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Definitionssache „Humankapital“

„Unworte bereiten Untaten den Boden.“ Diese Wahrheit meinte Johannes Rau schon zu kennen. Ist es nicht schön zu wissen, wer die Definitionsmacht vertritt?

„Humankapital“ ist zum „Unwort“ des Jahres 2004 gewählt worden. Anlass zur Rüge war die Verwendung des Begriffs in einer offiziellen Erklärung des EU-Parlaments, die damit die „Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie das Wissen, das in Personen verkörpert ist“ betriebswirtschaftlich definiert. Die Wahl legitimiere sich durch den Anspruch, Menschlichkeit im Gebrauch der deutschen Sprache zu bewahren. Der Begriff Humankapital wurde beanstandet, da er „Menschen nur noch zu ökonomisch interessanten Größen degradiere“. Was ist falsch daran?

Die Erkenntnis ist schmerzvoll, doch Humankapital ist ein ehrlicher Begriff, der sachlich angemessen ist. Durch die Wahl zum Unwort wurde dies (wegen einer verkürzten Begriffsdefinition und dem Fehlen des kontextuellen Gebrauchs) jedoch nicht erkannt und passt ins bildungsbürgerliche Denkschema, welches eine differenzierte Erklärung der verschiedenen Bedeutungsebenen zu oft nicht beachtet. Dem Ökonomen sei Humankapital halt ein Wort aus seiner wirtschaftswissen­schaftlichen Fachsprache und gehöre nur dahin – basta.

In der Begründung der Wahl wurde durch die Jury Humankapital mit deren negativen Konnotation verwendet. Es reduziere den Menschen nur auf seinen wirtschaftlichen Wert und sei deshalb erniedrigend. Natürlich ist es das, doch in der Logik des Kapitalismus, der sich nur am Profit orientiert, ist dieser Wert ein positiver Begriff, was natürlich auch von WirtschaftswissenschaftlerInnen behauptet wird und man beurteilt die Un­wortwahl als „zynischen Versuch einer kontraproduktiven Denunziation eines konstruktiven Weges im Personalmana­ge­ment“. In dieser Fachsprache sei Humankapital der Wert eines Menschen im positivem Sinne, indem dieser als Erfolgsfaktor eines Unternehmen betrachtet und nicht nur als Verursacher von Kosten gesehen wird. Jedoch ist nicht die Unwortwahl ein zynisches Urteil sondern diese Art der Argumentation aus der Unternehmensper­spektive, die den Menschen nur auf einen Multiplikator von Kosten und Gewinnen eines Produktionsbe­trie­bes reduziert. Obwohl es zu oft verdrängt wird, sind die Vorgänge in der Wirtschaft weniger von den Interessen der Men­schen als von jenen des Kapitals bestimmt. Die Begriffsverbindung von Mensch und Kapital bestätigt die Überlegenheit des Kapitals, dem sich der Mensch unterzuordnen hat. Aber müssten wir nicht wissen, dass nur die Menschen Wert schaffen können und dass nur wir die Gesellschaft gestalten und nicht ein unnötiges Kapital?

Durch die Unwortwahl beabsichtigen die Sprachkritiker ein Diskussionsangebot zu geben, welches zu mehr sprachkritischer Reflexion anregen soll. Die Wirkung in der medialen Öffentlichkeit war jedoch sehr einseitig, da mehr Wert auf die formale Beschreibung der Unwortaktion, die Vorstellung der Jurymitglieder, sowie den Anlass und die verkürzte Wahlbe­gründung gelegt wurde. Während der Recherche nach der Öffentlichkeit in welcher Humankapital verwendet wird, stößt man auf Erklärungen von politischen Parteien, die mit dem Begriff jonglieren. Es zeigt, dass sich die politische Rhetorik und unternehmensorientierte Praxis stark an der Wirtschaft orientieren und beweist die wirtschaftliche Perspektive bzw. Bewertung des Menschen im Gesetzgebungsprozess.

Neben Boden und Arbeit sei das Kapital in der Volkswirtschaftslehre der dritte Produktionsfaktor und beschreibe die Besitzverhältnisse. Die Vermehrung von Kapital steht im Mittelpunkt dieser Vergesellschaftung, wo menschliche Bedürfnisse fehl am Platz sind und Identitätsbildung oft nur über die Lohnarbeit erfolgt. Doch warum soll ich mich mit Lohnarbeit identifizieren, die mich „beschäftigt“ hält, mich zubildet, in vorgefertigte Formen zwingt und mir keinen Raum zum eigenständigen Denken, Handeln und Gefühle auch auszuleben gibt?

