Archiv der Kategorie: Feierabend! #35

Free the Radio

Den Freien Radios in Sachsen – Radio Blau aus Leipzig, Radio T aus Chemnitz und coloRadio aus Dresden – droht zum Ende des Jahres die Abschaltung: Es fehlen 40.000 Euro jährlich oder der „politische Wille“.

Am Montag, dem 26. Oktober kam es deshalb zu einer ersten gemeinsamen Protestaktion in Leipzig. 100-150 Freie-Radio-Fans trafen sich von 12-14 Uhr zu einer Kundgebung vor der Sächsischen Landesmedienanstalt (SLM), um den Medienräten einen offenen Brief mit Hunderten von Unterschriften aus Politik, Medien und Kultur zu überreichen. Bei Kaffee und Keksen wiesen diese dann aber jede Verantwortung von sich und feierten sich gleichzeitig selbst für die Gönnerhaftigkeit, je einen Vertreter der drei Freien sowie eine Vertreterin des Bundesverbandes der Freien Radios überhaupt zur Ratssitzung zugelassen zu haben.

Konstruktiver ging es dagegen vor dem Gebäude zu. Ca. 70 Menschen nahmen am Radioballett zum Thema Körperkult teil – und suchten wohl eine Antwort auf die Frage: Wie kann die SLM als Behörde zur Entwicklung des Privatrundfunks den Freien Radios überhaupt helfen, wenn gleichzeitig krampfhaft am Sächsischen Mediengesetz festgehalten wird, welches das eigentliche Problem ist?!

Anders als übertrieben gut gelaunte Radio­sprecher­_innen, Promi-Klatsch, konsum­­an­regende Glücks­ver­sprech­en, immer­gleiche Sende­formate, usw. bereiten freie, nicht­kommer­zielle Rund­funk­­sen­der den Weg für mehr Selbst­orga­nisation, kritisches Hinterfragen, musikalische Experimente sowie mehr Partizipation an öffentlicher Kommunikation und Diskussion v.a. auf lokaler Ebene. Warum also wird ernsthaft erwogen, diesem Medium die Basis zu entziehen, indem Sendefrequenzen aufgegeben und Sendekosten erhoben werden, die vom Million­en­budget der SLM eigentlich problemlos gedeckt werden könnten?

Hintergründe

Der private, kommerzielle Radiosender Apollo teilt sich mit den Freien Radios ihre drei Frequenzen. Apollo ging im November 2004 auf Sendung und hat die Geschäftsführer aller privaten Radios in Sachsen (1) erstmals gemeinsam an einen Tisch gebracht. Zusammen wurde Apollo Radio als Sächsische Gemeinschafts­pro­gramm GmbH & Co KG gegründet, mit dem ursprünglichen Ziel, den lokalen Markt für „fremde“ Konkurrenz zu blockieren. Einnahmen und Arbeitsplätze in Sachsen sollten gefälligst auch in Sachsen bleiben. Die SLM war damals gesetzlich gezwungen, die Lizenzen für frei werdende Radiofrequenzen bundesweit auszuschreiben, doch mit der Gründung eines neuen privaten Hörfunksenders konnte die gefürchtete „Marktübernahme“ verhindert werden. Der Medienrat der SLM entschied, dass die auf 8 Jahre begrenzte Lizenz an Apollo und nicht an ein Klassik-Radio aus Hamburg ging.

Seitdem wird den drei nicht­kommer­ziellen Lokalradios (NKL) wöchentlich 49h Sendezeit zugestanden und die dafür jährlich anfallenden 40.000 Euro Sende- und Betriebskosten von den Apollo-Betreibern mitgetragen. Doch Apollo entwickelte sich nicht zu einem gewinnbringenden Geschäft und so wurde am 13. Oktober 2009 die „Kooperationsverein­barung“ mit den Freien Radios gekündigt. Das Schicksal der NKL scheint somit besiegelt und die Zukunft von Apollo hängt nun von neuen Ver­handlungs­gesprächen mit dem Sende­anlagen­betreiber Media Broadcast GmbH (2) ab. Es geht darum, Kosten zu sparen, Umsätze zu steigern und somit mal wieder nur um’s Geld.

Diesmal hält die SLM sich jedoch raus. Wurde damals noch politisch Druck ausgeübt, verweisen die Medienräte heute auf fehlen­de recht­liche Kompe­ten­zen. Me­dien­­­gesetz ist Ländersache und in Sachsen (im Unterschied zu Sachsen-Anhalt) ist die finanzielle Förderung Freier Radios nicht gesetzlich festgeschrieben.

Viele Unterstützer_innen der NKL sprechen vom „Fehlen des politischen Willens“ und fordern eine Gesetzesänderung. Das „Sächsische Privatrundfunkgesetz“ aus dem Jahre 2008 weist jedoch in eine andere Richtung. Zukünftig werden nämlich keine Lizenzen mehr für freie Radio­fre­quenzen ausgeschrieben, mit der Begründung der Digitali­sierung des Hörfunks bis 2015 (und nicht wie geplant bereits zum 1. Januar 2010). Somit darf die SLM auch keine weiteren Lizenzen für analoge Frequenzen mehr vergeben, da diese immer eine Mindestlaufzeit von 8 Jahren haben. Ob nun in den nächsten fünf Jahren eventuell frei werdende Frequenzen genutzt werden oder nicht, ist politisch und anscheinend auch wirtschaftlich nicht relevant, da zumindest der Standort Sachsen gegenüber auswärtiger Radio­kon­kurrenz abgesichert ist.

