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Ausschluss für Europa

Bundesregierung verweigert EU-Ausländer_innen die Sozialleistungen

Bundeskanzlerin Merkel hat das Ziel der deutschen Krisenpolitik schon vor längerer Zeit benannt: „Es geht darum, dass es Deutschland gelingt, aus der Krise stärker hervorzugehen, als es hineingegangen ist“. Da gibt es immer was zu tun. Nachdem die Bundesregierung in den letzten Monaten immer neue Sparprogram­me durchgesetzt und damit die Lebensbedingungen für viele Menschen in Europa beträchtlich verschlechtert hat, sorgt sie sich derzeit, die frisch Verarmten könnten nun massenhaft nach Deutschland einwandern und das hiesige Sozialsystem belasten.

Dieser vermeintlichen Gefahr will sie jetzt entgegensteuern. So werden die Hartz-IV-Anträge von in Deutschland lebenden EU-Bürger_innen momentan fast durchweg abgelehnt, bislang gewährte Sozialleistungen werden den Betroffenen verweigert. Besonders betroffen sind – passend zur gegenwärtigen medialen Stimmungsmache – vor allem Zuwanderer_innen aus den krisengebeutelten PIIGS-Staaten wie Italien, Griechenland oder Spanien.

Vorbeugende Vorbehalte

Die deutschen Jobcenter handeln dabei nicht aus eigener Initiative. Sie folgen vielmehr einer entsprechenden Geschäftsanweisung, die das Arbeitsministerium am 23. Februar 2012 der Bundesagentur für Arbeit erteilte. Die Anweisung kam so unvermittelt, dass man im ersten Moment sogar bei der Arbeitsagentur selbst verwundert war: Es gebe eigentlich keinen Handlungsbedarf, hieß es in einer offiziellen Stellungsnahme der Bundesagentur für Arbeit. Es handele sich wohl um eine rein vorbeugende Maßnahme von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen.

Wo deutsche Krisen- und Sparpolitik, die auf den Ämtern übliche Gängelei von Hartz-IV-Empfänger_innen und ein latenter Rassismus zusammentreffen, da kommt natürlich nichts Gutes heraus. Die Vorbeugemaßnahme hat für die Betroffenen drastische Auswirkungen. Ihnen werden damit Sozialleistungen verweigert, auf die sie nicht nur zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind, sondern die ihnen auch zustehen.

Als angebliche Rechtsgrundlage für diese Maßnahme dient der so genannte Leis­tungs­ausschluss, der in §7, SGB II geregelt ist. Dort heißt es, „Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen“ seien von den Leistungen ausgenommen.

Juristisch ist das alles andere als wasserdicht: Diese Klausel kann aus mehreren Gründen nicht auf in Deutschland lebende EU-Ausländer_innen angewendet werden.

So verstößt die Leistungsverweigerung u.a. gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA), das 1953 geschlossen wurde und an dem mittlerweile 18 Staaten beteiligt sind (*). Mit der Unterzeichnung dieses Abkommens verpflichtete sich die Bundesregierung, in Deutschland lebenden Bürger_innen der anderen Vertragsstaaten die gleichen sozialen Rechte und Leistungen wie den deutschen Staatsbürger_innen zu gewähren. Umgekehrt haben auch deutsche Staatsbür­ger_innen, die sich in einem der anderen Vertragsstaaten niederlassen, dort Anspruch auf Sozialleistungen.

Die Verweigerung der Leistungen ist also rechtswidrig – aufgrund des EFA-Vertrags haben die meisten der in Deutschland lebenden EU-Bürger_innen einen legitimen Anspruch auf Unterstützung. Die einzige Einschränkung bestand jahrzehntelang in einer dreimonatigen Sperrfrist für neu zugezogene EU-Ausländer_innen. Aber auch dieser für die ersten drei Monate des Aufenthalts geltende „Leistungsausschluss“ für Bürger_innen der EFA-Vertragsstaaten ist rechtswidrig, wie das Bundessozialgericht in einem Urteil vom Oktober 2010 entschied.

Aber man kann´s ja trotzdem mal probieren… So erklärte die Bundesregierung am 19. Dezember 2011 einen so genannten „Vor­behalt“ gegen das Fürsorgeabkom­men, um EU-Bür­ger­_innen von den Sozialleistungen ausschließen zu können.