Die Behauptung zu wissen, es gäbe keine Alternative, ist doch nur eine feige Ausrede, nicht danach zu suchen. Die Verbindung des Kapitalbegriffs mit dem Menschen vernebelt in seiner ökonomischen Definitionsrhetorik die herrschenden und kapitalbedingten Unterdrückungsmecha­nismen. Humankapital birgt eine alte Wahrheit, die es auszusprechen gilt, um sie verändern zu können.

droff

Grundsätze der Wahl zum „Unwort des Jahres“

„Die Aktion ‚Unwort des Jahres’ will für mehr sachliche Angemessenheit und Humanität im öffentlichen Sprachgebrauch werben. … Die Rügen verstehen sich in erster Linie als Anregung zu mehr sprachkritischer Reflexion. Eine Zensurabsicht liegt der Aktion fern. … Jeder Bürger und jede Bürgerin kann Vorschläge machen.“ Sprachwissenschaftler- und VertreterInnen der öffentlichen Sprachpraxis bilden die Jury, die alle Vorschläge in einer „groben Vorsortierung“ in die Kriterien der Unwortwahl, „aktuell“, „sachlich grob unangemessen“, „inhuman“, einteilen. Letztendlich erfolgt die Entscheidung „ausschließlich nach inhaltlichen Kriterien“.

(Quelle: www.unwortdesjahres.org/satzung.htm)

Unschöne und unerwünschte Wörter

1991 Ausländerfrei

1992 Ethnische Säuberung

1993 Überfremdung

1994 Peanuts

1995 Diätenanpassung

1996 Rentnerschwemme

1997 Wohlstandsmüll

1998 Sozialverträgliches Frühableben

1999 Kollateralschaden

2000 national befreite Zone

2001 Gotteskrieger

2002 Ich-AG

2003 Tätervolk

2004 Humankapital

über´n Tellerrand

Vom Ende der Arbeit

Ein kurzes Plädoyer gegen die Leistungsmoral

Im Superwahljahr 2009 werden wir es wieder bis zum Erbrechen ertragen müssen, das Loblied auf die Heilige Arbeit. Parteiideologen aller Fraktionen vereinigen sich zu einer plärrenden Kakophonie mit einer einzigen Botschaft: Arbeite, Mensch! Es ist kaum zu glauben, wie einig sich doch die angeblich so zerstrit­te­nen Parteien des deutschen Parlamentarismus von NPD über CDU bis SPD und LINKE in diesem Punkt sind. Wie besessen starren sie auf das nationale, volkswirtschaftliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bzw. die Steuererträge und säuseln fortwährend: Mehr, mehr, mehr! Ganz so, als wäre der größte Segen der modernen technischen Revolutionen die knechtische Abhängigkeit und nicht die freiwillige Unabhängigkeit von der Arbeit. Dem armen Proleten ist eine zweite Natter an den Lohn­beutel gesprungen. Neben den Chefs und Verwaltern der Kapitalerträge schwingt nun auch der Staat seine Peitsche über den arbeitenden Massen und treibt sie beständig zu noch mehr Leistung an. Dabei haben Milliarden von Händen und Geistern in weniger als zwei Jahrhunderten mehr Wunderwerke und unvorstellbaren Luxus geschaffen, als jemals zuvor, hat die rationale Arbeitsteilung und technische Innova­tion das Quantum der nötigen Arbeit fortwährend minimiert.

Es liegt daran, dass viele Politiker Europa lieber als Sündenbock missbrauchen, anstatt sich dem Grundproblem zu stellen: Die Arbeit verschwindet. Das will kein Politiker seinen Wählern erzählen.“ – Jeremy Rifkin (1)