Aussichten

Die Zeit rennt davon und Ungewissheit bleibt. Welche Optionen gibt es also? Apollo und Broadcast könnten sich über eine Kostensenkung einigen oder die SLM hält sich an ihr politisches Bekenntnis, die Medienvielfalt in Sachsen zu fördern. Im Dresdner Landtag wird das Privatrundfunkgesetz geändert und den NKL eine eigene 24h Frequenz zugestanden. Alternative Rundfunkgebühren könnten erhoben werden oder die NKL ziehen sich aus dem UKW-Betrieb zurück, Apollo wird abgeschaltet und die frei werdenden Frequenzen bleiben in Zukunft ungenutzt oder bereits für Testläufe digitalen Hörfunks besetzt.

Eine populäre Forderung an die SLM ist die Sicherung des bisherigen Modells der Kostenübernahme. Der Medienrat, Apollo oder ein anderer kommerzieller Radioveranstalter sollen die Kosten der Freien Radios übernehmen. Begründet wird diese Argumentation durch eine oberflächliche Rhetorik: „Bürgerradios“ seien „ein wichtiger Teil des demokratischen Me­dien­systems“ und würden zur „Meinungs- und Medienvielfalt“ beitragen. Es sei die „Pflicht“ der SLM, die NKL zu fördern. Macht sie aber nicht, und wen wundert’s? Die Medienräte zeigen lieber mit dem Finger auf andere und halten schützend das Gesetzbuch wie die Bibel vor sich. Es hat System, wenn der Gesetzgeber sich einmal in die Wirtschaft einmischt und ein anderes Mal den Markt sich selbst regulieren lässt. Auch dem Freien-Radio-Fan muss klar sein, dass mit Geschwafel von „Verantwortung den Bürgern gegenüber“ oder „Pflicht und Anstand“ vom Rechtsstaat oder profitorientierten Unternehmertum nichts zu erwarten ist.

Die Freien Radios kämpfen indes weiter um’s nackte Überleben. Die drei NKL sind eine Kooperation eingegangen, verhandeln weiter mit Apollo, üben Druck auf die SLM aus, organisieren Proteste und führen medienwirksam direkte Aktionen durch. Wenn alle Schnüre reißen, würde es ein Zurück auf Los bedeuten und somit ein Neuanfang als Piratenradio. Doch soweit ist es noch nicht und sollte es auch nicht kommen. Unabhängiges Hörfunken muss weiter gehen – fern vom Mainstream wie z.B. der Einflussnahme durch Werbung, Zugangsbeschränkungen für zukünftige Radioproduzent_innen oder die ständig gleiche Hitmusik – und die Freien Radios bie­ten da­für eine Alternative: ob Themen­­sen­dung­en zu Gentri­fizierung oder Heavy Metal und Gender, Informa­tionen zur Subkultur in Leipzig, Live-Berichterstattung von antifaschistischen Gegendemonstrationen, nie gehörten Klanginstallationen und vieles mehr. Freie Radios können noch den eigenen Regeln folgen. Die Stimmen, die nicht im Konsumrausch oder Parteilinienzwang verstummen, gilt es zu unterstützen. Du kannst dich im Internet informieren (3), finde die Bald Funkstille?-Postkarte und schreibe der SLM deine Meinung, gehe Dienstags 19 Uhr zum offenen Aktionstreffen von Radio Blau, sei bei Protestaktionen dabei oder werde selbst Freie_r Radioproduzent_in! Es ist einfacher als du denkst. In diesem Sinne: free the radios – für eine kritische und aktive Gegenöffentlichkeit.

droff

 

(1) Die privaten Radios in Sachsen werden von den Rundfunkketten Regiocast, BCS und Energy Sachsen betrieben.

(2) Media Broadcast GmbH ist der größte deutsche Dienstleister für Bild- und Tonüber­tragungen. 2006: 500 Mio. Umsatz. Im Januar 2008 von der Deutschen Telekom an die französische TDF-Gruppe verkauft.

(3) u.a. siehe radio.fueralle.org

the (konter)revolution will not be motorized

Der Beifahrer des weiß-grünen Autos neben mir leierte die Scheibe herunter und bat mich höflich anzuhalten. Ich betätigte vorsichtig den Rücktritt und kam langsam hinter ihnen zum Stehen. Die beiden Uniformträger stiegen aus und ich hörte den Fahrer schon von weitem irgendwas gegen Radfahrer brabbeln. Ich rollte innerlich die Augen in böser Vorahnung. Zum Glück wollte… äh, konnte ich mich nicht aus­­weisen und so bekam ich nur den beliebten „Schuß vor’n Bug“: „Ein Autofahrer wäre bei ‘ner roten Ampel gleich mal einen Monat seinen Führerschein los!“ meinte er sichtlich parteiisch. Ich nickte brav und erklärte auf Nachfrage des anderen Polizisten, daß meine empirischen Beobachtungen mich zu der Annahme brachten, die Ampel würde eine halbe Sekunde später auf grün schalten. „Letzte Woche auf der Fahrraddemo ham se gesagt, daß Radfahrer ja die seien, die sich an die Regeln halten … „ sagte er sichtlich stolz über den soeben erbrachten Beweis, daß eben doch die Radfahrer das Übel sind. Ich ließ ihn lieber im Unklaren darüber, daß ich einer der Teilnehmer_innen der Demo war und die dor­tige Distanzierung von den schwarzen Schafen (zu denen ich mich gerne zähle) schon vernommen habe. Doch langsam, welche Fahrraddemo überhaupt?