Nun wären internationale Verträge reichlich überflüssig, wenn man nach der Unterzeichnung alle stö­renden Bestimmungen nach Belieben ignorieren könnte. Dementsprechend ist so ein Vorbehalt nur dann zulässig, wenn er im Voraus erklärt wurde – dann können die Vertragsstaaten bestimmte, noch nicht bestehende Verpflichtungen umgehen. Ein nachträglich erklärter Vorbehalt ist dagegen nur dann gültig, wenn dies als Möglichkeit im Vertrag selbst ausdrücklich festgelegt wurde.

Nun ließe sich der „Vorbehalt“ mit etwas gutem Willen als Teilkündigung des Abkommens auffassen. Eine solche wäre nach EFA-Artikel Nr. 24 durchaus möglich, es scheint aber fraglich, ob die Bundesregierung dies im Sinn hatte. Nicht nur hätte eine solche Kündigung europapolitisch unabsehbare Folgen – es wäre dann zu erwarten, dass auch die anderen Mitgliedsstaaten das Abkommen kündigen. Zudem hätte die Kündigung, um bis Mitte 2012 wirksam zu werden, spätestens zum 11. Dezember ausgesprochen werden müssen. Der am 19. Dezember erklärte Vorbehalt kam dafür also eine gute Woche zu spät.

Willkürliche Winkelzüge

Der „Leistungsausschluss“ für EU-Bürger­_in­nen verstößt aber zusätzlich auch gegen Europäisches Gemeinschaftsrecht – genauer gesagt gegen die „Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“, die im April 2004 von Europa-Rat und Europa-Parlament verabschiedet wurde und seit Mai 2010 in Kraft ist. EU-Bürger_innen, die in Deutschland Arbeit suchen, haben demnach einen Anspruch auf völlige Gleichbehandlung, auch was den Zugang zu Sozialleistungen anbelangt.

Auch der Bundesregierung war zweifellos bewusst, dass ihre Entscheidung rechtlich gesehen auf wackeligen Beinen steht. Das Kalkül könnte dennoch aufgehen, wenn die Betroffenen auf Widerspruch verzichten und lieber wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren, statt sich auf einen Rechtsstreit mit scheinbar unabsehbarem Ausgang einzulassen.

Dabei haben sie gute Chancen, auf juristischem Wege ihr Recht und ihr Geld zu bekommen. So erklärte das Sozialgericht Berlin in mehreren Fällen die Verweigerung der Leistungen für rechtswidrig. Auch die Klage eines griechischen Staatsbürgers beim Sozialgericht Leipzig war von Erfolg gekrönt.

Der Anwalt des Betroffenen, Dirk Feiertag, erläutert, welche juristischen Möglichkeiten es gibt: „In jedem Fall sollten die Betroffenen innerhalb eines Monats gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch einlegen, und wenn dieser Widerspruch abgelehnt wird, wie es leider zu erwarten ist, dann beim Sozialgericht Klage einreichen – auch das binnen Monatsfrist. Außerdem empfiehlt es sich, gleich bei Erhalt des Ablehnungsbescheides ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren beim Sozialgericht anzustrengen. Das ist wichtig, damit die Betroffenen schnellstmöglich ihr Geld bekommen. Über diesen einstweiligen Rechtsschutz kann das Jobcenter innerhalb weniger Wochen gezwungen werden, die streitigen SGB-II-Leistungen vorläufig weiter zu zahlen, so lange das Gerichtsverfahren läuft.“

Es wäre zu wünschen, dass möglichst viele der Betroffenen sich auf diesem Weg gegen die behördliche Willkür zur Wehr setzen. Denn umso eher werden die Job­center wohl wieder von ihrer derzeitigen Praxis abrücken. Und umso eher dürfte auch die Bundesregierung zum Umlenken bereit sein, die wohl ohnehin nur eine zeitlich begrenzte Willkürmaßnahme im Sinn hatte – einen kalkulierten Regelverstoß, um potentielle Leistungsempfänger_innen abzuschrecken und die staatlichen Kassen zu entlasten. Wenn der Standort Deutschland stärker aus der Krise herauskommen soll, als er hineingegangen ist, dann darf man eben auch vor unorthodoxen Mitteln nicht zurückschrecken.