Doch anstatt dererlei Errungenschaften unserer Eltern und Älteren sinnvoll einzusetzen und zweckmäßig zu nutzen, nachhaltig mit unseren natürlichen Voraussetzungen und Ressourcen umzugehen, proklamieren die politischen Parteien eine verschwenderische Ver­brauchskultur, um möglichst viele Menschen, oh Segen, möglichst lange in lohnabhängiger Arbeit zu halten. Aber würde nicht JedeR gerne weniger arbeiten, wenn die Arbeitszeit nicht gleichzeitig die Höhe des Lohnes bemessen würde? Doch anstatt bspw. für den 4-Stunden-Tag und vernünftige Löhne zu kämpfen, können sich die Herren und Damen in der EU nicht einmal auf eine maximale Arbeitszeit von 65 Stunden pro Wo­­che einigen. Ein Grund mehr, keiner/m dieser Fa­na­ti­kerIn­nen der Arbeit eine Stimme zu geben. Offensichtlich ist denen die Arbeit derart zum Selbstzweck geraten, dass sie wie der dümmste Bauer ernsthaft glauben, dass man die Saatkartoffeln selbst und nicht deren Früchte ernten könnte. Und der Zweck dieser Art von ständiger „Mehrarbeit“ steht tatsächlich in Frage, wenn er nur zur Entschuldung der staatlichen Budgets und zur Rückversicherung riskanter Finanzspekulationen nutzt. Noch dazu wenn die Formen der kapitalistischen Lohnarbeit die Menschen zu­einander isolieren, demütigen, erniedrigen und ihre natürlichen Kräfte ohne Regene­rationszeit verheizen. Ganz zu schweigen von dem zügellosen Raubbau an den Ressourcen unseres Planeten. Was wir dagegen brauchen sind qualitative Veränderung in den Arbeits- und den daran gekoppelten Lebensverhältnissen anstelle von rein quantitativem Wachstum, dessen Verteilung obendrein nach wie vor unfair und ungerecht verläuft. Unter solchen Bedingungen den Arbeitswahn noch anzuheizen, ist nicht nur dumm sondern auch grob fahrlässig gegenüber unseren Kindern und Kindeskindern. Ja wozu arbeiten wir überhaupt, wenn die Werte, die wir erschaffen, nicht mal mehr unsere Kinder erreichen? Der Zweck der Arbeit, also das Ziel, welches wir mittels der Arbeit anvisieren, scheint uns in der kapitalistischen Arbeitswelt völlig entraten zu sein. Stattdessen arbeiten wir, um Geld zu verdienen: Hauptsächlich für die ohnehin Ultrareichen und die stets klam­men Staats­kassen. Pfennigfuchsend klauben wir dann noch unseren miesen Restlohn zusammen und hoffen darauf, uns mit dem bisschen Geld ohne Verschuldung all das erkaufen zu können, was uns ja eigentlich die menschliche Arbeit vermitteln sollte: Essen, Luxus, Mobilität, Frei­heit – Glück. Oder anders ausgedrückt: Das Ende der Arbeit. Denn in wel­chen Bereich der Gesellschaft und auf welche Art der Arbeit wir auch schauen, überall ist als lohnender Sinn der Arbeit doch ihr Zu-Ende-gehen mitge­setzt, verbunden mit einem Wohlgefühl von Zufriedenheit und Los-Gelassenheit, von Genuss und Müßiggang – am Abend nach der Schicht, am Sonn­tag nach der Gartenarbeit, nach erfolgreichem Ab­schluss eines Projektes, bei der Ausstellung einer vollendeten kreativen Schöpfung. Es steckt eben ein tieferer Sinn hinter der Arbeit, als uns die kapitalistischen Verhältnisse glauben machen. Der Mensch arbeitet sich an seiner Umwelt ab, nicht um der Arbeit selbst wegen, auch nicht wegen des Geldes, sondern um seine vielfältig gesteckten Ziele zu erreichen und seine Welt so einzurichten, dass sie ihm oder ihr bequem, gefällig und heimisch wird. Arbeit und Geld sind hierfür nichts als die Mittel. Und dieser Sinn der Arbeit lässt sich derzeit utopisch kaum besser fassen, als wenn wir von ihrem Ende redeten.

Das ist die Hoffnung, an die wir uns seit Jahrzehnten geklammert haben. Die kapitalistische Logik sagt, dass technologischer Fortschritt und gesteigerte Produktivität alte Jobs vernichtet, dafür aber mindestens genauso viele schaffen. Aber die Zeiten sind vorbei.“ – Jeremy Rifkin (2)