 

Am Mittwoch, dem 28.Oktober 2009, fand eine vom StudentInnenRat Leipzig organisierte Fahrraddemonstration statt, die auf die fahrradunfreundlichen Bedingungen des hiesigen Straßenverkehrs aufmerksam machen sollte. Etwa 350 Fahrräder rollten gemächlich und unter dauerndem Klingeln vom Connewitzer Kreuz die Karl-Liebknecht-Straße entlang zum Petersteinweg, auf dem sie eine etwas andere Zwischenkundgebung abhielten und mit bunter Straßenmalkreide ihren Forderungen auf dem grauen Asphalt Ausdruck verliehen. Anschließend ging es kurz über den Ring und ab dem Augustus­platz wurde durch die radverkehrfreien Zonen bis zum Neuen Rathaus geschoben, vor dem die Abschlußkundgebung stattfand. Dort echauffierte sich dann vor allem der ehemalige StuRa-Sprecher Sven Deichfuß hauptsächlich über die Fahrradverbote in der Innenstadt, welche angeblich in keines Menschen Interesse wären und nur der Idiotie der Stadtoberen entsprängen. Idiotie und Irrsinn waren überhaupt seine vorherrschenden Argumente – auf die Idee, daß hinter Fahrradverboten im Speziellen und der Verkehrspolitik im Allgemeinen auch schlichte ökonomische Interessen (bspw. der Innenstadt-Geschäfts­be­trei­ber_innen) stecken können, kam er wohl nicht. Wie auch, wenn Radfahren in der Argumentation von vornherein immer nur als rein positiv besetzte Prämisse vorkommt, welches geradezu alles Gute auf Erden vereint und – wenn wir nur alle radfahren würden – auch das Hungerproblem in Afrika lösen und endlich den Weltfrieden bringen würde?! Zudem skandalisierte er neben der Innenstadtpolitik noch die polizeiliche Repression gegenüber den Rad­ak­ti­vist_innen der Critical Mass (CM), auf die im zweiten Teil dieses Artikels eingegangen werden soll. Dieser Repression dichtete er gleich mehrere gegen Fahrrad­fahrer_innen gerichtete Maschinenpistolen an und rief es mehrfach in die Menge hinaus, die sich allerdings nicht dadurch aufheizen ließ.

Im Anschluß kam glücklicherweise noch Katharina Krefft von Bündnis 90/Die Grünen zu Wort, die sachlich auf die insgesamt beklagenswerten rechtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen des nicht motorisierten Verkehrs hinwies und ein grundsätzliches Umdenken forderte. Trotz ihrer Parteizugehörigkeit hatte sie einige vertretbare (wenn auch realpolitische) Sachen zu sagen und zeigte neben dem Hinweis auf das gravierende Problem fehlender Radwege bzw. Radfahrstreifen stellvertretend politische Handlungsmög­lich­keiten auf, wie etwa Haus­besit­zer_innen gesetzlich zur Bereitstellung von Abstellmöglichkeiten zu verpflichten; als eine Maßnahme um Radverkehr allgemein zu fördern und die Bedingungen für einen Ver­­kehrswandel grundlegend zu verbessern.

Nach diesen zwei doch sehr unterschiedlichen Redebeiträgen wurden noch einmal die zentralen Forderungen des offenen Briefes (1) verlesen, den mehr als 1.000 Menschen unterzeichnet hatten und sogleich einem Vertreter der Stadt im Rathaus überreicht. Was der sich wohl beim Lesen der Forderungen u.a. nach einer Karl-Liebknecht-Fahrradstraße und einem Tempo-30-Gebot im gesamten Stadtgebiet gedacht hat?! Stellenweise vielleicht sogar dasselbe wie ich – nämlich daß durch Verdrängen von PKW und LKW von einer Hauptverkehrsader in die noch ruhigen, lebenswerten und radfahrsicheren Seitenstraßen ohne ein verkehrsveränderndes Gesamtkonzept rein gar nichts gewonnen ist, eher im Gegenteil. Ebenso mit Tempo-30 – wer will schon noch langsamere Autos und somit noch mehr Abgas, noch mehr Stau, noch mehr Frust im Verkehr?! Und wahrscheinlich kam er sich vor wie in Tarifverhandlungen – Utopisches fordern, um ein Minimum zu erreichen. Dieses Minimum allerdings ist teilweise doch noch sehr vernünftige und beinhaltet sicher für jede_n Leipziger Radfahrer_in nachvollziehbare Forderungen nach ganz konkreten Radfahrstreifen, Ampelanlagen und anderen Maßnahmen in besonders befahrenen und berüchtigten Straßen der Stadt.