(hans)

Weitere Infos unter:

www.fsn-recht.de

efainfo.blogsport.de

(*) Namentlich sind das Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien und die Türkei.

„Kita-Kürzungen stoppen“

Die Stadt Leipzig hat beschlossen für das Jahr 2012 bei Kindergärten, Krippen und Horten kräftig zu sparen. Davon betroffen sind vor allem Einrichtungen in privater Trägerschaft, die in Leipzig mehr als 70 Prozent der Kitaplätze stellen. Dagegen regte sich bereits im November heftiger Pro­test. Viele Eltern nahmen an der Ju­gend­hil­feaus­schuss­­­sit­zung des Stadtrates am 07. November teil und äußerten ihren Unmut über die Kürzungen. Zur Stadtratssitzung am 17. November kamen sogar mehr als 700 Menschen zu einer bunten und lautstarken Demonstration zusammen. Die Rats­mit­glieder wurden in der Wandelhalle mit Rasseln, Sprech­chören und Trans­­parenten lautstark begrüßt.

Nur geholfen hat das fast nichts. Die Stadt nahm an ihrem Spar­kurs nur marginale Än­derungen vor. Die Initiative „Kita-Kürzungen-stoppen“ startete daher am 15. No­vember das gleichnamige Bür­ger­begehren, welches genau genommen aus vier sepe­raten Bürgerbegehren be­steht. „Wir benötigen 22.000 gültige Un­ter­schriften von LeipzigerInnen über 18 Jahre. Ziel ist daher, bis spätestens 15. Januar 30.000 Unterschriften zusammen zu be­kommen. Jeder kann helfen zu sammeln“, so Rechtsanwalt Dirk Feiertag, einer der Organisatoren des Bürgerbegeh­rens.

Die Bürgerbegehren haben vier wesentliche Ziele: Als Erstes sollen die von der Stadt gekündigten Verträge mit den Freien Trägern der Jugendhilfe über den Betrieb und die Finanzierung der Kitas zu ungeänderten Bedingungen fortgesetzt werden. Die Stadt hatte die Verträge gekündigt, um die Zuschüsse in den nun neu vorliegenden Verträgen drastisch reduzieren zu können.

Als Zweites hat die Stadt beschlossen, 800 bestehende Krippenplätze in Kinder­gartenplätze umzuwandeln. Diese Umwandlung soll gestoppt werden. Denn nach dem Willen der Initiative sollen Kindergartenplätze nicht auf Kosten von Krippenplätzen geschaffen werden. Es müsse vielmehr beides ausgebaut werden. Schon jetzt kommen in Leipzig nur 5.000 Krippen- und Tagespflegeplätze auf 15.000 Kinder im Krip­pen­alter. Die Streichung von 800 Krippenplätzen verschärft den Versor­gungs­notstand in diesem Bereich noch mehr.

Damit erweist sich die Stadt zudem einen Bärendienst. Denn nach der Streichung der Krippenplätze haben Klagen von Eltern, die einen Krippenplatz von der Stadt fordern, schon jetzt sehr gute Erfolgsaussichten. Und das, obwohl die sogenannte Krippenplatzgarantie normalerweise erst ab 2013 gelten würde. Denn die Krippenplatzgarantie greift nach dem Gesetz ( § 24a SGB 8) schon jetzt, wenn die Stadt in Teilbereichen Krippenplätze kürzt. „Ich bereite bereits die ersten Klagen für Krip­penplätze vor und bin zuversichtlich, mit Eilverfahren schnell Plätze für die betroffenen Eltern erstreiten zu können“, so Rechtsanwalt Feiertag.

Als Drittes wird gefordert, die Zuschüsse an die Freien Träger um den Betrag zu erhöhen, die die Eltern für einen normalen Kinder- bzw. Krippenplatz als Elternbeitrag nächstes Jahr mehr zahlen müssen. Andernfalls würde die Erhöhung der Elternbeiträge nur die Stadt entlasten, sagt Florian Teller, ein Mitorganisator des Begehrens.

