn Manager oder Bauarbeiterin, Arbeitslose oder Künstler, Studentin oder Professor sagen würden: „Kein Bock mehr, mich permanent zu verbiegen und Zwängen unterzuordnen, die mich kaputt machen. Ich möchte mein Leben selbst bestimmen!“

kater francis murr

Mobile Wagentage in Leipzig vom 13.-16.03. 2003

Nachdem die Ex-Windscheid-Leute nun knapp ein Jahr Ruhe hatten, könnte es jetzt wieder stressig werden. Die Stadt will die Leute an die Raschwitzer Straße schicken – idyllisch unter Hochspannungsleitungen, zwischen S-Bahn, B2 & Umspannwerk. Ein paar Leute sind erst mal auf dem Gelände des Künstlerprojektes BIMBO TOWN untergekommen: Bisher hat sich das Ordnungsamt dort nur aufs Fotos sammeln beschränkt. Allerdings ist dies auch nur eine Übergangslösung.

Um auf diese für sie unerträgliche Situation aufmerksam zu machen, haben die Leipziger Wagenleute beschlossen vom 13.-16.03. die Wagentage in Leipzig auszurichten. Die Wagentage sind ein halbjährliches Treffen von Leuten, die in zu Wohnzwecken umgebauten Bauwägen, LKWs u.ä. wohnen und das jedes mal in anderen Stadt stattfindet. Für Futter, Barbetrieb, Unterhaltung etc. wird natürlich gesorgt. Treffpunkt ist das BIMBO TOWN in der Fockestr. 80 (B6 Abfahrt Connewitz, R.-Lehmann-Straße). Achtet bitte darauf nur mit polizeikontrollenresistenten Fahrzeugen anzureisen und lasst den Wuffi auch mal wieder zu Hause!

Einer der Hauptevents wird die am 15. 03. 03 stattfindende Demonstration sein. Weitere Infos folgen!

Lokales

Never stop dreaming

Eine „Fragestunde“ mit der Friedensbewegung

Eins vorneweg, ich werde das was ich Ihnen sage, nicht danach, entscheiden, was Sie hören wollen. Viel zu sehr beschneidet sich die Linke in ihren Möglichkeiten, wenn sie sich auf die Masse fixiert oder in einen linken aktivistischen Agitationspopulismus verfällt. Die Friedensdemo in Leipzig ist ein bestes Beispiel für Massenfixierung. Hauptsache es sind viele, da steigen die Teilnehmerzahlen in schwindelnde Höhen, erst zehn dann zwanzig dann dreißig- oder gar vierzigtausend und der Sprecher am Mikro bekommt fast einen Orgasmus, bei soviel an Masse vor seinen Füßen. (1)

Nachdem die Massen dann alle auf dem Augustusplatz versammelt waren, redeten attac, eine Ärzteorganisation und Sportler für den Frieden. Die Hauptfrage lautete: Warum sind wir hier? Der attac-Redner wusste das, denn zehntausende sind hier in Leipzig, weil woanders auch Zehntausende sind. Und noch besser, Millionen waren in Berlin und Rom und Paris und London weil sie wussten, dass auf anderen Kontinenten ebenfalls Millionen auf die Straße gingen. Halten Sie diese Argumentation auch für ausgemachten Blödsinn? Gehen Sie zur Demo um bei ´ner Demo mitzulatschen? Oder gehen sie aus inhaltlichen, ja aus politischen Gründen raus und zeigen ihre Meinung? Dazu später mehr.

Jetzt halten Sie sich erst mal fest: Der attac-Redner musste noch eine Frage stellen und die war so brisant, dass er sie gar nicht erst beantwortete: „Denn wer profitiert am Ende vom entfesselten Kapitalismus und den Kriegen?“ Ja wer? Die bösen Amerikaner, die die Weltherrschaft an sich reißen wollen, wie Pinky und Brain? Die transnationalen Konzerne, die die Macht übernehmen? Das Finanzkapital, dass ganze unschuldige Völker in den Abgrund reißt? Oder gar die Juden, die wie 40 % der Bundesbürger meinen, sowieso zu viel Einfluss auf das Weltgeschehen haben? (2)

Wie Sie vielleicht merken, unterstelle ich dem attac-Redner nicht, Antisemit zu sein. Er muss sich jedoch den Vorwurf gefallen lassen, durch seine Offenlassung der Antwort, oben genannten Kurzschlüssen und Ressentiments Vorschub zu leisten.