Daß sich gar nichts tut von städtischer Seite, der Eindruck sollte indes nicht aufkommen! Rühmt sich die Stadt doch mit innovativen Errungenschaften wie dem Aufstellen von 500 „Leipziger Bügeln“ allein in der Innenstadt (2). Ja, vor allem dort, wo mensch das Rad zum Anschließen erst einmal hinschieben muß.

Die Demonstration gegen diese Zustände war alles in allem eine gelungene Aktion, die aber mehr Potenzial gehabt hätte. Die auch etwas mehr Publicity schon im Vorfeld hätte gebrauchen können, erfuhren viele radaffine Menschen doch erst hinterher von dem Protest. Viel Raum auch in der Analyse und Bewertung ökonomischer und ökologischer Fragen, denn dort gibt es noch einiges zu tun. Das Herunterbeten von Vorteilen des Radfahrens (bspw. für das Klima) nutzt am Ende genausowenig etwas wie die Forderung nach einer Problemverdrängungspolitik. Denn solange Standortlogik und Ver­wertungsdenken die (Verkehrs)Politik der Stadt bestimmen, solange lässt sich weder mit angemeldeten Demonstrationen wie dieser als auch mit trendigeren, alternativen Aktionen wie der Critical Mass viel ausrichten.

Critical Mass – Eine kritische Masse?

Mehr als 15 Radfahrer_innen können in der Bundesrepublik laut § 27 StVO einen geschlossenen Verband bilden. Sie dürfen dann paarweise eine gesamte Fahrspur benutzen, bei roter Ampel dem_der noch bei Grün gefahreren Verbandsführer_in folgen und sind nicht mehr auf Radwege gezwungen. Nutzen tun diese Sonderregelung im Verkehrsrecht nicht nur Schulklassen auf Landerkundungstour, der Sonntagsausflug des Kleintierzüchterverbandes oder eine Anti-AKW-Fahrradkarawane, sondern rechtlich abgesichert auch Rad­fahr­er_innen der Critical Mass:

„Es handelt sich um eine friedliche Protestform, bei der sich scheinbar zufällig und unorganisiert Fahrradfahrer an einem bestimmten Ort treffen um gemeinsam eine Strecke durch ihre Stadt zu fahren. Mit ihrem Auftreten als Masse wollen sie auf ihre Rechte im Straßenverkehr aufmerksam machen.“ (3)

Erste Massenradfahrten mit Protestcharakter fanden schon in den frühen 70er Jahren in Stockholm und ab 1990 mehr als 10 Jahre lang wöchentlich in Wien unter dem Namen „Radfahren am Freitag“ (RaF) statt. Ziele des Protestes waren auch damals schon eine Verbesserung der Bedingungen für den Fahrradverkehr, Förderung ökologischer Politik, sowie überhaupt ein Bewußtmachen der Existenz und Interessen von Radfahrer_innen im kraft­fahr­zeugdominierten Verkehr, nach dem Motto: „Wie blockieren nicht den Verkehr, wir sind der Verkehr!“

Trotz dieser gleichen Ziele und strukturellen Merkmale wie das Fehlen einer Anmeldung und eines Verantwortlichen oder einem Ziel wird der Ursprung der heutigen Critical Mass in San Francisco verortet. Dort fand im September 1992 unter dem Namen „Commute Clot“ (4) durch 48 Teilnehmer_innen eine vorher durch Flugblätter beworbene Fahrt in einen nahen Fahrradladen statt, in dem die Dokumentation „Return of the Scorcher“ von gezeigt wurde. In dem Film erzählte der Fahrraddesigner George Bliss, daß sich in China Auto- und Rad­fahrer_innen an Kreuzungen ganz ohne Signale verständigen. Der Radverkehr staut sich solange auf, bis eine „kritische Masse“ erreicht wird und diese dann quasi automatisch und gefahrlos die Kreuzung passiert. Der Begriff „Critical Mass“ ersetzte bei der zweiten Fahrt das „Commute Clot“ und seitdem bezeichnen sich regelmäßige Massenfahrten in über 300 Städten quer über den Erdball so. In den meisten dieser Städte fahren monatlich (traditionell am jeweils letzten Freitag) zwischen 20 und (mehreren) hundert Menschen gemeinsam Rad. Höhepunkte sind die zweimal im Jahr stattfindenden Fahr­rad­umzüge in Bu­dapest, wo zuletzt 80.000 Menschen zeitgleich in die Pedalen traten.

Aber es gibt auch andere Höhepunkte der Critical Mass. Ein solcher war zweifelsohne die Critical Mass zur Republican National Convention 2004 in New York. Bei den rollenden Protesten gegen die alle vier Jahre stattfindende Parteiversammlung der Republikaner sperrte die New Yorker Polizei ganze Straßenzüge für Radfahrer_innen und ging mit einiger Härte gegen sie vor. 264 Personen wurden festgenommen und hunderte Räder beschlagnahmt. Es war eine in diesem Ausmaß noch nicht dage­wesene Repression gegen fast 5.000 Menschen, die nur friedlich gegen die damalige Politik George W. Bushs und dessen erneute Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten radeln wollten. Aber auch bei kleineren und unbedrohlichen CMs reagieren die Gesetz­es­hüter – meist durch Unwissen – nicht gerade rechtskonform und angemessen auf das monatliche Radfahren.