Die kostenintensivste Forderung dürfte wohl das letzte Anliegen der Initiative darstellen. Es fordert gleiche Löhne für gleiche Arbeit. Denn die ErzieherInnen der Freien Kitas bekommen nicht selten mehrere hundert Euro weniger Lohn pro Monat als ihre KollegInnen in den staatlichen Einrichtungen. Mit den Geldern, die die Stadt für den Kitabetrieb zur Verfügung stellt, ist eine tarifliche Entlohnung auf dem Niveau des öffentlichen Dienstes einfach nicht machbar. „Wir fordern daher, dass die Stadt den Freien Trägern Verträge anbietet, in denen sich die Freien Träger zur tariflichen Entlohnung verpflichten und hierfür im Gegenzug von der Stadt die notwendigen finanziellen Mittel in die Hand bekommen“, so Feiertag weiter.

Ob das Bürgerbegehren die angepeilten 30.000 Unterschriften tatsächlich bis zum Jahresende zusammen bekommen hat, stand bis zum Redaktionsschluss noch nicht fest. Die Initiative kündigte für diesen Fall aber bereits an, bis zum 17. Januar weiter sammeln zu wollen.

(hans)

Aufwerten oder abwerten?

Leipziger Gentrifizierungsdebatte

Die Aufwertung von Stadtvierteln und die folgende Verdrängung ärmerer Einwohner_innen ist nicht nur in Hamburg und Berlin ein Thema. Auch in Leipzig wird gerade eifrig über Gentrifizierung diskutiert.

Um ihren Wohnraum fürchten der­zeit z.B. die Mieter_innen eines Hauses in der Windmühlenstraße, nahe dem Wilhelm-Leuschner-Platz. Dieses gehörte bis vor kurzem noch der LWB, wurde aber im August an einen neuen Eigentümer, Casa Concept, veräußert. Und der will jetzt das Gebäude sanieren, wodurch voraussichtlich die (bislang sehr günstigen) Mieten steigen. Zudem soll im Erdgeschoss ein Supermarkt einziehen, die Grünflächen im Hinterhof müssten dann u.a. für Parkplätze verkleinert werden. Nach Protesten der Mie­ter_in­nen und Debatten im Stadtrat hat der Investor seine Pläne mitt­lerweile geändert: Der Supermarkt wird verkleinert, und auch die Läden im Erdgeschoss sollen erhalten bleiben, heißt es. Wie sich die Sache weiter entwickelt, bleibt abzuwarten.

Das eigentliche Epizentrum der Debatte ist aber Connewitz, wo in den letzten Monaten wiederholt Häuser mit Farb- bzw. Teerbomben beworfen wurden – Zielobjekte waren dabei u.a. das Bürgeramt und der Kindergarten in der Biedermannstraße, aber auch einige der Stadthäuser, die seit 2002 im Viertel gebaut wurden. Im Zentrum des Konflikts steht jedoch ein neu saniertes Haus in der Mathildenstraße, das bis vor kurzem der Immobilienfirma Hildebrand & Jürgens gehörte, die in Leipzig mehrere hundert Wohnungen verwaltet. Neben den üblichen Farbbeutelwürfen gingen hier auch Scheiben zu Bruch, und bei einer Hausbesich­tigung kreuzte gar eine Gruppe von Vermummten auf, um die potentiellen Mieter_innen zu verschrecken.

Der wiederholten Aktionen wegen wurde ein privater Sicherheitsdienst engagiert, was aber nicht zur Beruhigung, sondern nur zur weiteren Eskalation beitrug: So wurden am 22. Oktober einige Security-Männer, die in einem Auto vor dem Gebäude parkten, von einer Gruppe Schwarzgekleideter mit Steinen angegriffen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Am folgenden Abend wurden vier Jugendliche, die die Hausfassade mit einer Schablone besprüht hatten, von der Security aufgegriffen, zusammengeschlagen und dann der Polizei übergeben.

Für den 27. Oktober riefen deswegen „besorgte AnwohnerInnen“ per Flyer zu einer Spontandemo auf, um den Security-Leuten „gewaltlos und unvermummt“ zu zeigen, „dass solche Zustände hier unerwünscht sind“. Der Plan scheiterte aber an der großen Resonanz. Etwa hundert Personen fanden sich am Treffpunkt ein – bei dieser Menge ließ sich natürlich keine Se­curity blicken.