Dass bei attac nicht alles Gold ist was glänzt, zeigte die attac-Friedenstour mit Julie Fry aus den USA, der Journalistin Yvonne Ridley aus London und Alfonso De Vito, einem Aktivisten der Antiglobalisierungsbewegung aus Neapel, die auch im Januar. in Leipzig gastierte. In München setzte De Vito die Ereignisse im Warschauer Ghetto 1943 und die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila in Beirut im Jahre 1982 gleich. Und Julie Fry bezichtigte Israel des Völkermords und beschwor den heroischen Widerstand des palästinensischen Volkes. Zum unrühmlichen Abschluss erklärte der eingeladene islamische Geistliche Mohammed Herzog bei der letzten Veranstaltung in Berlin: „In 25 Jahren werden wir erfahren, wer die Täter waren. Wenn die Amerikaner ihre Geheimbücher aufschlagen. Es sieht ja fast so aus, als ob Amerika es selbst getan hätte.“ (3)

Doch zurück zur Friedensdemo in Leipzig Warum gehen Sie montags dorthin? Die Ärzteorganisation wusste warum: Weil der zweite Golfkrieg und das Embargo tausende Menschenleben und eine intakte Infrastruktur zerstört hat. Dem stimme ich zu, doch hätte ich mir gewünscht, dass sie auch erwähnt hätten, dass Hussein Lieferungen für sich und seine Familie reserviert hat und in Luxus und ohne Probleme leben konnte, während die Menschen im Irak ums Überleben kämpften und Hussein Giftgas gegen die kurdischen Siedlungen im Norden einsetzte etc.pp.

Die Sportler wussten auch warum sie da waren, dort wo Olympia sein soll, müssen auch Friedensdemos sein. Soweit so unklar? Okay.

Doch warum gehen Sie jeden Montag auf die Straße? Wegen ’89 und den Montagsdemos, die allerorten gehypt, instrumentalisiert und mystifiziert werden? Oder gehen Sie aus Sehnsucht nach Frieden? Erstmal ein guter Grund! Aber warum waren beim Kosovokrieg und Afghanistan-Krieg nicht mehr als 500 Leute auf der Straße und jetzt sind es über 10.000? Weil es diesmal gegen die USA geht und nicht gegen die eigene Regierung? Weil es gut tut, die Staatsgewalt auf der eigenen Seite zu haben? Die Differenz der Teilnehmerzahlen ist gravierend, also kann die Friedenssehnsucht nicht ausschlaggebend sein.

Und fast zum Schluss: Warum ist eine tiefgreifendere kapitalismuskritische Position, die nicht auf Personen oder einzelne Staaten fokussiert, kaum anzutreffen? Warum beschränken sich die meisten mit dem Bild des verrückten Cowboys, der Blut mit Öl tauschen will? Zum Beispiel: Resist Leipzig tragen nach einem Augenzeugenbericht ein Transpi, auf dem eine Tankstelle in Texas der Welt das Öl abzapft. Oder ein Straßentheater, in dem der peitschenschwingende Bush den CIA und MI6 vor sich hertreibt, die wiederum UNO und Völkerrecht in Ketten halten.

Eine Frage hätte ich noch, bevor es für heute genug ist: Warum rennt jemand mit dem Schild „Heil Bush???“ mitten in der Friedensdemo rum und wird nicht wegen zwar verschämter aber nicht desto trotz Gleichsetzung Bushs mit Hitler rausgeschmissen?

Haben Sie sich die Fragen gestellt?

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Stichwort Ich, der Krieg und Frieden

kater francis murr

(1) letzten Endes waren es laut LVZ 18.000 DemonstrantInnen, da die LVZ aber selbst für die Montagsdemos trommelt, ist wohl eher mit weniger zu rechnen.
(2) laut einer Infratest-Umfrage im Oktober 2002 www.juden.de/newsarchiv/dezember 2002/16100202.shtml
(3) mehr auf jungle-world.com/ seiten/2003/06/228.php

…und Frieden