So geschehen auch diesen Sommer in Leipzig. Die Critical Mass wachte gerade wieder aus dem Winterschlaf auf, fuhr im April mit etwa 60 Leuten eine angenehme Runde und wollte dies am 29. Mai wiederholen. Die abermals relativ große Gruppe wurde nach einiger Verfolgung durch die Polizei rüde gestoppt, ein Teilnehmer brutal vom Rad gezogen. Personalien wurden aufgenommen und knapp 3 Monate später Bußgeldbescheide an mind. 25 Teil­nehmer_innen wegen Überfahrens einer roten Ampel verschickt. Es folgten CMs im Juni und Juli (5), an denen die Polizei filmte und durch ihre massive Präsenz weiter Druck machte. Im August war sogar ein Kamerateam des MDR vor Ort und filmte die Schikanen, die neben übermäßigen Kontrollen der Verkehrstüch­tigkeit der Räder auch noch dazu führten, daß sich ein Mensch bereiterklärte, der unrechtmäßigen Forderung nach einem Verantwortlichen nachzugehen und seine Personalien hergab. Der erste Schritt war also gemacht. Den zweiten setzte der Leipziger Polizeipräsident Wawrzynski schon vorher an, indem er die Rad­fahrer_innen zu Gesprächen bat, welche nach der CM im August stattfanden. Man einigte sich auf eine „Zusammenarbeit“ mit der Staatsgewalt, indem man der haltlosen Forderung, immer einen Verantwortlichen für’s Radfahren zu benennen, nachkam. Im Gegenzug begleitet die Polizei die Critical Mass nur noch mit minimalem Aufgebot, hat aber immer schön ein Auge auf und so letztlich die Kontrolle über sie.

Eine „legale Critical Mass“ – ein Widerspruch in sich, möchte man meinen. Doch scheinbar geht es den aktuellen Leipziger CMler_innen nicht um den oben erwähnten Protest oder den subversiven Charakter ihrer Aktion, auch wenn sie sich durch den Pakt mit dem Teufel den Status einer politischen Versammlung zugestehen. Ein Schlag in’s Gesicht derjenigen jedenfalls, die die Critical Mass wegen ihres politischen Anspruchs, der anarchistischen Organisationsform und der damit verbundenen Hoffnung auf Veränderung wegen kennen und lieben lernten. Und sei es nur die Hoffnung auf die Solidarität und Verbundenheit der radfahrenden Klasse, deren Befreiung vom Joch des motorisierten Verkehrs nur ihr Werk selbst sein kann. In diesem Sinne halten wir’s doch mit einem Kreidezitat von der Leipziger Raddemo:

„Radfahrer aller Länder vereinigt euch! Ihr habt nichts zu verlieren außer eure Ketten!!“

 

shy

 

(1) Zu finden und noch online zu unterzeichnen unter www.stura.uni-leipzig.de/stura-cms/1467.html

(2) Siehe: www.leipzig.de/de/buerger/stadtentw/verkehr/rad/

(3) cmleipzig.blogspot.com/

(4) Frei übersetzt in etwa „Pendelgerinnsel“ – da die Pedalritter_innen den zähesten Verkehr in der Pendelzeit (Rush Hour) benutzten, um dann einem Gerinnsel gleich Verkehrsadern zu verstopfen.

(5) Hier hatte einer der Beamten die mitt­lerweile berühmt-berüchtigte Maschinenpistole umhängen, während er neben seinem Fahrzeug der Bereitschaftspolizei stand. Die Polizei erklärt das Bild damit, daß dieser zur Nachtschicht eingeteilt war und diese insb. des Diskokriegs wegen stärker bewaffnet ist, diese Waffen aber nicht einfach abgelegen dürfen.

„Tod den Feinden der Revolution“

Eine Kritik am Wendehype

Und wieder ein Jahrestag, ein Gedenkjahr, ein Augenblick, um in der Geschichte inne zu halten und ihrer Helden zu gedenken. Es ist 2009. 20 Jahre nach der „friedlichen Revolution“, die den sozialistisch unterdrückten DDR-Bürger­Innen eine Welt grenzenlosen Konsums eröffnete. Vor 20 Jahren verpesteten die ersten Trab­bis auch westdeutsche Luft. Vor 20 Jahren fiel die Mauer oder korrekter, sie wur­de aus­ein­an­der genommen und als Sou­venir in die Welt verkauft, um ewig und überall an vergangenes Unrecht zu gemahnen.

So zelebrierte die Stadt Leipzig den 9. Oktober mit einem Hochglanzevent namens „Lichterfest“, um traditionsbewusst Kerzen zu entzünden und auf dem Innenstadtring dem Weg der 1989er „Revolutionäre“ zu folgen, flankiert von diversen Lichteffekten seriöser Künstler­Innen. Massen verstopften die Einkaufspassagen, lauschten den Tondokumenten vergangener Zeiten, zelebrierten sich selbst und das Image der Stadt Leipzig.