Aber auch an anderer Stelle gab es Knatsch. Schließlich war auch das frisch renovierte Vorderhaus des Conne Island von Farbbeutelwürfen betroffen. Dort reagierte man erwartungsgemäß verärgert. In einem Statement (1) warf das Ladenplenum den „KiezkämpferInnen“ hohlen Aktionismus vor, der radikal daherkomme, aber letztlich unpolitisch sei: „Eine inhaltliche Auseinandersetzung spielt für sie keine Rolle, militantes Auftreten und Radikalität sind wichtiger als politische Ziele.“ Um dann messerscharf zu schließen: „Der Farbbeutelanschlag aufs Conne Island kann nur einen Grund haben: Die AngreiferInnen können sich nicht anders artikulieren. Es wird sich nicht die Mühe gemacht, Kritik beispielsweise im Conne-Island-Plenum zu äußern oder es per Text mit seinen vermeintlichen Fehlern zu konfrontieren.“

Der letzte Vorwurf wurde von den Verantwortlichen schnell widerlegt: Sie konterten mit einem anonymen Flyer (2) und konfrontierten das Conne Island mit seinen vermeintlichen Fehlern. Der Inhalt ist nicht weiter überraschend: „Auch ihr fördert die Gentrifizierung in einem Stadtteil, in dem ihr schon längst mehr als entbehrlich seid […] Niemand hat Lust für eure Schicki-Micki-Yuppie-Partys in euren Lokalitäten 20 Euro oder mehr auszugeben.“ Mit der Renovierung versuche auch das Island sich für eine zahlungskräftige Klientel attraktiv zu machen. Drum trügen „jeder Farbbeutel und jeder Stein gegen solche Objekte […] zur Abwertung bei. Wir wollen unkommerzielle Freiräume für alle und keine hippen, trendigen, teuren und apolitischen Locations für Yuppies, die sich alternativ fühlen!“ Und zum Schluss noch eine Extraportion Pathos: „Stadtteilkampf ist Klassenkampf!“

Okay. Dass die Eintrittspreise im Conne Island eher zu hoch als zu niedrig sind, ist keine neue Erkenntnis. Und natürlich ist das Island nach 20 Jahren seines Bestehens kein Politikum mehr, sondern ein weitgehend „normaler“ Konzertort. Dasselbe ließe sich aber auch, niedrige Eintrittspreise hin oder her, über das Zoro oder die LiWi sagen. Und die Connewitzer Szene hat sich mittlerweile insgesamt weitgehend entpolitisiert. Die ehemals besetzten Häuser mögen eine gemütliche subkulturelle Nische bieten, aber letztlich sind sie eben auch nur das – eine Nische. Die wilden 90er sind unwiderruflich vorbei. Daran werden auch ein paar Farbbeutel nichts ändern.

(justus)

(1) www.conne-island.de/nf/190/3.html

(2) dokumentiert unter einkesselbuntes.blogsport.de/2011/11/03/gentrifidingsda-in-leipzig/

Go, Horst, go!

Manche Ideen sind viel zu naheliegend… Im Januar 2013 sind wieder OBM-Wahlen. Da braucht auch der örtliche CDU-Anhang einen Kandidaten. Und wer wäre dafür besser geeignet als der notorische Horst Wawrzynski? Die CDU und der Polizei­prä­sident – passt wie der Schlagstock aufs Auge.

Zum Glück kann Horst nicht nur die Dirty-Harry-Pose, sondern zur Not auch ultrabrutal menscheln: „Ich kenne die sozialen Brennpunkte, die Sorgen der ‘kleinen Leute’ und die schlechten Straßen. Ich weiß von den Schulruinen, den fehlenden Kitas und vielen anderen drängenden Problemen. Als Polizeipräsident konnte ich das nicht ändern – als Oberbürgermeister werde ich es ändern!“ Wackere Worte. Aber die Sorgen der kleinen Leute lösen sich vermutlich nicht in Luft auf, wenn man mal ordentlich draufhaut…