Jacques Derrida hat in einem Vortrag 1998 in Amerika ein ähnliches Thema aufgegriffen (3), als er über die Veränderung an den Universitäten sprach. Nach ihm sollten wir für einen neuen Blick auf die Arbeit so tun, als ob das Ende der Arbeit schon am Ursprung der Welt stünde. So verrückt, wie die Post­modernisten oftmals sind, etwas Spannendes verbirgt sich in diesem virtuellen Blick zurück. Denn aus dieser Perspektive erblicken wir plötzlich, dass in den mythischen Ursprungserzählungen über unsere Welt, ein utopischer Gehalt bereits enthalten ist, der von Ausgang und Ende der Arbeit kündet. Wie bspw. die christlich müßig­gän­ge­rische Metapher vom Garten Eden, dernach am Ursprung der Welt die Arbeit und ihr Ende gleichzeitig und mühelos verlaufen. Erst nach Paulus’ kosmologischer Entrückung von Paradies und Welt, der Trennung von Diesseits und Jenseits, erscheint das irdische Leben als ein Ver­dammt­sein zur Arbeit und unausweichlicher Buße. Worauf uns Derrida mit dieser historischen Spur aufmerksam machen will, ist, so meine ich, ein zumindest kulturgeschichtlich überlieferter Zusammenhang zwi­­schen dem Sinn, den wir der Arbeit bei­­messen und dem Zweck, für den wir sie auf uns nehmen. Genauer: Wir arbeiten beständig am Ende der Arbeit, um im Moment des Erreichens, unsere gesteckten Ziele zu erfüllen und wir setzen uns stets Aufgaben vor, um im Augenblick ihrer Lösung, die Arbeit auch beenden zu können. Derrida denkt hier sicher auch an Marxens Begriff der nicht entfremdeten Arbeit, doch will er nicht abstrakt die kapitalistische Lohnarbeit als fremdbe­stimmte auszeichnen, sondern sie ganz kon­kret um eine seines Erachtens wichtige Bestimmung ergänzen, um die gegenwärtigen Veränderungen in der Arbeitswelt besser begreifen zu können. Denn wenn wir uns mit Niedergang der großen Fabriken, mit dem maschinellen und digitalen Fortschritt beschäftigen und die moderne Cyber-Welt der Roboter, die menschenlose Fabrikation betrachten (4), müssen wir in kein Klagelied über den Verlust der Vollbeschäftigung verfallen. Im Gegenteil, mit einer geschärften Perspektive auf ein mögliches Ende der Arbeit, erkennen wir, dass es ja gerade der Sinn der technischen Innovation war, die menschliche Arbeit zu erleichtern und hier nahezu zu beenden. Der Mensch erfindet sich eben keine Werkzeuge, allein um sie durch bessere zu ersetzen, sondern vor allen Dingen, um die Mühe und notwendige Arbeitszeit abzusenken. Solcherlei philosophische Klugheit hält Derrida für uns bereit: Das Ende der Arbeit nach mehr als 200 Jahren irrwitziger Produktivität auch geschehen zu lassen. Was nicht heißt, dass es in Zukunft überhaupt keine Arbeit mehr geben wird, sondern nur, dass wir uns die Gelassenheit leisten können, dem Verschwinden der kapitalistischen Lohnarbeit unaufge­regt zu zusehen, und eher auf die Chancen zu achten, die sich daraus ergeben. Klar, wir werden immer für bessere Lebensbedingungen arbeiten und kämpfen müssen. Eine Welt ohne Arbeit wäre ja eine, die andere für uns hergestellt haben und die wir nur bedenkenlos verbrauchen. Und eine solche Haltung zur „Arbeitslosigkeit“ ist geradezu kindisch, wie der Glaube der Kapitalisten, dass „nur“ das Geld für ihren Luxus arbeiten würde. Optimistisch betrachet, können wir uns aber in dieser unserer Welt viel weniger Arbeit leisten, als uns so manche Ideologen glauben machen wollen. Stattdessen sollten wir uns mehr Zeit nehmen, Gedanken und Ideen darüber zu erspinnen, wie sich Güter und Waren auch ohne Lohnabhängigkeit besser verteilen lassen und wie wir den Herren und Damen Funktionären des kapitalistischen Wirtschaftssystems endlich verklickern können, dass unser neues Ar­beitsethos nicht das ewige Leistungsdiktat sondern das heilsame Ende der Arbeit verspricht.

(clov)

 

(1) Aus dem Interview „Langfristig wird die Arbeit verschwinden“ der Stuttgarter Zeitung vom 29. 04. 2005, u.a. nachlesbar hier: www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/916564?_skip=0

(2) Ebenda

(3) Jacques Derrida, „Die unbedingte Universität“, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2001

(4) Mehr dazu hier: Jeremy Rifkin, „Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M., 2005

Sachbearbeitermoral

Ein Betroffenenbericht

Wenn mensch am frühen Morgen Post von Arbeitsamt im Briefkasten findet, diese öffnet und folgende Zeilen liest: „Sehr geehrter Herr Soundso, bitte kommen Sie am 21.04.2009 um 9:30 in die Arbeitsgemeinschaft Leipzig, blablabla…“, dann ist der gerade noch freudig begonnene Tag sachgerecht ruinieren. Der strahlendblaue Morgenhimmel verfärbt sich grau, der Kaffee schmeckt plötzlich nach Dieselöl, der Frühstückstoast nimmt eine gummiartige Konsistenz an. (Übrigens: Warum beginnen diese Anschreiben immer mit „Sehr geehrter“ und „bitte“, wenn die Drohung durch die auf der Rückseite desselben Blattes abgedruckte „Rechtsfolgenbelehrung“ doch kaum zu übersehen ist? Ich schätze, es hat was mit gesellschaftlichen Konventionen zu tun…)