Die Begrifflichkeiten, die für die Deutung der Ereignisse von 1989 bemüht werden, konstruieren eine Vergangenheit, die man sich nur aus dem Heute heraus so schön malen kann. Die Beteiligten werden zu Helden glorifiziert und der heutige gesellschaftliche Zustand als das damalige Ziel definiert, das auf friedlichem Wege erreicht wurde. Die demonstrierenden Massen von damals werden so zu „Revolutionären“, zu Akteuren einer „Revolution“, obwohl die Masse weder homogen war noch einhellig die Abschaffung der DDR forderte. Viele wollten lediglich eine Re­for­mierung des Systems Sozialismus oder auch dessen tatsächliche Realisierung ohne Bonzen, Stasi und Mauerschützen.

Nun soll hier nicht gesagt werden, dass die DDR wieder her soll oder dass Erinnerung nicht wichtig ist. Vergangene Er­eig­­nisse haben eine große Bedeutung, etwa für die subjektive Verortung des Menschen im Hier und Jetzt. Sie können den Glauben an eine wie auch immer geartete Zukunft bestärken und die idealistische Hoffnung unterfüttern, dass die Gegenwart nur ein vorübergehender Moment der Stagna­tion ist…der auch wieder vorbei geht. Immerhin sind die Menschen damals über­haupt noch auf die Straße gegangen, um gegen gewisse Regeln des Systems zu pro­testieren. Dass heute nur noch in Erin­nerung an die hehre Ver­gangenheit so viel Mo­bilisierungspo­ten­tial zu existieren scheint, ist bedauerlich. Trotz wachsender so­zialer Ungleichheit oder zweifelhaften Mi­­li­täreinsätzen in der ganzen Welt lässt sich auf der Straße kaum noch jemand blicken, um dagegen aufzubegehren. Es scheint als wäre mit der „friedlichen Revo­lu­tion“ alles erreicht, die BürgerInnen in den aktuellen Zuständen am Ende der Geschichte an­gekommen. Das zumindest ver­mittelt der Hype um das 20jährige Ju­bi­­läum in Form des „Licher­festes“ in Leipzig.

Dem Werbespektakel mit historischen Bezügen fehlte also komplett der Moment kritischer Reflexion. An dieser Stelle hakte sich das Projekt „Licht-Spiel-Feld-2009“ ein, mit einer etwas praktischeren Idee zum Umgang mit 1989. Die drei Freitage vor dem Großereignis luden der Helden Wider Willen e.V., AFAEA (Aktionskreis für aktive Erinnerungsarbeit), ProMemoria und die Gruppe Schwarze Zahlen zum aktiven Erinnern auf die Karl-Heine-Str. zwischen Garage und Jahrtausendfeld ein. Hier sollten Fragen aufgeworfen werden: „Wie lange gibt es eigentlich schon Revolution in Deutschland? Wie wird man friedlicher Revolutionär? Was heißt es plötzlich einer Masse anzugehören? Wie skandiert man die entscheidenden Sätze richtig: WIR sind das VOLK? Wir sind das VOLK? Wir SIND das Volk? Wir sind DAS Volk?“ (1). In so genannten Kaderschmieden sollte die „Generation, die über keine aktive Erinnerung mehr an die Ereignisse des Herbstes ’89“ (1) verfügt, im friedlichen Demonstrieren trainiert werden. Dabei wurde versucht das Ambiente möglichst dem Zeitgeist vor 20 Jahren anzupassen. So gab es ein Grenzhäuschen mit Wechselstube, wo sich der Euro endlich mal direkt in Gewaltlosigkeit, Freiheit oder Demokratie umtauschen ließ. Außerdem wurde freudiges Wiedersehen nach dem Mauerfall geübt, indem sich zwei Gruppen jubelnd in der Mitte des Jahrtausendfeldes trafen.

Einen zeremoniellen Rahmen fand die künstlerische Revolutionsübung mit der Weihung der Friedensglucke durch Tho­mas Müntzer (2). Das offizielle Pendant zur Glucke, die Glocke der Demokratie, wurde auf dem Augustplatz enthüllt. Es handelt sich dabei um ein übergroßes hohles goldenes Ei, mit dem Motto: „Demokratie ist in unendlicher Nähe längst sichtbar als Kunst“, das aber von den Passant­Innen höchstens noch mit Colum­bus in Verbindung gebracht wurde.

Die Proben auf dem Jahrtausendfeld wurden am 9. Oktober praktisch. Der Plan war die Friedensglucke mit Gesang („Ich geh mit meiner Laterne“) in die Innenstadt zu treiben und die blinden Massen zu singenden Massen zu machen. Die Ak­tions­methode lässt sich unter subversiver Affirmation fassen, womit versucht wird, die herrschende Deutung des 9. Oktober 1989 aufzubrechen. Dabei geben sich die Initiatoren einen offiziellen Anschein, durch seriös wirkende Logos oder eine offizielle Wortwahl wie „aktive Er­in­nerungs­arbeit“, die die unterschwellige Kritik am offiziellen Umgang mit der Geschichte verschleiern. Die Ent­wen­dung und Umdeutung der Symbole – hier wird aus der Glocke eine Glucke und aus Pfarrer Führer gar Thomas Müntzer – macht die Position dann schon klarer.