Aber wenigstens wissen wir jetzt, was diese ständigen „Kom­plex­kontrollen“ sollen. Großrazzien und flächendeckendes Filzen – wenn das keine clevere Werbestrategie ist! Als frischgebackener OBM-Kandidat muss man sich eben um Bürgernähe bemühen. Oder in Wawrzynskis eigenen, erfrischend ungelenken Worten: „Der Dienstleistungsgedanke für den Bürger liegt mir wirklich am Herzen“. Manch Bürger hat sich bei so viel Nähe schon üble Platzwunden zugezogen. Aber Schwamm drüber, „ein Oberbürgermeister ist kein Schönwetterkapitän“, sondern muss „Entscheidungen fällen und Verantwortung übernehmen“. Genau! Knüppel oder Pfefferspray, das ist hier die Frage…

justus

Eine Dosis Blau

Interview mit Radio-Blau-Aktivist_innen

Einen eher trostlosen Anblick boten am 12. November zur Linken Medienakademie Regional die überwiegend verlassenen Räume in der Universität Leipzig. Denn das interessante Workshopangebot, das überwiegend von lokalen (linken) Medienschaffenden vorbereitet wurde, traf – auch aufgrund der Kurzfristigkeit – auf recht wenig interessiertes Publikum. Doch statt Blasen mit Trübsal zu füllen, nutzten wir die Zeit für einen intensiven Austausch mit zwei Aktivist_innen vom freien Radio Blau. Das folgende Interview zur aktuellen Situation und anderem Wissenswerten kam auch dabei rum:

FA!: Hallo, schön euch zu interviewen. Für die Leser_innen, die euch noch nicht kennen: Was ist denn Radio Blau?

Anne: Radio Blau ist euer Freies Radio in Leipzig. Das bedeutet, dass wir zugangsoffen sind für alle, die in Leipzig Radio machen wollen. Wir sind ein nichtkommerzielles Radio, wir machen das also ehrenamtlich, um der Ideen und Inhalte willen, die wir einem größeren Publikum zugänglich machen wollen. Und wir spielen keine Werbung. Wir sind basisdemokratisch organisiert, bei uns gibt es keine Hierarchien und keine Chefredaktion. Bei uns entscheidet die Vollversammlung über Organisatorisches im Radio und auch die Inhalte werden dort diskutiert. Es gibt den Konsens, keine sexistischen, rassistischen, antisemitischen, faschistischen oder chauvinistischen Inhalte zu senden. Aber ansonsten gibt es keine Einschränkungen. In diesem Rahmen kann jeder senden, was er will.

FA!: Welche Sendungen würdet Ihr denn besonders hervorheben?

A: Wichtig ist unser tagesaktuelles Magazin Aktuell. Das läuft immer 19 bis 20 Uhr, Montag bis Freitag. Da geht´s um aktuelle, lokale, überregionale oder globale Themen aus Politik, Kultur, Umwelt, Wirtschaft. Dabei richten wir uns nicht nach herkömmlichen journalistischen Werten, zum Beispiel diesen unbedingten Zwang zu Aktualität oder den Blick auf Nachrichtenwerte. Wir bemühen uns darum, Themen aus den Perspektiven zu bearbeiten, die in den kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Medien nicht vorkommen.

Lutz: Vieles findet sich eben anderswo nicht wieder, weil´s keine spannende Nachricht ist. Uns geht es eher darum, denen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Sich für ein Thema Zeit zu nehmen, auch wenn es gerade nicht topaktuell, aber trotzdem interessant ist.

FA!: Wer entscheidet über die Themen? Es gab ja vor einigen Jahren z.B. eine Debatte über eine Sendung, wo Musik von Muslimgauze gespielt werden sollte – eine Industrialband, die sich u.a. positiv auf den palästinensischen Widerstand bezieht, womit einige Leute bei Radio Blau ein Problem hatten. Wie ist das Verhältnis zwischen der Entscheidungsfreiheit der Redakteur_innen und der Vollversammlung?

A: Neue Sendungsmacher_innen müssen ihre Inhalte erst mal in der Vollversammlung vorstellen. In einer richtigen Redaktion wie Aktuell werden Themenvorschläge und Inhalte intern diskutiert und teilweise abgewiesen. Neulich zum Beispiel ging es um eine politische Veranstaltung, die wir thematisieren wollten. Ein Redakteur meinte dann, ob wir uns mal die Akteure angeschaut haben, wer die Veranstaltung macht, und ob wir so ein Thema wirklich tragen können. Haben wir dann nicht gemacht.