Aber es hilft alles nichts: Zum angegebenen Zeitpunkt finde ich mich am vereinbarten Ort ein, und verlasse diesen etwa zwanzig Minuten später zähneknirschend und mit finsterem Blick. Würde mir in diesem Moment ein Bekannter über den Weg laufen, er würde erschreckt zurückweichen und ausrufen: „Meine Güte! Was haben sie mit dir gemacht?“ Natürlich ist es nicht zu leugnen: Mein Interesse daran, mich für miese Bezahlung zum Laubharken in öffentlichen Grünanlagen zu bewerben, tendiert großzügig gegen Null. Allgemeinwohl hin oder her – Grünanlagenpflege stinkt einfach! Aber wie soll ich das dem Sachbearbeiter begreiflich machen? „Ach nee, lieber nicht…“ ist in jedem Fall die falsche Antwort.

Dann holt der Sachbearbeiter nämlich tief Luft und setzt eine vorwurfsvolle Miene auf. Ich weiß schon, was jetzt kommt: Sachbearbeitermoral. Nicht dass er damit viel erreichen würde – moralische Vorwürfe wirken nun mal nicht sehr überzeugend, wenn der Sachbearbeiter im selben Atemzug damit droht, mir das Existenzminimum wegzukürzen. Und überhaupt, liest der Mensch denn keine Zeitung? 15 Prozent Arbeitslosenquote in Leipzig, Finanzkrise, und überhaupt der ganze Scheiß mit Kapitalismus und so – da kann man doch schon mal keine Arbeit haben! Je eher man sich dran gewöhnt, um so besser!

Aber nein: „Herr Soundso, Sie leben hier von Steuergeldern – und das, Herr Soundso, kann einfach nicht sein.“ Sagt der Sachbearbeiter. Als ob das ein Argument wäre! Die Bundeswehr finanziert sich auch durch Steuergelder und kauft sich davon Panzer, die dann in Afghanistan oder so von irren Is­la­mis­ten zu Klump ­geschossen werden bzw. selbst dazu dienen, dort Sachen kaputt zu machen. Ich dagegen, ich tue wenigstens keinem was zuleide.

Obwohl ich gestehen muss, dass auch in mir mitunter Gewaltfantasien brodeln und rumoren, wenn ich die Höhle des Sachbearbeiters verlasse. Wäre ich selbst ein Moralist wie mein Sachbearbeiter oder wie Heinrich Böll (dem ja Gewaltfantasien auch nicht fremd waren, siehe „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“), dann würde ich beim Hinausgehen in meinen Bart brummeln: „Mein Sachbearbeiter ist ein böser Mensch. Nicht nur, dass er mir das Existenzminimum kürzt – nein, er heuchelt dabei auch noch! Möge er mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden!“ Nun ja, man kennt ja solche Gewaltfantasien… Und man weiß: Wenn Moralisten durchdrehen, dann stürzen sie sich am Ende mit Flugzeugen in irgendwelche Hochhäuser oder machen sonst was für verrückte Sachen.

Nachdem ich also drohend in meinen Fanatikerbart gebrummelt habe, würde ich nach Hause gehen, mir über Ebay eine Schusswaffe besorgen und dann daran gehen, meinen Rachegelüsten freien Lauf zu lassen – als ehemaliger Grün­an­lagenpfleger weiß ich schließlich, wie es ausschaut, wenn etwas mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden muss.

Aber zum Glück für meinen Sachbearbeiter bin ich kein Moralist. Ich bin im Grunde meines Herzens ein netter Mensch, der unschöne Blutbäder verabscheut und versteht, dass es nicht Bosheit ist, die den Sachbearbeiter zu seinem Verhalten treibt, sondern schlichte Blödheit. „Schön und gut“, werden einige von euch jetzt fragen, „aber was lernen wir nun daraus?“ Zwei Dinge, die euch in eurem späteren Leben noch sehr nützlich sein werden, liebe Kinder! Zum einen, dass Sachbearbeiter im richtigen Moment lieber mal die Klappe halten sollten – dass Risiko, dass ihnen irgendwann jemand gegenüber sitzt, der ihre Moralpredigten ernst nimmt, ist einfach zu groß. Zum anderen, dass Gewaltfantasien zwar lustig sind, dass aber die Idee, alle blöden Menschen mit Blut und Feuer vom Angesicht der Erde zu fegen, nicht wirklich praktikabel ist – schon allein darum, weil so ein Verhalten beweisen würde, dass man selbst nur ein dummer Moralist ist.

(justus)