Das große Ziel der Aktion, die singenden Massen, wurde leider nicht realisiert, da nur wenige mit bunten Hütchen, Tröten und Flüstertüte von Plagwitz in die Stadt aufbrachen. Außer einer Kleinfamilie mit Lampion schloss sich auch niemand an. Die Leute schmunzelten oder rümpften die Nase, weil die beschwingten Friedens­gluckenanhängerInnen keinen andächtigen Ernst an den Tag legten. So wurde zwar teilweise irritiert, aber keine kritische Masse erreicht, um das Imagespektakel aus den Angeln zu heben.

wanst

 

(1) aus: Aufruf von AFAEA

(2) Thomas Müntzer wurde in der DDR als Anführer der Bauernaufstände in Thüringen 1524/25 geehrt, der ersten „proletarischen Erhebungen“.

Desorientiert gegen Deutschland

„Still not loving Germany“-Demonstration in Leipzig

Die Veranstalter_innen hatten wohl mit mehr Zuspruch gerechnet. Aber obwohl vom Lautsprecherwagen aus stolz verkündet wurde, man hätte im Vorfeld euro­paweit mobilisiert, waren es doch nur knapp 500 Leute, die sich am 10. Oktober zusammenfanden, um unter dem Motto „Still not loving Germany“ durch die Leipziger Innenstadt zu marschieren. Weder griechische Anarchos noch britische Kommunist_innen waren in der Menge auszumachen, und auch die Berliner Autonomen waren an diesem Tag mit der Verhinderung eines zeitgleich in der Hauptstadt stattfindenden Naziaufmarsches genug beschäftigt. Sogar viele Ortsansässige schienen angesichts der ungemütlich nasskalten Witterung lieber zu Hause geblieben zu sein.

Zahlreich vor Ort war hingegen die Polizei, die sich allerdings zurückhielt. Für die direkte Betreuung der Demo waren relativ zivil in Lederjacken gekleidete Beamte zuständig, während die hochgerüsteten Sondereinheiten sich auf die umliegenden Seitenstraßen verteilten. So verlief die Demonstration erwartungsgemäß ruhig. Die Passant_innen verfolgten das Geschehen mit Kopfschütteln, manch eine(r) reagierte sichtlich erbost („Geht mal arbeiten!“), während für viele wohl gänzlich unklar blieb, was ihnen da vermittelt werden sollte. Kein Wunder, gingen von dem Demonstrationszug doch für unbedarfte Beobachter_innen reichlich widersprüchlich erscheinende Signale aus. Auch die Demonstrant_innen selbst schienen nicht genau zu wissen, wogegen es denn gerade ging: Gegen Nationalismus oder doch nur gegen deutschen Nationalismus?

Eine gewisse Inkonsistenz war da vorprogrammiert. Auf die obli­ga­torischen Israelfah­nen war mensch schon vor­­bereitet, aber auch ameri­ka­nische, britische und sowjetische Nationalflaggen wur­­den stolz geschwenkt. Sonst könnte ja noch wer auf die Idee kommen, man hätte was gegen Nationalstaaten im allgemeinen… Um den Flag­gen­wald noch ein wenig dichter zu machen, wurden vor Beginn der Demo zusätzlich kleine Papierfähnchen in der Menge verteilt. Niedlich war auch das mit „No border, no nation“ beschriftete Plakat, welches ein etwas übereifriger Demonstrant zusätzlich mit je einer kleinen USA- und Israelfahne aus Papier dekoriert hatte. Auf inhaltliche Widersprüche muss man eh keine Rücksicht nehmen, wenn es nicht um Inhalt, sondern nur um Style geht.

Passend dazu übten sich auch die Redebeiträge (z.B. der Initiative gegen jeden Extremismusbegriff) eifrig im Differenzieren: Natürlich seien Nationalstaaten und Nationalismus generell ein Ausdruck der falschen Verhältnisse, aber in Deutschland seien die Verhältnisse eben ganz besonders falsch. Die praktische Schlussfolgerung lautet dann: „Nationen abschaffen, fangen wir mit Deutschland an!“ (1) Als ob die Weltrevolution ausgerechnet hier anfangen würde! Da hätte mensch noch mal bei Lenin nachlesen sollen. Der wusste schon vor 100 Jahren: Die Deutschen können keine Revolution machen, weil in Deutschland das Betreten des Rasens verboten ist.

Ohnehin herrschte bei den meisten Redebeiträgen ein an Adorno geschulter Sozio­logenslang vor, was auf Dauer etwas ermüdend wirkte. Eine Rede z.B. mit dem Hinweis zu beenden, dass bei aller Kritik am Nationalismus im allgemeinen die deutschen Spezifika nicht vernachlässigt werden dürften (wie es die Sprecher der ehemaligen Antinationalen Gruppe taten), ist gut gemeint, aber etwas mehr Mut zum Populismus wäre insgesamt doch wünschenswert gewesen.