Wenn langjährige Sendungsmacher_innen wissen, dass sie ein umstrittenes Thema behandeln, tragen sie das auch in die VV und diskutieren es dort. Und wenn die VV sagt, „Wir wollen das so nicht senden“, dann wird es nicht gemacht.

L: Bei einer Vollversammlung im Monat lässt sich nicht alles im Detail diskutieren, obwohl das wünschenswert wäre. Das passiert innerhalb der Redaktionen, aber sonst wird eher im Nachhinein Kritik geäußert, oder Lob, wenn eine Sendung besonders gut war.

A: Naja, es wäre schon möglich das in der Vollversammlung zu diskutieren, so viele Wortbeitragssendungen haben wir ja nicht. Mir fällt da die queerfeministische Sendung Tipkin ein, Politsendungen wie Statement, T9, Linksdrehendes Radio, Der dialektische Diwan

L: Und Kultursendungen wie Lesbar und Al Dente… Wobei Musik ja auch einen Inhalt vermittelt, über die Texte, oder wie beim Beispiel Muslimgauze, wo die Cover der Platten recht fragwürdig waren.

A: Das steht auch bei uns im Statut, dass Musik eine eigene Darstellungsform ist. Wir haben auch gute Musikredaktionen wie Bleep Hop oder die Zonic Radio Show, Leute, die sich auch sehr intensiv mit Geschichte und politischer Bedeutung von Musik auseinandersetzen. Es wird also nicht nur ein Song nach dem anderen gespielt, sondern auch kontextualisiert.

FA!: Wie viele Leute engagieren sich bei Radio Blau?

A: Ich schätze, ungefähr 130 Menschen. Die Zugangshürden sind auch relativ niedrig. Man muss eine „Erste Dosis Blau“ machen, da wird man in die Organisationsformen eingeführt, und dann den Technikkurs, damit man das Mischpult bedienen kann. Deshalb kommen viele Redakteur_innen zu uns, gehen wieder, bringen Leute mit… Es ist ein sehr fließender Kreis von Leuten.

FA!: Es gab ja vor zwei Jahren eine größere Krise, die Radio Blau fast in seiner Existenz bedroht hätte. Wie hat sich denn die Situation seitdem entwickelt?

A: Radio Blau war nicht in seiner Existenz bedroht. Das Problem war, dass wir die Sendungs- und Leitungskosten von 25.000 Euro im Jahr bezahlen mussten, die für die Übertragung auf UKW ent­stehen. Der Verein selbst war aus meiner Sicht nicht in der Existenz bedroht. Wir hätten dann eben wohl oder übel Netzradio machen müssen. Allerdings wollen wir das nicht. Im Gegensatz zum Internetradio ist UKW für alle Leute zugänglich, die ein einfaches Radio besitzen. Die zuständigen Me­dienpoli­tiker_innen argumentieren, man wolle bis 2015 die UKW-Frequenzen auslaufen lassen, zugunsten des Digitalradios. Der­zeit sieht´s aber so aus, als würde sich das noch Jahre hinziehen.

L: Wobei Radio Blau schon existenziell bedroht wäre, wenn wir nicht mehr auf UKW senden könnten. Ich würde schon von einer Krise reden, und die ist auch heut noch nicht ausgestanden. Auch wegen der sächsischen Medienpolitik, wo Freies Radio gar nicht vorgesehen ist. Es gibt einen Satz im Rundfunkgesetz, der sagt, dass nichtkommerzielles Radio ermöglicht werden kann. Wo unklar ist, was heißt das? Schließt das eine Förderung ein? Tatsächlich werden wir gerade mal mit einem Drittel der Sendekosten finanziert – von der Landesmedienanstalt, die als sogenannte staatsferne Behörde den Privatrundfunk beaufsichtigt und dafür einen Teil der GEZ-Gebühren erhält. Das sind ca. 7 Mio., davon kriegen Radio T und Radio Blau zusammen 16.000 Euro, während die Kosten bei ca. 50.000 Euro für alle drei Freien Radios liegen. ColoRadio in Dresden kriegt gar nichts, weil die bei der Landesmedienanstalt nicht so beliebt sind.

Das sind schlechte Voraussetzungen. Die Kosten für Strom, Miete, Telefon usw. sind ohne Förderung nicht zu schaffen. Bis Ende 2009 wurde unser Anteil an den Sende- und Leitungsgebühren noch von Apollo Radio übernommen. Diese Vereinbarung lief aus, und das führte dann zum Rechtsstreit mit Apollo und zur zeitweiligen Abschaltung der Freien Radios. Letztlich senden wir wieder, weil wir die Kosten selbst tragen – durch Spenden, und nun im zweiten Jahr durch eine anteilige Förderung der Stadt.

A: Ohne Unterstützung durch die Hörer_innen, die Medienpolitik und die Stadt sieht´s schwierig aus. Wir können nur appellieren, uns zu unterstützen. Wir sind als Plattform wichtig für Menschen, die in dieser Stadt ihr Radio machen und ihre Inhalte nach außen tragen möchten. Dabei vermittelt das Radio auch Medienkompetenz. Man schätzt ja den Gehalt von Medien ganz anders ein, wenn man weiß, wie sie funktionieren.

FA!: Und was sind Eure Visionen für Radio Blau für´s nächste Jahr?

A: Natürlich wollen wir weiterhin Menschen einladen, ihre Ideen ins Radioprogramm einzubringen. Eine Umweltredaktion haben wir zum Beispiel noch nicht. Warum nicht? Vielleicht waren wir für die Leute noch nicht Plattform genug? Es gibt ja auch in anderen inhaltlichen Feldern viele Gruppen und Medien in Leipzig, die inhaltlich arbeiten, brillante Essays schreiben… Und es wäre spannend, diese ins Radio zu holen, damit sie ihre Ideen und Texte auch dort präsentieren können. Auch ein Umdenken bei den Formaten wäre spannend…

L: Weniger Wortbeitragssendungen, die nur aus Interviews bestehen… Wobei jetzt schon mehr Leute auf die Idee kommen, uns als Radio anzufragen. Ich weiß nicht, wie oft wir in diesem Jahr als Medienpartner für Veranstaltungen angefragt wurden…

A: Podiumsdiskussionen im Radio zu senden, wäre eine Idee. Oder politische Hörspiele als Verbindung von Politik und Kunst. Das könnte für Menschen spannend sein, die sich mit literarischem Schreiben beschäftigen, aber auch politische Ansprüche haben. Oder Demo-Radio. Mal abgesehen von den Anti-Nazi-Demonstrationen könnten wir auch andere Veranstaltungen im Radio begleiten. Mir fällt da noch mobiles Radio ein… Wir haben letztes Jahr mit dem Straßenecken-Radio angefangen, sind in Projektläden im Leipziger Westen und Osten gegangen und haben Leute eingeladen, über das zu reden, was sie bewegt. Gentrifizierung, Probleme mit Gewalt, mit Drogen im Viertel… Das würden wir gern fortführen. Sehr spannend finde ich auch immer Live-Übertragungen von Fußball-Events des Roten Sterns. Neben den Berichten vom Spiel werden nebenbei dann Initiativen vorgestellt, die sich zum Beispiel gegen Rassismus in der Kurve engagieren.

FA!: Was braucht Ihr, um diese Ideen umsetzen zu können?

A: Kraft, und nette Leute, die uns unterstützen…

L: Wir hatten bis vor kurzem auch noch Leute, die als AGH-Stellen bezahlt wurden. Das gibt’s jetzt nicht mehr. Die Leute, die mitmachen, machen jetzt nicht mehr nur Programm, sondern tatsächlich alles in diesem Radio. Die Verwaltung usw. läuft jetzt alles ehrenamtlich.

A: Ich glaube, wir sind das erste und einzige Freie Radio in Deutschland, das vollkommen selbstorganisiert läuft. Und es läuft, erstaunlicherweise!

FA!: Wer mitmachen will, meldet sich einfach bei euch?

L: Genau, über radioblau@radioblau.de. Jeden ersten und dritten Mittwoch im Monat gibt’s die „Erste Dosis Blau“, jeweils 18.00 Uhr, im Hinterhof der Paul-Gruner-Straße 62. Da wird wie gesagt in die Strukturen eingeführt, und bei Bedarf kann man auch weitere Fragen stellen.

A: Und immer montags bis freitags von 17 bis 19.00 Uhr ist das Büro geöffnet und für Anfragen offen.

FA!: Vielen Dank für das Interview!

(momo & justus)