Derlei theoretische Trockenübungen dürften aber auch ein Indiz dafür sein, dass manchen An­­ti­­deutschen die alten Parolen nicht mehr so flott über die Lippen kommen. Denn auch szeneintern gab es Kritik. So verteilten z.B. Leute von der Hallenser Gruppe No Tears For Krauts Flugblätter (2), in denen sie hart mit den Organi­sator_innen der Demonstration in´s Gericht gingen. Die seien irgendwo in den 90er Jahren hängengeblieben, das Deutsch­land, gegen das sie ihre Kritik richteten, sei „schon seit gestern nicht mehr existent. Immerhin seien z.B. die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen auch schon fast 20 Jahre her, der oft beschworene „rechte Konsens“ sei ein Hirngespinst, vielmehr hätte sich mittlerweile eher ein „antirassistischer Konsens“ durchgesetzt. Kurz: Die Demo­veranstalter_innen wüssten „offensichtlich nicht so richtig, warum sie Deutschland nicht lieben sollen.“

In eine ähnliche Kerbe haute auch Hannes Gießler in einem Cee-Ieh-Artikel (3), dessen Inhalt sich grob mit den Worten „So schlimm ist es doch gar nicht“ zusammenfassen lässt. Dabei schien Gießler in den letzten drei Jahren mit seiner Theoriebildung nicht wesentlich weiter gekommen zu sein: Schon anlässlich der Fußball-WM 2006 erschöpfte sich sein Vorbehalt gegen den neuen deutschen Party-Nationalismus (4) darin, dass dieser doch irgendwie „borniert“ sei. Wer am Nationalismus nur das zu kritisieren hat, der hat im Grunde gar keine Kritik, sondern reduziert politische Meinung zur bloßen Geschmackssache. Das ist die Kehrseite des antideutschen Rumreitens auf dem deutschen Sonderstatus: Wenn man doch mal bemerkt, dass der deutsche Nationalismus gar nicht so besonders ist, kann man schon mal die Orientierung verlieren. So wird die „Du-bist-Deutschland“-Werbung für Gießler zur antirassistischen Kampagne, und auch an der gängigen Abschiebepraxis hat er wenig auszusetzen: Die sei schließlich nicht rassistisch, sondern rein pragmatisch motiviert. Als ob für die Beurteilung einer bestimmten Praxis der Geisteszustand der Verantwortlichen entscheidend wäre und nicht vielmehr das, was hinten rauskommt…

Für so viel „ideelles Deutschlandfahnenschwenken“ wird Gießler wiederum von den No-Tears-For-Krauts-Schreiber_innen gedisst. Aber auch die haben Probleme mit der Suche nach einem Feind, der den Dauerzustand moralischer Empörung rechtfertigen könnte. Viel fällt ihnen dabei nicht ein. Nur im multikulturalistischen „Antirassismus“ meinen sie, noch den alten völkischen Nationalismus weiterleben zu sehen. Dort würde „die antiimperia­listische Liebe zum Volk“ konserviert. Im Zentrum stünde dabei „längst nicht mehr das Individuum, das für seine Handlungen verantwortlich gemacht und kritisiert werden kann. Die Menschen in der Dritten Welt, die hiesigen Migranten und die von Abschiebung Bedrohten werden – und das zeigt nicht zuletzt die Narrenfreiheit, die Sexis­ten mit Mi­gra­tions­hintergrund in so man­chem besetzten Haus genießen – in­zwi­schen in Blut-und-Boden-Manier als Exemplar ihrer Kultur begriffen: Sie kommen halt aus einem anderen Kulturkreis.“

Das kann natürlich mit Recht kritisiert werden, in erster Linie, weil solches Denken gerade nicht antirassistisch ist. Was aber an einem linksalternativen Multikul­tura­lismus, der Antirassismus auf die Forderung reduziert, alle sollten sich doch bitteschön liebhaben, so neu oder gefährlich sein soll, können die Autor_innen nicht erklären. Dieser Mangel an ernsthaften Gegnern wirkt auf Dauer natürlich frustrierend. So erklärt sich wohl der vorwurfsvolle Tonfall, den die No-Tears-For-Krauts-Autor_innen zum Ende ihres vierseitigen Pamphlets gegen die Demo­orga­nisator_innen anschlagen: „Ihnen geht es nicht um Wahrheit; ihnen geht es nicht darum, die Frage ´was deutsch ist´ kritisch – und vor allem: auf der Höhe der Zeit – auf den Begriff zu bringen.“

Mag sein, aber ist das nicht ein wenig viel verlangt? Auf die Frage „was deutsch ist“ haben schließlich auch die völkischen Nationalist_innen in den letzten 200 Jahren keine befriedigende Antwort geben können – die konnten höchs­tens sagen, „was nicht deutsch ist“ (nämlich z.B. die Franzosen, Polen, Engländer usw.). Es dürfte sinnvoller sein, die Denkkategorien des Gegners kritisch auseinanderzunehmen, anstatt sie „kritisch auf den Begriff zu bringen“. Dann würde man eventuell auch merken, wie hohl diese Kategorien sind. Es gibt kein „deutsches Wesen“, das „deutsche Volk“ ist eine Fiktion, die nur den Zweck hat, das gemeinsame Unterworfensein unter eine Staatsräson ideologisch zu überhöhen. Die Bundesrepublik Deutschland ist nichts Besonderes, sondern ein stinknormaler Nationalstaat. Dass dieser Staat noch immer existiert und dass man selber darin leben muss, ist Grund genug, um dagegen zu sein.

(justus)

 

(1) antide2009.blogsport.de/contributions/

(2) nokrauts.antifa.net/

(3) www.conne-island.de/nf/169/29.html

(4) www.conne-island.de/nf/133/3.html